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Marxismus und die nationale Frage | |
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Autor | Josef Stalin |
Veröffentlicht | 1913 |
Quelle | Marxists Internet Archive |
Der Artikel Marxismus und nationale Frage wurde Ende 1912 bis Anfang 1913 in Wien geschrieben; zum erstenmal veröffentlicht wurde er mit der Unterschrift K. Stalin in Nummer 3-5 der Zeitschrift Prosweschtschenije (Die Aufklärung), Jahrgang 1913, unter dem Titel Nationale Frage und Sozialdemokratie. Im Jahre 1914 wurde der Artikel J. W. Stalins als besondere Broschüre unter dem Titel Nationale Frage und Marxismus im Verlage Priboi (Die Brandung) in Petersburg herausgegeben. Lenin betonte in einem Briefwechsel mit A.M. Gorki, daß der Artikel die Position der Bolschewiki zur Nationalitätenfrage darstellte.
Einleitung
Die Periode der Konterrevolution in Rußland brachte nicht nur „Donner und Blitz“, sondern auch Enttäuschung über die Bewegung, Unglauben an die gemeinsamen Kräfte. Man hatte an eine „lichte Zukunft“ geglaubt – und da hatte man gemeinsam gekämpft, einerlei zu welcher Nationalität man gehörte: Die gemeinsamen Fragen vor allem! Zweifel schlichen sich in die Seele, und man begann auseinanderzugehen, jeder in sein nationales Kämmerlein: Ein jeder baue nur auf sich selbst! Das „nationale Problem“ vor allem!
Im Lande vollzog sich unterdessen eine bedeutsame und jähe Wandlung des wirtschaftlichen Lebens. Das Jahr 1905 war nicht umsonst gewesen: Die Überreste der Leibeigenschaftsordnung auf dem Lande hatten einen weiteren Stoß erlitten. Eine Reihe von Jahren guter Ernte nach den Hungerjahren und der auf sie folgende industrielle Aufschwung brachten den Kapitalismus vorwärts. Die Differenzierung auf dem Lande und das Wachstum der Städte, die Entwicklung des Handels und der Verkehrswege machten einen großen Schritt vorwärts. Das gilt besonders für die Randgebiete. Dieser Umstand mußte aber zwangsläufig den Prozeß der wirtschaftlichen Konsolidierung der Nationalitäten Rußlands beschleunigen. Sie mußten in Bewegung geraten ...
In derselben Richtung, der des Erwachens der Nationalitäten, wirkte das „konstitutionelle Regime“, das sich in dieser Zeit durchsetzte. Die Entwicklung der Zeitungen und der Literatur überhaupt, eine gewisse Freiheit der Presse und der Kulturinstitutionen, die Zunahme der Zahl der Volkstheater und dergleichen mehr trugen zweifellos zum Erstarken der „nationalen Gefühle“ bei. Die Duma mit ihrer Wahlkampagne und ihren politischen Gruppen bot neue Möglichkeiten für die Belebung der Nationen, eine neue breite Arena für deren Mobilmachung.
Die von oben ausgehende Welle eines streitbaren Nationalismus, eine ganze Reihe von Repressalien der „Machthabenden“, die sich an den Randgebieten wegen ihrer „Freiheitsliebe“ rächten, lösten eine Gegenwelle des Nationalismus von unten aus, der mitunter in brutalen Chauvinismus überging. Das Erstarken des Zionismus [2] unter den Juden, der wachsende Chauvinismus in Polen, der Panislamismus [3] unter den Tataren, das Erstarken des Nationalismus unter den Armeniern, Georgiern und Ukrainern, die allgemeine Neigung des Spießers zum Antisemitismus – alles das sind allbekannte Tatsachen.
Die Welle des Nationalismus rollte immer stärker heran und drohte, die Arbeitermassen zu erfassen. Und je mehr die Freiheitsbewegung abebbte, um so üppiger kamen die Blüten des Nationalismus zur Entfaltung.
In diesem schweren Augenblick fiel der Sozialdemokratie eine hohe Mission zu – dem Nationalismus entgegenzutreten, die Massen vor der allgemeinen „Seuche“ zu bewahren. Denn die Sozialdemokratie, und nur sie allein, war dazu imstande, da sie dem Nationalismus die bewährte Waffe des Internationalismus, die Einheit und Unteilbarkeit des Klassenkampfes entgegen- stellte. Und je stärker die Welle des Nationalismus heranrollte, um so lauter mußte die Stimme der Sozialdemokratie für die Brüderlichkeit und Einheit der Proletarier aller Nationalitäten Rußlands erschallen. Besondere Standhaftigkeit war dabei für die Sozialdemokraten der Randgebiete erforderlich, die mit der nationalistischen Bewegung unmittelbar zusammenstoßen.
Aber nicht alle Sozialdemokraten zeigten sich auf der Höhe der Aufgabe, vor allem nicht die Sozialdemokraten in den Randgebieten. Der „Bund“ [4], der früher die gemeinsamen Aufgaben betont hatte, begann nunmehr seine besonderen, rein nationalistischen Ziele in den Vordergrund zu rücken: Es kam so weit, daß er das „Feiern des Sabbats“ und die „Anerkennung des Jiddischen“ für einen Kampfpunkt seiner Wahlkampagne erklärte. [1*] Auf den „Bund“ folgte der Kaukasus: ein gewisser Teil der kaukasischen Sozialdemokraten, der früher zusammen mit den anderen kaukasischen Sozialdemokraten die „national-kulturelle Autonomie“ abgelehnt hatte, stellt sie jetzt als eine aktuelle Forderung auf. [2*] Schon ganz zu schweigen von der Konferenz der Liquidatoren [6], die. die nationalistischen Schwankungen diplomatisch sanktioniert hat. [3*]
Daraus folgt aber, daß die Auffassungen der Sozialdemokratie Rußlands in der nationalen Frage noch nicht allen Sozialdemokraten klar sind.
Offenbar tut eine ernste und allseitige Erörterung der nationalen Frage not. Es bedarf einer einmütigen und unermüdlichen Arbeit der konsequenten Sozialdemokraten gegen den nationalistischen Nebel, woher er auch kommen möge.
I. Die Nation
Was ist eine Nation?
Eine Nation ist vor allem eine Gemeinschaft, eine bestimmte Gemeinschaft von Menschen.
Diese Gemeinschaft ist keine Rassen- und keine Stammesgemeinschaft. Die heutige italienische Nation hat sich aus Römern, Germanen, Etruskern, Griechen, Arabern usw. gebildet. Die französische Nation ist aus Galliern, Römern, Briten, Germanen usw. entstanden. Dasselbe muß von den Engländern, Deutschen usw. gesagt werden, die sich aus Menschen verschiedener Rassen und Stämme zu Nationen formierten.
Also ist die Nation keine Rassen- und keine Stammesgemeinschaft, sondern eine historisch entstandene Gemeinschaft von Menschen.
Anderseits steht es außer Zweifel, daß die großen Staaten eines Cyrus oder Alexander nicht als Nationen bezeichnet werden konnten, obgleich sie historisch entstanden waren, sich aus verschiedenen Stämmen und Rassen gebildet hatten. Das waren keine Nationen, sondern zufällige und lose verbundene Konglomerate von Gruppen, die je nach den Erfolgen oder Niederlagen dieses oder jenes Eroberers auseinanderfielen oder sich vereinigten.
Also ist die Nation kein zufälliges und kein ephemeres Konglomerat, sondern eine stabile Gemeinschaft von Menschen.
Aber nicht jede stabile Gemeinschaft ergibt eine Nation. Auch Osterreich und Rußland sind stabile Gemeinschaften, jedoch nennt sie niemand Nationen. Wodurch unterscheidet sich die nationale Gemeinschaft von der Staatsgemeinschaft? Unter anderem dadurch, daß die nationale Gemeinschaft ohne gemeinsame Sprache undenkbar ist, während für den Staat eine gemeinsame Sprache nicht unbedingt erforderlich ist. Die tschechische Nation in Österreich und die polnische in Rußland wären ohne eine für jede von ihnen gemeinsame Sprache unmöglich, während die Integrität Rußlands und Österreichs nicht dadurch beeinträchtigt wird, daß es in ihnen eine ganze Reihe von Sprachen gibt. Es handelt sich natürlich um Sprachen, die das Volk spricht, und nicht um die offiziellen Kanzleisprachen.
Also Gemeinschaft der Sprache als eines der charakteristischen Merkmale der Nation.
Das bedeutet natürlich nicht, daß verschiedene Nationen immer und überall verschiedene Sprachen sprechen, oder daß alle, die ein und dieselbe Sprache sprechen, unbedingt eine Nation bilden. Gemeinsame Sprache für jede Nation, aber nicht unbedingt verschiedene Sprachen für verschiedene Nationen! Es gibt keine Nation, die gleichzeitig verschiedene Sprachen spräche, das bedeutet aber noch nicht, daß es nicht zwei Nationen geben kann, die eine Sprache sprechen! Die Engländer und die Nordamerikaner sprechen eine Sprache, und doch bilden sie nicht eine Nation. Dasselbe gilt von den Norwegern und Dänen, von den Engländern und Iren.
Aber warum bilden beispielsweise die Engländer und die Nordamerikaner, trotz der gemeinsamen Sprache, nicht eine Nation?
Vor allem deswegen, weil sie nicht zusammen, sondern auf getrennten Territorien leben. Eine Nation bildet sich nur im Ergebnis eines lang, andauernden und regelmäßigen Verkehrs, im Ergebnis eines Zusammenlebens der Menschen von Generation zu Generation. Ein lang andauerndes Zusammenleben ist aber ohne gemeinsames Territorium unmöglich. Die Engländer und die Amerikaner bevölkerten früher ein und dasselbe Territorium, England, und bildeten eine Nation. Dann siedelte ein Teil der Engländer aus England nach einem neuen Territorium, nach Amerika, über und bildete hier, auf dem neuen Territorium, im Laufe der Zeit eine neue, die nordamerikanische Nation. Die verschiedenen Territorien haben zur Bildung von verschiedenen Nationen geführt.
Also Gemeinschaft des Territoriums als eines der charakteristischen Merkmale der Nation.
Das ist aber noch nicht alles. Gemeinschaft des Territoriums ergibt an sich noch keine Nation. Dazu ist außerdem noch eine innere wirtschaftliche Bindung nötig, die die einzelnen Teile der Nation zu einem Ganzen vereinigt. Zwischen England und Nordamerika besteht keine solche Bindung, und darum bilden sie zwei verschiedene Nationen. Aber auch die Nordamerikaner selbst. würden nicht den Namen einer Nation verdienen, wenn die einzelnen Ecken und Enden Nordamerikas nicht untereinander. durch die unter ihnen bestehende Arbeitsteilung, durch die Entwicklung der Verkehrswege usw. zu einem wirtschaftlichen Ganzen verbunden wären.
Man nehme etwa die Georgier. Die Georgier aus der Zeit vor der Reform lebten auf gemeinsamem Territorium und sprachen eine Sprache, und dennoch bildeten sie, streng genommen, nicht eine Nation, denn, zerfallen in eine ganze Anzahl voneinander getrennter Fürstentümer, konnten sie kein gemeinsames Wirtschaftsleben führen, bekriegten sich jahrhundertelang, ruinierten einander, hetzten einander die Perser und die Türken auf den Hals. Die kurzlebige und zufällige Vereinigung von Fürstentümern, die herzustellen manchmal irgendeinem vom Glück begünstigten Herrscher gelang, berührte bestenfalls nur die administrative Oberfläche, sie zerschlug sich bald an den Launen der Fürsten und der Gleichgültigkeit der Bauern. Anders konnte es bei der wirtschaftlichen Zersplitterung Georgiens gar nicht sein ... Georgien trat als Nation erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung, als die Aufhebung der Leib- eigenschaft und die Entfaltung des Wirtschaftslebens des Landes, die Entwicklung der Verkehrswege und das Aufkommen des Kapitalismus eine Arbeitsteilung. unter den einzelnen Gebieten Georgiens herbeiführten, die wirtschaftliche Abgeschlossenheit der Fürstentümer endgültig durchbrachen und sie zu einem Ganzen zusammenfügten.
Dasselbe muß auch von den anderen Nationen gesagt werden, die das Stadium des Feudalismus durchgemacht und den Kapitalismus in ihrem Lande entwickelt haben.
Also Gemeinschaft des Wirtschaftslebens, wirtschaftliche Verbundenheit als eine der charakteristischen Besonderheiten der Nation.
Aber auch das ist noch nicht alles. Außer allem Gesagten müssen noch die Besonderheiten der Geistesprägung der zu einer Nation vereinigten Menschen berücksichtigt werden. Nationen unterscheiden sich voneinander nicht nur durch ihre Lebensbedingungen, sondern auch durch ihre Geistesprägung, die in den Besonderheiten der nationalen Kultur ihren Ausdruck findet. Wenn England, Nordamerika und Irland, die eine Sprache sprechen, nichtsdestoweniger drei verschiedene Nationen bilden, so spielt hierbei keine geringe Rolle die spezifische psychische Wesensart, die sich bei ihnen infolge ungleicher Existenzbedingungen von Generation zu Generation herausgebildet hat.
Natürlich ist die psychische Wesensart, oder, wie sie anders genannt wird, der „Nationalcharakter“, an und für sich für den Beobachter etwas Ungreifbares, insofern sie aber in der einer Nation gemeinsamen Eigenart der Kultur ihren Ausdruck findet, ist sie greifbar und darf nicht ignoriert werden.
Es erübrigt sich zu sagen, daß der „Nationalcharakter“ nicht etwas ein für allemal Feststehendes ist, sondern sich mit den Lebensbedingungen ändert; aber da er in jedem gegebenen Augenblick existiert, drückt er der Physiognomie der Nation seinen Stempel auf.
Also Gemeinschaft der psychischen Wesensart, die in einer Gemeinschaft der Kultur ihren Ausdruck findet, als eines der charakteristischen Merkmale der Nation.
Damit haben wir alle Merkmale der Nation erschöpft.
Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.
Dabei versteht sich von selbst, daß die Nation, wie jede historische Erscheinung überhaupt, dem Gesetz der Veränderung unterworfen ist, ihre Geschichte, ihren Anfang und ihr Ende hat.
Es muß hervorgehoben werden, daß keines der angeführten Merkmale, einzeln genommen, zur Begriffsbestimmung der Nation ausreicht. Mehr noch: Fehlt nur eines dieser Merkmale, so hört die Nation auf, eine Nation zu sein.
Man kann sich Menschen mit gemeinsamem „Nationalcharakter“ vorstellen, ohne jedoch deshalb sagen zu können, daß sie eine Nation bilden, wenn sie wirtschaftlich voneinander getrennt sind, auf verschiedenen Territorien leben, verschiedene Sprachen sprechen usw. Das gilt beispielsweise für die russischen, die galizischen, die amerikanischen, die georgischen Juden und die Bergjuden, die unseres Erachtens keine einheitliche Nation bilden.
Man kann sich Menschen mit gemeinsamem Territorium und Wirtschaftsleben vorstellen, aber ohne gemeinsame Sprache und gemeinsamen „Nationalcharakter“ werden sie dennoch keine Nation bilden. Das gilt z.B. für die Deutschen und die Letten im Ostseegebiet.
Schließlich sprechen die Norweger und die Dänen eine Sprache, aber sie bilden nicht eine Nation, weil die anderen Merkmale fehlen.
Nur das Vorhandensein aller Merkmale zusammen ergibt eine Nation.
Man könnte meinen, der „Nationalcharakter“ sei nicht eines der Merkmale, sondern das einzige wesentliche Merkmal der Nation, während alle übrigen Merkmale eigentlich nur Bedingungen der Entwicklung der Nation und nicht ihre Merkmale seien. Diesen Standpunkt nehmen zum Beispiel die in Österreich bekannten sozialdemokratischen Theoretiker der nationalen Frage R. Springer und besonders O. Bauer ein.
Untersuchen wir ihre Theorie der Nation.
Nach Springer „ist die Nation ein Verband gleichdenkender und gleichredender Personen, eine Kulturgemeinsdiaft moderner Menschen, die nicht mehr an die Scholle gebunden sind“ [1*] (Hervorhebung von uns).
Also „ein Verband“ gleichdenkender und gleichsprechender Personen, wie sehr sie auch voneinander getrennt seien, wo sie auch leben mögen.
Bauer geht noch weiter.
Was ist eine Nation? fragt er. „Ist es die Gemeinschaft der Sprache, die die Menschen zu einer Nation vereint? Aber Engländer und Iren ... sprechen dieselbe Sprache und sind darum doch nicht ein Volk; die Juden haben keine gemeinsame Sprache und sind darum doch eine Nation.“ [2*]
Was ist denn nun eine Nation?
„Die Nation ist eine relative Charaktergemeinschaft.“ [3*]
Was ist denn aber Charakter, in diesem Falle Nationalcharakter?
Der Nationalcharakter ist „die Summe der Merkmale, die die Menschen der einen Nationalität von den Menschen einer anderen Nationalität unterscheiden, der Komplex der körperlichen und geistigen Merkmale, der eine Nation von der anderen scheidet.“ [4*]
Bauer weiß natürlich, daß der Nationalcharakter nicht vom Himmel herunterfällt, und fügt deshalb hinzu:
„Der Charakter der Menschen wird ... niemals durch etwas anderes bestimmt als durch ihr Schicksal“ ... „Die Nation ist nie etwas anderes als Schicksalsgemeinschaft“, die ihrerseits bestimmt werde durch die „Bedingungen, unter denen die Menschen ihren Lebensunterhalt produzieren und den Ertrag ihrer Arbeit verteilen“. [5*]
So gelangen wir, wie Bauer sagt, zur „vollständigen“ Begriffsbestimmung der Nation.
„Die Nation ist die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen.“ [6*]
Also nationale Charaktergemeinschaft auf dem Boden der Schicksalsgemeinschaft, betrachtet außerhalb des unbedingten Zusammenhanges mit der Gemeinschaft des Territoriums, der Sprache und des Wirtschaftslebens.
Was bleibt denn aber da von der Nation übrig? Von was für einer nationalen Gemeinschaft kann bei Menschen die Rede sein, die wirtschaftlich voneinander getrennt sind, auf verschiedenen Territorien leben und von Generation zu Generation verschiedene Sprachen sprechen?
Bauer spricht von den Juden als Nation, obgleich sie „keine gemeinsame Sprache haben“ [7*], aber von was für einer „Schicksalsgemeinschaft“ und nationalen Verbundenheit kann, sagen wir, bei den georgischen, daghestanischen, russischen und amerikanischen Juden die Rede sein, die voneinander gänzlich getrennt sind, auf verschiedenen Territorien leben und verschiedene Sprachen sprechen?
Die erwähnten Juden führen zweifellos mit den Georgiern, Daghestanern, Russen und Amerikanern ein gemeinsames wirtschaftliches und politisches Leben, in einer gemeinsamen Kulturatmosphäre mit ihnen; dies muß zwangsläufig ihrem Nationalcharakter seinen Stempel auf drücken; wenn ihnen etwas Gemeinsames verblieben ist, so sind es die Religion, die gemeinsame Abstammung und gewisse Überreste eines Nationalcharakters. Das alles steht außer Zweifel. Wie kann man aber ernstlich behaupten wollen, daß verknöcherte religiöse Riten und sich verflüchtigende psychologische Überreste auf das „Schicksal“ der erwähnten Juden stärker einwirken als das lebendige sozialökonomische und kulturelle Milieu, worin sie leben? Aber nur unter dieser Voraussetzung kann man ja von den Juden schlechthin als einer einheitlichen Nation sprechen.
Worin aber unterscheidet sich dann die Nation Bauers von dem mystischen und sich selbst genügenden „Nationalgeist“ der Spiritualisten?
Bauer reißt eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem „Unterscheidungsmerkmal“ der Nation (dem Nationalcharakter) und den Bedingungen“ ihres Lebens auf, indem er sie voneinander trennt. Was ist denn aber der Nationalcharakter anderes als die Widerspiegelung der Lebensbedingungen, als ein Niederschlag von Eindrücken, die aus dem Milieu, worin die Menschen leben, aufgenommen wurden? Wie kann man sich allein auf den Nationalcharakter beschränken und ihn von dem Boden, der ihn erzeugt hat, absondern und trennen?
Ferner: Wodurch unterschied sich eigentlich die englische Nation am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der nordamerikanischen, als Nordamerika noch „Neu-England“ hieß? hoch gewiß nicht durch den Nationalcharakter, denn die Nordamerikaner sind ja aus England gekommen, sie haben nach Amerika außer der englischen Sprache auch noch den englischen Nationalcharakter mitgenommen und konnten diesen natürlich nicht so rasch verlieren, obgleich sich unter dem Einfluß der neuen Verhältnisse bei ihnen gewiß ein eigener, besonderer Charakter herausbildete. Und doch bildeten sie damals trotz ihrer größeren oder geringeren Charaktergemeinschaft bereits eine von England verschiedene Nation! Offenbar unterschied sich damals „Neu-England“ als Nation von England als. Nation nicht durch einen besonderen Nationalcharakter, oder nicht so sehr durch den Nationalcharakter, als vielmehr durch das von England verschiedene Milieu, durch die Lebensbedingungen.
Somit ist klar, daß es in Wirklichkeit keinerlei alleiniges Unterscheidungsmerkmal der Nation gibt. Es gibt nur eine Summe von Merkmalen, aus denen beim Vergleich von Nationen bald das eine Merkmal (der Nationalcharakter), bald das zweite (die Sprache), bald das dritte (das Territorium, die wirtschaftlichen Bedingungen) prägnanter hervortritt. Die Nation ist eine Kombination aller Merkmale zusammengenommen.
Bauers Standpunkt, der die Nation mit dem Nationalcharakter identifiziert, löst die Nation von ihrem Boden los und verwandelt sie in ein e unsichtbare, sich selbst genügende Kraft. Es ergibt sich nicht eine Nation, die lebt und wirkt, sondern etwas Mystisches, Ungreifbares und Jenseitiges. Denn, wie gesagt, was für eine jüdische Nation ist das beispielsweise, die aus georgischen, daghestanischen, russischen, amerikanischen und anderen Juden besteht, deren Mitglieder einander nicht verstehen (verschiedene Sprachen sprechen), in verschiedenen Teilen des Erdballs leben, einander niemals sehen werden, niemals, weder im Frieden noch im Krieg, gemeinsam vorgehen werden?!
Nein, nicht für solche papierene „Nationen“ stellt die Sozialdemokratie ihr nationales Programm auf. Sie kann nur mit wirklichen Nationen rechnen, die handeln und sich bewegen und darum auch erzwingen, daß man mit ihnen rechnet.
Bauer verwechselt offenbar die Nation, die eine historische Kategorie ist, mit dem Volksstamm, der eine ethnographische Kategorie ist.
Übrigens scheint Bauer die Schwäche seiner Position selbst zu empfinden. Spricht er am Anfang seines Buches die Juden nachdrücklich als Nation an [8*], so korrigiert er sich am Ende des Buches und behauptet: „... die kapitalistische Gesellschaft läßt sie (die Juden) überhaupt nicht als Nation bestehen“ [9*], sie lasse sie durch andere Nationen assimilieren. Als Ursache davon erweise sich: „Die Juden haben kein geschlossenes Siedlungsgebiet“ [10*], während beispielsweise die Tschechen, die nach Bauer als Nation weiterbestehen müssen, ein solches Gebiet haben. Kurzum: Die Ursache liege im Fehlen eines Territoriums.
Mit dieser Argumentation hat Bauer den Beweis erbringen wollen, daß die nationale Autonomie nicht die Forderung der jüdischen Arbeiter sein kann [11*], hat aber damit versehentlich seine eigene Theorie umgestoßen, die die Gemeinschaft des Territoriums als eines der Merkmale der Nation leugnet.
Bauer geht jedoch weiter. Am Anfang seines Buches erklärt er mit Bestimmtheit: „Die Juden haben keine gemeinsame Sprache und sind darum doch eine Nation.“ [12*] Kaum ist er aber bei der hundertdreißigsten Seite angelangt, so hat er bereits die Front gewechselt und erklärt ebenso bestimmt: „Keine Nation ist möglich ohne gemeinsame Sprache.“ [13*] (Hervorhebung von uns)
Bauer hat hier beweisen wollen, daß „die Sprache das wichtigste Werkzeug menschlichen Verkehrs“ [14*] ist, er hat aber gleichzeitig versehentlich auch bewiesen, was zu beweisen gar nicht Seine Absicht war, nämlich die Unhaltbarkeit seiner eigenen Theorie der Nation, einer Theorie, die die Bedeutung der Sprachgemeinschaft leugnet.
So widerlegt die mit idealistischen Fäden genähte Theorie sich selbst.
II. Die nationale Bewegung
Die Nation ist nicht einfach eine historische Kategorie, sondern eine historische Kategorie einer bestimmten Epoche, der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus. Der Prozeß der Liquidierung des Feudalismus und der Entwicklung des Kapitalismus ist gleichzeitig der Prozeß des Zusammenschlusses der Menschen zu Nationen. So geschah es z.B. in Westeuropa. Die Engländer, Franzosen, Deutschen, Italiener und andere formierten sich zu Nationen bei dem siegreichen Vormarsch des über die feudale Zersplitterung triumphierenden Kapitalismus.
Die Bildung von Nationen bedeutete dort aber gleichzeitig ihre Verwandlung in selbständige Nationalstaaten. Die englische, die französische und andere Nationen stellen gleichzeitig den englischen und andere Staaten dar. Irland, das außerhalb dieses Prozesses geblieben ist, ändert nichts an dem allgemeinen Bild.
Etwas anders verliefen die Dinge in Osteuropa. Während sich im Westen die Nationen zu Staaten entwickelten, bildeten sich im Osten Nationalitätenstaaten, Staaten, die sich aus mehreren Nationalitäten zusammensetzen. Derartige Staaten sind Österreich-Ungarn und Rußland. In Osterreich erwiesen sich die Deutschen als in politischer Hinsicht am meisten entwickelt – sie übernahmen denn auch das Werk der Vereinigung der österreichischen Nationalitäten zu einem Staat. In Ungarn erwiesen sich die Madjaren, der Kern der ungarischen Nationalitäten, als die zur Staatsbildung geeignetsten, und sie waren auch die Vereiniger Ungarns. In Rußland wurde die Rolle des Vereinigers der Nationalitäten von den Großrussen übernommen, an deren Spitze eine historisch entstandene, starke und organisierte adelige Militärbürokratie stand.
So ging die Sache im Osten vor sich.
Diese eigentümliche Art der Staatenbildung konnte nur unter den Verhältnissen des noch nicht beseitigten Feudalismus, unter den Verhältnissen des schwach entwickelten Kapitalismus stattfinden, als die in den Hintergrund gedrängten Nationalitäten noch nicht dazu gekommen waren, sich ökonomisch zu geschlossenen Nationen zu konsolidieren.
Der Kapitalismus beginnt sich aber auch in den östlichen Staaten zu entwickeln. Handel und Verkehrswege entwickeln sich. Es entstehen Großstädte. Die Nationen konsolidieren sich ökonomisch. Der in das geruhsame Dasein der zurückgedrängten Nationalitäten eingebrochene Kapitalismus rüttelt diese auf und setzt sie in Bewegung. Die Entwicklung der Presse und des Theaters, die Tätigkeit des Reichsrats (in Österreich) und der Duma (in Rußland) tragen zur Stärkung der „nationalen Gefühle“ bei. Die aufgekommene Intelligenz wird von der „nationalen Idee“ durchdrungen und wirkt in derselben Richtung ...
Aber die zu selbständigem Dasein erwachten zurückgedrängten Nationen bilden jetzt keine unabhängigen Nationalstaaten mehr: sie begegnen auf ihrem Wege dem stärksten Widerstand der führenden Schichten der herrschenden Nationen, die sich schon längst an die Spitze des Staates gestellt haben. Zu spät! ...
So formieren sich zu Nationen die Tschechen, die Polen usw. in Osterreich; die Kroaten und andere in Ungarn; die Letten, Litauer, Ukrainer, Georgier, Armenier und andere in Rußland. Was in Westeuropa Ausnahme war (Irland), wurde im Osten zur Regel.
Im Westen antwortete Irland auf seine Ausnahmestellung mit einer nationalen Bewegung. Im Osten mußten die erwachten Nationen dasselbe tun.
So gestalteten sich die Umstände, die die jungen Nationen des europäischen Ostens zum Kampf antrieben.
Der Kampf begann und entbrannte eigentlich nicht zwischen den Nationen im ganzen genommen, sondern zwischen den herrschenden Klassen der madithabenden und denen der zurückgedrängten Nationen. Den Kampf führt gewöhnlich entweder das städtische Kleinbürgertum der unterdrückten Nation gegen die Großbourgeoisie der herrschenden Nation (Tschechen und Deutsche), oder die ländliche Bourgeoisie der unterdrückten Nation gegen die Gutsherren der herrschenden Nation (Ukrainer in Polen), oder aber die ganze „nationale“ Bourgeoisie der unterdrückten Nationen gegen den regierenden Adel der machthabenden Nation (Polen, Litauen, die Ukraine in Rußland).
Die Bourgeoisie ist die handelnde Hauptperson.
Die grundlegende Frage für die junge Bourgeoisie ist der Markt. Ihr Ziel ist, ihre Waren abzusetzen und aus dem Konkurrenzkampf gegen die Bourgeoisie anderer Nationalität als Sieger hervorzugehen. Daher ihr Wunsch, sich ihren „eigenen“, „heimatlichen“ Markt zu sichern. Der Markt ist die erste Schule, in der die Bourgeoisie den Nationalismus erlernt.
Doch bleibt es gemeinhin nicht bei dem Markt allein. In den Kampf greift die halbfeudale, halbbürgerliche Bürokratie der herrschenden Nation mit ihren Methoden „des Einsperrens und Verbietens“ ein. Die Bourgeoisie der machthabenden Nation – einerlei ob sie klein oder groß ist – erhält die Möglichkeit, „rascher“ und „entschiedener“ mit ihrem Konkurrenten fertig zu werden. Die „Kräfte“ vereinigen sich, und es setzt gegenüber der „fremdstämmigen“ Bourgeoisie eine ganze Anzahl von Beschränkungsmaßnahmen ein, die in Repressalien münden. Aus der wirtschaftlichen Sphäre greift der Kampf auf die politische über. Beschränkung der Freizügigkeit, Knebelung der Sprache, Schmälerung der Wahlrechte, Verminderung der Zahl der Schulen, religiöse Bedrückungen und dergleichen mehr prasseln nur so auf den Kopf des „Konkurrenten“ nieder. Diese Maßnahmen bezwecken natürlich nicht nur die Wahrnehmung der Interessen der bürgerlichen Klassen der machthabenden Nation, sondern sie verfolgen auch sozusagen spezifisch kastenmäßige Ziele der regierenden Bürokratie. Im Hinblick auf die Resultate ist dies jedoch ganz gleichgültig: die bürgerlichen Klassen und die Bürokratie sehen in diesem Fall Hand in Hand – ganz gleich, ob es sich um Österreich-Ungarn oder um Rußland handelt.
Die von allen Seiten bedrängte Bourgeoisie der unterdrückten Nation gerät naturgemäß in Bewegung. Sie appelliert an die „heimischen unteren Volksschichten“, erhebt ein Geschrei vom „Vaterland“ und gibt ihre eigene Sache für die Sache des ganzen Volkes aus. Sie wirbt für sich eine Armee aus „Landsleuten“ im Interesse – der „Heimat“. Und die „unteren Volksschichten“ verschließen sich nicht immer ihrem Werben, sondern scharen sich um ihr Banner: die Repressalien von oben treffen auch die unteren Schichten und lösen bei ihnen Unzufriedenheit aus.
So setzt die nationale Bewegung ein.
Die Stärke der nationalen Bewegung wird durch den Grad bedingt, in dem die breiten Schichten der Nation – das Proletariat und die Bauernschaft – an ihr beteiligt sind.
Ob das Proletariat unter das Banner des bürgerlichen Nationalismus tritt oder nicht – das hängt von dem Grad der Entwicklung der Klassengegensätze, vom Klassenbewußtsein und von der Organisiertheit des Proletariats ab. Das klassenbewußte Proletariat hat sein eigenes erprobtes Banner, und es hat keine Ursache, unter das Banner der Bourgeoisie zu treten.
Was die Bauern anbelangt, so hängt ihre Beteiligung an der nationalen Bewegung vor allem vom Charakter der Repressalien ab. Wenn die Repressalien die Interessen der „Scholle“ berühren, wie dies in Irland der Fall war, so treten die breiten Bauernmassen unverzüglich unter das Banner der nationalen Bewegung.
Wenn es anderseits beispielsweise in Georgien keinen einigermaßen ernst zu nehmenden antirussischen Nationalismus gibt, so vor allem deswegen, weil es dort keine russischen Gutsbesitzer und keine russische Großbourgeoisie gibt, die einen derartigen Nationalismus unter den Massen nähren könnten. In Georgien gibt es einen antiarmenischen Nationalismus, dies kommt aber daher, weil es dort noch eine armenische Großbourgeoisie gibt, die die noch nicht erstarkte georgisdie Kleinbourgeoisie niederringt und sie zu einem antiarmenischen Nationalismus drängt.
Je nach diesen Faktoren nimmt die nationale Bewegung entweder Massencharakter an und breitet sich immer mehr aus (Irland, Galizien), oder aber sie wird zu einer Kette kleiner Geplänkel und artet in Skandale und einen „Kampf“ um Firmenschilder aus (einige Kleinstädte in Böhmen).
Der Inhalt der nationalen Bewegung kann natürlich nicht überall der gleiche sein: Er wird ganz und gar durch die verschiedenartigen Forderungen bedingt, die von der Bewegung aufgestellt werden. In Irland trägt die Bewegung den Charakter einer Agrarbewegung, in Böhmen einen „Sprachen“charakter; hier verlangt man staatsbürgerliche Gleichberechtigung und Freiheit des Glaubensbekenntnisses, dort „eigene“ Beamte oder einen eigenen Landtag. In den verschiedenartigen Forderungen schimmern mitunter die verschiedenartigen Merkmale durch, die für die Nation im allgemeinen kennzeichnend sind (Sprache, Territorium usw.). Beachtung verdient der Umstand, daß man nirgends Forderungen nach dem Bauerschen allumfassenden „Nationalcharakter“ antrifft. Das ist auch begreiflich: der „Nationalcharakter“ an und für sich ist etwas Ungreifbares, und J. Strasser bemerkt ganz richtig: „... was sollen wir in der Politik ... mit ihm anfangen?“ [1*]
Das sind im allgemeinen die Formen und der Charakter der nationalen Bewegung.
Aus dem Gesagten wir klar, daß der nationale Kampf unter den Bedingungen des aufsteigenden Kapitalismus ein Kampf der bürgerlichen Klassen untereinander ist. Manchmal gelingt es der Bourgeoisie, das Proletariat in die nationale Bewegung hineinzuziehen, und dann scheint der nationale Kampf äußerlich ein Kampf „des ganzen Volkes“ zu sein, aber nur äußerlich. Seinem Wesen nach bleibt er stets ein bürgerlicher Kampf, der hauptsächlich für die Bourgeoisie vorteilhaft und ihr genehm ist.
Daraus folgt aber keineswegs, daß das Proletariat nicht gegen die Politik der Unterdrückung der Nationalitäten kämpfen soll.
Beschränkung der Freizügigkeit, Entziehung des Wahlrechts, Knebelung der Sprache, Verringerung der Zahl der Schulen und sonstige Repressalien treffen die Arbeiter in nicht geringerem, wenn nicht in höherem Maße als die Bourgeoisie. Eine solche Lage kann die trete Entwicklung der geistigen Kräfte des Proletariats der unterworfenen Nationen nur hemmen. Man kann nicht ernstlich von einer vollen Entfaltung der geistigen Anlagen des tatarischen oder des jüdischen Arbeiters sprechen, wenn ihm nicht die Möglichkeit gegeben wird, seine Muttersprache in Versammlungen und Vorträgen zu gebrauchen, wenn ihm seine Schulen geschlossen werden.
Die Politik nationalistischer Repressalien ist aber für die Sache des Proletariats auch noch in anderer Hinsicht gefährlich. Sie lenkt die Aufmerksamkeit breiter Schichten von den sozialen Fragen, von den Fragen des Klassenkampf es ab und lenkt sie auf nationale Fragen, auf „gemeinsame“ Fragen des Proletariats und der Bourgeoisie hin. Dies aber schafft einen günstigen Boden für die verlogene Predigt einer „Interessenharmonie“, für die Vertuschung der Klasseninteressen des Proletariats, für die geistige Knechtung der Arbeiterschaft. Dadurch wird der Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter aller Nationalitäten ein ernstliches Hindernis bereitet. Wenn ein beträchtlicher Teil der polnischen Arbeiter bis jetzt in der geistigen Knechtschaft der bürgerlichen Nationalisten verharrt, wenn er bis jetzt abseits von der internationalen Arbeiterbewegung steht, so hauptsächlich deswegen, weil die althergebrachte antipolnische Politik der „Machthabenden“ den Boden für eine solche Knechtschaft schafft und die Befreiung der Arbeiter aus dieser Knechtschaft erschwert.
Die Politik der Repressalien bleibt aber nicht hierbei stehen. Vom „System“ der Unterdrückung geht sie nicht selten zum „System“ der Verhetzung der Nationen über, zum „System“ des Gemetzels und der Pogrome. Natürlich ist dieses „System“ nicht überall und nicht immer möglich, aber wo es möglich ist – wo nämlich die elementaren Freiheiten fehlen – nimmt es nicht selten erschreckende Ausmaße an und droht, die Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter in Blut und Tränen zu ertränken. Der Kaukasus und Südrußland bieten nicht wenige Beispiele dafür. „Teile und herrsche“ – das ist das Ziel der Verhetzungspolitik. Und soweit eine derartige Politik Erfolg hat, ist sie das größte Übel für das Proletariat, ist sie ein höchst ernstliches Hindernis für die Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter aller Nationalitäten eines Staates.
Die Arbeiter sind jedoch interessiert an der völligen Vereinigung aller ihrer Klassengenossen zu einer einheitlichen internationalen Armee, an ihrer raschen und endgültigen Befreiung aus der geistigen Knechtschaft der Bourgeoisie, an der vollen und freien Entfaltung der geistigen Kräfte ihrer Mitbrüder, welcher Nation sie auch angehören mögen.
Darum kämpfen die Arbeiter und werden auch weiter kämpfen gegen die Politik der Unterdrückung der Nationen in allen ihren Formen, von den raffiniertesten bis zu den brutalsten, ebenso wie gegen die Politik der Verhetzung in allen ihren Formen.
Darum proklamiert die Sozialdemokratie aller Länder das Selbstbestimmungsrecht der Nationen.
Recht auf Selbstbestimmung, das heißt: Nur die Nation selbst hat das Recht, über ihr Schicksal zu bestimmen; niemand hat das Recht, sich in das Leben einer Nation gewaltsam einzumischen, ihre Schulen und, sonstigen Einrichtungen zu zerstören, ihre Sitten und Gebräuche umzustoßen, ihre Sprache zu knebeln, ihre Rechte zu schmälern.
Das bedeutet natürlich nicht, daß die Sozialdemokratie alle und jegliche Gebräuche und Einrichtungen einer Nation unterstützen wird. Im Kampf gegen die Vergewaltigung einer Nation wird sie nur für das Recht der Nation eintreten, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen, gleichzeitig aber eine Agitation gegen die schädlichen Gebräuche und Einrichtungen dieser Nation betreiben, um den werktätigen Schichten der gegebenen Nation die Möglichkeit zu geben, sich ihrer zu entledigen.
Recht auf Selbstbestimmung, das heißt: Die Nation kann sich nach eigenem Gutdünken einrichten. Sie hat das Recht, ihr Leben nach den Grundsätzen der Autonomie einzurichten. Sie hat das Recht, zu anderen Nationen in föderative Beziehungen zu treten.. Sie hat das Recht, sich gänzlich loszutrennen. Die Nation ist souverän, und alle Nationen sind gleichberechtigt.
Das bedeutet natürlich nicht, daß die Sozialdemokratie für jede beliebige Forderung einer Nation eintreten wird. Eine Nation hat das Recht, sogar zu alten Zuständen zurückzukehren, aber das heißt noch nicht, daß die Sozialdemokratie einen derartigen Beschluß dieser oder jener Institution der gegebenen Nation unterschreiben wird. Die Pflichten der Sozialdemokratie, die die Interessen des Proletariats verficht, und die Rechte der Nation, die aus verschiedenen Klassen zusammengesetzt ist, sind zwei verschiedene Dinge.
In ihrem Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen steckt sich die Sozialdemokratie das Ziel, der Politik der nationalen Unterdrückung ein Ende zu setzen, sie unmöglich zu machen und damit den Kampf unter den Nationen zu untergraben, ihn abzustumpfen und auf ein Mindestmaß zu reduzieren.
Dadurch unterscheidet sich die Politik des klassenbewußten Proletariats wesentlich von der Politik der Bourgeoisie, die bemüht ist, den nationalen Kampf zu vertiefen und anzufachen, die nationale Bewegung weiterzutreiben und zuzuspitzen.
Eben darum kann das klassenbewußte Proletariat nicht unter das „nationale“ Banner der Bourgeoisie treten.
Eben darum kann die von Bauer empfohlene sogenannte „evolutionistisch-nationale“ Politik nicht zur Politik des Proletariats werden. Bauers Versuch, seine „evolutionistisch-nationale“ Politik mit der Politik der „modernen Arbeiterklasse“ zu identifizieren [2*], ist ein Versuch, den Klassenkampf der Arbeiter dem Kampf der Nationen anzupassen.
Die Geschicke der ihrem Wesen nach bürgerlichen nationalen Bewegung sind naturgemäß an das Schicksal der Bourgeoisie gebunden. Ein endgültiges Verebben der nationalen Bewegung ist erst mit dem Sturz der Bourgeoisie möglich. Erst im Reiche des Sozialismus kann völliger Friede hergestellt werden. Aber den nationalen Kampf auf ein Mindestmaß zu reduzieren, ihn an der Wurzel zu untergraben, ihn für das Proletariat in höchstmöglichem Grade unschädlich zu machen, das ist auch im Rahmen des Kapitalismus möglich. Davon zeugen, sagen wir, die Beispiele der Schweiz und Amerikas. Dazu muß das Land demokratisiert, muß den Nationen die Möglichkeit freier Entwicklung gewährt werden.
III. Die Fragestellung
Die Nation hat das Recht, über ihr Schicksal frei zu bestimmen. Sie hat das Recht, sich einzurichten, wie es ihr beliebt, wobei sie natürlich nicht den Rechten anderer Nationen Abbruch tun darf. Das ist unbestreitbar.
Aber wie soll sie sich nun einrichten, welche Formen soll ihre künftige Verfassung annehmen, wenn die Interessen der Mehrheit der Nation und vor allem die des Proletariats maßgebend sein sollen?
Die Nation hat das Recht, sich autonom einzurichten. Sie hat sogar das Recht, sich loszutrennen. Aber das heißt noch nicht, daß sie das unter allen Umständen tun muß, daß Autonomie oder Separation immer und überall für die Nation, das heißt für ihre Mehrheit, das heißt für die werktätigen Schichten, von Vorteil sein wird. Die transkaukasischen Tataren als Nation könnten sich, sagen wir, auf ihrem Landtag versammeln und unter dem Einfluß ihrer Begs und Mullahs die alten Zustände wiederherstellen, den Beschluß fassen, sich vom Reich loszutrennen. Nach dem Sinn des Punktes über die Selbstbestimmung haben sie das volle Recht dazu. Läge das aber im Interesse der werktätigen Schichten der tatarischen Nation? Kann denn die Sozialdemokratie gleichgültig zuschauen, wie bei der Lösung der nationalen Frage die Begs und Mullahs die Massen hinter sich her führen? Soll die Sozialdemokratie hier nicht eingreifen und in bestimmter Weise den Willen der Nation beeinflussen? Soll sie nicht mit einem konkreten Plan für die Lösung der Frage hervortreten, der für die tatarischen Massen am vorteilhaftesten ist?
Welche Lösung aber ist mit den Interessen der werktätigen Massen am besten zu vereinbaren? Autonomie, Föderation oder Separation?
Alles das sind Fragen, deren Beantwortung von den konkreten historischen Verhältnissen abhängt, in denen die gegebene Nation lebt.
Mehr noch. Wie überhaupt alles, ändern sich auch die Verhältnisse, und eine Entscheidung, die im gegebenen Augenblick richtig ist, kann sich zu einer anderen Zeit als gänzlich unannehmbar erweisen.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Marx Verfechter der Lostrennung Russisch-Polens, und er hatte recht, denn damals handelte es sich um die Befreiung einer höheren Kultur von einer sie zerstörenden niedrigeren. Auch stand die Frage damals nicht nur in der Theorie, nicht akademisch, sondern in der Praxis, im Leben selbst ...
Ende des 19. Jahrhunderts sprechen sich die polnischen Marxisten schon gegen eine Lostrennung Polens aus, und auch sie haben recht, denn in den letzten fünfzig Jahren sind tiefgreifende Veränderungen im Sinne einer ökonomischen und kulturellen Annäherung Rußlands und Polens eingetreten. Außerdem ist in dieser Zeit die Frage der Lostrennung aus einem Gegenstand des praktischen Lebens zu einem Gegenstand akademischer Diskussionen geworden, die höchstens die im Ausland lebenden Intellektuellen aufregen.
Dies schließt natürlich die Möglichkeit des Eintritts gewisser innerer und äußerer Konjunkturen nicht aus, die die Frage der Lostrennung Polens von neuem aktuell machen können.
Hieraus folgt, daß die nationale Frage nur im Zusammenhang mit den in ihrer Entwicklung betrachteten historischen Bedingungen gelöst werden kann.
Die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen, unter denen eine Nation lebt, sind der einzige Schlüssel zur Entscheidung der Frage, wie sich nämlich diese oder jene Nation einrichten, welche Formen ihre künftige Verfassung annehmen soll. Dabei ist es möglich, daß sich für jede Nation eine besondere Lösung der Frage erforderlich macht. Wenn irgendwo eine dialektische Stellung der Frage notwendig ist, so eben hier, in der nationalen Frage.
Deswegen müssen wir uns entschieden gegen eine sehr verbreitete, aber auch sehr summarische Methode der „Lösung“ der nationalen Frage wenden, die ihren Ursprung vom „Bund“ herleitet. Wir meinen die wohlfeile Methode, sich auf die österreichische und südslawische Sozialdemokratie [1*] zu berufen, die angeblich die nationale Frage bereits gelöst hat und von der die russischen Sozialdemokraten die Lösung bloß zu übernehmen brauchten. Dabei wird vorausgesetzt, daß alles, was, sagen wir, für Österreich richtig ist, auch für Rußland richtig sei. Das Wichtigste und im gegebenen Fall Entscheidende wird aus dem Auge gelassen: die konkreten historischen Verhältnisse in Rußland überhaupt und im Leben jeder einzelnen Nation innerhalb Rußlands im besonderen.
Lassen wir beispielshalber den bekannten Bundisten W. Kossowski zu Worte kommen:
„Als auf dem IV. Kongreß des ‚Bund‘ [7] die prinzipielle Seite der Frage (gemeint ist die nationale Frage. J.St.) erörtert wurde, fand die von einem Kongreßteilnehmer im Geiste der Resolution der südslawischen sozialdemokratischen Partei vorgeschlagene Lösung der Frage allgemeine Billigung.“ [2*]
Das Ergebnis war, daß die nationale Autonomie „vom Kongreß einstimmig angenommen“ wurde.
Weiter nichts! Keine Analyse der russischen Wirklichkeit, keine Klärung der Frage nach den Lebensbedingungen der Juden in Rußland: Erst entlehnt man die Lösung bei der südslawischen sozialdemokratischen Partei, dann „billigt“ man sie, dann wird sie „einstimmig angenommen“! So stellen und „lösen“ die Bundisten die nationale Frage in Rußland ...
Nun sind aber die Verhältnisse in Österreich von denen in Rußland grundverschieden. Dadurch ist es denn auch zu erklären, weshalb die Sozialdemokratie in Österreich, die in Brünn (1899) [8] ein nationales Programm im Geiste der Resolution der südslawischen sozialdemokratischen Partei (allerdings mit einigen unbedeutenden Abänderungen) angenommen hat, die Frage durchaus, sozusagen, nicht russisch anfaßt und sie natürlich nicht russisch löst.
Vor allem die Stellung der Frage. Wie wird die Frage von Springer und Bauer gestellt, den österreichischen Theoretikern der national-kulturellen Autonomie und den Interpreten des Brünner nationalen Programms und der Resolution der südslawischen sozialdemokratischen Partei?
„Ob ein Nationalitätenstaat“, sagt Springer, „möglich ist und ob insbesondere die österreichischen Nationalitäten gezwungen sind, ein Staatswesen zu bilden, ist eine Vorfrage, die hier nicht beantwortet, sondern als entschieden vorausgesetzt ist. Wer diese Möglichkeit und Notwendigkeit nicht zugibt, für den ist freilich unsere Erörterung gegenstandslos. Unser Thema lautet: Da diese Nationen einmal beisammen sein müssen, unter welchen Rechtsformen können sie dies relativ am besten?“ (Hervorhebungen von Springer.) [3*]
Also die staatliche Integrität Österreichs als Ausgangspunkt.
Dasselbe sagt Bauer:
„Wir setzen also zunächst voraus, daß die österreichischen Nationen in demselben staatlichen Verbande bleiben, in dem sie jetzt zusammenleben, und fragen, wie die Nationen innerhalb dieses Verbandes ihr Verhältnis zueinander und zum Staate einrichten werden.“ [4*]
Also wieder die Integrität Österreichs vor allem.
Kann die Sozialdemokratie Rußlands die Frage so stellen? Nein, das kann sie nicht. Sie kann es darum nicht, weil sie von Anfang an den Standpunkt der Selbstbestimmung der Nationen einnimmt, kraft welcher der Nation das Recht auf Lostrennung zusteht.
Sogar der Bundist Goldblatt hat auf dem zweiten Parteitag der Sozialdemokratie Rußlands zugegeben, daß die Sozialdemokratie auf den Standpunkt der Selbstbestimmung nicht verzichten kann. Goldblatt sagte damals:
„Gegen das Selbstbestimmungsrecht kann nichts eingewendet werden. Wenn irgendeine Nation um ihre Selbständigkeit kämpft, so darf dem nicht entgegengetreten werden. Wenn Polen keine ‚gesetzliche Ehe‘ mit Rußland eingehen will, so steht es uns nicht zu, ihm das zu verwehren.“
Das stimmt alles. Daraus folgt aber, daß die Ausgangspunkte der österreichischen und der russischen Sozialdemokraten nicht nur nicht gleich, sondern, im Gegenteil, einander diametral entgegengesetzt sind. Kann man danach noch von der Möglichkeit reden, das nationale Programm bei den Österreichern zu entlehnen?
Weiter. Die Österreicher gedenken, die „Freiheit der Nationalitäten“ durch kleine Reformen, in langsamem Schritt zu verwirklichen. Wenn sie die national-kulturelle Autonomie als praktische Maßnahme vorschlagen, so rechnen sie in keiner Weise mit einer radikalen Veränderung, mit einer demokratischen Freiheitsbewegung, die sie gar nicht vorsehen. Die russischen Marxisten dagegen verbinden die Frage der „Freiheit der Nationalitäten“ mit der voraussichtlichen radikalen Veränderung, mit der demokratischen Freiheitsbewegung; sie haben keinen Grund, auf Reformen zu rechnen: Dies aber ändert die Sache wesentlich im Hinblick auf das voraussichtliche Schicksal der Nationen in Rußland.
„Freilich“, sagt Bauer, „ist es wenig wahrscheinlich, daß die nationale Autonomie das Ergebnis einer großen Entschließung, einer kühnen Tat sein wird. In einem langsamen Entwicklungsprozeß, in schweren Kämpfen, die immer wieder die Gesetzgebung stillegen und die bestehende Verwaltung starr erhalten ... wird sich Österreich Schritt für Schritt der nationalen Autonomie entgegen entwickeln. Nicht eine große gesetzgeberische Tat, sondern eine Unzahl von Einzelgesetzen für einzelne Länder, einzelne Gemeinden werden die neue Verfassung schaffen.“ [5*]
Dasselbe sagt Springer:
„Ich weiß vor allem“, schreibt er, „daß Institutionen dieser Art (Organe der nationalen Autonomie. J.St.) nicht in Jahren und nicht in einem Jahrzehnt geschaffen werden. Die Reorganisation der preußischen Verwaltung allein hat geraume Zeit erfordert ... Somit bedurfte Preußen zweier Jahrzehnte zur endgültigen Feststellung seiner fundamentalen Verfassungseinrichtungen. Man glaube nicht, daß ich mich über das Maß der Zeiten und Schwierigkeiten in Österreich irgendwelcher Täuschung hingebe.“ [6*]
Alles das ist sehr bestimmt gesagt. Können aber die russischen Marxisten anders als die nationale Frage mit „kühnen, entschlossenen Taten“ verbinden? Können sie auf Teilreformen, auf eine „Unzahl von Einzelgesetzen“ als Mittel zur Eroberung der „Freiheit der Nationalitäten“ rechnen? Wenn sie das aber nicht können und auch nicht sollen, folgt denn daraus nicht klar, daß die Kampfmethoden und die Perspektiven der Österreicher und der Russen grundverschieden sind? Wie kann man sich angesichts dieser Sachlage auf die einseitige und halbschlächtige nationalkulturelle Autonomie der Österreicher beschränken? Von zwei Dingen eins: Entweder rechnen die Anhänger der Entlehnung nicht auf „entschlossene und kühne Taten“ in Rußland, oder aber sie rechnen darauf, doch „sie wissen nicht, was sie tun“.
Schließlich stehen Rußland und Österreich vor grundverschiedenen aktuellen Aufgaben, was auch verschiedene Methoden bei der Lösung der nationalen Frage erheischt. Österreich lebt in parlamentarischen Verhältnissen, ohne Parlament wäre dort unter den gegenwärtigen Umständen keine Entwicklung möglich. Das parlamentarische Leben und die Gesetzgebung Österreichs werden aber häufig durch die schroffen Zusammenstöße der nationalen Parteien völlig stillgelegt. Daraus eben ist die chronische politische Krise zu erklären, an der Osterreich seit langem krankt. Deswegen ist dort die nationale Frage die Achse des politischen Lebens, eine Existenzfrage. Kein Wunder daher, daß die österreichischen sozialdemokratischen Politiker vor allem die Frage der nationalen Zusammenstöße irgendwie zu lösen suchen, natürlich auf dem Boden des bereits bestehenden Parlamentarismus, mit parlamentarischen Mitteln ...
Anders in Rußland. In Rußland haben wir erstens „Gott sei Dank kein Parlament“. [9] Zweitens – und das ist die Hauptsache – bildet in Rußland nicht die nationale Frage, sondern die Agrarfrage die Achse des politischen Lebens. Darum ist das Schicksal der russischen Frage und somit auch der „Befreiung“ der Nationen in Rußland mit der Lösung der Agrarfrage, das heißt mit der Vernichtung der Überreste der Leibeigensdiaft, das heißt mit der Demokratisierung des Landes verbunden. Daraus läßt sich denn auch erklären, warum in Rußland die nationale Frage nicht als eine selbständige und entscheidende Frage, sondern als ein Teil der allgemeinen und wichtigeren Frage der Befreiung des Landes von seinen Fesseln hervortritt.
„Die Unfruchtbarkeit des österreichischen Parlaments“, schreibt Springer, „ist gerade dadurch hervorgerufen, daß jede Reform innerhalb der nationalen Parteien Gegensätze schafft, die ihr Gefüge lockern könnten. Darum vermeiden die führenden Persönlichkeiten geradezu jede Anregung. Ein Fortschritt Osterreichs ist überhaupt nur denkbar, wenn den Nationen unentziehbare Rechtspositionen eingeräumt werden, die ihnen die ständige Erhaltung einer nationalen Kampftruppe im Parlament ersparen und es ihnen möglich machen, sich wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben zuzuwenden.“ [7*]
Dasselbe sagt Bauer:
„Der nationale Frieden ist zunächst eine Notwendigkeit für den Staat. Der Staat kann es nicht vertragen, daß die albernste Sprachenfrage, daß jeder Sireit erregter Menschen an der Sprachgrenze, daß jede neue Schule die Gesetzgebung stillegt.“ [8*]
Das alles ist verständlich. Nicht weniger verständlich ist es aber, daß in Rußland die nationale Frage auf einer ganz anderen Ebene liegt. Nicht die nationale, sondern die Agrarfrage entscheidet das Schicksal des Fortschritts in Rußland. Die nationale Frage ist eine untergeordnete Frage.
Also eine verschiedene Fragestellung, verschiedene Perspektiven und Kampfmethoden, verschiedene unmittelbare Aufgaben. Ist es etwa nicht einleuchtend, daß bei einer derartigen Lage der Dinge nur Papiermenschen, die die nationale Frage jenseits von Raum und Zeit „lösen“, in Osterreich Beispiele suchen und sich mit einer Entlehnung des Programms abgeben können?
Noch einmal: Die konkreten historischen Verhältnisse als Ausgangspunkt, eine dialektische Stellung der Frage als einzig richtige Fragestellung – das ist der Schlüssel zur Lösung der nationalen Frage.
IV. Die national-kulturelle Autonomie
Wir sprachen oben von der formalen Seite des österreichischen nationalen Programms, von den methodologischen Grundlagen, derentwegen die russischen Marxisten sich nicht einfach an der österreichischen Sozialdemokratie ein Beispiel nehmen und deren Programm zu dem ihrigen machen können.
Sprechen wir nunmehr vom Programm selbst, von seinem Wesen.
Welches ist also das nationale Programm der österreichischen Sozialdemokratie?
Dies läßt sich in zwei Worten ausdrücken: national-kulturelle Autonomie.
Das bedeutet erstens, daß die Autonomie nicht, sagen wir, Böhmen oder Polen eingeräumt wird, die hauptsächlich von Tschechen und Polen bevölkert sind, sondern den Tschechen und den Polen schlechthin, unabhängig vom Territorium, einerlei welchen Teil Österreichs sie bewohnen mögen.
Eben darum heißt die Autonomie nationale, nicht aber territoriale Autonomie.
Das bedeutet zweitens, daß sich die über alle Ecken und Enden Osterreichs verstreuten Tschechen, Polen, Deutschen usw. individuell, als Einzelpersonen betrachtet, als geschlossene Nationen konstituieren und als solche dem österreichischen Staat angehören. Österreich wird in einem solchen Fall nicht als Verband autonomer Gebiete, sondern als Verband autonomer Nationalitäten erscheinen, die unabhängig vom Territorium konstituiert sind.
Das bedeutet drittens, daß sich die allgemeinen nationalen Institutionen, die zu diesem Zweck für die Polen, die Tschechen usw. geschaffen werden sollen, nicht mit „politischen“, sondern nur mit „kulturellen“ Fragen befassen werden. Die spezifisch politischen Fragen werden sich im Parlament ganz Österreichs (dem Reichsrat) konzentrieren.
Darum heißt diese Autonomie auch noch kulturelle, national-kulturelle Autonomie.
Hier der Wortlaut des Programms, das von der österreichischen Sozialdemokratie auf dem Brünner Parteitag 1899 angenommen wurde. [1*]
Nachdem das Programm erwähnt, „daß die nationalen Wirren in Österreich jeden politischen Fortschritt ... lähmen“, daß „die endliche Regelung der Nationalitätenfrage ... vor allem eine kulturelle Notwendigkeit ist“, daß „sie nur möglich ist in einem wahrhaft demokratischen Gemeinwesen, das auf das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht gegründet ist“, fährt es folgendermaßen fort:
Die Pflege und Entwicklung der nationalen Eigenart [2*] aller Völker in Österreich ist nur möglich auf Grundlage des gleichen Rechtes und unter Vermeidung jeder Unterdrückung. Daher muß vor allem anderen jeder bürokratisch-staatliche Zentralismus ebenso wie die feudalen Privilegien der Länder perhorresziert [verworfen] werden.
Unter diesen Voraussetzungen, aber auch nur unter diesen, wird es möglich sein, in Österreich an Stelle des nationalen Haders nationale Ordnung zu setzen, und zwar unter Anerkennung folgender leitender Grundsätze:
Österreich ist umzubilden in einen demokratischen Nationalitätenbundesstaat. An Stelle der historischen Kronländer werden national abgegrenzte Selbstverwaltungskörper gebildet, deren Gesetzgebung und Verwaltung durch Nationalkammern, gewählt auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts, besorgt wird. Sämtliche Selbstverwaltungsgebiete einer und derselben Nation bilden zusammen einen national einheitlichen Verband, der seine nationalen Angelegenheiten völlig autonom besorgt. Das Recht der nationalen Minderheiten wird durch ein Cigenes, Vorfl Reicbsparlament zu beschließendes Gesetz gewahrt.“ Das Programm schließt mit einem Appell an die Solidarität aller Nationen Österreichs. [3*]
Man bemerkt unschwer, daß in diesem Programm. noch einige Spuren des „Territorialismus“ übriggeblieben sind, aber im allgemeinen ist es eine Formulierung der nationalen Autonomie. Nicht umsonst wird es von Springer, dem ersten Agitator der national-kulturellen Autonomie, mit Begeisterung aufgenommen. [4*] Bauer ist ebenfalls für dieses Programm, das er als „theoretischen Sieg“ [5*] der nationalen Autonomie bezeichnet; nur schlägt er vor, größerer Klarheit halber den Punkt 4 durch eine bestimmtere Formulierung zu ersetzen, die von der Notwendigkeit spräche, die „nationalen Minderheiten innerhalb jedes Selbstverwaltungsgebietes als öffentlich-rechtliche Körperschaften zu konstituieren“, zwecks Verwaltung des Schulwesens und der sonstigen Kulturangelegenheiten. [6*]
So sieht das nationale Programm der österreichischen Sozialdemokratie aus.
Betrachten wir nun seine wissenschaftlichen Grundlagen.
Sehen wir zu, wie die österreichische Sozialdemokratie die von ihr propagierte national-kulturelle Autonomie begründet.
Wenden wir uns den Theoretikern dieser letzteren, Springer und Bauer, zu.
Den Ausgangspunkt für die nationale Autonomie bildet die Auffassung der Nation als eines Personenverbandes, unabhängig von einem bestimmten Gebiet.
„Die Nationalität steht“, nach Springer, „in keiner wesentlichen Beziehung zum Gebiet“; sie ist „ein autonomer Personenverband“. [7*]
Bauer spricht ebenfalls von der Nation als einer „Personengemeinschaft“, der nicht „die ausschließliche Herrschaft in einem bestimmten Gebiete“ zugesichert ist. [8*]
Die Personen, die eine Nation bilden, leben aber nicht immer in kompakter Masse – sie zerfallen häufig in Gruppen und sind auf diese Weise in fremde nationale Organismen eingesprenkelt. Es ist der Kapitalismus, der sie zum Broterwerb in verschiedene Gebiete und Städte treibt. Aber auf fremden nationalen Gebieten befindlich und dort Minderheiten bildend, haben diese Gruppen unter den örtlichen nationalen Mehrheiten zu leiden, nämlich unter der Knebelung ihrer Sprache, Schule und dergleichen mehr. Daher die nationalen Zusammenstöße. Daher die „Untauglichkeit“ der Gebietsautonomie Der einzige Ausweg aus dieser Lage ist nach Springers und Bauers Meinung die Konstituierung der in den verschiedenen Teilen des Staates verstreuten Minderheit der gegebenen Nationalität zu einem allgemeinen, alle Klassen umfassenden nationalen Verband. Nur ein derartiger Verband würde, ihrer Meinung nach, die kulturellen Interessen der nationalen Minderheiten schützen können, nur er wäre imstande, dem nationalen Hader ein Ende zu machen.
„Daraus ergibt sich die Notwendigkeit“, sagt Springer, „die Nationalitäten zu konstituieren, mit Rechten und mit Verantwortlichkeit auszustatten ...“ [9*] Ja, „ein Gesetz ist leicht gemacht, aber ob es als Gesetz wirkt ...“ „Will man für die Nationen ein Gesetz schaffen, dann muß man erst die Nationen schaffen ...“ [10*] „Ohne die Konstituierung der Nationalitäten ist ein nationales Recht und das Ende der Wirren ... nicht möglich.“ [11*]
In demselben Sinne äußert sich Bauer, wenn er die „Konstituierung der Minderheiten als öffentlich-rechtliche Körperschaften auf Grund des Personalitätsprinzips“ als „Forderung der Arbeiterklasse“ [12*] aufstellt.
Wie sollen aber die Nationen konstituiert werden? Wie soll die Zugehörigkeit des einzelnen zu dieser oder jener Nation bestimmt werden?
„Nationalzugehörigkeit“, sagt Springer, „ist durch die Matrikeln festgesetzt. Jeder im Kreisgebiet Domizilierende unterliegt dem Zwange, sich zu einer Nationalität des Kreises zu erklären.“ [13*]
„Das Personalitätsprinzip“, sagt Bauer, „setzt voraus, daß die Bevölkerung nach Nationalitäten geschieden werde ... Auf Grund der freien Nationalitätserklärung der mündigen Staatsbürger sollen Nationalkataster angelegt werden.“ [14*]
Weiter.
„Alle Deutschen in den national einheitlichen Kreisen“, sagt Bauer, „ferner alle im nationalen Kataster eingetragenen Deutschen in den Doppelkreisen bilden die deutsche Nation und wählen den Nationalrat.“ [15*]
Dasselbe gilt für die Tschechen, Polen usw.
„Der Nationalrat. Dieser ist“, laut Springer, „das Kulturparlament der Nation, ihm obliegt die Feststellung der Grundsätze und die Bewilligung der Mittel, somit die ganze Obsorge für das nationale Unterrichtswesen, für die nationale Literatur, für Kunst und Wissenschaft, die Errichtung von Akademien, Museen, Galerien, Theatern“ usw. [16*]
Dieser Art sind die Organisation der Nation und deren zentrale Institution.
Mit der Schaffung solcher alle Klassen umfassenden Institutionen ist die österreichische Sozialdemokratie nach Bauers Meinung bestrebt, „die nationale Kultur ... zum Besitztum des ganzen Volkes zu machen und dadurch alle Volks genossen zu einer nationalen Kulturgemeinschaft zusammenzuschließen“ [17*] (Hervorhebung von uns).
Man könnte meinen, alles das bezöge sich nur auf Österreich. Bauer aber ist damit nicht einverstanden. Er behauptet entschieden, daß die nationale Autonomie auch für andere Staaten obligatorisch sei, die wie Österreich aus mehreren Nationalitäten bestehen.
„In Nationalitätenstaat“, meint Bauer, „setzt die Arbeiterklasse aller Nationen der nationalen Machtpolitik der besitzenden Klassen die Forderung der nationalen Autonomie entgegen.“ [18*]
Indem er also unmerklich für die Selbstbestimmung der Nationen die nationale Autonomie unterschiebt, fährt er dann fort:
„So wird die nationale Autonomie die Selbstbestimmung der Nationen, notwendig das Verfassungsprogramm der Arbeiterklasse aller Nationen im Nationalitätenstaat.“ [19*]
Er geht aber noch weiter. Er glaubt fest daran, daß die von ihm und Springer „konstituierten“, alle Klassen umfassenden „nationalen Verbände“ eine Art Prototyp der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft sein werden. Denn er glaubt zu wissen: „Sie (die sozialistische Gesellschaftsordnung) wird die Menschheit in national abgegrenzte Gemeinwesen gliedern“ [20*], im Sozialismus werde eine „Gliederung der Menschheit in autonome nationale Gemeinwesen“ [21*] erfolgen, so werde „die sozialistische Gesellschaft zweifellos ein buntes Bild von nationalen Personenverbanden und Gebietskörperschaften bieten“ [22*], und schlußfolgert: „Das sozialistische Nationalitätsprinzip ist die höhere Einheit des Nationalitätsprinzips und der nationalen Autonomie.“ [23*]
Das dürfte genügen ...
So begründen Bauer und Springer in ihren Werken die national-kulturelle Autonomie.
Auffallend ist vor allem die gänzlich unbegreifliche und durch nichts zu rechtfertigende Unterschiebung der nationalen Autonomie für die Selbstbestimmung der Nationen. Von zwei Dingen eins: Entweder hat Bauer die Selbstbestimmung nicht begriffen, oder er hat sie begriffen, engt sie aber aus irgendeinem Grunde bewußt ein. Denn es ist unzweifelhaft, daß: a) die national-kulturelle Autonomie die Integrität des Nationalitätenstaates voraussetzt, während die Selbstbestimmung über den Rahmen dieser Integrität hinausgeht; b) die Selbstbestimmung der Nation die ganze Fülle der Rechte einräumt, die nationale Autonomie dagegen nur „kulturelle“ Rechte. Dies zum ersten.
Zweitens ist in der Zukunft sehr wohl ein Zusammentreffen innerer und äußerer Konjunkturen möglich, bei dem sich diese oder jene Nationalität entschließt, aus dem Nationalitätenstaat, sagen wir aus Österreich, auszutreten – haben doch die ruthenischen Sozialdemokraten auf dem Brünner Parteitag erklärt, sie seien bereit, „die beiden Teile“ ihres Volkes zu einem Ganzen zu vereinigen. [24*] Wie soll man es dann mit der „für die Arbeiterklasse aller Nationen notwendigen“ nationalen Autonomie halten? Was ist das für eine „Lösung“ der Frage, die die Nationen mechanisch in das Prokrustesbett der Staatsintegrität hineinzwängt?
Weiter. Die nationale Autonomie widerspricht dem ganzen Entwicklungsgang der Nationen. Sie gibt die Losung der Konstituierung von Nationen aus, aber lassen sie sich denn künstlich zusammenschweißen, wenn das Leben, wenn die wirtschaftliche Entwicklung ganze Gruppen von ihnen losreißt und über verschiedene Gebiete verstreut? Kein Zweifel, daß sich in den ersten Entwicklungsstadien des Kapitalismus Nationen zusammenschließen. Außer Zweifel steht aber auch, daß in den höheren Stadien des Kapitalismus ein Prozeß der Zerstreuung der Nationen einsetzt, ein Prozeß, der von den Nationen eine ganze Anzahl von Gruppen loslöst, die auf Erwerb ausziehen und dann auch für immer in andere Gebiete des Staates übersiedeln; die Auswanderer verlieren dabei die alten Bindungen, gehen an den neuen Wohnorten neue ein, eignen sich von Generation zu Generation neue Sitten und Gepflogenheiten, vielleicht auch eine neue Sprache an. Es fragt sich: Lassen sich denn solche voneinander abgesonderte Gruppen zu einem einheitlichen nationalen Verband zusammenfassen? Wo sind die wunderwirkenden Reifen, mit denen man Nichtzusammenzuhaltendes zusammenhalten könnte? Wäre es denkbar, beispielsweise die baltischen und die transkaukasischen Deutschen „zu einer Nation zusammenzuschließen“? Ist dies alles aber undenkbar und unmöglich, wodurch unterscheidet sich dann die nationale Autonomie von der Utopie der alten Nationalisten, die bemüht waren, das Rad der Geschichte zurückzudrehen?
Aber die Einheit der Nation zerfällt nicht nur infolge der Abwanderung. Sie zerfällt auch von innen heraus, infolge der Verschärfung des Klassenkampf es. In den ersten Stadien des Kapitalismus kann man noch von einer „Kulturgemeinschaft“ des Proletariats und der Bourgeoisie sprechen. Mit der Entwicklung der Großindustrie und der Verschärfung des Klassenkampfes jedoch beginnt die „Gemeinschaft“ dahinzuschmelzen. Man kann nicht im Ernst von einer „Kulturgemeinschaft“ der Nation reden, wenn Unternehmer und Arbeiter ein und derselben Nation aufhören, einander zu verstehen. Von was für einer „Schicksalsgemeinschaft“ kann die Rede sein, wenn die Bourgeoisie nach Krieg lechzt, das Proletariat aber erklärt: „Krieg dem Kriege“? Läßt sich denn aus solchen entgegengesetzten Elementen ein einheitlicher, alle Klassen umfassender nationaler Verband zustande bringen? Kann denn nach alledem noch von einem „Zusammenschluß aller Volksgenossen zu einer nationalen Kulturgemeinschaft“ [25*] gesprochen werden? Folgt denn daraus nicht klar, daß die nationale Autonomie dem ganzen Gang des Klassenkampfes widerspricht?
Doch setzen wir für einen Augenblick voraus, daß die Losung „Organisiere die Nation“ realisierbar sei. Man kann noch die bürgerlich-nationalistischen Parlamentarier verstehen, die bemüht sind, eine Nation „zu organisieren“, um mehr Stimmen zu ergattern. Seit wann aber geben sich Sozialdemokraten damit ab, Nationen „zu organisieren“, Nationen „zu konstituieren“, Nationen „zu schaffen“?
Was sind das für Sozialdernokratien, die in der Epoche der größten Verschärfung des Klassenkampfes alle Klassen umfassende nationale Verbände organisieren? Bis jetzt hatte die österreichische wie jede andere Sozialdemokratie die eine Aufgabe: das Proletariat zu organisieren. Aber diese Aufgabe ist offenbar „veraltet“. Springer und Bauer stellen jetzt eine „neue“, interessantere Aufgabe: eine Nation „zu schaffen“, „zu organisieren“.
Übrigens, Logik verpflichtet: Wer die nationale Autonomie akzeptiert hat, der muß auch diese „neue“ Aufgabe akzeptieren – diese akzeptieren heißt aber die Klassenposition verlassen, den Weg des Nationalismus betreten.
Die national-kulturelle Autonomie Springers und Bauers ist eine verfeinerte Spielart des Nationalismus.
Auch ist es durchaus kein Zufall, daß das nationale Programm der österreichischen Sozialdemokraten von der Pflicht spricht, für „die Pflege und Entwicklung der nationalen Eigenart aller Völker“ Sorge zu tragen. Man denke nur: „Pflege“ einer solchen „nationalen Eigenart“ der transkaukasischen Tataren wie der Selbstgeißelung während des „Schachsai-Wachsai“-Festes „Entwicklung“ einer solchen „nationalen Eigenart“ der Georgier wie des „Rechtes auf Rache“! ...
Ein solcher Punkt gehört in ein ausgemacht bürgerlich-nationalistisches Programm, und wenn wir ihn im Programm der österreichischen Sozialdemokraten vorfinden, so nur deswegen, weil die nationale Autonomie sich mit derartigen Punkten verträgt, ihnen nicht widerspricht.
Jedoch, untauglich für die Gegenwart, ist die nationale Autonomie noch untauglicher für die zukünftige, die sozialistische Gesellschaft.
Bauers Prophezeiung über die Gliederung der Menschheit in „national abgegrenzte Gemeinwesen“ [26*] wird durch den ganzen Entwicklungsgang der modernen Menschheit widerlegt. Die nationalen Schranken festigen sich nicht, sie werden vielmehr zerstort und stürzen ein. Marx schrieb schon in den vierziger Jahren: „Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr“, die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen.“ [10] Die Fortentwicklung der Menschheit mit ihrem riesigen Anwachsen der kapitalistischen Produktion, mit ihrer Durcheinanderwürfelung der Nationalitäten und Zusammenfassung der Menschen auf immer umfangreicheren Territorien bestätigt diesen Gedanken von Marx entschieden.
Bauers Wunsch, die sozialistische Gesellschaft als „ein buntes Bild von nationalen Personenverbänden und Gebietskörperschaften“ hinzustellen, ist ein zaghafter Versuch, die Marxsche Konzeption des Sozialismus durch die reformierte Konzeption Bakunins zu ersetzen. Die Geschichte des Sozialismus zeigt, daß alle derartigen Versuche Elemente des unvermeidlichen Zusammenbruchs in sich bergen.
Wir wollen ganz absehen von dem unbestimmten, von Bauer gepriesenen „sozialistischen Nationalitätsprinzip“, das unserer Meinung nach eine Ersetzung des sozialistischen Prinzips des Klassenkampfes durch das bürgerliche „Nationalitätsprinzip“ bedeutet. Wenn die nationale Autonomie von solch einem zweifelhaften Prinzip ausgeht, so muß zugegeben werden, daß sie der Arbeiterbewegung nur Schaden bringen kann.
Dieser Nationalismus ist freilich nicht so durchsichtig, denn er ist durch sozialistische Phrasen geschickt maskiert, aber um so schädlicher ist er für das Proletariat. Mit einem unverhüllten Nationalismus kann man immer fertig werden: Es ist nicht schwer, ihn zu erkennen. Viel schwieriger ist es, einen maskierten und in seiner Maske unerkennbaren Nationalismus zu bekämpfen. Da er sich des Sozialismus als Schutzschildes bedient, ist er weniger verwundbar und viel zählebiger. Wo er unter Arbeitern anzutreffen ist, vergiftet er die Atmosphäre und verbreitet die schädlichen Ideen des gegenseitigen Mißtrauens und der Absonderung der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten.
Aber die Schädlichkeit der nationalen Autonomie ist hiermit nicht erschöpft. Sie bereitet den Boden nicht nur für die Absonderung der Nationen, sondern auch für die Zersplitterung der einheitlichen Arbeiterbewegung. Die Idee der nationalen Autonomie schafft die psychologischen Voraussetzungen für die Trennung der einheitlichen Arbeiterpartei in einzelne, nach Nationalitäten aufgebaute Parteien. Ebenso wie die Partei zersplittern sich die Gewerkschaften, und es tritt eine vollständige Absonderung ein. So wird die einheitliche Klassenbewegung in einzelne nationale Bächlein zerteilt.
Österreich. die Heimat der „nationalen Autonomie“, liefert die traurigsten Beispiele für diese Erscheinung. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs, ehedem einheitlich, hat schon 1897 (auf dem Wimberger Parteitag [11]) begonnen, sich in gesonderte Parteien zu zersplittern. Nach dem Brünner Parteitag (1899), der die nationale Autonomie akzeptierte, wurde die Zersplitterung noch stärker. Schließlich ist es so weit gekommen, daß es statt einer einheitlichen internationalen Partei jetzt sechs nationale Parteien gibt, von denen die tschechische sozialdemokratische Partei mit der deutschen Sozialdemokratie sogar nichts zu tun haben will.
Mit den Parteien sind aber die Gewerkschaften verbunden. In Österreich wird die Hauptarbeit in den Gewerkschaften wie in den Parteien von den gleichen sozialdemokratischen Arbeitern geleistet. Es war daher zu befürchten, daß der Separatismus in der Partei zu einem Separatismus in den Gewerkschaften führen würde, daß sich die Gewerkschaften ebenfalls spalten würden. So ist es auch gekommen: Die Gewerkschaften haben sich ebenfalls nach Nationalitäten geschieden. Jetzt kommt es nicht selten sogar soweit, daß die tschechischen Arbeiter Streiks der deutschen Arbeiter brechen oder bei Gemeindewahlen zusammen mit den tschechischen Bourgeois gegen die deutschen Arbeiter auftreten.
Hieraus läßt sich ersehen, daß die nationale Frage durch national-kulturelle Autonomie nicht zu lösen ist. Damit nicht genug: Diese spitzt die Frage zu und verwirrt sie dadurch, daß sie einen günstigen Boden für die Zerstörung der Einheit der Arbeiterbewegung, für die Absonderung der Arbeiter nach Nationalitäten, für verstärkte Reibungen zwischen ihnen schafft.
So geht also die Saat der nationalen Autonomie auf.
V. Der „Bund“, sein Nationalismus, sein Separatismus
Oben sprachen wir davon, daß sich Bauer, der die nationale Autonomie für die Tschechen, die Polen usw. für notwendig hält, nichtsdestoweniger gegen eine solche Autonomie für die Juden ausspricht. Auf die Frage, ob die Arbeiterklasse die Autonomie für das jüdische Volk fordern soll, antwortet Bauer: „Die nationale Autonomie kann nicht die Forderung der jüdischen Arbeiter sein.“ [1*] Der Grund liegt nach Bauer darin, daß „... die kapitalistische Gesellschaft sie (die Juden. J.St.) überhaupt nicht als Nation bestehen läßt“. [2*]
Kurzum: Die jüdische Nation hört auf zu existieren – für wen sollte man also die nationale Autonomie fordern? Die Juden werden assimiliert.
Diese Auffassung vom Schicksal der Juden als Nation ist nicht neu. Marx hat sie bereits in den vierziger Jahren geäußert [3*] [12], wobei er hauptsächlich die deutschen Juden im Auge hatte. Kautsky hat sie 1908 in bezug auf die russischen Juden wiederholt. [4*] Jetzt wiederholt Bauer sie in bezug auf die österreichischen Juden, jedoch mit dem Unterschied, daß er nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft der jüdischen Nation in Abrede stellt.
Die Unmöglichkeit, die Juden als Nation zu erhalten, erklärt Bauer damit, daß „die Juden kein geschlossenes Siedlungsgebiet haben“. [5*] Diese Erklärung ist zwar im Grunde richtig, bringt aber nicht die ganze Wahrheit zum Ausdruck. Die Sache ist vor allem die, daß die Juden keine mit der Scholle verbundene breite stabile Schicht haben, die auf natürliche Weise die Nation nicht nur als ihr Gerippe, sondern auch als „nationalen“ Markt zusammenhält. Von den 5 bis 6 Millionen russischen Juden sind nur 3 bis 4 Prozent auf irgendeine Weise mit der Landwirtschaft verbunden. Die übrigen 96 Prozent sind im Handel, in der Industrie, in den städtischen Institutionen beschäftigt und leben überhaupt in den Städten, bilden aber, über ganz Rußland verstreut, in keinem Gouvernement die Mehrheit.
Als nationale Minderheiten in fremdnationale Gebiete eingesprenkelt, bedienen die Juden somit vornehmlich „fremde“ Nationen, sei es als Industrielle und Händler, sei es als Angehörige freier Berufe, wobei sie sich naturgemäß den „fremden Nationen“ in der Sprache usw. anpassen. Alles dies führt infolge der zunehmenden Durcheinanderwürfelung der Nationalitäten, die den entwickelten Formen des Kapitalismus eigen ist, zur Assimilation der Juden. Die Aufhebung der „Ansiedlungszone“ könnte die Assimilation nur beschleunigen.
Angesichts dieser Sachlage nimmt die Frage der nationalen Autonomie für die russischen Juden einen etwas kuriosen Charakter an: Man schlägt die Autonomie für eine Nation vor, deren Zukunft in Abrede gestellt wird, deren Existenz erst zu beweisen ist!
Dessenungeachtet hat der „Bund“ diesen kuriosen und schwankenden Standpunkt bezogen, als er auf seinem VI. Kongreß [13] (1905) ein „nationales Programm“ im Geiste der nationalen Autonomie beschloß.
Zwei Umstände haben den „Bund“ zu diesem Schritt gedrängt.
Der erste Umstand ist die Existenz des „Bund“ als Organisation der jüdischen und nur der jüdischen sozialdemokratischen Arbeiter. Schon vor 1897 steckten sich die sozialdemokratischen Gruppen, die unter den jüdischen Arbeitern wirkten, das Ziel, eine „speziell jüdische Arbeiterorganisation“ zu schaffen. [6*] Diese Organisation schufen sie denn auch 1897 dadurch, daß sie sich zum „Bund“ zusammenschlossen. Das geschah also zu einer Zeit, als die Sozialdemokratie Rußlands als Ganzes faktisch noch nicht existierte. Seitdem wuchs und breitete sich der „Bund“ unaufhörlich aus und hob sich immer mehr vom grauen Alltag der Sozialdemokratie Rußlands ab ... Nun aber kommt das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Es setzt eine Massenbewegung der Arbeiter ein. Die polnische Sozialdemokratie wächst und zieht die jüdischen Arbeiter in den Massenkampf hinein. Die Sozialdemokratie Rußlands wächst und zieht die „bundistischen“ Arbeiter an. Der nationale Rahmen des „Bund“, dem die territoriale Basis fehlt, wird zu eng. Der „Bund“ steht vor der Frage: entweder in der allgemeinen internationalen Woge aufzugehen oder seine selbständige Existenz als exterritoriale Organisation zu behaupten. Der „Bund“ entscheidet sich für das letztere.
So entsteht die „Theorie“ des „Bund“, er sei der „alleinige Vertreter des jüdischen Proletariats“.
Es wird jedoch unmöglich, diese sonderbare „Theorie“ auf irgendeine „einfache“ Art zu rechtfertigen. Man braucht irgendeine „prinzipielle“ Unterlage, eine „prinzipielle“ Rechtfertigung. Eine solche Unterlage bot sich eben in Gestalt der national-kulturellen Autonomie. Der „Bund“ griff denn auch nach ihr, indem er sie bei der österreichischen Sozialdemokratie entlehnte. Hätten die Österreicher kein solches Programm gehabt, so hätte es der „Bund“ erfunden, um seine selbständige Existenz „prinzipiell“ zu rechtfertigen.
So nimmt der „Bund“, nach einem zaghaften Versuch im Jahre 1901 (IV. Kongreß), im Jahre 1905 (VI. Kongreß) endgültig das „nationale Programm“ an.
Der zweite Umstand ist die Sonderstellung der Juden als einzelner nationaler Minderheiten innerhalb kompakter fremdnationaler Mehrheiten in geschlossenen Siedlungsgebieten. Wir haben bereits davon gesprochen, daß diese Stellung die Existenz der Juden als Nation untergräbt und sie auf den Weg der Assimilation drängt. Das aber ist ein objektiver Prozeß. Subjektiv, in den Köpfen der Juden, ruft er eine Reaktion hervor und wirft die Frage einer Garantie der Rechte der nationalen Minderheit, einer Garantie gegen die Assimilation auf. Da der „Bund“ die Lebensfähigkeit der jüdischen „Nationalität“ predigt, konnte er nicht umhin, sich auf den Standpunkt der „Garantie“ zu stellen. Hier nun einmal angelangt, mußte er die nationale Autonomie akzeptieren. Konnte sich nämlich der „Bund“ an irgendeine Autonomie klammern, so nur an die nationale, d.h. an die national-kulturelle Autonomie: von einer politisch-territorialen Autonomie der Juden konnte gar keine Rede sein, da die Juden kein bestimmtes geschlossenes Siedlungsgebiet haben.
Bezeichnend ist, daß der „Bund“ von Anfang an den Charakter der nationalen Autonomie als Garantie der Rechte der nationalen Minderheiten, als Garantie der „freien Entwicklung“ der Nationen betonte. Kein Zufall auch, daß Goldblatt, Vertreter des „Bund“ auf dem II. Parteitag der Sozialdemokratie Rußlands, die nationale Autonomie formulierte als „Institution, die ihnen (den Nationen. J.St.) die völlige Freiheit der kulturellen Entwicklung garantiert“. [7*] Den gleichen Antrag brachten die Gesinnungsgenossen des „Bund“ in der sozialdemokratischen Fraktion der IV. Duma ein ...
So bezog der „Bund“ die kuriose Position der nationalen Autonomie der Juden.
Oben haben wir die nationale Autonomie im allgemeinen untersucht. Die Untersuchung ergab, daß nationale Autonomie zum Nationalismus führt. Weiter unten werden wir sehen, daß der „Bund“ auch da gelandet ist. Der „Bund“ betrachtet aber die nationale Autonomie noch von einer speziellen Seite, von der Seite der Garantien der Rechte der nationalen Minderheiten. Untersuchen wir das Problem auch von dieser speziellen Seite. Das ist um so notwendiger, als die Frage der nationalen Minderheiten – und nicht nur der jüdischen – für die Sozialdemokratie von ernster Bedeutung ist.
Also „Institutionen, die“ den Nationen „die völlige Freiheit der kulturellen Entwicklung garantieren“ (Hervorhebungen von uns. J.St.).
Was sind das aber für „Institutionen, die garantieren“ usw.?
Da gibt es vor allem den „Nationalrat“ Springers und Bauers, eine Art Landtag für Kulturangelegenheiten.
Können aber diese Institutionen „die völlige Freiheit der kulturellen Entwicklung“ der Nation garantieren? Können irgendwelche Landtage für Kulturangelegenheiten den Nationen eine Garantie gegen nationalistische Repressalien geben?
Der „Bund“ meint ja.
Die Geschichte besagt jedoch das Gegenteil.
In Russisch-Polen bestand ein Zeitlang ein Sejm, ein politischer Landtag, und der war natürlich bemüht, den Polen die Freiheit der „kulturellen Entwicklung“ zu garantieren, aber er hatte dabei keinen Erfolg, ja im Gegenteil – er kam in dem ungleichen Kampf gegen die gesamten politischen Verhältnisse Rußlands selbst zu Fall.
In Finnland besteht seit langem ein Landtag, der gleichfalls bemüht ist, die finnische Nationalität vor „Anschlägen“ zu schützen, ob er aber in dieser Richtung viel ausrichtet – das sieht ja alle Welt.
Es gibt natürlich Landtage und Landtage, und mit dem demokratisch organisierten finnischen Landtag ist nicht so leicht fertig zu werden wie mit dem aristokratischen polnischen. Aber entscheidend ist dennoch nicht der Landtag selbst, sondern sind die allgemeinen Zustände in Rußland. Herrschten in Rußland heute dieselben rohen asiatischen gesellschaftlich-politischen Zustände, wie sie in der Vergangenheit, zur Zeit der Auflösung des polnischen Sejms, geherrscht haben, so würde es dem finnischen Landtag bei weitem schlimmer ergehen. Außerdem ist die Politik der „Anschläge“ auf Finnland im Wachsen begriffen, und es läßt sich nicht behaupten, daß sie Niederlagen erlitte ...
Verhält es sich so mit den alten, historisch entstandenen Institutionen, mit den politischen Lahdtagen, so vermögen junge Landtage, junge Institutionen, noch dazu so schwache wie die „kulturellen“ Landtage, die freie Entwicklung der Nationen um so weniger zu garantieren.
Offenbar kommt es nicht auf die Institutionen“, sondern auf die allgemeinen Zustände im Lande an. Ist das Land nicht demokratisiert, so fehlen auch die Garantien für völlige Freiheit der kulturellen Entwicklung der Nationalitäten. Man kann mit Bestimmtheit sagen: je demokratischer ein Land, desto weniger „Anschläge“ auf die „Freiheit der Nationalitäten“, desto mehr Garantien gegen „Anschläge“.
Rußland ist ein halbasiatisches Land, und darum nimmt dort die Politik der „Anschläge“ nicht selten die allerrohesten Formen, die Formen des Pogroms, an. Es erübrigt sich zu sagen, daß die „Garantien“ in Rußland auf ein äußerstes Mindestmaß reduziert sind.
Deutschland – das ist schon Europa mit mehr oder weniger politischer Freiheit. Kein Wunder, daß dort die Politik der „Anschläge“ niemals Pogromformen annimmt.
In Frankreich bestehen natürlich noch mehr „Garantien“, da Frankreich demokratischer als Deutschland ist.
Wir wollen schon gar nicht von der Schweiz sprechen, wo die Nationalitäten dank ihrer hochentwickelten, wenn auch bürgerlichen Demokratie ein freies Leben führen – einerlei ob sie Minderheiten oder Mehrheiten darstellen.
Der „Bund“ ist also auf dem Holzwege, wenn er behauptet, daß „Institutionen“ an und für sich die volle kulturelle Entwicklung der Nationalitäten garantieren können.
Man könnte einwenden, der „Bund“ selbst betrachte die Demokratisierung Rußlands als Vorbedingung für die „Schaffung von Institutionen“ und Freiheitsgarantien. Das stimmt aber nicht. Aus dem Bericht über die VIII. Konferenz des „Bund“ [14] geht hervor, daß der „Bund“ die „Schaffung von Institutionen“ auf der Basis der heutigen Zustände in Rußland durch „Reformierung“ der jüdischen Gemeinde zu erreichen gedenkt.
„Die Gemeinde“, führte auf dieser Konferenz einer der Führer des „Bund“ aus, „kann zum Kern der zukünftigen national-kulturellen Autonomie werden. Die national-kulturelle Autonomie ist eine Form der Selbstbedienung der Nation eine Form der Befriedigung der nationalen Bedürfnisse. Unter der Form der Gemeinde steckt derselbe Inhalt. Es sind Glieder einer und derselben Kette Etappen einer und derselben Evolution. [8*]
Hiervon ausgehend beschloß die Konferenz, dafür zu kämpfen, „daß die jüdische Gemeinde reformiert und im Wege der Gesetzgebung in eine weltliche Institution umgewandelt wird“, die demokratisch organisiert ist [9*] (Hervorhebungen von uns. J.St.).
Es ist klar, daß der „Bund“ als Vorbedingung und Garantie nicht die Demokratisierung Rußlands, sondern die künftige „weltliche Institution“ der Juden betrachtet, die durch „Reformierung der jüdischen Gemeinde“, sozusagen auf „gesetzgeberischem“ Wege, durch die Duma, zu erlangen wäre.
Wir haben aber bereits gesehen, daß „Institutionen“ an und für sich, ohne daß im ganzen Staat demokratische Zustände bestehen, nicht als „Garantien“ dienen können.
Wie aber soll es nun dennoch in der künftigen demokratischen Ordnung werden? Wird man nicht auch unter dem Demokratismus besondere „kulturelle Institutionen“ brauchen, die „garantieren“ usw.? Wie verhält es sich damit beispielsweise in der demokratischen Schweiz? Gibt es dort spezielle kulturelle Institutionen von der Art des Springerschen „Nationalrats“? Es gibt sie dort nicht. Aber leiden darunter nicht die kulturellen Interessen, beispielsweise der Italiener, die dort eine Minderheit bilden? Man hört nichts davon. Das ist auch ganz verständlich:
Die Demokratie macht in der Schweiz jedwede speziell kulturellen „Institutionen“, die angeblich etwas „garantieren“ usw., überflüssig.
Ohnmächtig in der Gegenwart, überflüssig in der Zukunft – so sehen also die Institutionen der national-kulturellen Autonomie, so sieht die nationale Autonomie aus.
Sie wird aber noch schädlicher, wenn man sie einer „Nation“ aufzuzwingen versucht, deren Existenz und Zukunft in Zweifel steht. in solchen Fällen sehen sich die Anhänger der nationalen Autonomie gezwungen, alle Eigenarten der „Nation“ zu hüten und zu konservieren, nicht nur die nützlichen, sondern auch die schädlichen – nur um die „Nation“ vor der Assimilation „zu retten“, nur um sie „zu bewahren“.
Diesen gefährlichen Weg mußte der „Bund“ unausweichlich betreten. Und er hat ihn tatsächlich betreten. Wir meinen hier die bekannten Beschlüsse der letzten Konferenzen des „Bund“ über den „Sabbat“, das „Jiddische“ usw.
Die Sozialdemokratie setzt sich für das Recht aller Nationen auf die Muttersprache ein, der „Bund“ begnügt sich aber damit nicht – er verlangt, daß man „mit besonderem Nachdruck“ für die „Rechte der jüdischen Sprache“ [10*] eintreten soll (Hervorhebung von uns. J.St.), wobei der „Bund“ selber bei den Wahlen zur IV. Duma „demjenigen von ihnen (d.h. von den Wahlmännern) den Vorzug gibt, der sich verpflichtet, für die Rechte der jüdischen Sprache einzutreten“. [11*]
Kein allgemeines Recht auf die Muttersprache, sondern ein besonderes Recht auf die jüdische Sprache, das Jiddische! Mögen die Arbeiter der einzelnen Nationalitäten vor allem für ihre eigene Sprache kämpfen, die Juden für die jüdische, die Georgier für die georgische usw. Der Kampf für das allgemeine Recht aller Nationen ist Nebensache. Ihr braucht nicht unbedingt das Recht aller unterdrückten Nationalitäten auf ihre Muttersprache anzuerkennen; habt ihr aber das Recht auf das Jiddische anerkannt, dann wisset: Der „Bund“ wird für euch stimmen, der „Bund“ wird euch „den Vorzug geben“.
Worin unterscheidet sich dann aber der „Bund“ von den bürgerlichen Nationalisten?
Die Sozialdemokratie erstrebt die Festsetzung eines gesetzlichen Ruhetages in der Woche, der „Bund“ aber begnügt sich damit nicht, sondern fordert, daß „dem jüdischen Proletariat auf gesetzgeberischem Wege das Recht eingeräumt werde, den Sabbat zu feiern, unter Aufhebung des Zwanges, noch einen anderen Tag zu feiern“. [12*]
Es ist anzunehmen, daß der „Bund“ „einen Schritt weiter“ gehen und das Recht fordern wird, alle altjüdischen Feiertage zu feiern. Haben aber, zum Leidwesen des „Bund“, die jüdischen Arbeiter die Vorurteile abgestreift und wollen sie diese Feiertage nicht feiern, so wird ihnen der „Bund“ durch seine Agitation für das „Recht auf den Sabbat“ den Sabbat in Erinnerung bringen, wird in ihnen sozusagen den „Geist des Sabbats“ kultivieren.
Durchaus verständlich sind deshalb die „flammenden Reden“ der Redner auf der VIII. Konferenz des „Bund“, die die Schaffung von „jüdischen Krankenhäusern“ forderten, und zwar mit der Begründung, daß „sich der Kranke unter den Seinigen besser fühlt“, daß „sich der jüdische Arbeiter unter polnischen Arbeitern nicht wohl fühlen wird“, daß „er sich unter jüdischen Krämern wohl fühlen wird“.[13*]
Alles Jüdische erhalten, alle nationalen Eigenarten der Juden konservieren, einschließlich der offenkundig für- das Proletariat schädlichen, die Juden von allem Nichtjüdischen abgrenzen, sogar besondere Krankenhäuser für sie einrichten – so tief ist also der „Bund“ gesunken!
Genosse Plechanow hatte tausendmal recht, als er sagte, daß der „Bund“ „den Sozialismus dem Nationalismus anpaßt“. Gewiß, Wl. Kossowski und Leute seines Schlages aus dem „Bund“ mögen Plechanow einen „Demagogen“ schelten [14*] [15] – Papier ist geduldig –, wer aber mit der Tätigkeit des „Bund“ vertraut ist, dem fällt es nicht schwer zu begreifen, daß sich diese tapferen Leute einfach fürchten, die Wahrheit über sich zu sagen, und sich hinter Kraftausdrücken wie „Demagogie“ verstecken ...
Da nun der „Bund“ in der nationalen Frage auf diesem Standpunkt verharrt, mußte er naturgemäß auch in der Organisationsfrage den Weg der Absonderung der jüdischen Arbeiter, den Weg der nationalen Kurien in der Sozialdemokratie betreten. Das ist nun einmal die Logik der nationalen Autonomie!
Und in der Tat, von der Theorie der „alleinigen Vertretung“ geht der „Bund“ zur Theorie der „nationalen Abgrenzung“ der Arbeiter über. Der Bund“ fordert von der Sozialdemokratie Rußlands, daß sie „in ihrem Organisationsaufbau eine Abgrenzung nach Nationalitäten vornehme“. [15*] Von der Abgrenzung aber geht er „einen Schritt weiter“ zur Theorie der „Absonderung“. Nicht umsonst wurden auf der VIII. Konferenz des „Bund“ Stimmen laut, wonach „in der Absonderung die nationale Existenz“ [16*] beschlossen liege.
Der organisatorische Föderalismus birgt Elemente der Zersetzung und des Separatismus. Der „Bund“ befindet sich auf dem Wege zum Separatismus.
Es bleibt ihm auch eigentlich gar kein anderer Weg. Allein schon seine Existenz als exterritoriale Organisation treibt ihn auf die Bahn des Separatismus. Der „Bund“ hat kein bestimmtes geschlossenes Territorium, er betätigt sich auf „fremden“ Territorien, während die mit ihm in Fühlung stehenden sozialdemokratischen Parteien, die polnische, die lettische und die Sozialdemokratie Rußlands, internationale Territorialkollektive sind. Das aber führt dazu, daß jede Erweiterung dieser Kollektive eine „Einbuße“ für den „Bund“, eine Einengung seines Tätigkeitsfeldes bedeutet. Von zwei Dingen eins: Entweder muß sich die gesamte Sozialdemokratie Rußlands nach den Grundsätzen des nationalen Föderalismus umstellen – und dann erhält der „Bund“ die Möglichkeit, sich das jüdische Proletariat „zu sichern“, oder aber das internationale Territorialprinzip dieser Kollektive bleibt in Kraft – und dann stellt sich der „Bund“ nach den Grundsätzen der Internationalität um, wie dies bei der polnischen und der lettischen Sozialdemokratie der Fall ist.
Daraus erklärt sich denn auch, warum der „Bund“ seit allem Anfang die „Umgestaltung der Sozialdemokratie Rußlands nach föderativen Grundsätzen“ [17*] fordert.
Im Jahre 1906 wählte der „Bund“, dem von unten kommenden Vereinigungsdrang nachgebend, einen Mittelweg: er trat der Sozialdemokratie Rußlands bei. Aber wie tat er das? Während die polnische und die lettische Sozialdemokratie ihren Eintritt zwecks friedlicher gemeinsamer Arbeit vollzogen, vollzog ihn der „Bund“, um für die Föderation Krieg zu führen. Der Bundistenführer Medem sagte denn auch damals:
„Wir kommen nicht eines Idylls wegen, sondern um zu kämpfen. Es gibt kein Idyll, und nur Manilows [18] können auf ein Idyll in der nächsten Zeit hoffen. Der Bund muß vom Scheitel bis zur Sohle gerüstet in die Partei eintreten.“ [18*]
Es wäre verfehlt, hierin etwa Medems bösen Willen erblicken zu wollen. Nicht um bösen Wilkn handelt es sich hier, sondern um die besondere Position des „Bund“, kraft deren er nicht umhin kann, gegen die üach den Grundsätzen der Internationalität aufgebaute Sozialdemokratie Rußlands zu kämpfen. Durch seinen Kampf gegen sie verletzte aber der Bund“ naturgemäß die Interessen der Einheit. Es kommt schließlich so weit, daß der „Bund“ formell mit der Sozialdemokratie Rußlands bricht, nachdem er die Parteisatzungen verletzt hat und bei den Wahlen zur IV. Duma mit den polnischen Nationalisten gegen die polnischen Sozialdemokraten zusammengegangen ist. [20]
Der „Bund“ hat offenbar gefunden, daß ihm der Bruch das selbständige Wirken am besten sichert.
So hat das „Prinzip“ der organisatorischen „Abgrenzung“ zum Separatismus, zum völligen Bruch geführt.
Gegen die alte Iskra [21] in der Frage des Föderalismus polemisierend, schrieb der „Bund“ einst:
„Die Iskra möchte uns versichern, die föderativen Beziehungen des Bund zur Sozialdemokratie Rußlands müßten das Band zwischen ihnen lockern. Wir können diese Ansicht nicht mit dem Hinweis auf die Praxis in Rußland widerlegen, aus dem einfachen Grunde, weil die Sozialdemokratie Rußlands nicht als föderativer Verband besteht. Wir können uns aber auf die außerordentlich lehrreiche Erfahrung der Sozialdemokratie in Österreieh berufen, die auf Grund des Parteitagsbeschlusses von 1897 einen Föderativcharakter angenommen hat.“ [19*]
Dies wurde 1902 geschrieben.
Jetzt schreiben wir aber das Jahr 1913. Jetzt haben wir sowohl die „Praxis“ Rußlands als auch die „Erfahrung der Sozialdemokratie Österreichs“ vor Augen.
Wovon aber sprechen diese?
Beginnen wir mit der „außerordentlich lehrreichen Erfahrung der Sozialdemokratie Österreichs“. Bis 1896 besteht in Österreich noch die einheitliche sozialdemokratische Partei. In diesem Jahr fordern die Tschechen auf dem Internationalen Kongreß in London zum ersten Male eine separate Vertretung und erhalten sie auch. Im Jahre 1897 wird die einheitliche Partei auf dem Wiener (Wimberger) Parteitag formell liquidiert und an ihrer Stelle ein föderativer Verband von sechs nationalen „sozialdemokratischen Gruppen“ gegründet. In der Folge verwandeln sich diese „Gruppen“ in selbständige Parteien. Diese Parteien lösen nach und nach die Bindungen untereinander. Nach den Parteien spaltet sich die Parlamentsfraktion, es bilden sich nationale „Klubs“. Es folgen die Gewerkschaften, die sich ebenfalls nach Nationalitäten zersplittern. Dann kommen sogar die Genossenschaften an die Reihe, zu deren zersplitterung die tschechischen Separatisten die Arbeiter auffordern. [20*] Wir wollen schon ganz davon schweigen, daß die separatistische Agitation das Solidaritätsgefühl der Arbeiter abschwächt und sie nicht selten auf den Weg des Streikbruchs treibt.
„Die außerordentlich lehrreiche Erfahrung der Sozialdemokratie Österreichs“ spricht also gegen den „Bund“, für die alte Iskra. Der Föderalismus in der österreichischen Partei hat zum Separatismus übelster Art, zur Zerstörung der Einheit der Arbeiterbewegung geführt.
Oben sahen wir, daß die „Praxis in Rußland“ dasselbe besagt. Die bundistischen Separatisten haben ebenso wie die tschechischen Separatisten mit der gemeinsamen sozialdemokratischen Partei, der Sozialdemokratie Rußlands, gebrochen. Was die Gewerkschaften, die bundistischen Gewerkschaften, anbelangt, so waren sie von Anfang an nach dem Nationalitätenprinzip aufgebaut, d.h. von den Arbeitern anderer Nationalitäten losgelöst.
Völlige Absonderung, völliger Bruch – das zeigt uns die „russische Praxis“ des Föderalismus.
Kein Wunder, daß ein derartiger Zustand der Dinge auf die Arbeiter in dem Sinne einwirkt, daß ihr Solidaritätsgefühl nachläßt und sie demoralisiert werden, wobei die Demoralisation auch in den „Bund“ eindringt. Wir meinen die immer häufiger werdenden Zusammenstöße zwischen jüdischen und polnischen Arbeitern auf Grund der Arbeitslosigkeit. Man höre, was für Reden darüber auf der IX. Konferenz des „Bund“ zu vernehmen waren:
„... Wir betrachten die polnischen Arbeiter, die uns verdrängen, als Pogromhelden, als Gelbe, wir unterstützen ihre Streiks nicht, wir sprengen sie. Ferner antworten wir auf Verdrängung mit Verdrängung: Als Antwort auf die Nichtzulassung von jüdischen Arbeitern in den Fabriken lassen wir keine polnischen Arbeiter an die Handwerksmaschinen heran ... Nehmen wir diese Sache nicht in unsere Hände, so werden die Arbeiter anderen Gefolgschaft leisten.“ [21*] (Hervorhebung von uns. J.St.)
So spricht man auf der Konferenz des „Bund“ von der Solidarität.
Weiter kann man in der „Abgrenzung“ und „Absonderung“ schon nicht mehr gehen. Der „Bund“ hat sein Ziel erreicht: Er trennt die Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten und führt sie zur Rauferei, zum Streikbruch. Anders geht es nicht: „Nehmen wir diese Sache nicht in unsere Hände, so werden die Arbeiter anderen Gefolgschaft leisten“ ...
Desorganisation der Arbeiterbewegung, Demoralisation in den Reihen der Sozialdemokratie – dahin führt der Föderalismus des „Bund“.
So hat sich die Idee der national-kulturellen Autonomie, die von ihr geschaffene Atmosphäre, in Rußland als noch verderblicher erwiesen denn in Österreich.
VI. Die Kaukasier, die Konferenz der Liquidatoren[23]
Oben sprachen wir von den Schwankungen eines Teils der kaukasischen Sozialdemokraten, der der nationalistischen „Seuche“ nicht standhielt. Diese Schwankungen äußerten sich darin, daß die genannten Sozialdemokraten – so befremdend das auch scheinen mag – in die Fußstapfen des „Bund“ traten und die national-kulturelle Autonomie proklamierten.
Gebietsautonomje für den ganzen Kaukasus und national-kulturelle Autonomie für die Nationen, die innerhalb der Grenzen Kaukasiens leben – so wird diese Forderung von diesen Sozialdemokraten formuliert, die sich, nebenbei bemerkt, den russischen Liquidatoren anschließen.
Hören wir ihren anerkannten Führer, den nicht unbekannten N. [24]:
„Wie jedermann weiß, unterscheidet sich der Kaukasus stark von den zentralen Gouvernements sowohl in der Rassenzusammensetzung seiner Bevölkerung als auch in seinem Territorium und seiner landwirtschaftlichen Kultur. Die Erschließung und materielle Entwicklung eines solchen Gebiets erfordert einheimische Arbeitskräfte, Kenner der lokalen Besonderheiten, Menschen, die das örtliche Klima und die örtliche Kultur gewohnt sind. Es ist notwendig, daß alle Gesetze über die Erschließung des örtlichen Territoriums an Ort und Stelle erlassen und von einheimischen Kräften durchgeführt werden. Folglich würde zum Kompetenzbereich der zentralen Körperschaft der kaukasisdien Selbstverwaltung das Erlassen von Gesetzen über lokale Fragen gehören ... Die Funktionen des kaukasischen Zentrums bestehen somit im Erlassen von Gesetzen, die auf die wirtschaftliche Erschließung des örtlichen Territoriums, auf das materielle Gedeihen des Gebiets abzielen.“ [1*]
Also Gebietsautonomie des Kaukasus.
Wenn man von der etwas verworrenen und ungefügen Motivierung N.s absieht, so muß man zugeben, daß seine Schlußfolgerung richtig ist. In Anbetracht der Besonderheiten der Zusammensetzung und der Lebensverhältnisse Kaukasiens ist eine Gebietsautonomie des Kaukasus, die im Rahmen der allgemeinen Staatsverfassung wirksam wäre, was auch N. nicht ablehnt, in der Tat notwendig. Das hat auch die Sozialdemokratie Rußlands anerkannt, als sie auf ihrem II. Parteitag die „territoriale Selbstverwaltung für alle diejenigen Randgebiete“ proklamierte, „die sich in ihren Lebensverhältnissen und der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung von den eigentlich russischen Gebieten unterscheiden“.
Martow, der diesen Punkt auf dem II. Parteitag zur Diskussion stellte, motivierte ihn damit, daß „uns die riesige Ausdehnung Rußlands und die Erfahrungen unserer zentralisierten Verwaltung veranlassen, die territoriale Selbstverwaltung für solch große Einheiten wie Finnland, Polen, Litauen und den Kaukasus für notwendig und zweckmäßig zu halten“.
Daraus folgt aber, daß unter Gebietsselbstverwaltung Gebietsautonomie zu verstehen ist.
N. geht jedoch weiter. Seiner Ansicht nach erfaßt die Gebietsautonomie des Kaukasus „bloß eine Seite der Frage“.
Bis jetzt haben wir nur von der materiellen Entwicklung des örtlichen Lebens gesprochen. Die ökonomische Entwicklung eines Gebiets wird aber nicht nur durch die wirtschaftliche Tätigkeit gefördert, sondern auch durch die geistige, die kulturelle“... „Eine kulturell starke Nation ist auch in der wirtschaftlichen Sphäre stark“ ... „Aber die kulturelle Entwicklung der Nationen ist nur in der nationalen Sprache möglich“ ... „Darum sind alle Fragen, die mit der Muttersprache zusammenhängen, national-kulturelle Fragen. Das sind die Fragen der Volksbildung, des Gerichtsverfahrens, der Kirche, der Literatur, der Kunst, der Wissenschaft, des Theaters usw. Wenn die materielle Entwicklung des Gebietes die Nationen vereinigt, so wirken die national-kulturellen Angelegenheiten trennend, da sie jede einzelne Nation auf ein abgesondertes Arbeitsfeld versetzen. Die erste Art von Tätigkeit ist an ein bestimmtes Territorium gebunden“... „Anders die national-kulturellen Angelegenheiten. Sie sind nicht an ein bestimmtes Territorium, sondern an die Existenz einer bestimmten Nation gebunden. Das Schidcsal der georgisdien Sprache interessiert einen Georgier in gleicher Weise, wo immer er auch leben mag. Es hieße große Ignoranz an den Tag legen, wollte man sagen, daß die georgische Kultur nur die in Georgien ansässigen Georgier angehe. Nehmen wir beispielsweise die armenische Kirche. An der Führung ihrer Angelegenheiten sind Armenier in verschiedenen Orten und Staaten beteiligt. Das Territorium spielt hier gar keine Rolle. Oder zum Beispiel an der Gründung eines georgischen Museums sind sowohl der Georgier in Tiflis als auch der in Baku, in Kutais, in Petersburg usw. interessiert. Also muß die Verwaltung und Leitung aller national-kulturellen Angelegenheiten den daran interessierten Nationen selbst überlassen werden. Wir proklamieren die national-kulturelle Autonomie der kaukasischen Nationalitäten.“ [2*]
Kurzum: Da Kultur nicht Territorium und Territorium nicht Kultur ist, sei die national-kulturelle Autonomie erforderlich. Das ist alles, was N. zu ihren Gunsten zu sagen weiß.
Wir wollen hier nicht noch einmal auf die national-kulturelle Autonomie im allgemeinen eingehen: oben haben wir bereits von ihrem negativen Charakter gesprochen. Wir möchten bloß betonen, daß die überhaupt untauglich national-kulturelle Autonomie unter den Verhältnissen des Kaukasus auch noch unsinnig und töricht ist.
Und das aus folgenden Gründen.
Die national-kulturelle Autonomie setzt mehr oder weniger entwickelte Nationalitäten voraus, Nationalitäten mit entwickelter Kultur und Literatur. Ohne diese Voraussetzungen verliert diese Autonomie jeden Sinn, wird sie zur Absurdität. Im Kaukasus gibt es aber eine ganze Reihe von Völkerschaften mit primitiver Kultur, mit besonderer Sprache, aber ohne eigene Literatur, Völkerschaften, die sich überdies in einem Übergangsstadium befinden, sich zum Teil assimilieren, zum Teil weiterentwickeln. Wie soll die national-kulturelle Autonomie auf sie angewandt werden? Was soll mit solchen Völkerschaften geschehen? Wie sollen sie zu besonderen national-kulturellen Verbänden „organisiert“ werden, was ja bei der national-kulturellen Autonomie zweifellos vorausgesetzt wird?
Was soll mit den Mingrelen, Abchasen, Adsharen, Swanen, Lesghiern usw. geschehen, die verschiedene Sprachen sprechen, aber keine eigene Literatur haben? Zu welchen Nationen sollen sie gezählt werden? Ist es möglich, sie zu nationalen Verbänden „zu organisieren“? Im Namen welcher „Kulturangelegenheiten“ sollen sie „organisiert“ werden?
Was soll mit den Osseten geschehen, von denen die transkaukasischen Osseten durch die Georgier assimiliert werden (aber noch lange nicht assimiliert sind), die vorkaukasischen aber teilweise durch die Russen assimiliert werden, sich teilweise jedoch weiterentwickeln und eine eigene Literatur begründen? Wie sind sie zu einem einheitlichen nationalen Verband „zu organisieren“?
Zu welchem nationalen Verband sind die Adsharen zu zählen, die georgisch reden, aber eine türkische Kultur haben und sich zum Islam bekennen? Soll man sie etwa auf Grund der religiösen Angelegenheiten gesondert von den Georgiern und auf Grund der übrigen Kulturangelegenheiten mit den Georgiern zusammen „organisieren“? Und die Kobuleten? Und die Inguschen? Und die Ingiloier?
Was ist das fur eine Autonomie, die eine ganze Reihe von Völkerschaften aus der Liste streicht?
Nein, das ist keine Lösung der nationalen Frage – das ist die Frucht einer müßigen Phantasie.
Doch stellen wir uns das Unvorstellbare vor und nehmen wir an, die national-kulturelle Autonomie unseres 3V. sei Wirklichkeit geworden. Wozu wird sie führen, welche Resultate wird sie zeitigen? Nehmen wir beispielsweise die transkaukasischen Tataren mit ihrem minimalen Prozentsatz an Lese- und Schreibkundigkeit, mit ihren Schulen, denen die allmächtigen Mullahs vorstehen, mit ihrer von religiösem Geist durchdrungenen Kultur ... Es ist nicht schwer zu begreifen, daß ihre Organisierung zu einem national-kulturellen Verband bedeuten würde, die Mullahs an ihre Spitze zu setzen, bedeuten würde, sie den reaktionären Mullahs mit Haut und Haar auszuliefern, bedeuten würde, eine neue Bastion zur geistigen Knechtung der tatarischen Massen durch ihren ärgsten Feind zu schaffen.
Seit wann aber leiten Sozialdemokraten Wasser auf die Mühlen der Reaktionäre?
Absonderung der transkaukasischen Tataren in einem national-kulturellen Verband, der die Massen der Knechtung durch die schlimmsten Reaktionäre ausliefert – wußten denn die kaukasischen Liquidatoren wirklich nichts Besseres „zu proklamieren“? ...
Nein, das ist keine Lösung der nationalen Frage.
Die nationale Frage im Kaukasus kann nur im Geiste der Einbeziehung der zu spät gekommenen Nationen und Völkerschaften in den allgemeinen Strom der höheren Kultur gelöst werden. Nur eine solche Lösung kann fortschrittlich und für die Sozialdemokratie annehmbar sein. Die Gebietsautonomie des Kaukasus ist gerade deswegen annehmbar, weil sie die zu spät gekommenen Nationen in die allgemeine kulturelle Entwicklung einbezieht, ihnen behilflich ist, die Schalen der Abgeschlossenheit kleiner Nationalitäten abzuwerfen, sie vorwärtstreibt und ihnen den Zutritt zu den Gütern der höheren Kultur erleichtert. Demgegenüber wirkt die national-kulturelle Autonomie in direkt entgegengesetzter Richtung, denn sie kapselt die Nationen in den alten Schalen ab, hält sie auf den niederen Entwicklungsstufen der Kultur fest, hindert sie, höhere Kulturstufen zu ersteigen.
Damit lähmt die nationale Autonomie die positiven Seiten der Gebietsautonomie und macht diese zunichte.
Ebendarum ist auch der gemischte Typus der von N. vorgeschlagenen Autonomie untauglich, der die national-kulturelle Autonomie mit der Gebietsautonomie kombiniert. Diese widernatürliche Kombination macht die Sache nicht besser, sondern verschlechtert sie, denn nicht genug damit, daß sie die Entwicklung der zu spät gekommenen Nationen hemmt, verwandelt sie die Gebietsautonomie noch in eine Arena für Zusammenstöße zwischen den zu nationalen Verbänden organisierten Nationen. Somit würde die überhaupt untaugliche national-kulturelle Autonomie im Kaukasus zu einem sinnlosen reaktionären Unternehmen werden.
So sieht die national-kulturelle Autonomie N.s und seiner kaukasischen Gesinnungsgenossen aus.
Ob die kaukasischen Liquidatoren „einen Schritt vorwärts“ tun und auch in der Organisationsfrage dem „Bund“ folgen werden, wird die Zukunft zeigen. In der Geschichte der Sozialdemokratie ging bis jetzt der Föderalismus in der Organisation stets der nationalen Autonomie im Programm voraus. Die österreichischen Sozialdemokraten praktizierten schon ab 1897 den organisatorischen Föderalismus, und erst nach zwei Jahren (1899) akzeptierten sie die nationale Autonomie. Die Bundisten begannen zum erstenmal 1901 vernehmlich über nationale Autonomie zu reden, den organisatorischen Föderalismus aber praktizierten sie bereits ab 1897.
Die kaukasischen Liquidatoren haben beim Ende, bei der nationalen Autonomie, angefangen. Wandeln sie weiter in den Fußstapfen des „Bund“, so werden sie zunächst das ganze jetzige Organisationsgebäude niederreißen müssen, das schon Ende der neunziger Jahre auf der Grundlage der Internationalität errichtet wurde.
So leicht es aber war, für die den Arbeitern einstweilen noch unverständliche nationale Autonomie Stellung zu nehmen, so schwer wird es fallen, das in jahrelanger Arbeit errichtete Gebäude einzureißen, das die Arbeiter aller Nationalitäten des Kaukasus mit soviel Sorgfalt und Liebe aufgeführt und ausgebaut haben. Dieses herostratische Unterfangen braucht man nur in Angriff zu nehmen, damit den Arbeitern die Augen aufgehen und sie das nationalistische Wesen der national-kulturellen Autonomie erkennen.
Sind die Kaukasier dabei, die nationale Frage auf die gewöhnliche Weise zu lösen, durch mündliche Debatten und literarische Diskussion, so hat sich die allrussische Konferenz der Liquidatoren eine ganz ungewöhnliche Methode ausgedacht. Eine leichte und einfache Methode. Man höre:
„Nach Entgegennahme der Mitteilung der kaukasischen Delegation ... über die Notwendigkeit ..., die Forderung der national-kulturellen Autonomie aufzustellen, konstatiert die Konferenz, ohne zu dieser Forderung der Sache nach Stellung zu nehmen, daß eine solche Auslegung des Programmpunktes, der jeder Nationalität das Recht auf Selbstbestimmung zuerkennt, dem genauen Sinn des Programms nicht zuwiderläuft.“
Also zuerst „der Sache nach keine Stellung nehmen zu dieser“ Frage, und dann „konstatieren“. Eine originelle Methode ...
Was „konstatiert“ denn nun diese originelle Konferenz?
Sie konstatiert, daß die „Forderung“ der national-kulturellen Autonomie „dem genauen Sinn des Programms nicht zuwiderläuft“, das das Selbstbestimmungsrecht der Nationen anerkennt.
Untersuchen wir diese These.
Der Punkt über die Selbstbestimmung spricht von den Rechten der Nationen. [26] Diesem Punkt zufolge haben die Nationen nicht nur das Recht auf Autonomie, sondern auch auf Lostrennung. Es handelt sich um politische Selbstbestimmung. Wen wollten die Liquidatoren irreführen, als sie dieses in der gesamten internationalen Sozialdemokratie seit langem festgelegte Recht auf politische Selbstbestimmung der Nationen hin und her zu deuteln suchten?
Oder werden sich vielleicht die Liquidatoren herauszuwinden suchen und sich hinter dem Sophismus verschanzen: Die national-kulturelle Autonomie laufe ja den Rechten der Nationen „nicht zuwider“? Das heißt, wenn sich sämtliche Nationen eines gegebenen Staates einverstanden erklären, ihr Leben nach den Grundsätzen der national-kulturellen Autonomie einzurichten, so hätte sie, die gegebene Summe von Nationen, das volle Recht dazu, und niemand dürfe sich herausnehmen, ihnen eine andere Form des politischen Lebens gewaltsam aufzuzwingen. Ebenso neu wie gescheit! Sollte man nicht vielleicht noch hinzufügen, daß die Nationen, allgemein gesprochen, das Recht haben, ihre Verfassung abzuschaffen, sie durch ein Willkürregiment zu ersetzen, zu den alten Zuständen zurückzukehren, denn die Nationen, und nur die Nationen selbst, haben ja das Recht, über ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Wir wiederholen: in diesem Sinne läuft weder die national-kulturelle Autonomie noch eine beliebige nationale Reaktion den Rechten der Nationen „zuwider“.
Wollte die ehrenwerte Konferenz etwa das sagen?
Nein, nicht das. Sie sagt direkt, daß die national-kulturelle Autonomie nicht den Rechten der Nationen, sondern „dem genauen Sinn“ des Programms „nicht zuwiderläuft“. Es ist hier vom Programm und nicht von den Rechten der Nationen die Rede.
Das ist auch begreiflich. Hätte sich irgendeine Nation an die Konferenz der Liquidatoren gewandt, so hätte die Konferenz direkt konstatieren können, daß die Nation ein Recht auf national-kulturelle Autonomie hat. An die Konferenz gewandt hat sich aber nicht eine Nation, sondern eine „Delegation“ kaukasischer Sozialdemokraten, zwar schlechter Sozialdemokraten, aber immerhin Sozialdemokraten. Und diese fragten nicht nach den Rechten der Nationen, sondern danach, ob die national-kulturelle Autonomie nicht den Prinzipien der Sozialdemokratie widerspricht, ob sie nicht „dem genauen Sinn“ des Programms der Sozialdemokratie „zuwiderläuft“.
Also Rechte der Nationen und „genauer Sinn“ des Programms der Sozialdemokratie sind nicht ein und dasselbe.
Offenbar gibt es auch solche Forderungen, die, ohne den Rechten der Nationen zuwiderzulaufen, „dem genauen Sinn“ des Programms zuwiderlaufen können.
Ein Beispiel. Im Programm der Sozialdemokraten gibt es einen Punkt über die Freiheit des Glaubensbekenntnisses. Diesem Punkt zufolge kommt jeder beliebigen Gruppe von Personen das Recht zu, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen: zum Katholizismus, zur griechischen Orthodoxie usw. Die Sozialdemokratie wird alle religiösen Repressalien, alle Verfolgungen der Griechisch-Orthodoxen, der Katholiken und der Protestanten bekämpfen. Bedeutet dies etwa, daß der Katholizismus, der Protestantismus usw. „dem genauen Sinn des Programms nicht zuwiderlaufen“? Nein, durchaus nicht. Die Sozialdemokratie wird stets gegen die Verfolgung des Katholizismus und des Protestantismus protestieren, sie wird stets für das Recht der Nationen eintreten, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen, aber gleichzeitig wird sie, von den wohlverstandenen Interessen des Proletariats ausgehend, sowohl gegen den Katholizismus und den Protestantismus als auch gegen die griechische Orthodoxie agitieren, um der sozialistischen Weltanschauung zum Triumph zu verhelfen.
Und sie wird das darum tun, weil Protestantismus, Katholizismus, griechische Orthodoxie usw. ohne Zweifel „dem genauen Sinn“ des Programms, das heißt den wohlverstandenen Interessen des Proletariats, „zuwiderlaufen“.
Das gleiche muß von der Selbstbestimmung gesagt werden. Die Nationen haben das Recht, sich nach ihrem Gutdünken einzurichten; sie haben das Recht, jede beliebige ihrer nationalen Institutionen beizubehalten, eine schädliche so gut wie eine nützliche, niemand darf sich herausnehmen (niemand hat das Recht dazu!), sich gewaltsam in das Leben der Nationen einzumischen. Das bedeutet aber noch nicht, daß die Sozialdemokratie nicht gegen schädliche Institutionen der Nationen, gegen unzweckmäßige Forderungen der Nationen kämpfen und agitieren wird. Im Gegenteil, die Sozialdemokratie ist verpflichtet, so zu agitieren und den Willen der Nationen so zu beeinflussen, daß sich die Nationen in einer Form einrichten, die den Interessen des Proletariats am meisten entspricht. Darum eben wird die Sozialdemokratie in ihrem Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen gleichzeitig, sagen wir, sowohl gegen die Lostrennung der Tataren als auch gegen die national-kultureile Autonomie der kaukasischen Nationen agitieren, denn beides läuft, ohne den Rechten dieser Nationen zuwiderzulaufen, „dem genauen Sinn“ des Programms, das heißt den Interessen des kaukasischen Proletariats, zuwider.
Offenbar sind „die Rechte der Nationen“ und „der genaue Sinn“ des Programms zwei ganz verschiedene Ebenen. Während „der genaue Sinn“ des Programms die Interessen des Proletariats zum Ausdruck bringt, die in seinem Programm wissenschaftlich formuliert sind, können die Rechte der Nationen die Interessen jeder beliebigen Klasse zum Ausdruck bringen – die der Bourgeoisie, der Aristokratie, der Geistlichkeit usw., je nach der Stärke und dem Einfluß dieser Klassen. Dort handelt es sich um Pflichten des Marxisten, hier um Rechte der Nationen, die aus verschiedenen Klassen bestehen. Die Rechte der Nationen und die Prinzipien des Sozialdemokratismus können einander ebensosehr oder ebensowenig „zuwiderlaufen“ wie, sagen wir, die Cheopspyramide der famosen Konferenz der Liquidatoren. Sie sind einfach nicht miteinander zu vergleichen.
Daraus folgt aber, daß die ehrenwerte Konferenz in ganz unverzeihlicher Weise zwei ganz verschiedene Dinge durcheinandergeworfen hat. Nicht eine Lösung der nationalen Frage ist dabei herausgekommen, sondern ein Unsinn, demzufolge die Rechte der Nationen und die Prinzipien der Sozialdemokratie einander „nicht zuwiderlaufen“ – folglich kann jede Forderung einer Nation mit den Interessen des Proletariats in Einklang gebracht werden, folglich wird keine einzige Forderung der nach Selbstbestimmung strebenden Nationen „dem genauen Sinn“ des Programms „zuwiderlaufen“!
Um die Logik kümmern sie sich nicht ...
Diesem Unsinn ist denn auch der von nun an berühmte Beschluß der Liquidatorenkonferenz entsprungen, wonach die Forderung der national-kulturellen Autonomie „dem genauen Sinn“ des Programms „nicht zuwiderläuft“.
Die Konferenz der Liquidatoren verstößt jedoch nicht nur gegen die Gesetze der Logik.
Mit der Sanktionierting der national-kulturellen Autonomie verstößt sie auch gegen ihre Pflicht gegenüber der Sozialdemokratie Rußlands. Sie verstößt in unzweideutigster Weise gegen „den genauen Sinn“ des Programms, denn bekanntlich hat der II. Parteitag, der das Programm angenommen hat, die national-kulturelle Autonomie entschieden abgelehnt. Darüber wurde auf diesem Parteitag folgendes gesagt:
„Goldblatt (Bundist): ... ich halte die Schaffung von besonderen Institutionen für notwendig, die die Freiheit der kulturellen Entwicklung der Nationalitäten gewährleisten würden, und beantrage daher folgenden Zusatz zu Paragraph 8: ‚und die Schaffung von Institutionen, die ihnen die volle Freiheit der kulturellen Entwicklung garantieren‘ (das ist bekanntlich die bundistische Formulierung der national-kulturellen Autonomie. J.St.).
Martynow weist darauf hin, daß die allgemeinen Institutionen so beschaffen sein müssen, daß sie auch die Einzelinteressen gewährleisten. Es sei unmöglich, irgendeine besondere Institution zu schaffen, die die Freiheit der kulturellen Entwicklung der Nationalität gewährleiste.
Jegorow: In der Frage der Nationalität können wir nur verneinende Vorschläge annehmen, das heißt wir sind gegen jegliche Beeinträchtigung der Nationalität. Uns als Sozialdemokraten geht es aber nichts an, ob sich die eine oder die andere Nationalität als solche entwickeln wird oder nicht. Das ist Sache eines elementar verlaufenden Prozesses.
Kolzow: Die Delegierten des Bund fühlen sich immer beleidigt, sobald man auf ihren Nationalismus zu sprechen kommt. Indessen ist der Abänderungsantrag, den der Delegierte des ‚Bund‘ eingebracht hat, rein nationalistischer Natur. Man verlangt von uns rein offensive Maßnahmen zur Stützung selbst derjenigen Nationalitäten, die im Aussterben begriffen sind.“
... Das Ergebnis ist, ‚daß der Antrag Goldblatt von der Mehrheit gegen drei Stimmen abgelehnt wird‘.“
Also ist es klar, daß die Konferenz der Liquidatoren dem genauen Sinn“ des Programms „zuwider“handelte. Sie hat gegen das Programm verstoßen.
Jetzt versuchen sich die Liquidatoren durch Berufung auf den Stockholmer Parteitag zu rechtfertigen, der angeblich die national-kulturelle Autonomie sanktioniert hat. So schreibt Wl. Kossowski:
„Bekanntlich wurde es nach dem Vertrag, der auf dem Stockholmer Parteitag angenommen wurde, dem ‚Bund‘ freigestellt, sein nationales Programm beizubehalten (bis der Gesamtparteitag über die nationale Frage entscheidet). Dieser Parteitag hat anerkannt, daß die national-kulturelle Autonomie jedenfalls dem Programm der Gesamtpartei nicht widerspreche.“ [3*]
Aber die Versuche der Liquidatoren sind vergeblich. Der Stockholmer Parteitag hat gar nicht daran gedacht, das Programm des „Bund“ zu sanktionieren – er hat sich bloß bereit erklärt, einstweilen die Frage offenzulassen. Dem wackeren Kossowski hat es an Mut gefehlt, die ganze Wahrheit zu sagen. Die Tatsachen sprechen jedoch für sich selbst. Hier sind sie:
„Es wird ein Abänderungsantrag von Galin eingebracht: ‚Die Frage des nationalen Programms bleibt offen, da der Parteitag sie nicht erörtert hat‘ (dafür 50 Stimmen, dagegen 82).
Zuruf: Was heißt das – ‚bleibt offen‘?
Vorsitzender: Wenn wir sagen, daß die nationale Frage offenbleibt, so heißt das, daß der ‚Bund‘ seinen Beschluß in dieser Frage bis zum nächsten Parteitag aufrechterhalten kann“ [4*] (Hervorhebungen von uns. J.St.).
Wie man sieht, hat der Parteitag die Frage des nationalen Programms des „Bund“ nicht einmal „erörtert“, er hat sie einfach „offen“gelassen und es dem „Bund“ freigestellt, bis zum nächsten Gesamtparteitag über das Schicksal seines Programms selbst zu entscheiden. Mit anderen Worten: Der Stockholmer Parteitag ist der Frage ausgewichen, ohne über die national-kulturelle Autonomie sowohl nach der einen als auch nach der anderen Seite ein Urteil abzugeben.
Demgegenüber aßt sich die Liquidatorenkonferenz in bestimmtester Weise auf die Beurteilung der Sache ein, erkennt die national-kulturelle Autonomie als annehmbar an und sanktioniert sie im Namen des Parteiprogramms.
Der Unterschied springt in die Augen.
Auf diese Weise hat die Liquidatorenkonferenz trotz aller Kniffe und Schliche die nationale Frage nicht um einen Schritt vorwärtsgebracht.
Scharwenzeln vor dem „Bund“ und den kaukasischen National-Liquidatoren – das ist alles, wozu sie sich als fähig erwiesen hat.
VII. Die nationale Frage in Rußland
Es bleibt uns noch übrig, die positive Lösung der nationalen Frage zu umreißen.
Wir gehen davon aus, daß die Frage nur in untrennbarem Zusammenhang mit der gegenwärtigen Situation in Rußland gelöst werden kann.
Rußland durchlebt eine Übergangszeit, wo es zu einem „normalen“, „verfassungsmäßigen“ Leben noch nicht gekommen ist, wo die politische Krise noch nicht gelöst ist. Es stehen Tage der Stürme und „Komplikationen“ bevor. Daher die Bewegung, die vorhandene und die kommende, die sich die vollständige Demokratisierung zum Ziel setzt.
Eben im Zusammenhang mit dieser Bewegung muß die nationale Frage untersucht werden.
Also vollständige Demokratisierung des Landes als Grundlage und Vorbedingung der Lösung der nationalen Frage.
Bei der Lösung der Frage muß nicht nur die innere, sondern auch die äußere Lage berücksichtigt werden. Rußland liegt zwischen Europa und Asien, zwischen Osterrei~h und China. Das Anwachsen des Demokratismus in Asien ist unausbleiblich. Das Anwachsen des Imperialismus in Europa ist kein Zufall. In Europa wird es dem Kapital zu eng, und auf der Suche nach neuen Märkten, billigen Arbeitskräften, neuen Anlagemöglichkeiten drängt es ungestüm in fremde Länder. Das führt aber zu außenpolitischen Verwicklungen und zum Krieg. Niemand kann sagen, daß der Balkankrieg [27] das Ende und nicht der Anfang von Verwicklungen sei. Es ist deshalb sehr wohl ein Zusammentreffen innerer und äußerer Konjunkturen möglich, bei dem es diese oder jene Nationalität in Rußland notwendig fände, die Frage ihrer Unabhängigkeit aufzuwerfen und zu lösen. Und natürlich ist es nicht Sache der Marxisten, in solchen Fällen Hindernisse zu schaffen.
Daraus folgt aber, daß die russischen Marxisten ohne das Selbstbestimmungsrecht der Nationen nicht auskommen werden.
Also Selbstbestimmungsrecht als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage.
Weiter. Was soll mit den Nationen werden, die es aus diesen oder jenen Gründen vorziehen werden, im Rahmen des Ganzen zu verbleiben?
Wir haben gesehen, daß die national-kulturelle Autonomie untauglich ist. Erstens ist sie künstlich und lebensunfähig, denn sie setzt voraus, daß Menschen, die das Leben, das wirkliche Leben, auseinanderreißt und in die verschiedenen Ecken und Enden des Staates verstreut, künstlich zu einer Nation zusammengezogen werden. Zweitens treibt sie zum Nationalismus, denn sie führt zum Standpunkt der „Abgrenzung“ der Menschen nach nationalen Kurien, zum Standpunkt der „Organisierung“ von Nationen, zum Standpunkt der „Wahrung“ und Pflege der „nationalen Eigenart“ - eine Sache, die der Sozialdemokratie ganz und gar nicht zukommt. Es ist kein Zufall, daß sich die mährischen Separatisten im Reichsrat nach ihrer Trennung von den deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten mit den mährischen bürgerlichen Abgeordneten zu einem, sozusagen, mährischen „Kolo“ [Ring] zusammengeschlossen haben. Kein Zufall ist es auch, daß die Separatisten aus dem „Bund“, die den „Sabbat“ und das „Jiddische“ verherrlichen, im Nationalismus versumpft sind. In der Duma gibt es noch keine bundistischen Abgeordneten, aber im Wirkungsbereich des „Bund“ gibt es die klerikal-reaktionäre jüdische Gemeinde, in deren „leitenden Institutionen“ der „Bund“ einstweilen eine „Vereinigung“ der jüdischen Arbeiter und Bourgeois arrangiert. [1*] Das ist nun einmal die Logik der national-kulturellen Autonomie.
Die nationale Autonomie ist also keine Lösung der Frage.
Wo ist nun der Ausweg?
Die einzig richtige Lösung ist die Gebietsautonomie, die Autonomie solcher ausgeprägter Einheiten, wie es Polen, Litauen, die Ukraine, der Kaukasus usw. sind.
Der Vorzug der Gebietsautonomie besteht vor allem darin, daß man es bei ihr nicht mit einer Fiktion ohne Territorium, sondern mit einer bestimmten Bevölkerung zu tun hat, die auf einem bestimmten Territorium. lebt. Ferner scheidet sie nicht die Menschen nach Nationen, festigt nicht die nationalen Schranken – im Gegenteil, sie reißt diese Schranken ein und vereinigt die Bevölkerung, um einer Scheidung anderer Art, der Scheidung nach Klassen, den Weg zu ebnen. Schließlich bietet sie die Möglichkeit, aufs beste die Naturschätze des betreffenden Gebietes zu erschließen und die Produktivkräfte zu entfalten, ohne daß erst die Beschlüsse des gemeinsamen Zentrums abgewartet werden müßten – Funktionen, die der national-kulturellen Autonomie abgehen.
Also Gebietsautonomie als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage.
Kein Zweifel, daß kein einziges Gebiet in seiner ganzen Ausdehnung national homogen ist, denn in jedes von ihnen sind nationale Minderheiten eingesprenkelt. So die Juden in Polen, die Letten in Litauen, die Russen im Kaukasus, die Polen in der Ukraine usw. Man könnte daher befürchten, daß die nationalen Mehrheiten die Minderheiten unterdrücken werden. Solche Befürchtungen sind aber nur in dem Falle begründet, wenn das Land bei den alten Zuständen bleibt. Man gebe dem Land einen vollständigen Demokratismus, und diese Befürchtungen werden jeden Boden verlieren.
Es wird vorgeschlagen, die zerstreuten Minderheiten zu einem einheitlichen nationalen Verband zusammenzufassen. Die Minderheiten brauchen aber keinen künstlichen Verband, sondern reale Rechte bei sich zu Hause. Was könnte ihnen ein solcher Verband ohne völlige Demokratisierung geben? Oder: Wozu braucht man einen nationalen Verband bei völliger Demokratisierung?
Was bewegt eine nationale Minderheit besonders?
Die Minderheit ist unzufrieden, nicht weil ihr ein nationaler Verband fehlt, sondern weil ihr das Recht auf die Muttersprache vorenthalten wird. Man gebe ihr das Recht, ihre Muttersprache zu gebrauchen, und die Unzufriedenheit wird von selbst verschwinden.
Die Minderheit ist unzufrieden, nicht weil ihr ein künstlicher Verband fehlt, sondern weil ihr die eigene nationale Schule vorenthalten wird. Man gebe ihr eine solche Schule, und ihre Unzufriedenheit wird jeden Boden verlieren.
Die Minderheit ist unzufrieden, nicht weil ihr ein nationaler Verband fehlt, sondern weil ihr Gewissensfreiheit (die Freiheit des Glaubensbekenntnisses), Freizügigkeit usw. vorenthalten werden. Man gebe ihr diese Freiheiten, und sie wird nicht mehr unzufrieden sein.
Also nationale Gleichberechtigung in allen ihren Formen (Sprache, Schulen usw.) als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage. Unumgänglich ist folglich ein auf der Grundlage völliger Demokratisierung des Landes erlassenes allgemeines Staatsgesetz, das ausnahmslos alle Arten nationaler Vorrechte und jede wie immer geartete Beengung oder Einschränkung der Rechte der nationalen Minderheiten verbietet.
Hierin und nur hierin kann die wirkliche und nicht papierene Garantie der Rechte der Minderheit bestehen.
Man kann das Bestehen eines logischen Zusammenhangs zwischen dem organisatorischen Föderalismus und der national-kulturellen Autonomie bestreiten oder nicht bestreiten. Unbestreitbar ist jedoch, daß diese letztere eine günstige Atmosphäre für einen uferlosen Föderalismus schafft, der in einen völligen Bruch, in Separatismus übergeht. Wenn die Tschechen in Österreich und die Bundisten in Rußland mit der Autonomie begannen, dann zur Föderation übergingen und beim Separatismus landeten, so hat hierbei eine große Rolle zweifellos die nationalistische Atmosphäre gespielt, die naturgemäß von der national-kulturellen Autonomie verbreitet wird. Es ist kein Zufall, daß nationale Autonomie und Föderation in der Organisation Hand in Hand gehen. Das ist auch verständlich. Beide fordern die Scheidung nach Nationalitäten. Beide setzen eine Organisierung nach Nationalitäten voraus. Die Ähnlichkeit liegt auf der Hand. Der Unterschied ist lediglich der, daß man dort die Bevölkerung überhaupt – hier aber die sozialdemokratischen Arbeiter scheidet.
Wir wissen, wozu die Scheidung der Arbeiter nach Nationalitäten führt. Zerfall der einheitlichen Arbeiterpartei, Teilung der Gewerkschaften nach Nationalitäten, Verschärfung der nationalen Reibungen, nationales Streikbrechertum, völlige Demoralisation in den Reihen der Sozialdemokratie – das sind die Resultate des organisatorischen Föderalismus. Die Geschichte der Sozialdemokratie in Österreich und die Tätigkeit des „Bund“ in Rußland sind ein beredtes Zeugnis dafür.
Das einzige Mittel dagegen ist die Organisierung nach den Grundsätzen der Internationalität.
Lokale Zusammenfassung der Arbeiter aller Nationalitäten Rußlands zu einheitlichen und geschlossenen Kollektiven, Zusammenfassung dieser Kollektive zu einer einheitlichen Partei – das ist die Aufgabe.
Es versteht sich von selbst, daß ein derartiger Aufbau der Partei eine weitgehende Autonomie der Gebiete innerhalb des einheitlichen Parteiganzen nicht ausschließt, sondern voraussetzt.
Die Erfahrungen des Kaukasus zeigen die ganze Zweckmäßigkeit eines solchen Organisationstypus. Wenn es den Kaukasiern gelungen ist, die nationalen Reibungen zwischen den armenischen und den tatarischen Arbeitern zu überwinden, wenn es ihnen gelungen ist, die Bevölkerung gegen die Möglichkeit von Metzeleien und Schießereien zu sichern, wenn in Baku, diesem Kaleidoskop nationaler Gruppen, nationale Zusammenstöße jetzt schon unmöglich sind, wenn es dort gelungen ist, die Arbeiter in das einheitliche Fahrwasser einer machtvollen Bewegung hineinzuziehen, so hat der internationale Aufbau der kaukasischen Sozialdemokratie hierbei nicht die letzte Rolle gespielt.
Der Typus der Organisation wirkt nicht allein auf die praktische Arbeit. Er drückt dem ganzen geistigen Leben des Arbeiters seinen unauslöschlichen Stempel auf. Der Arbeiter lebt das Leben seiner Organisation, dort wächst er geistig, dort wird er erzogen. Dadurch nun, daß er in seiner Organisation verkehrt, dort jedesmals mit seinen Genossen aus anderen Nationalitäten zusammentrifft und mit ihnen zusammen unter der Führung des gemeinsamen Kollektivs den gemeinsamen Kampf führt, wird er tief von dem Gedanken durchdrungen, daß die Arbeiter vor allem Angehörige einer einzigen Klassenfamilie, Glieder der einheitlichen Armee des Sozialismus sind. Das aber kann nicht ohne gewaltige erzieherische Bedeutung für breite Schichten der Arbeiterklasse bleiben.
Darum ist der internationale Organisationstypus eine Schule kameradschaftlichen Fühlens, die größte Agitation zugunsten des Internationalismus.
Anders die Organisation nach dem Nationalitätenprinzip. Nach Nationalitäten organisiert, kapseln sich die Arbeiter in ihren nationalen Schalen ab, grenzen sich durch organisatorische Zwischenwände gegeneinander ab. Hervorgehoben wird nicht das Gemeinsame unter den Arbeitern, sondern das, was sie voneinander unterscheidet. Hier ist der Arbeiter vor allem Angehöriger seiner Nation: Jude, Pole usw. Kein Wunder, daß der nationale Föderalismus in der Organisation die Arbeiter im Geist der nationalen Absonderung erzieht.
Darum ist der nationale Organisationstypus eine Schule nationaler Borniertheit und Verknöcherung.
Wir haben somit zwei prinzipiell verschiedene Organisationstypen vor uns: den Typus der internationalen Geschlossenheit und den Typus der organisatorischen Scheidung“ der Arbeiter nach Nationalitäten.
Die Versuche, beide Typen miteinander in Übereinstimmung zu bringen, sind bis jetzt erfolglos geblieben. Die versöhnlerischen Satzungen der österreichischen Sozialdemokratie, die 1897 auf dem Wimberger Parteitag ausgearbeitet wurden, blieben in der Luft hängen. Die österreichische Partei zerfiel in Stücke und zog die Gewerkschaften nach sich. Die „Versöhnung“ erwies sich nicht nur als utopisch, sondern auch als schädlich. Strasser hat recht, wenn er behauptet, daß der „Separatismus seinen ersten Triumph auf dem Wimberger Parteitag“ feierte. [2*] Dasselbe in Rußland. Die „Versöhnung“ mit dem Föderalismus des „Bund“, die auf dem Stockholmer Parteitag zustande gekommen war, endete mit einem vollständigen Zusammenbruch. Der „Bund“ vereitelte das Stockholmer Kompromiß. Gleich am Tage nach Stockholm wurde der „Bund“ zu einem Hemmschuh bei der Vereinigung der Arbeiter der einzelnen Orte zu einer einheitlichen, die Arbeiter aller Nationalitäten umfassenden Organisation. Und der „Bund“ setzte seine separatistische Taktik hartnäckig fort, obgleich die Sozialdemokratie Rußlands sowohl 1907 als auch 1908 wiederholt die Forderung stellte, die Einheit der Arbeiter aller Nationalitäten von unten her endlich zu verwirklichen. [28] Der „Bund“, der mit der organisatorischen nationalen Autonomie begonnen hatte, ging in der Praxis zur Föderation über, um beim völligen Bruch, beim Separatismus zu landen. Durch seinen Bruch mit der Sozialdemokratie Rußlands trug er aber Zerfahrenheit und Desorganisation in sie hinein. Es sei beispielshalber nur an den Fall Jagiello [29] erinnert.
Darum muß der Weg der „Versöhnung“ als utopisch und schädlich aufgegeben werden.
Von zwei Dingen eins: Entweder der Föderalisnuis des „Bund“, und dann stellt sich die Sozialdemokratie Rußlands nach den Grundsätzen der „Scheidung“ der Arbeiter nach Nationalitäten um; oder internationaler Organisationstypus, und dann stellt sich der „Bund“ nach den Grundsätzen der territorialen Autonomie, nach dem Vorbild der kaukasischen, der lettischen und der polnischen Sozialdemokratie, um und macht die Bahn frei für die unmittelbare Vereinigung der jüdischen Arbeiter mit den Arbeitern der anderen Nationalitäten Rußlands.
Ein Mittelding gibt es nicht: Prinzipien siegen, lassen sich aber nicht „versöhnen“.
Also Prinzip der internationalen Zusammenfassung der Arbeiter als unumgänglicher Punkt bei der Lösung der nationalen Frage.