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Über Religion  (Wladimir Lenin)

Aus ProleWiki


Über Religion
Autor*inWladimir Lenin
VerlagVerlag für Literatur und Politik

(Dr. Johannes Wertheim)

Wien – Berlin
Veröffentlicht1931
Quellehttps://www.projekt-gutenberg.org/lenin/religion/chap001.html


Vorwort

(1926 und 1931)[Anmerkungen 1]

Im Marxismus – der Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus[Anmerkungen 2] – ist der Atheismus, die Religionslosigkeit, die Bekämpfung der Religion, ein selbstverständlicher, unablösbarer Bestandteil. Marx und Engels haben sich nach ihrer philosophischen Grundeinstellung Zeit ihres Lebens Materialisten genannt. Was ist Materialismus? Engels antwortet: die Welt ohne vorgefaßte idealistische Schrullen auffassen.[1] So war der Gegensatz zu aller mystischen, religiösen Glaubenswelt klar zum Ausdruck gebracht. Der dialektische Materialismus von Marx und Engels ist denn auch der stärkste Gegenpol gegen jede idealistische und metaphysische (d. h. übernatürliche und undialektische) Denkweise.[2]

Bereits 1844 hatte der junge Marx das Wort geprägt: »Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.[3] « Im Sturm und Drang des Aufbaues ihrer Weltanschauung haben Marx und Engels sich zuerst noch wacker mit Gedankengebilden aus der religiösen Vorstellungswelt herumschlagen müssen. Diese Auseinandersetzung, die zum Teil auch eine Selbstverständigung war, erfolgte jedoch bei beiden so früh[Anmerkungen 3] und mit solcher Vollständigkeit, daß ihnen der atheistische Grundcharakter ihrer ausgereiften Weltanschauung späterhin kaum noch besonderer Hervorhebung oder gar besonderer Begründung zu bedürfen schien. Dasselbe gilt für manchen Anhänger des Marxismus und nicht zum mindesten für den bedeutendsten Marxisten nach Marx, für Lenin. Es ist kein Zufall, daß wir aus der Feder unserer großen Meister, Marx, Engels, Lenin, keine breitere systematische Darstellung ihres proletarischen Freidenkertums, ihres Atheismus besitzen. Ueber Selbstverständlichkeiten pflegt man eben nicht viel zu sprechen. So konnten denn religiöse Sozialdemokraten, wie sie seit dem politischen Sündenfall der SPD dort so üppig in die Halme schießen, ihren Parteigenossen das Märchen erzählen: der Marxismus sei »freilich atheistisch, aber nicht areligiös« (Kranold in »Der lebendige Marxismus«, 1924, S. 509) und ähnliche Scherze mehr.

Aber wie ist es zu verstehen, daß in der politischen Arbeiterbewegung, so weit sie vom Marxismus beherrscht wird, dem Atheismus keineswegs der erste Platz in der Massenpropaganda eingeräumt wird? Einesteils erschien atheistische Propaganda hier fast überflüssig. Engels schrieb schon 1874: »Der Atheismus ist so ziemlich selbstverständlich bei den europäischen Arbeiterparteien.«[Anmerkungen 4] Und ähnlich spricht Lenin (1909) von »klassenbewußten Sozialdemokraten, die natürlich Atheisten sind«. Andererseits hatte man zu befürchten, daß eine die sozialen und politischen Umstände nicht berücksichtigende, einseitige Freidenkerpropaganda von Seiten einer sozialistischen Arbeiterpartei gerade die politische Erschließung der noch fernerstehenden proletarischen Massen verzögern und empfindlich schädigen könne. In den anarchistischen Kriegserklärungen an die Religion gibt es seit Bakunins Zeiten genug warnende Beispiele dafür.

Diese Haltung des Marxismus, die bei oberflächlicher Betrachtung Theorie und Praxis voneinander zu trennen scheint, in Wirklichkeit aber nur die Dinge in ihrem dialektischen Flusse wertet, hat in den Köpfen der Nachläufer einige Verwirrung angerichtet. Der Opportunismus machte in der Behandlung des religiösen Problems einen seiner ersten Vorstöße. Während das erste Programm der deutschen Sozialdemokratie (das Eisenacher Programm von 1869) noch klar und richtig formuliert hatte: »Trennung der Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der Kirche«, tauchte schon im Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei (1875) jene überschlaue und der opportunistischen Auslegung Tür und Tor öffnende Formel auf: » Erklärung der Religion zur Privatsache«. Marx stellte in seinen Randglossen zu diesem Programm die Gegenforderung auf, daß die Arbeiterpartei vielmehr danach zu streben hat, »die Gewissen vom religiösen Spuk zu befreien«, und ingrimmig setzte er hinzu: »Man beliebt aber das ›bürgerliche‹ Niveau nicht zu überschreiten.«[4] Die SPD hielt jedoch auch im Erfurter Programm (1891) an dieser Fassung fest. Im Punkt 6 des Erfurter Programms hieß es dann weiter: »Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten.« Engels hat in seiner Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfes – (der von ihm kritisierte Vorentwurf enthielt neben dem angezogenen Satze die ausdrückliche Erklärung der Religion zur Privatsache noch nicht wieder!) – folgende Korrektur vorgeschlagen: »Alle religiösen Gemeinschaften ohne Ausnahme werden vom Staate als Privatgenossenschaften behandelt. Sie verlieren jede Unterstützung aus öffentlichen Mitteln und jeden Einfluß auf die öffentlichen Schulen.« Durch diese Fassung wäre eine Auslegung unmöglich geworden, nach der es für jeden Parteigenossen »Privatsache« sei, wie er sich zur Religion verhalten will. Leider hat sich die Sozialdemokratische Partei um die Engelssche Kritik und Korrektur nicht gekümmert. Sie wurde ja auch der Parteiöffentlichkeit bis Oktober 1901 vom Parteivorstand vorenthalten. In der Praxis verböserte man sogar den Punkt 6 zu dem Satz: Religion ist Privatsache![Anmerkungen 5] Und wenn das Heidelberger Programm (1925) diese Formel auch fallen ließ, so wurde dabei doch ausdrücklich verkündet, daß sich in der Stellung der Partei zur Religion nichts geändert habe. Was fragt also die Sozialdemokratische Partei danach, ob ihr Parteigenosse Schulze zur Beichte geht, ob ihr Parteigenosse Michel sich zum Kirchenvorsteher wählen läßt oder sich mit seinesgleichen zu einem Bund »religiöser Sozialisten« zusammenschließt! Seit 1914, seit der katastrophalen Rechtsschwenkung der Sozialdemokratie, seit ihrem Bruch mit dem Marxismus, ist auch der Atheismus dort nicht mehr im Parteigewissen verankert. Die Bekämpfung jeder staatskirchlichen Praxis ist eingestellt worden, die Schule hat man dem Zentrum ausgeliefert, hat für den Zentrums-Marx als Reichspräsidenten agitiert; man gewährt Staatsgelder für kirchliche Zwecke, schützt die kirchlichen Institutionen durch den »Kirchenlästerungsparagraphen« des neuen Strafgesetzentwurfs und billigt Konkordate mit der katholischen Kirche. Und in den sozialdemokratischen Presseorganen und Revuen (z. B. Sozialistische Monatshefte!) erscheinen Artikel, »daß sich die Arbeiter ihre religiösen Gefühle nicht verderben lassen sollten«, daß »der Sozialismus mit den letzten ewigen Kräften der Frömmigkeit durchströmt werden müsse«. Mit Freude konstatiert man, daß eine »neue Religiosität in der Arbeiterklasse im Entstehen« sei. »Ungemein zahlreiche unserer Parteimitglieder beteiligen sich aktiv am religiösen Gemeinschaftsleben und wollen weder auf die äußeren Formen noch auf ihr innerliches Verhältnis zur Kirche und Religion verzichten« usw. usw.[5] Sollmann aber belehrt den sozialdemokratischen Parteitag in Magdeburg (1929): »Der Atheismus ist genau so unwissenschaftlich wie der Gottesbeweis« (Protokoll, S. 76). Alles das bedeutet, daß in der Sozialdemokratischen Partei auch in der Stellung zu Kirche und Religion ein ungeheuerlicher Umschwung eingetreten ist, ein Rückfall in rückständigste christlich-soziale Ideologie.

Kein Wunder, daß sich demgegenüber in dem fortgeschritteneren Teil des deutschen Proletariats, vor allem in der kommunistischen Arbeiterschaft, wieder ein energischer Wille zu streitbarer proletarischer Freidenkerarbeit geltend macht.[Anmerkungen 6] Angesichts der unleugbaren Schwierigkeiten bei dieser Propaganda ist es sicherlich von größtem Interesse, sich zu vergegenwärtigen, wie Lenin, den Freund und Feind als einen der größten und erfolgreichsten Marxisten anerkennen müssen, über die Stellung zur Religion gedacht hat.

In dem vorliegenden Sammelbändchen sind die wichtigsten, die religiöse Frage berührenden Artikel und Briefe von Lenin aus den Jahren 1902 bis 1922 zusammengetragen worden. Es sei übrigens noch bemerkt, daß sich Lenin in einer umfangreichen, 1908 geschriebenen Kampfschrift »Materialismus und Empiriokritizismus«[6] mit dieser Spielart der idealistischen, die religiöse Denkungsart unterstützenden Philosophie auseinandergesetzt und dabei eine grundlegende Behandlung des dialektischen Materialismus gegeben hat.

Die beiden ersten hier abgedruckten Artikel Lenins (von 1905 und 1909) sind die eingehendste Darstellung des Verhältnisses der modernen Arbeiterbewegung zur Religion, die wir von führenden Marxisten besitzen. Der zweite Artikel wurde geschrieben anläßlich einer Rede des Parteigenossen Surkow in der russischen Duma. Man sieht, wie eifrig Lenin das Auftreten der Duma-Fraktion verfolgte, und wie er sie zur richtigen Stellungnahme zu erziehen wußte. Auch der dritte Artikel beschäftigt sich noch mit der Religionsdebatte in der zaristischen Duma (1909). Vor allem wird hier die schwächliche und reaktionäre Haltung der linken Bourgeoisie gegenüber der konservativ-klerikalen Geistlichkeit gebrandmarkt. An vierter Stelle haben wir zurückgegriffen auf einen Artikel Lenins aus dem Jahre 1902, der anläßlich einer Auseinandersetzung zwischen Religiös-Orthodoxen und einem »liberaler« gestimmten Adligen ein wertvolles Eingeständnis der Kirchentreuen: »Wofür Religion gut ist« niedriger hängt. Die Notwendigkeit eines unermüdlichen Kampfes für den Atheismus innerhalb der Partei und darüber hinaus unterstreicht Lenin in dem Artikel, den er zur Einführung des wissenschaftlichen bolschewistischen Kampforgans: »Unter dem Banner des Marxismus« (1922)[7] geschrieben hat, und der in unserer Folge an fünfter Stelle abgedruckt ist. Bemerkenswert ist hier die Forderung einer geistigen Einheitsfront aller konsequenten Atheisten und Materialisten. Der Aufsatz über Tolstoi[8] (1908) muß den mit Büchern über Tolstoi gefütterten westeuropäischen Intellektuellen wie eine Offenbarung erscheinen. Hier wird in wenigen Sätzen gesagt, was die anderen in dicken Wälzern nicht sagen. Lenin erklärt geschichtsmaterialistisch die Wurzeln der religiösen Grundidee des Tolstoianertums und legt gleichzeitig die revolutionäre Bedeutung des Bauerntums dar. Nebenbei sei bemerkt, daß dieser Artikel eine glänzende Widerlegung jener in antibolschewistischen Kreisen kolportierten Behauptung ist, daß die Bolschewisten der Person und dem Schrifttum Tolstois völlig verständnislos gegenüberständen.

Ein wertvolles Stück des Sammelbändchens bilden zwei Briefe Lenins an Gorki aus dem Jahre 1913.[Anmerkungen 7] Die Briefe richteten sich gegen das Wiederaufleben eines Gefühlssozialismus mit religiöser Verbrämung, wie er damals in der Zeit nach der Niederlage der Revolution von 1905 in dem Kreise der sogenannten »Gott-Sucher« um Lunatscharski und Gorki gepredigt wurde. Daß sich diese Richtung gerade unter den näheren Freunden und Gesinnungsgenossen Lenins entwickelt hatte, machte Lenins Polemik dagegen um so erbitterter. Wie vor den ultralinken Otsowisten[Anmerkungen 8] mußte Lenin die Bolschewisten nun auch vor solchen rechtsideologischen Abweichungstendenzen behüten. An den Schluß haben wir noch jene Ausführungen gesetzt, die Lenin 1920 in seiner großen Rede vor der kommunistischen Jugend über den Gegensatz der kommunistischen und religiösen Moral gemacht hat.

Man muß bei der Lektüre der verschiedenen Artikel noch beachten, daß vor 1914 der Ausdruck Sozialdemokrat keineswegs opportunistischen Nebenklang hatte. Wenngleich Lenin schon seit 1903 gegen menschewistische Sozialdemokraten in Rußland focht, sah er bis 1914 in der deutschen Sozialdemokratie die Bruderpartei, die bei all ihren Schwächen doch eine marxistische Partei und eine maßgebende Partei in der Internationale war.

Aus den Darlegungen Lenins lassen sich vor allem folgende vier Grundsätze herausheben:

  1. Der Atheismus ist im Marxismus inbegriffen. Daher muß eine klassenbewußte marxistische Arbeiterpartei auch eine entschiedene atheistische Propaganda führen.
  2. Dem bürgerlichen Staat gegenüber ist völlige Trennung von Staat und Kirche, Kirche und Schule zu fordern.
  3. Die Gewinnung des Proletariats muß sich in erster Linie unter Anknüpfung an seine ökonomischen und politischen Gegenwartsinteressen vollziehen.
  4. Die endgültige Loslösung der Masse von der Religion kann erst nach der proletarischen Revolution, auf dem Boden einer kommunistischen Gesellschaftsordnung erfolgen.

Im übrigen ist Lenins Stellung zur Religion wohl am prägnantesten in der Fassung des Programms der Kommunistischen Partei Rußlands vom März 1919 zu ersehen. Dort lesen wir unter den Forderungen »Auf allgemein-politischem Gebiet«, Ziffer 13:


»In bezug auf die Religion begnügt sich die KPR nicht mit der bereits dekretierten Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche, d. h. mit Maßnahmen, die von der bürgerlichen Demokratie in ihren Programmen aufgestellt, aber infolge der mannigfaltigen Bande, die in Wirklichkeit das Kapital mit der religiösen Propaganda verknüpfen, nirgends in der Welt von ihr zu Ende geführt worden sind.

Die KPR läßt sich von der Ueberzeugung leiten, daß nur die Verwirklichung planmäßiger und zielbewußter Ordnung auf dem Gebiete der gesamten allgemein-wirtschaftlichen Tätigkeit der Massen das völlige Absterben der religiösen Vorurteile nach sich ziehen wird. Die Partei ist bestrebt, das Band zwischen den Ausbeuterklassen und den Organisationen religiöser Propaganda vollständig zu zerstören, indem sie durch eine umfassend organisierte wissenschaftlich-aufklärende und anti-religiöse Propaganda zur talsächlichen Befreiung der werktätigen Massen von religiösen Vorurteilen beiträgt. Dabei ist jede Verletzung der Gefühle der Gläubigen sorgfältig zu vermeiden, da das nur zur Festigung des religiösen Fanatismus führt.«[Anmerkungen 9]

In entsprechender Weise heißt es im Programm der Kommunistischen Internationale (angenommen vom VI. Weltkongreß der KI 1928):

»Eine besondere Stellung hat unter den Aufgaben der die breiten Massen erfassenden Kulturrevolution der Kampf gegen das »Opium des Volkes«, die Religion. Dieser Kampf muß hartnäckig und systematisch geführt werden. Die proletarische Macht muß jede staatliche Unterstützung der Kirche, die eine Agentur der einst herrschenden Klassen ist, aufheben, jede Einmengung der Kirche in das staatlich organisierte Erziehungs- und Bildungswesen unterbinden und die konterrevolutionäre Tätigkeit kirchlicher Organisationen schonungslos unterdrücken. Die proletarische Macht läßt die Freiheit des Bekenntnisses zu, führt aber gleichzeitig mit allen ihr zugänglichen Mitteln eine antireligiöse Propaganda, vernichtet die Vorzugsstellung der früheren Staatsreligion und gestaltet das ganze Erziehungs- und Bildungswesen auf der Grundlage der wissenschaftlich-materialistischen Weltanschauung um.«[Anmerkungen 10]

Sagten wir einleitend: Marxismus ohne Atheismus ist nicht denkbar, so wollen wir zum Schlusse noch betonen: Atheismus ohne Marxismus ist geistige Halbheit und traurige Inkonsequenz. Der Zerfall der bürgerlichen monistischen Bewegung ist dafür ein lehrreiches Beispiel. Wo sich der naturwissenschaftliche Materialismus nicht zum historischen Materialismus durchringt – d. h. eben zum Marxismus – endet er in Idealismus und Pfaffentum.

Hermann Duncker.

I. Sozialismus und Religion

(1905)

Die heutige Gesellschaft ist ganz auf der Ausbeutung der ungeheuren Massen der Arbeiterklasse durch eine verschwindend kleine, zu den Klassen der Grundbesitzer und Kapitalisten gehörende Minderheit der Bevölkerung aufgebaut. Es ist eine sklavenhaltende Gesellschaft, denn die »freien« Arbeiter, die ihr ganzes Leben lang für das Kapital schuften, »haben Anrecht« lediglich auf solche Existenzmittel, die zum Lebensunterhalt von Sklaven, die Profit erzeugen, zur Sicherung und Verewigung der kapitalistischen Sklaverei notwendig sind.

Die ökonomische Unterdrückung der Arbeiter verursacht und erzeugt unvermeidlich alle möglichen Arten politischer Unterdrückung und sozialer Erniedrigung, führt zur Verrohung und Verkümmerung des geistigen und sittlichen Lebens der Massen. Die Arbeiter können sich mehr oder weniger politische Freiheit für ihren Kampf um ökonomische Befreiung erringen, aber keine Freiheit wird sie von der Armut, der Arbeitslosigkeit und der Knechtschaft erlösen, solange die Macht des Kapitals nicht gestürzt ist. Die Religion ist eine Art des geistigen Druckes, der überall und allenthalben auf den Volksmassen lastet, die durch ewige Arbeit für andere, durch Not und Vereinsamung niedergedrückt werden. Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klassen im Kampfe gegen ihre Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Leben nach dem Tode, wie die Ohnmacht des Wilden in seinem Kampfe mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder und dergleichen hervorruft. Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Geduld hienieden, und sie vertröstet ihn mit Hoffnungen auf himmlischen Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, indem sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins gibt und zu annehmbaren Preisen Eintrittskarten zur himmlischen Seligkeit verkauft. Die Religion ist das Opium des Volks.[Anmerkungen 11] Die Religion ist eine Art geistiger Fusel, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihren Anspruch auf eine halbwegs menschenwürdige Existenz ersäufen.

Doch der Sklave, der sich seiner Sklaverei bewußt geworden ist und sich zum Kampf für seine Befreiung erhoben hat, hat zur Hälfte bereits aufgehört, Sklave zu sein. Der moderne klassenbewußte Arbeiter, von der Großindustrie erzogen, durch das städtische Leben aufgeklärt, wirft mit Verachtung die religiösen Vorurteile von sich, überläßt den Himmel den Pfaffen und bürgerlichen Frömmlern und erkämpft sich ein besseres Leben hier auf Erden. Das heutige Proletariat tritt auf die Seite des Sozialismus, der die Wissenschaft zum Kampf gegen den religiösen Nebeldunst heranzieht und die Arbeiter vom Glauben an ein jenseitiges Leben dadurch befreit, daß er sie zum wirklichen Kampf um ein besseres irdisches Leben zusammenschweißt.

»Erklärung der Religion zur Privatsache« – in diesen Worten wird gewöhnlich das Verhältnis der Sozialisten zur Religion ausgedrückt. Doch muß man die Bedeutung dieser Worte genau definieren, damit sie keine Mißverständnisse hervorrufen können. Wir fordern, daß die Religion Privatsache sei gegenüber dem Staat, können aber keinesfalls die Religion in bezug auf unsere eigene Partei als Privatsache betrachten. Der Staat soll mit der Religion nichts zu tun haben, die Religionsgemeinschaften dürfen mit der Staatsmacht nicht verknüpft sein. Jeder muß vollkommen frei sein, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen, oder auch gar keine Religion anzuerkennen, d. h. Atheist zu sein, was ja in der Regel jeder Sozialist auch ist. Alle durch das religiöse Bekenntnis bestimmten Unterschiede in den Rechten der Staatsbürger sind völlig unzulässig. Selbst die Erwähnung der Konfessionszugehörigkeit der Staatsbürger in offiziellen Dokumenten muß unbedingt ausgemerzt werden. Keine Zuwendungen an eine Staatskirche, keine Zuwendungen von Staatsmitteln an kirchliche und religiöse Gemeinschaften, die vielmehr völlig freie, von den Behörden unabhängige Vereinigungen gleichgesinnter Bürger werden müssen. Nur die restlose Erfüllung dieser Forderungen kann jener schändlichen und verfluchten Vergangenheit ein Ende machen, wo die Kirche im Hörigkeitsverhältnis gegenüber dem Staate, und die Bürger im Hörigkeitsverhältnis gegenüber der Staatskirche waren, wo mittelalterliche Inquisitionsgesetze[Anmerkungen 12] bestanden und Anwendung fanden (die bis auf den heutigen Tag in unseren Strafgesetzen[Anmerkungen 13] und -verordnungen erhalten geblieben sind), die Glauben oder Unglauben verfolgten, das Gewissen der Menschen vergewaltigten, Staatspöstchen und Staatspfründen mit der Verteilung dieses oder jenes Staatskirchenfusels verknüpften. Vollständige Trennung der Kirche vom Staat – das ist die Forderung, die das sozialistische Proletariat an den heutigen Staat und die heutige Kirche stellt.[Anmerkungen 14]

Die russische Revolution muß diese Forderung als unentbehrlichen Bestandteil der politischen Freiheit verwirklichen. Die russische Revolution vollzieht sich in dieser Beziehung unter besonders vorteilhaften Bedingungen; denn das widerwärtige Kasernenregime der politisch feudalistischen Selbstherrschaft hat selbst innerhalb der Geistlichkeit Unzufriedenheit, Gärung und Empörung hervorgerufen. So geduckt und unwissend die russische rechtgläubige Geistlichkeit auch gewesen sein mag, selbst sie hat jetzt der dröhnende Sturz der alten, mittelalterlichen Ordnung in Rußland geweckt. Selbst sie schließt sich der Forderung nach Freiheit an, protestiert gegen das Kasernenregime und die Beamtenwillkür, gegen die polizeilichen Spitzeldienste, die den »Dienern Gottes« auferlegt werden. Wir Sozialisten müssen diese Bewegung unterstützen, indem wir die Forderungen der ehrlichen und aufrichtigen Leute innerhalb der Geistlichkeit bis zu Ende entwickeln, sie dort, wo sie von Freiheit sprechen, beim Wort nehmen, von ihnen fordern, daß sie jede Verbindung zwischen Religion und Polizei entschieden zerreißen. Entweder seid ihr aufrichtig – dann müßt ihr für die völlige Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche eintreten, dafür eintreten, daß die Religion bedingungslos und ohne Einschränkungen zur Privatsache erklärt wird. Oder aber ihr akzeptiert diese konsequenten Forderungen nach Freiheit nicht – dann seid ihr also immer noch in den Ueberlieferungen der Inquisition befangen, klebt also immer noch an den Staatspöstchen und Staatspfründen, ihr glaubt also nicht an die geistige Kraft eurer Waffe, laßt euch auch weiterhin von der Staatsmacht bestechen – dann erklären euch die klassenbewußten Arbeiter ganz Rußlands den schonungslosen Krieg.

In bezug auf die Partei des sozialistischen Proletariats ist die Religion keine Privatsache. Unsere Partei ist ein Bund der klassenbewußten, vorgeschrittenen Kämpfer um die Befreiung der Arbeiterklasse. Ein solcher Bund kann und darf sich gegenüber dem Fehlen des Klassenbewußtseins, gegenüber der Unwissenheit und dem Irrsinn des religiösen Glaubens nicht gleichgültig verhalten. Wir fordern die vollständige Trennung der Kirche vom Staat, um gegen den religiösen Nebel mit rein geistigen und nur geistigen Waffen, mit unserer Presse, unserem Wort, kämpfen zu können. Aber wir haben unseren Bund, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, unter anderem gerade für einen solchen Kampf gegen jede religiöse Verdummung der Arbeiter gegründet. Für uns ist der geistige Kampf keine Privatsache, sondern eine Angelegenheit der ganzen Partei, des gesamten Proletariats.

Wenn dem so ist, warum erklären wir nicht in unserem Programm, daß wir Atheisten sind? Warum verbieten wir nicht Christen und Gottesgläubigen, in unsere Partei einzutreten?

Die Antwort auf diese Frage wird einen äußerst wichtigen Unterschied zwischen der bürgerlich-demokratischen und der sozialdemokratischen Fragestellung in bezug auf die Religion klarmachen.

Unser Programm beruht ganz auf wissenschaftlicher, und zwar materialistischer Weltanschauung. Die Erläuterung unseres Programms schließt daher notwendigerweise auch die Klarlegung der wahren historischen und ökonomischen Wurzeln des religiösen Nebels ein. Unsere Propaganda schließt notwendigerweise auch die Propaganda des Atheismus ein; die Herausgabe entsprechender wissenschaftlicher Literatur, die bisher von der absolutistisch-feudalen Staatsmacht streng verboten war und verfolgt wurde, muß jetzt einen Zweig unserer Parteiarbeit bilden. Wir werden jetzt wahrscheinlich den Rat befolgen müssen, den Engels[Anmerkungen 15] einmal den deutschen Sozialisten erteilte: die französische atheistische und Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts zu übersetzen und in Massen zu verbreiten.

Aber wir dürfen uns dabei auf keinen Fall dazu verleiten lassen, die religiöse Frage abstrakt, idealistisch, »aus der Vernunft«, außerhalb des Klassenkampfes zu stellen, wie dies häufig bei den radikalen bürgerlichen Demokraten der Fall ist. Es wäre unsinnig, zu glauben, daß man in einer Gesellschaft, die auf schrankenloser Unterdrückung und Verrohung der Arbeitermassen aufgebaut ist, rein propagandistisch die religiösen Vorurteile zerstreuen könne. Es wäre bürgerliche Beschränktheit, zu vergessen, daß der auf der Menschheit lastende Druck der Religion nur das Produkt und die Widerspiegelung des ökonomischen Druckes innerhalb der Gesellschaft ist. Durch keine Broschüren, durch keine Propaganda kann man das Proletariat aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die finsteren Gewalten des Kapitalismus aufgeklärt wird. Die Einheitlichkeit dieses wirklichen revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für die Schaffung eines Paradieses auf Erden ist uns wichtiger als die Einheitlichkeit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im Himmel.

Das ist der Grund, warum wir in unserem Programm nichts über unseren Atheismus verlautbaren und nichts verlautbaren dürfen;[Anmerkungen 16] das ist der Grund, warum wir den Proletariern, die noch diese oder jene Ueberbleibsel der alten Vorurteile bewahrt haben, die Annäherung an unsere Partei nicht verbieten und nicht verbieten dürfen. Die wissenschaftliche Weltanschauung werden wir immer propagieren, die Inkonsequenz irgendwelcher »Christen« zu bekämpfen, ist für uns unerläßlich; aber das bedeutet keineswegs, daß man die religiöse Frage an die erste Stelle, die ihr durchaus nicht zukommt, rücken muß, daß man die Zersplitterung der Kräfte des wirklich revolutionären, des ökonomischen und politischen Kampfes um drittrangiger Meinungen oder abgeschmackter Einbildungen willen zulassen soll, die ja rasch jede politische Bedeutung verlieren und durch den Gang der ökonomischen Entwicklung selbst rasch in die Rumpelkammer geworfen werden.

Die reaktionäre Bourgeoisie hat überall danach getrachtet und beginnt jetzt auch bei uns danach zu trachten, den religiösen Haß zu entfachen, um die Aufmerksamkeit der Massen von den tatsächlich wichtigen und grundlegenden ökonomischen und politischen Fragen, deren Lösung das sich in seinem revolutionären Kampfe jetzt praktisch vereinigende gesamtrussische Proletariat in Angriff nimmt, auf das religiöse Gebiet abzulenken. Diese reaktionäre Politik der Zersplitterung der proletarischen Kräfte, die sich heute hauptsächlich in Pogromen der Schwarzen Hundert[Anmerkungen 17] äußert, wird morgen vielleicht auch irgendwelche feinere Formen ersinnen. Wir werden ihr in jedem Fall die ruhige, beharrliche und geduldige, jeder Aufbauschung untergeordneter Meinungsverschiedenheiten fernstehende Propaganda der proletarischen Solidarität und der wissenschaftlichen Weltanschauung entgegensetzen.

Das revolutionäre Proletariat wird es durchsetzen, daß die Religion für den Staat wirklich Privatsache wird. Und unter diesem, vom mittelalterlichen Moder gesäuberten politischen Regime wird das Proletariat einen großzügigen, offenen Kampf für die Beseitigung der wirtschaftlichen Sklaverei, der wahren Quelle der religiösen Verdummung der Menschheit, aufnehmen.

(»Nowaja Shisn« Nr. 28, 3. Dezember 1905.)

II. Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion

(1909)

… Die Sozialdemokratie baut ihre ganze Weltanschauung auf dem wissenschaftlichen Sozialismus, d. h. dem Marxismus auf. Die philosophische Grundlage des Marxismus bildet, wie es Marx und Engels wiederholt erklärt haben, der dialektische Materialismus, der die historischen Traditionen des Materialismus des 18. Jahrhunderts in Frankreich und desjenigen Feuerbachs[Anmerkungen 18] (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) in Deutschland völlig übernommen hat, – eines Materialismus, der absolut atheistisch, jeder Religion entschieden feindlich gegenübersteht. Wir erinnern daran, daß der ganze Engelssche »Anti-Dühring«, den Marx im Manuskript durchgelesen hat, den Materialisten und Atheisten Dühring[Anmerkungen 19] der Inkonsequenz seines Materialismus zeiht, weil er der Religion und der Religionsphilosophie Hintertürchen offen läßt. Wir erinnern ferner daran, daß Engels in seinem Werk über Ludwig Feuerbach letzterem den Vorwurf macht, daß er die Religion bekämpft habe, nicht um sie abzuschaffen, sondern um sie aufzufrischen, um eine neue »erhabene« Religion zu erfinden und dergleichen. Die Religion ist Opium für das Volk – dieser Marxsche Spruch ist der Eckstein der ganzen Weltanschauung des Marxismus in Fragen der Religion. Der Marxismus betrachtet alle heutigen Religionen und Kirchen, alle und jegliche religiösen Organisationen stets als Organe der bürgerlichen Reaktion, die zum Schutze der Ausbeutung und der Betäubung der Arbeiterklasse dienen.

Zu gleicher Zeit jedoch verurteilte Engels wiederholt die Versuche jener Leute, die »linker« oder »revolutionärer« als die Sozialdemokratie sein und in das Programm der Arbeiterpartei ein direktes Bekenntnis zum Atheismus im Sinne einer Kriegserklärung an die Religion aufnehmen wollten. 1874, bei der Besprechung des berühmten Manifestes der Kommune-Flüchtlinge, der Blanquisten,[Anmerkungen 20] die als Emigranten in London lebten, behandelt Engels ihre lärmende Kriegserklärung an die Religion als Dummheit und meint, eine solche Kriegsansage sei das beste Mittel, um das Interesse für die Religion neu zu beleben und das tatsächliche Absterben der Religion zu erschweren. Engels wirft den Blanquisten Unfähigkeit vor, weil sie nicht begreifen, daß nur der Klassenkampf der Arbeitermassen, dadurch, daß er die breitesten Schichten des Proletariats allseitig in eine klassenbewußte und revolutionäre gesellschaftliche Praxis hineinzieht, imstande ist, wirklich die unterdrückten Massen vom Joche der Religion zu befreien, während die Proklamierung des Krieges gegen die Religion als politische Aufgabe der Arbeiterpartei eine anarchistische Phrase ist. Auch 1877, im »Anti-Dühring«, wo Engels erbarmungslos die geringsten Zugeständnisse des Philosophen Dühring an den Idealismus und die Religion geißelt, verurteilt er nicht minder entschieden den angeblich revolutionären Gedanken Dührings, der die Religion in der sozialistischen Gesellschaft verboten wissen wollte. Der Religion einen solchen Krieg anzusagen, meint Engels, heißt, »Bismarck selbst überbismarcken«, d. h. die Dummheit des Bismarckschen Kampfes gegen die Klerikalen wiederholen (gemeint ist der berüchtigte »Kulturkampf«, d. h. der Kampf, den Bismarck in den 70er Jahren gegen die Partei der deutschen Katholiken, das » Zentrum«, durch Polizeiverfolgungen geführt hat). Durch diesen Kampf festigte Bismarck nur den streitbaren Klerikalismus der Katholiken, schädigte er nur die Sache der wirklichen Kultur, denn er rückte statt der politischen Trennungen die religiösen in den Vordergrund und lenkte so die Aufmerksamkeit gewisser Schichten der Arbeiterklasse und der Demokratie von den dringenden Aufgaben des Klassen- und Revolutionskampfes in der Richtung eines ganz oberflächlichen und bürgerlich verlogenen Antiklerikalismus ab. Indem Engels dem ultrarevolutionär sein wollenden Dühring vorwarf, in anderer Form dieselbe Dummheit Bismarcks wiederholen zu wollen, verlangte er von der Arbeiterpartei die Fähigkeit, geduldig an der Organisierung und Aufklärung des Proletariats zu arbeiten, einer Sache, die zum Absterben der Religion führt, und sich nicht in das Abenteuer eines politischen Krieges gegen die Religion zu stürzen. Dieser Standpunkt ist der deutschen Sozialdemokratie in Fleisch und Blut übergegangen, und so sprach sie sich z. B. für die Jesuitenfreiheit, für deren Zulassung in Deutschland, für die Aufhebung aller Polizeimaßnahmen gegen diese oder jene Religion aus. »Erklärung der Religion zur Privatsache«, dieser berühmte Punkt des Erfurter Programms[Anmerkungen 21] (1891) hat diese politische Taktik der Sozialdemokratie auch programmatisch festgelegt.

Inzwischen ist diese Taktik bereits zur Routine geworden und hat eine neue Verballhornung des Marxismus in entgegengesetzter Richtung, in der Richtung des Opportunismus, erzeugt. Man begann den Grundsatz des Erfurter Programms in dem Sinne auszulegen, daß wir Sozialdemokraten, daß unsere Partei die Religion als Privatsache betrachten, daß die Religion für uns als Sozialdemokraten, für uns als Partei Privatsache sei. Ohne sich in eine direkte Polemik gegen diese opportunistische Auffassung einzulassen, hat Engels in den neunziger Jahren es für notwendig gehalten, sich entschieden gegen sie zu wenden, nicht in polemischer, sondern in positiver Form. Engels tat es nämlich in Form einer von ihm absichtlich unterstrichenen Erklärung, daß die Sozialdemokratie wohl die Religion als Privatsache betrachte in bezug auf den Staat, keineswegs aber in bezug auf sich selbst, in bezug auf den Marxismus, in bezug auf die Arbeiterpartei.[Anmerkungen 22]

Das ist die äußere Geschichte des Auftretens von Marx und Engels in der Religionsfrage. Für Leute, die den Marxismus nachlässig behandeln, Leute, die nicht denken können oder wollen, ist diese Geschichte ein Knäuel sinnloser Widersprüche und Schwankungen des Marxismus: ein Brei aus »konsequentem« Atheismus und »Nachsicht« gegenüber der Religion, ein »prinzipienloses« Schwanken zwischen dem r-r-revolutionären Krieg gegen Gott und dem feigen Wunsch, den gläubigen Arbeitern nach dem Munde zu reden, der Angst, sie abzuschrecken usw. usw. In der Literatur der anarchistischen Phraseure kann man gar manche in diesem Stil gehaltene Ausfälle gegen den Marxismus finden.

Wer aber einigermaßen fähig ist, sich dem Marxismus gegenüber ernsthaft zu verhalten, sich in seine philosophischen Grundlagen und in die Erfahrungen der internationalen Sozialdemokratie hineinzudenken, der wird mit Leichtigkeit einsehen, daß die Taktik des Marxismus in bezug auf die Religion höchst konsequent und von Marx und Engels durchdacht ist, daß dasjenige, was Dilettanten und Ignoranten für Schwankungen halten, eine direkte und unvermeidliche Schlußfolgerung aus dem dialektischen Materialismus ist. Es wäre grundfalsch, wollte man glauben, daß die scheinbare »Mäßigung« des Marxismus in bezug auf die Religion ihre Erklärung findet in sogenannten »taktischen« Erwägungen im Sinne des Wunsches, »nicht abzuschrecken« und dergl. Im Gegenteil, die politische Linie des Marxismus ist auch in dieser Frage untrennbar mit seinen philosophischen Grundlagen verknüpft.

Marxismus ist Materialismus. Als solcher steht er der Religion genau so schonungslos feindlich gegenüber wie der Materialismus der Enzyklopädisten[Anmerkungen 23] des 18. Jahrhunderts oder derjenige Feuerbachs. Das steht fest. Aber der dialektische Materialismus von Marx und Engels geht weiter als die Enzyklopädisten und Feuerbach, indem er die materialistische Philosophie auf die Geschichte, auf die Sozialwissenschaften anwendet. Wir müssen gegen die Religion ankämpfen. Das ist das Abc des gesamten Materialismus, folglich auch des Marxismus. Doch der Marxismus ist nicht Materialismus, der beim Abc stehengeblieben ist. Der Marxismus geht weiter. Er sagt: man muß es verstehen, die Religion zu bekämpfen, und dazu muß man den Ursprung des Glaubens und der Religion bei den Massen materialistisch erklären. Der Kampf gegen die Religion darf nicht auf eine abstrakt ideologische Propaganda beschränkt werden, man darf ihn nicht auf eine solche Propaganda reduzieren, man muß diesen Kampf mit der konkreten Praxis der auf die Beseitigung der sozialen Wurzeln der Religion gerichteten Klassenbewegung in Zusammenhang bringen. Warum hält sich die Religion in den rückständigen Schichten des städtischen Proletariats, in breiten Schichten des Halbproletariats sowie in der Masse der Bauernschaft? Infolge der Unwissenheit des Volkes, antwortet der bürgerliche Fortschrittler, der Radikale oder der bürgerliche Materialist. Also: nieder mit der Religion, es lebe der Atheismus! Die Verbreitung atheistischer Anschauungen ist unsere Hauptaufgabe. Der Marxist sagt: falsch. Eine solche Auffassung ist oberflächliche, bürgerlich beschränkte Kulturträgerei. Eine solche Auffassung erklärt die Wurzeln der Religion nicht tief genug, nicht materialistisch, sondern idealistisch. In den modernen kapitalistischen Ländern sind diese Wurzeln hauptsächlich sozialer Natur. Das soziale Niedergedrücktsein der werktätigen Massen, ihre scheinbar absolute Ohnmacht gegenüber den blinden Kräften des Kapitalismus, der den gewöhnlichen arbeitenden Menschen täglich und stündlich tausendmal mehr fürchterlichste Leiden und entsetzlichste Qualen zufügt als alle außerordentlichen Ereignisse, wie Krieg, Erdbeben usw. – das ist es, worin die tiefste heutige Wurzel der Religion zu suchen ist. »Die Furcht hat die Götter erzeugt.«[Anmerkungen 24] Die Furcht vor der blinden Macht des Kapitals, die eine blindwaltende Macht ist, weil sie von den Volksmassen nicht vorausgesehen werden kann, die auf Schritt und Tritt den Proletarier und kleinen Eigentümer bedroht und über sie »plötzlich«, »unerwartet«, »zufällig« Ruin, Untergang, Verwandlung in einen Bettler, einen Pauper, eine Prostituierte bringt, sie dem Hungertode preisgeben kann und dies auch tatsächlich tut – das ist der Ursprung der heutigen Religion, den der Materialist vor allem und am meisten im Auge haben muß, will er nicht in den Kinderschuhen des Materialismus steckenbleiben.[Anmerkungen 25] Keine Aufklärungsbroschüre wird die Religion aus den durch die kapitalistische Zwangsarbeit zermürbten, von den blinden zerstörenden Kräften des Kapitalismus abhängigen Massen ausmerzen, solange diese Massen nicht selbst gelernt haben werden, vereint, organisiert, planmäßig, bewußt gegen diese Wurzel der Religion, gegen die Herrschaft des Kapitals in allen ihren Formen anzukämpfen.

Folgt aber daraus, daß Aufklärungsbroschüren gegen die Religion schädlich oder überflüssig sind? Mitnichten. Daraus folgt etwas ganz anderes. Daraus folgt, daß die atheistische Propaganda der Sozialdemokratie ihrer Grundaufgabe untergeordnet sein muß, nämlich der Entfaltung des Klassenkampfes der ausgebeuteten Massen gegen die Ausbeuter.

Wer sich nicht in die Grundlagen des dialektischen Materialismus, d. h. der Philosophie Marx' und Engels' vertieft hat, der kann diesen Grundsatz mißverstehen (oder wenigstens nicht sofort verstehen). Wie denn das? Soll denn die geistige Propaganda, die Propagierung gewisser Ideen, der Kampf gegen jenen Feind der Kultur und des Fortschritts, der sich seit Jahrtausenden hält (d. h. der Kampf gegen die Religion), dem Klassenkampf, d. h. dem Kampf für bestimmte praktische Ziele auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet untergeordnet werden?

Das ist einer jener landläufigen Einwände gegen den Marxismus, die ein völliges Nichtbegreifen der Marxschen Dialektik beweisen. Der Widerspruch, der die so Argumentierenden verwirrt, ist der lebendige Widerspruch des lebendigen Lebens, d. h. es ist ein dialektischer, kein bloß in Worten bestehender, ausgedachter Widerspruch. Eine absolute, unüberbrückbare Schranke zwischen der theoretischen Propaganda des Atheismus, d. h. der Vernichtung des religiösen Glaubens bei gewissen Schichten des Proletariats, und dem Erfolg, dem Verlauf, den Bedingungen des Klassenkampfes dieser Schichten aufrichten – heißt undialektisch denken, heißt dasjenige, was eine bewegliche, relative Schranke ist, in eine absolute Schranke verwandeln, heißt gewaltsam das voneinander trennen, was in der lebendigen Wirklichkeit untrennbar verbunden ist. Nehmen wir ein Beispiel. Das Proletariat eines gegebenen Gebietes und eines gegebenen Industriezweiges teilt sich, sagen wir, in eine fortgeschrittene Schicht ziemlich klassenbewußter Sozialdemokraten, die natürlich Atheisten sind, und in ziemlich rückständige Arbeiter, die noch mit dem Dorfe und der Bauernschaft verbunden sind, die an Gott glauben, in die Kirche gehen oder gar noch unter dem direkten Einfluß des Ortsgeistlichen stehen, der, sagen wir, einen christlichen Arbeiterverein gründet. Angenommen ferner, daß der Wirtschaftskampf in diesem Orte zu einem Streik geführt hat. Der Marxist muß unbedingt den Erfolg der Streikbewegung in den Vordergrund rücken, muß entschlossen in diesem Kampfe einer Trennung der Arbeiter in Atheisten und Christen entgegenarbeiten, muß energisch eine solche Trennung bekämpfen. Atheistische Propaganda kann unter solchen Umständen nicht nur überflüssig, sondern schädlich sein – nicht vom Standpunkt der spießbürgerlichen Erwägungen aus, man könnte die rückständigen Schichten abschrecken, das Wahlmandat einbüßen usw., sondern vom Standpunkt des wirklichen Fortschritts des Klassenkampfes, der in der Situation der modernen kapitalistischen Gesellschaft die christlichen Arbeiter hundertmal besser zur Sozialdemokratie und zum Atheismus bringen wird als die nackte atheistische Propaganda. Der Prediger des Atheismus würde in einem solchen Moment und unter solchen Umständen nur den Pfaffen Vorschub leisten, die nichts sehnlicher herbeiwünschen, als die Einteilung der Arbeiter nach ihrer Beteiligung am Streik durch eine solche nach ihrem Glauben an Gott zu ersetzen. Der Anarchist, der den Krieg gegen Gott um jeden Preis propagiert, würde in Wirklichkeit den Pfaffen und der Bourgeoisie helfen (wie ja die Anarchisten in Wirklichkeit stets der Bourgeoisie helfen). Der Marxist muß Materialist sein, d. h. ein Feind der Religion, aber ein dialektischer Materialist, d. h. ein solcher, der den Kampf gegen die Religion nicht abstrakt, nicht auf den Boden einer abstrakten, rein theoretischen, sich stets gleichbleibenden Propaganda stellt, sondern konkret, auf den Boden des Klassenkampfes, der tatsächlich vor sich geht und der die Massen am meisten und am besten erzieht. Der Marxist muß die ganze konkrete Situation erfassen können, muß stets die Grenze zwischen Anarchismus und Opportunismus zu finden wissen (diese Grenze ist relativ, beweglich, veränderlich, aber sie ist da), er darf weder in den abstrakten, phrasenhaften, in Wirklichkeit hohlen »Revolutionarismus« des Anarchisten verfallen noch in die Spießigkeit und den Opportunismus des Kleinbürgers oder des liberalen Intellektuellen, der sich vor dem Kampf gegen die Religion fürchtet, diese seine Aufgabe vergißt, sich mit dem Gottesglauben abfindet und sich nicht von den Interessen des Klassenkampfes leiten läßt, sondern von der kleinlichen, miserablen Berechnung: niemand weh tun, niemand abstoßen, niemand abschrecken, nach der neunmalweisen Regel: »leben und leben lassen« usw. usw.

Von diesem Standpunkt aus müssen alle Einzelfragen, die das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Religion betreffen, entschieden werden. Es wird z. B. oft die Frage aufgeworfen, ob ein Geistlicher Mitglied der sozialdemokratischen Partei sein kann, und diese Frage wird gewöhnlich ohne jeglichen Vorbehalt im positiven Sinne beantwortet, indem man sich auf die Erfahrung der europäischen sozialdemokratischen Parteien beruft. Aber diese Erfahrung ist nicht allein ein Produkt der Anwendung der Doktrin des Marxismus auf die Arbeiterbewegung, sondern auch die Folge der besonderen historischen Verhältnisse im Westen, die in Rußland nicht vorhanden sind (wir werden darauf noch zu sprechen kommen), so daß eine bedingungslose, positive Antwort hier falsch ist. Man kann nicht ein für allemal und für alle Verhältnisse erklären, daß Geistliche nicht Mitglieder der sozialdemokratischen Partei sein können, aber man kann auch nicht ein für allemal die entgegengesetzte Regel aufstellen. Wenn ein Geistlicher zwecks gemeinsamer politischer Arbeit zu uns kommt und gewissenhaft Parteiarbeit leistet, ohne gegen das Parteiprogramm aufzutreten, so können wir ihn in die Reihen der Sozialdemokratie aufnehmen, denn der Widerspruch zwischen dem Geiste und den Grundlagen unseres Programms und der religiösen Ueberzeugung des Geistlichen könnte unter solchen Umständen ein nur ihn allein angehender persönlicher Widerspruch bleiben, eine politische Organisation kann aber nicht ihre Mitglieder daraufhin prüfen, ob nicht zwischen ihren Anschauungen und dem Programm der Partei ein Widerspruch bestehe. Doch ein solcher Fall könnte natürlich selbst in Europa nur eine seltene Ausnahme sein, in Rußland ist er schon ganz unwahrscheinlich. Und würde z. B. ein Geistlicher in die sozialdemokratische Partei eintreten und als seine wichtigste und fast ausschließliche Arbeit eine aktive Propaganda religiöser Anschauungen in der Partei betreiben wollen, so müßte die Partei ihn aus ihrer Mitte unbedingt ausschließen. Wir müssen alle Arbeiter, die den Glauben an Gott noch bewahrt haben, zu der sozialdemokratischen Partei nicht nur zulassen, sondern sie mit verdoppelter Energie heranziehen; wir sind unbedingt gegen die geringste Verletzung ihrer religiösen Ueberzeugung, aber wir wollen sie heranziehen, um sie im Geiste unseres Programms zu erziehen, nicht aber, damit sie aktiv gegen dieses kämpfen. Wir lassen innerhalb der Partei Meinungsfreiheit gelten, jedoch in gewissen Grenzen, die durch die Freiheit der Gruppierung bestimmt sind: wir sind nicht verpflichtet, Hand in Hand mit Leuten zu gehen, die aktiv Ansichten propagieren, welche von der Mehrheit der Partei abgelehnt werden.

Ein anderes Beispiel: kann man Mitglieder der sozialdemokratischen Partei wegen der Erklärung: »der Sozialismus ist meine Religion« sowie wegen Propagierung von Ansichten, die einer solchen Erklärung entsprechen, unter allen Umständen in gleicher Weise verurteilen? Nein. Eine Abweichung vom Marxismus (und folglich auch vom Sozialismus) liegt hier zweifellos vor, aber die Bedeutung dieser Abweichung, ihr sozusagen spezifisches Gewicht kann in verschiedenen Situationen verschieden sein. Es sind zwei verschiedene Dinge, ob ein Agitator oder ein Mensch, der vor der Arbeitermasse auftritt, so spricht, um verständlicher zu sein, um seine Darlegung zu beginnen, um durch Ausdrücke, die der unentwickelten Masse am geläufigsten sind, seine Ansichten realer hervortreten zu lassen, oder ob ein Schriftsteller anfängt, das »Gott-konstruieren« oder einen gott-konstruierenden Sozialismus zu predigen (z. B. im Geiste unserer Lunatscharski und Co.). Ebenso wie im ersten Falle eine Zurechtweisung eine Nörgelei oder sogar eine unangebrachte Beschränkung der Freiheit des Agitators, der Freiheit der »pädagogischen« Einwirkung sein könnte, ebenso ist im zweiten Falle eine Verurteilung seitens der Partei notwendig und obligatorisch. Die These »Sozialismus ist Religion« ist bei den einen eine Form des Uebergangs von der Religion zum Sozialismus, bei den anderen – vom Sozialismus zur Religion.

Gehen wir nun zu den Bedingungen über, die im Westen eine opportunistische Deutung des Grundsatzes »Erklärung der Religion zur Privatsache« erzeugt haben. Gewiß, dabei sind auch allgemeine Ursachen im Spiel, die den Opportunismus überhaupt erzeugen als Preisgabe der Grundinteressen der Arbeiterbewegung zugunsten von Augenblicksvorteilen. Die Partei des Proletariats fordert vom Staate die Erklärung der Religion zur Privatsache, ohne jedoch die Frage des Kampfes gegen das Opium des Volkes, des Kampfes gegen religiösen Aberglauben usw. auch nur im geringsten als »Privatsache« zu betrachten. Die Opportunisten verdrehen die Frage so, als ob die sozialdemokratische Partei die Religion für eine Privatsache hielte!

Aber außer der üblichen opportunistischen Entstellung (die in den Debatten unserer Dumafraktion bei der Behandlung unserer Aktion in der Religionsfrage vollkommen ungeklärt blieb), gibt es besondere historische Bedingungen, die die jetzige, man möchte sagen, übermäßige Gleichgültigkeit der europäischen Sozialdemokraten in Fragen der Religion hervorgerufen haben. Diese Bedingungen sind zweierlei Art. Erstens ist die Aufgabe der Religionsbekämpfung historisch eine Aufgabe der revolutionären Bourgeoisie, und im Westen ist diese Aufgabe von der bürgerlichen Demokratie in der Epoche ihrer Revolutionen oder ihres Ansturmes gegen den Feudalismus und das Mittelalter in bedeutendem Grade erfüllt worden (oder wurde wenigstens zu jener Zeit erfüllt). Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland besteht die Tradition des bürgerlichen Kampfes gegen die Religion, der lange vor dem Sozialismus aufgenommen wurde (die Enzyklopädisten, Feuerbach). In Rußland lastet, den Bedingungen unserer bürgerlich-demokratischen Revolution entsprechend, auch diese Aufgabe fast ganz auf den Schultern der Arbeiterklasse. Die kleinbürgerliche Demokratie (der Narodniki[Anmerkungen 26] hat in dieser Hinsicht bei uns nicht zu viel geleistet (wie die neugebackenen Schwarzhundert-Kadetten oder die kadettischen Schwarzhundert-Leute aus den »Wjechi«[Anmerkungen 27] glauben), sondern zu wenig im Vergleich zu Europa.

Andererseits hat die Tradition des bürgerlichen Kampfes gegen die Religion in Europa bereits eine spezifisch bürgerliche Entstellung dieses Kampfes durch den Anarchismus erzeugt, der, wie die Marxisten schon längst und wiederholt auseinandergesetzt haben, bei aller »Wut« seiner Attacken gegen die Bourgeoisie auf dem Boden der bürgerlichen Weltanschauung steht. Die Anarchisten und Blanquisten in den romanischen Ländern, Most[Anmerkungen 28] (der übrigens ein Schüler Dührings war) und Konsorten in Deutschland, die Anarchisten der 80er Jahre in Oesterreich haben die revolutionäre Phrase im Kampfe gegen die Religion bis zum nec plus ultra[Anmerkungen 29] gebracht. Kein Wunder, daß die europäischen Sozialdemokraten den Bogen, den die Anarchisten nach der einen Seite überspannt haben, jetzt nach der anderen Seite überspannen. Das ist begreiflich und in gewissem Maße auch berechtigt, aber wir russischen Sozialdemokraten dürfen die besonderen historischen Verhältnisse des Westens nicht außer acht lassen.

Zweitens: im Westen war nach Beendigung der nationalen bürgerlichen Revolutionen, nach der Einführung einer mehr oder weniger vollständigen Glaubensfreiheit die Frage des demokratischen Kampfes gegen die Religion schon so sehr historisch in den Hintergrund gedrängt durch den Kampf der bürgerlichen Demokratie gegen den Sozialismus, daß die bürgerlichen Regierungen bewußt versuchten, durch Inszenierung eines scheinliberalen »Feldzuges« gegen den Klerikalismus die Massen vom Sozialismus abzulenken. Einen solchen Charakter trug sowohl der Kulturkampf in Deutschland als auch der Kampf der bürgerlichen Republikaner Frankreichs gegen den Klerikalismus. Der bürgerliche Antiklerikalismus als Mittel zur Ablenkung der Aufmerksamkeit der Arbeitermassen vom Sozialismus ging im Westen der Ausbreitung der jetzigen »Gleichgültigkeit« gegen den Kampf mit der Religion unter den Sozialdemokraten voraus. Wodurch das letztere wiederum begreiflich und berechtigt wird, denn dem bürgerlichen und Bismarckschen Antiklerikalismus mußten die Sozialdemokraten gerade die Unterordnung des Kampfes gegen die Religion unter den Kampf um den Sozialismus entgegensetzen.

In Rußland liegen die Verhältnisse ganz anders. Das Proletariat ist der Führer unserer bürgerlich-demokratischen Revolution. Seine Partei muß der geistige Führer im Kampfe gegen jeden Rest des Mittelalters sein, darunter auch gegen die alte offizielle Religion sowie alle Versuche, diese aufzufrischen, neu oder auf eine andere Art zu begründen usw. Wenn daher Engels verhältnismäßig sanft den Opportunismus der deutschen Sozialdemokratie korrigierte, die an Stelle der Forderung der Arbeiterpartei, der Staat möge die Religion zur Privatsache erklären, die Erklärung der Religion zur Privatsache für die Sozialdemokraten selber und die sozialdemokratische Partei setzten, – so ist es begreiflich, daß eine Uebernahme dieser deutschen Entstellung durch die russischen Opportunisten einen hundertmal schärferen Tadel von Engels verdient hätte.

Als unsere Fraktion von der Dumatribüne herab erklärte, die Religion sei Opium für das Volk, handelte sie durchaus richtig und schuf auf diese Weise einen Präzedenzfall, der als Grundlage für alle Aktionen der russischen Sozialdemokraten in der Religionsfrage zu dienen hat. Hätte man noch weiter gehen, die atheistischen Schlußfolgerungen noch ausführlicher entwickeln sollen? Wir glauben, nein. Das hätte die Gefahr der Uebertreibung des Kampfes gegen die Religion seitens der politischen Partei des Proletariats hervorrufen, hätte zu einer Verwischung der Grenze zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Bekämpfung der Religion führen können. Das Erste, was die sozialdemokratische Fraktion in der stockreaktionären Duma zu erfüllen hatte, ist mit Ehren vollbracht worden.

Das Zweite – und für die Sozialdemokratie fast das Wichtigste –, die Aufhellung der Klassenrolle der Kirche und der Geistlichkeit bei der Unterstützung der Schwarzhundert-Regierung und der Bourgeoisie in ihrem Kampfe gegen die Arbeiterklasse – ist ebenfalls mit Ehren erfüllt worden.

Drittens hätte man ganz ausführlich den richtigen Sinn der These erläutern sollen, die so oft von den deutschen Opportunisten entstellt wird: »Erklärung der Religion zur Privatsache.«

(»Proletarij« Nr. 45, 13. (26.) Mai 1909)

III. Klassen und Parteien in ihrem Verhältnis zur Religion und Kirche

(1909)

Die in der Reichsduma[Anmerkungen 30] über das Budget des Synods,[Anmerkungen 31] ferner über die Wiedereinsetzung von Personen, die aus dem geistlichen Stand ausgeschieden sind, in ihre Rechte und schließlich über die altgläubigen[Anmerkungen 32] Gemeinden geführten Debatten haben äußerst lehrreiches Material zur Charakterisierung der russischen politischen Parteien hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Religion und Kirche geliefert. Werfen wir einen allgemeinen Blick auf dieses Material und verweilen wir hauptsächlich bei dem Budget des Synods (stenographische Parlamentsberichte über die übrigen obenerwähnten Fragen haben wir noch nicht erhalten).

Die erste Schlußfolgerung, die bei der Betrachtung der Dumadebatten ganz besonders in die Augen springt, ist die, daß in Rußland nicht nur ein streitbarer Klerikalismus vorhanden ist, sondern, daß er offensichtlich immer mehr erstarkt und sich organisiert. Am 16. April erklärte der Bischof Metrophanes:

»Die ersten Schritte unserer Dumatätigkeit waren gerade darauf gerichtet, daß wir, die wir durch die hohe Volkswahl beehrt worden sind, hier in der Duma uns über alle Parteizersplitterungen erheben und eine geschlossene Gruppe der Geistlichkeit bilden, die alle Seiten von ihrem ethischen Standpunkte aus beleuchtete … Was war nun der Grund, warum wir zu dieser idealen Lage nicht gekommen sind? … Die Schuld liegt an denen, die mit Ihnen (d. h. den Kadetten[Anmerkungen 33] und »Linken«) diese Bänke teilen, nämlich an jenen Abgeordneten aus der Geistlichkeit, die zur Opposition gehören. Sie haben als erste ihre Stimme erhoben und erklärt, daß das nichts mehr und nichts weniger wäre, als das Entstehen einer klerikalen Partei, was im höchsten Maße unerwünscht sei. Ueber Klerikalismus der russischen rechtgläubigen Geistlichkeit braucht man freilich kein Wort zu verlieren – Tendenzen ähnlicher Art haben wir nie gehabt – und durch den Wunsch, uns in einer besonderen Gruppe zusammenzuschließen, haben wir rein moralische, ethische Ziele verfolgt. Und jetzt, meine Herren, wo infolge einer solchen Uneinigkeit, die die linken Abgeordneten in unsere brüderliche Mitte getragen haben, Trennung und Zersplitterung erfolgt ist, jetzt schieben Sie (d. h. die Kadetten) die Schuld uns zu.«

Der Bischof Metrophanes hat in seiner Analphabetenrede ein Geheimnis ausgeplaudert: die Linken seien daran schuld, daß ein Teil der Dumapfaffen sich von der Bildung einer besonderen »ethischen« (dieses Wort ist für die Beschwindelung des Volkes natürlich bequemer als »klerikalen«) Gruppe abspenstig machen ließ.

Fast einen Monat später, am 13. Mai, verlas der Bischof Eulogius in der Duma einen »Beschluß der Dumageistlichkeit«:

»Die rechtgläubige Dumageistlichkeit vertritt in ihrer überwiegenden Mehrheit die Ansicht« … daß im Interesse »der bevorrechteten und vorherrschenden Lage der rechtgläubigen Kirche« weder die Freiheit des Predigens für die Altgläubigen noch eine bloß mit der Meldepflicht verbundene Gründungsordnung altgläubiger Gemeinden noch die Beilegung des Titels Priester für die altgläubigen Geistlichen zulässig sind.«

Der »rein moralische Standpunkt« der russischen Pfaffen hat sich als der reinste Klerikalismus offenbart …

Welcher ist nun der »rein moralische, ethische Standpunkt der überwiegenden Mehrheit der Dumageistlichkeit« (der vom 3. Juni, muß hinzugefügt werden)? Hier einige Auszüge aus den Reden:

»Ich sage nur, daß die Initiative dieser (d. h. kirchlicher) Reformen von innen heraus, von der Kirche selbst und nicht von außen, von Seiten des Staates ausgehen muß und gewiß nicht von seiten der Budgetkommission. Ist doch die Kirche eine göttliche und ewige Institution, ihre Gesetze unwandelbar, während die Ideale des Staatslebens bekanntlich fortwährenden Aenderungen unterliegen« (Bischof Eulogius am 14. April).

Der Redner erinnert an die »beunruhigende historische Parallele«, die Säkularisation[Anmerkungen 34] er kirchlichen Besitztümer unter Katharina II.

»Wer kann sich dafür verbürgen, daß die Budgetkommission, die in diesem Jahre den Wunsch ausgesprochen hat, sie (die Mittel der Kirche) der Staatskontrolle zu unterwerfen, im nächsten Jahre nicht den Wunsch äußern wird, sie in den allgemeinen Reichsschatz überzuführen, um dann ihre Verwaltung den Kirchenbehörden auch endgültig zu entziehen und den Zivil- oder Staatsbehörden zu übergeben? … Die Kirchenregeln besagen, daß, wenn die christlichen Seelen dem Bischof anvertraut sind, dies um so mehr von den Kirchengütern zu gelten hat … Heute steht vor Ihnen (den Dumaabgeordneten) Ihre geistige Mutter, die heilige, rechtgläubige Kirche: sie steht vor Ihnen nicht nur als vor Volksvertretern, sondern auch als vor ihren geistigen Kindern« (ebenda).

Wir haben vor uns den reinsten Klerikalismus. Die Kirche steht über dem Staat, wie das Ewige und Göttliche über dem Zeitlichen und Irdischen steht. Die Kirche verzeiht dem Staat die Säkularisation der Kirchengüter nicht. Die Kirche fordert für sich eine bevorrechtete und vorherrschende Stellung. Die Dumaabgeordneten sind für sie nicht nur – richtiger: nicht so sehr – Volksvertreter, als vielmehr ihre »geistigen Kinder«.

Das sind keine Beamten in Priestergewändern, wie sich der Sozialdemokrat Surkow ausdrückte, sondern Verfechter der Leibeigenschaft in Priestergewändern. Verteidigung der feudalen Privilegien der Kirche, offenes Eintreten für die mittelalterlichen Zustände – das ist das Wesen der von der Mehrheit der Geistlichkeit der dritten Duma betriebenen Politik. Der Bischof Eulogius ist durchaus keine Ausnahme. Auch Gepezki zetert über die »Säkularisation« als ein unzulässiges »Unrecht« (am 14. April). Der Pfaffe Maschkewitsch verdonnert den oktobristischen[Anmerkungen 35] Bericht wegen des Bestrebens,

»jene historischen und kanonischen Pfeiler zu untergraben, auf denen unser kirchliches Leben ruhte und ruhen muß«, »das Leben und die Tätigkeit der russischen rechtgläubigen Kirche vom kanonischen Weg auf einen solchen zu lenken, auf dem … die wirklichen Kirchenfürsten – die Bischöfe – fast alle ihre von den Aposteln geerbten Rechte werden an weltliche Fürsten abtreten müssen« … »Das ist nichts anderes, als … ein Anschlag auf fremdes Eigentum sowie auf die Rechte und das Vermögen der Kirche« … »Der Berichterstatter führt uns zur Zerstörung der kanonischen Ordnung des kirchlichen Lebens, er will die rechtgläubige Kirche mit all ihren wirtschaftlichen Funktionen der Reichsduma unterordnen, einer Institution, die aus den verschiedenartigsten Elementen besteht, aus geduldeten und nicht geduldeten Konfessionen in unserem Staate« (am 14. April).

Die russischen Narodniki und Liberalen trösteten, oder richtiger, betrogen sich lange mit der »Theorie«, in Rußland sei kein Boden vorhanden für einen streitbaren Klerikalismus, für den Kampf der »Kirchenfürsten« gegen die weltliche Macht und dergleichen. Zusammen mit den übrigen volkstümlerischen und liberalen Illusionen hat unsere Revolution auch diese Illusion zerstört. Der Klerikalismus bestand in versteckter Form, solange die Selbstherrschaft unversehrt und unangetastet bestand. Die Allmacht der Polizei und der Bürokratie verhüllte vor den Augen der »Gesellschaft« und des Volkes den Klassenkampf im allgemeinen und den Kampf der »Verfechter der Leibeigenschaft im Priestergewande« gegen den »gemeinen Pöbel« im besonderen. Aber bereits die erste Bresche, die das revolutionäre Proletariat und die Bauernschaft in die feudale Selbstherrschaft schlugen, machte das Unsichtbare sichtbar. Sobald das Proletariat und die fortgeschrittensten Elemente der bürgerlichen Demokratie Ende 1905 die politische Freiheit, die Freiheit der Organisierung der Massen erobert hatten und davon Gebrauch zu machen begannen, trachteten auch die reaktionären Klassen nach einer selbständigen und offenen Organisation. Unter dem unumschränkten Absolutismus organisierten sie sich nicht und traten nicht besonders auffallend auf, – nicht weil sie schwach, sondern weil sie stark waren, nicht weil sie zur Organisierung und zum politischen Kampf unfähig gewesen wären, sondern weil sie damals noch keine ernste Notwendigkeit einer selbständigen Klassenorganisation sahen. Sie glaubten nicht an die Möglichkeit einer Massenbewegung gegen die Selbstherrschaft und die Feudalen in Rußland. Sie verließen sich voll und ganz darauf, daß die Knute genüge, um den Pöbel im Zaum zu halten. Gleich die ersten Wunden, die der Selbstherrschaft geschlagen wurden, zwangen die sozialen Elemente, die die Selbstherrschaft unterstützen und sie benötigen, ans Licht zu treten. Gegen Massen, die fähig waren, den 9. (22.) Januar,[Anmerkungen 36] die Streikbewegung von 1905 und die Oktober-Dezemberrevolution zu schaffen, ist es nicht mehr möglich, mit der alten Knute allein zu kämpfen. Es gilt, die Bahn selbständiger politischer Organisationen zu betreten; es ist notwendig, daß der Rat des vereinigten Adels Schwarze Hundertschaften organisiert und die hemmungsloseste Demagogie entwickelt; es ist notwendig, daß »die Kirchenfürsten – die Bischöfe« die reaktionäre Geistlichkeit als eine selbständige Kraft organisieren.

Die dritte Duma und die Dritte-Duma-Periode der russischen Konterrevolution werden gerade dadurch gekennzeichnet, daß diese Organisierung der reaktionären Kräfte zum Durchbruch gelangt ist, sich im gesamtnationalen Maßstabe zu entfalten begonnen hat und ein besonderes, erzreaktionär-bürgerliches »Parlament« erforderlich gemacht hat. Der streitbare Klerikalismus ist augenscheinlich geworden, und die russische Sozialdemokratie wird nunmehr des öfteren Zuschauer und Teilnehmer bei Konflikten zwischen der klerikalen mit der nichtklerikalen Bourgeoisie sein müssen. Besteht unsere allgemeine Aufgabe darin, dem Proletariat zu helfen, sich zu einer besonderen Klasse zusammenzuschließen, die sich von der bürgerlichen Demokratie abzugrenzen versteht, so ist ein Bestandteil dieser Aufgabe die Ausnutzung aller Propaganda- und Agitationsmittel, darunter auch der Dumatribüne, um den Massen die Unterschiede zwischen sozialistischem und bürgerlichem Antiklerikalismus klarzumachen.

Die Oktobristen und die Kadetten haben uns durch ihr Auftreten in der dritten Duma gegen die äußersten Rechten, gegen die Klerikalen und die Regierung, diese Aufgabe außerordentlich erleichtert, weil sie anschaulich das Verhältnis der Bourgeoisie zu Kirche und Religion gezeigt haben. Die legale Presse der Kadetten und der sogenannten Progressisten sucht jetzt besonders die Aufmerksamkeit auf die Frage der Altgläubigen zu richten, darauf, daß sich die Oktobristen zusammen mit den Kadetten gegen die Regierung erklärt hätten, daß sie, sei es auch im Kleinen, »den Weg der am 17. Oktober[Anmerkungen 37] versprochenen Reformen beschritten hätten«. Uns interessiert weit mehr die prinzipielle Seite der Frage, d. h. die Stellung, die die Bourgeoisie überhaupt, einschließlich der auf den Namen Demokraten pochenden Kadetten, gegenüber Kirche und Religion einnimmt. Wir dürfen nicht zulassen, daß durch eine verhältnismäßig partielle Frage, wie es der Konflikt der Altgläubigen mit der herrschenden Kirche ist, das Verhalten der mit den Altgläubigen verbundenen und zum Teil von ihnen sogar direkt finanziell abhängigen Oktobristen (der »Golos Moskwy«[Anmerkungen 38] soll, wie es heißt, von den Altgläubigen finanziert werden) die grundlegende Frage nach den Interessen und der Politik der Bourgeoisie als Klasse verdeckt wird.

Man betrachte die Rede des Grafen Uwarow, der, der Richtung nach Oktobrist, aus der Fraktion der Oktobristen ausgeschieden ist. Nach der Rede des Sozialdemokraten Surkow auftretend, verzichtet er von vornherein darauf, die Frage auf jenen prinzipiellen Boden zu stellen, auf den sie der Arbeiterdeputierte gestellt hatte. Uwarow beschränkt sich auf Angriffe gegen den Synod und den Oberprokuror wegen dessen Weigerung, der Duma Auskunft über einige Kircheneinnahmen und über die Verausgabung der Parochialgelder zu geben. Genau so wird die Frage von Kamenski, dem offiziellen Vertreter der Oktobristen, gestellt (am 16. April), der »im Interesse der Festigung des orthodoxen Glaubens« die Wiederherstellung des Kirchspiels fordert. Dieser Gedanke wird von Kapustin, einem sogenannten »linken Oktobristen«, weitergesponnen:

»Wenn wir uns dem Volksleben, dem Leben der Landbevölkerung zuwenden, – ruft er aus, – so sehen wir jetzt eine traurige Erscheinung: es wankt das religiöse Leben, es wankt die größte, die einzige Stütze der sittlichen Verfassung der Bevölkerung … Wodurch soll der Begriff der Sünde, die Stimme des Gewissens ersetzt werden? Es kann doch nicht sein, daß das durch den Begriff des Klassenkampfes und der Rechte der einen oder der anderen Klasse ersetzt werden soll. Das ist ein trauriger Begriff, der uns zur alltäglichen Gewohnheit geworden ist. Und nun, von dem Standpunkte aus, daß die Religion als Grundlage der Sittlichkeit weiter bestehen und der gesamten Bevölkerung zugänglich sein muß, ist es erforderlich, daß diejenigen, die diese Religion übermitteln, die entsprechende Autorität genießen« …

Der Vertreter der konterrevolutionären Bourgeoisie will die Religion stärken, will den Einfluß der Religion auf die Massen festigen, weil er die Mangelhaftigkeit, die Zurückgebliebenheit, ja sogar den Schaden fühlt, den die »Beamten in Priestergewändern« den herrschenden Klassen zufügen, indem sie die Autorität der Kirche herabsetzen. Der Oktobrist bekämpft die Uebertreibungen des Klerikalismus und der polizeilichen Bevormundung, um den Einfluß der Religion auf die Massen zu stärken, um wenigstens einige allzu grobe, allzu veraltete, allzu hinfällig gewordene, das Ziel nicht erreichende Mittel der Volksverdummung durch feinere, vervollkommnetere Mittel zu ersetzen. Die Polizeireligion genügt nicht mehr für die Verdummung der Massen, gebt uns eine kultiviertere, neu aufgemachte, geschicktere Religion, die fähig ist, in einem sich selbst verwaltenden Kirchspiel zu wirken, – das ist es, was das Kapital von der Selbstherrschaft fordert.

Auch der Kadett Karaulow steht vollkommen auf demselben Standpunkt. Dieser »liberale« Renegat (der eine Entwicklung von der »Narodnaja Wolja«[Anmerkungen 39] zu den rechten Kadetten durchgemacht hat) wettert gegen die »Entnationalisierung der Kirche, worunter die Ausschaltung der Volksmassen, der Laien von der Aufbauarbeit der Kirche zu verstehen ist«. Er findet es »entsetzlich« (so wörtlich), daß die Massen »religionslos werden«. Er zetert ganz wie Menschikow darüber, daß der »ungeheure Eigenwert der Kirche entwertet wird … zum größten Schaden nicht allein für die Kirche, sondern auch für den Staat«. Die widerwärtige Heuchelei des Fanatikers Eulogius, der behauptet, daß die »Aufgabe der Kirche ewig, unwandelbar sei und deshalb die Kirche nicht mit der Politik verknüpft werden dürfe«, bezeichnet er als »goldene Worte«. Er protestiert gegen das Bündnis der Kirche mit dem Schwarzen Hundert nur deshalb, um die Kirche zu veranlassen, »ihrer großen, heiligen Sache im Geiste Christi, im Geiste der Liebe und der Freiheit mit größerer Kraft und größerem Ruhm als bisher weiter zu dienen«.

Genosse Bjeloussow tat sehr gut daran, von der Dumatribüne herab diesen »lyrischen« Erguß Karaulows zu verspotten. Aber eine derartige Verspottung genügt noch lange nicht. Man hätte feststellen sollen – und man wird das bei der ersten Gelegenheit von der Dumatribüne aus tun müssen –, daß der Standpunkt der Kadetten vollkommen identisch ist mit dem Standpunkt der Oktobristen und nichts anderes zum Ausdruck bringt als das Bestreben des »kultivierten« Kapitals, die Verdummung des Volkes durch religiöse Rauschmittel mit feineren Mitteln des Kirchenbetruges zu organisieren als denjenigen, die der am Althergebrachten haftende russische Durchschnittspfaff praktizierte.

Um das Volk in geistiger Sklaverei zu halten, ist das allerengste Bündnis der Kirche mit dem Schwarzen Hundert notwendig, – sprach durch den Mund von Purischkewitsch der ungehobelte, altväterliche Gutsbesitzer und Gewaltmensch. Sie irren, meine Herren, entgegnet ihm mit Karaulow der konterrevolutionäre Bourgeois: mit solchen Mitteln werden Sie das Volk nur endgültig von der Religion abstoßen. Wir wollen einmal klüger, schlauer, geschickter vorgehen, – wir wollen den allzu dummen und rohen Schwarzhunderter beiseite schaffen, wollen den Kampf gegen die »Entnationalisierung der Kirche« proklamieren und auf unsere Fahne die »goldenen Worte« des Bischofs Eulogius schreiben, daß die Kirche über der Politik stehe, – nur bei einer solchen Art zu handeln, werden wir es fertigbringen, daß wenigstens ein Teil der zurückgebliebenen Arbeiter und insbesondere der Kleinbürger und Bauern sich zum Narren halten läßt, nur so werden wir es verstehen, der erneuerten Kirche dabei zu helfen, ihre »große, heilige Sache« der Aufrechterhaltung der geistigen Sklaverei der Volksmassen durchzuführen.

Unsere liberale Presse, einschließlich der Zeitung »Rjetsch«,[Anmerkungen 40] hat in letzter Zeit die Struve[Anmerkungen 41] und Co., als Verfasser des Sammelwerkes »Wjechi«, eifrig getadelt. Indes hat Karaulow, der offizielle Redner der Kadettenpartei in der Reichsduma, die ganze gemeine Heuchelei dieser Vorwürfe und dieses Abrückens von Struve und Co. Vorzüglich entlarvt. Was die Karaulow und Miljukow[Anmerkungen 42] im Sinn haben, das hat Struve auf der Zunge. Die Liberalen tadeln Struve nur deswegen, weil er unvorsichtigerweise die Wahrheit ausgeplaudert und die Karten allzusehr aufgedeckt hat. Die Liberalen, die von den »Wjechi« abrücken und die Kadettenpartei nach wie vor unterstützen, betrügen das Volk aufs Gewissenloseste, denn sie tadeln zwar die unvorsichtig offenherzigen Worte, setzen aber die Taten, die diesen Worten entsprechen, fort.

Ueber das Verhalten der Trudowiki[Anmerkungen 43] während der Dumadebatten über die hier behandelten Fragen ist nicht viel zu sagen. Wie immer, zeigte sich der grelle Unterschied zwischen den bäuerlichen Trudowiki und den intellektuellen Trudowiki – zuungunsten der letzteren, mit ihrer größeren Bereitschaft, den Kadetten Gefolgschaft zu leisten. Es stimmt, der Bauer Roschkow bewies in seiner Rede seine ganze politische Unaufgeklärtheit: auch er wiederholte die Banalität der Kadetten, daß der »Bund des russischen Volkes« nicht zur Festigung, sondern zur Zerstörung des Glaubens beitrage, auch er vermochte keinerlei Programm vorzulegen. Als er aber ungekünstelt die nackte, ungeschminkte Wahrheit über die Sporteln der Geistlichkeit, über die Erpressungen der Pfaffen zu berichten begann, als er erzählte, wie man für eine Eheschließung außer Geld »eine Flasche Schnaps, Eßwaren und ein Pfund Tee verlangt und zuweilen nach Dingen fragt, die ich mir gar nicht traue von der Tribüne herab auszusprechen« (16. April, Seite 2259 des stenographischen Berichts), – da hielt es die Schwarzhundertduma nicht länger aus und von den rechten Bänken erhob sich ein wildes Geheul. »Verhöhnung! Gemeinheit!« – zeterten die Schwarzhunderter, denn sie fühlten, daß die schlichte Rede eines Bauern über die erpreßten Gelder der Geistlichkeit und die Aufzählung der »Taxe« für Amtshandlungen der Priester die Massen mehr revolutioniert als jegliche theoretischen oder taktischen antireligiösen und antikirchlichen Erklärungen. Und die Bande von Auerochsen, die die Selbstherrschaft in der dritten Duma verteidigen, terrorisierte ihren Lakaien, den Vorsitzenden Meyendorff, und zwang ihn, Roschkow das Wort zu entziehen (die Sozialdemokraten, denen sich einige Trudowiki, Kadetten u. a. anschlossen, legten gegen diesen Schritt des Vorsitzenden Protest ein).

Trotz ihrer außerordentlichen Primitivität deckte die Rede Roschkows in ausgezeichneter Weise die ganze Kluft auf, die die heuchlerische, gewollt reaktionäre Verteidigung der Religion seitens der Kadetten von der primitiven, unbewußten, althergebrachten Religiosität des Bauern trennt, bei dem seine Lebensverhältnisse – ungewollt und unbewußt – eine wirklich revolutionäre Erbitterung gegen die Abgaben an die Geistlichkeit hervorrufen und die Bereitschaft zum entschlossenen Kampf gegen die mittelalterlichen Zustände erzeugen. Die Kadetten sind Vertreter der konterrevolutionären Bourgeoisie, die die Religion gegen das Volk erneuern und festigen will. Die Roschkows sind Vertreter der revolutionären bürgerlichen Demokratie, die zwar unentwickelt, nicht klassenbewußt, eingeschüchtert, unselbständig und zersplittert ist, die aber bei weitem noch nicht erschöpfte Vorräte revolutionärer Energie für den Kampf gegen die Grundbesitzer, die Pfaffen und die Selbstherrschaft in sich birgt.

Der intellektuelle Trudowik Rosanow näherte sich den Kadetten viel weniger unbewußt als Roschkow. Zwar verstand es Rosanow, von der Trennung der Kirche vom Staat als von der Forderung der »Linken« zu sprechen, aber er konnte sich die reaktionären, kleinbürgerlichen Phrasen nicht verkneifen über »eine Aenderung des Wahlrechts dahingehend, daß die Geistlichkeit von der Teilnahme am politischen Kampf ausgeschlossen werde«. Die revolutionäre Gesinnung, die beim typischen Durchschnittsbauern von selber zum Durchbruch kommt, sobald er die Wahrheit über seine Lebensweise zu sagen beginnt, verschwindet beim intellektuellen Trudowik, und an ihre Stelle tritt die verschwommene und mitunter sogar direkt widerliche Phrase. Zum hundertsten und tausendsten Male sehen wir die Wahrheit bestätigt, daß nur dem Proletariat folgend die russischen Bauernmassen imstande sind, das auf ihnen lastende und sie zugrunde richtende Joch aller Verfechter der Leibeigenschaft, sei es in Gestalt des Grundbesitzers, des Kuttenträgers oder des Autokraten, abzuschütteln.

Der Vertreter der Arbeiterpartei und der Arbeiterklasse, der Sozialdemokrat Surkow, war der einzige in der ganzen Duma, der die Debatten auf ein wirklich prinzipielles Niveau erhob und ohne Umschweife sagte, wie sich das Proletariat zur Kirche und zur Religion verhält und wie sich die gesamte konsequente und lebensfähige Demokratie dazu verhalten muß. »Religion ist Opium für das Volk« … »Keinen Groschen des Volksgeldes für diese blutigen Feinde des Volkes, die das Volksbewußtsein umnebeln« – dieser gerade, mutige, offene Kampfruf des Sozialisten erklang wie eine Herausforderung an die erzreaktionäre Duma und fand Widerhall bei Millionen von Proletariern, die ihn unter den Massen verbreiten werden und, wenn die Zeit gekommen ist, auch verstehen werden, ihn in revolutionäre Aktion umzusetzen.

(»Sozialdemokrat« Nr. 6, 4. [17.] Juni 1909)

IV. Wofür die Religion gut ist!

(1902)

… Die Leser erinnern sich wohl noch, welches Aufsehen das Referat des Adelsmarschalls von Orel, M. A. Stachowitsch, auf dem Missionarkongreß über die Notwendigkeit der gesetzlichen Anerkennung der Gewissensfreiheit hervorgerufen hat. Die konservative Presse, allen voran die »Moskowskije Wjedomosti«, heult und gebärdet sich wie toll gegen Herrn Stachowitsch, sie weiß kaum, wie sie ihn beschimpfen soll, und geht fast soweit, den ganzen Adel von Orel des Staatsverrats anzuklagen, weil Herr Stachowitsch wiederum zum Adelsmarschall gewählt worden ist. Diese Wahl aber ist wirklich eine lehrreiche Erscheinung, die bis zu einem gewissen Grade den Charakter einer Demonstration des Adels gegen die Willkür und Niedertracht der Polizei bedeutet.

»Stachowitsch« – so versichern die »Moskowskije Wjedomosti« – »ist nicht so sehr Adelsmarschall, als vielmehr Mischa Stachowitsch, der Bruder Lustig, die Seele der Gesellschaft, der Schönredner …« (1901, Nr. 348.[Anmerkungen 44]) Um so schlimmer für euch, ihr Herren Verteidiger des Polizeiknüppels! Wenn sogar die lebenslustigen Gutsbesitzer von Gewissensfreiheit zu reden begonnen haben, so bedeutet das, daß die Zahl der Gemeinheiten, die unsere Popen im Verein mit unserer Polizei begehen, Legion sein muß.

»… Was hat unsere leichtsinnige ›Intelligenz‹, aus der die Herren Stachowitsch hervorgehen und die ihnen zujubelt, zu tun mit unserem Heiligtum, unserer rechtgläubigen Religion und unserem innigen Verhältnis zu ihr? …«

Wiederum: um so schlimmer für euch, ihr Herren Verteidiger des Absolutismus, der Rechtgläubigkeit, des Volkstums! Schön müssen denn doch die Zustände unseres Polizeiabsolutismus sein, wenn er sogar die Religion so sehr mit Gefängnisgeist durchtränkt hat, daß die »Stachowitsche« (die keinerlei feste Ueberzeugung in religiösen Dingen haben, aber, wie wir weiter unten sehen werden, an dem Weiterbestand der Religion interessiert sind) von völliger Gleichgültigkeit (wenn nicht Haß) gegen dieses berüchtigte »Volksheiligtum« durchdrungen werden!

»… Sie nennen unseren Glauben Verirrung!! Sie verhöhnen uns, weil wir dank dieser ›Verirrung‹ die Sünde fürchten und sie fliehen, weil wir, ohne zu murren, unsere Pflichten erfüllen, so schwer sie auch sein mögen, weil wir Kraft und Mut finden, Leid und Entbehrungen zu ertragen, und im Erfolg und Glück keinen Stolz kennen …«

Also das ist's! Das Heiligtum der rechtgläubigen Kirche ist darum so teuer, weil es lehrt, ohne zu murren Leid zu ertragen! Fürwahr, ein vorteilhaftes Heiligtum für die herrschenden Klassen! Wenn die Gesellschaft so eingerichtet ist, daß eine verschwindende Minderheit Reichtum und Macht genießt, die Masse aber ständig »Entbehrungen« zu dulden und »schwere Pflichten« zu tragen hat, so ist die Sympathie der Ausbeuter für eine Religion völlig verständlich, die die irdische Hölle ohne Murren zu ertragen lehrt um eines angeblichen himmlischen Paradieses willen. In ihrem hitzigen Uebereifer beginnen die »Moskowskije Wjedomosti« sich zu verplaudern. Und sie haben sich so sehr verplaudert, daß sie unversehens die Wahrheit gesagt haben. Man höre weiter:

»… Sie ahnen nicht einmal, daß, eben dank dieser ›Verirrung‹, sie, die Herren Stachowitsch, sich satt essen, ruhig schlafen und lustig leben.«

Heilige Wahrheit! So ist es, dank der ungeheuren Verbreitung der religiösen »Irrtümer« in den Volksmassen, »schlafen ruhig« sowohl die Stachowitsche wie die Oblomows[Anmerkungen 45] und alle unsere Kapitalisten, die von der Arbeit dieser Massen leben, und schließlich auch die »Moskowskije Wjedomosti« selber. Und je mehr die Aufklärung im Volke verbreitet wird, je mehr die religiösen Vorurteile durch das sozialistische Bewußtsein verdrängt werden, um so näher wird der Tag des proletarischen Sieges sein, der alle geknechteten Klassen aus ihrer Versklavung in der gegenwärtigen Gesellschaft erlöst …

Aus »Iskra« Nr. 16, 1. Februar 1902; vgl. Lenin, »Sämtliche Werke«, Bd. IV, 2. Halbband, S. 116 ff.

V. Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus

(1922)

… Zum zweiten muß eine solche Zeitschrift[Anmerkungen 46] ein Organ des streitbaren Atheismus sein. Wir haben zwar Ressorts, zum mindesten gewisse staatliche Institutionen, die sich dem widmen. Indessen geschieht dies äußerst träge und äußerst ungenügend. Es scheint, daß sich hierin der Druck der mit unserem echt russischen (wenn auch sowjetistischen) Bürokratismus verbundenen allgemeinen Verhältnisse geltend macht. Es ist daher außerordentlich wichtig, daß zur Ergänzung, Verbesserung und Belebung der Arbeit der entsprechenden staatlichen Institutionen die Zeitschrift, die sich die Aufgabe stellt, ein Organ des streitbaren Materialismus zu sein, eine unermüdliche atheistische Propaganda entfaltet und einen unermüdlichen Kampf für den Atheismus führt. Die gesamte, in allen Sprachen erscheinende einschlägige Literatur muß aufmerksam verfolgt und alles auf diesem Gebiete irgendwie Wertvolle übersetzt oder mindestens besprochen werden.

Schon vor langer Zeit hat Engels den Führern des modernen Proletariats den Rat gegeben, zur Massenverbreitung unter dem Volke die atheistische Kampfliteratur vom Ende des 18. Jahrhunderts zu übersetzen. Zu unserer Schande sei es gesagt, daß wir dies bisher noch nicht getan haben (einer der zahlreichen Beweise dafür, daß es viel leichter ist, in einer revolutionären Epoche die Macht zu erobern, als sich dieser Macht richtig zu bedienen). Zuweilen wird diese unsere Trägheit, Untätigkeit und Unfähigkeit mit allerhand »hochtrabenden« Argumenten gerechtfertigt, so z. B., indem man behauptet, die alte atheistische Literatur des 18. Jahrhunderts sei »veraltet, unwissenschaftlich, naiv« und dergleichen mehr. Es gibt nichts Schlimmeres, als derartige gelehrt sein sollende Sophismen, hinter denen sich entweder Pedanterie oder vollkommenes Nichtbegreifen des Marxismus verbergen. Gewiß findet sich in den atheistischen Schriften der Revolutionäre des 18. Jahrhunderts mancherlei Unwissenschaftliches und Naives. Niemand hindert indes die Herausgeber solcher Schriften, sie zu kürzen und mit kurzen Nachworten und Hinweisen auf den Fortschritt, den die Menschheit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Religionskritik gemacht hat, ferner mit Hinweisen auf die entsprechenden neuesten Schriften zu versehen usw.

Es wäre der größte und schlimmste Fehler, den ein Marxist begehen kann, zu meinen, die Millionenmassen des Volkes (insbesondere die der Bauern und Handwerker), die die ganze heutige Gesellschaft zur geistigen Finsternis, zur Unwissenheit verdammt und im Banne von Vorurteilen hält, könnten aus dieser Finsternis nur auf dem direkten Wege einer rein marxistischen Aufklärung herauskommen. Die atheistische Propaganda muß in der mannigfaltigsten Form in diese Massen getragen werden. Sie müssen mit Tatsachen aus den verschiedensten Lebensgebieten bekanntgemacht werden, man muß an sie bald auf die eine, bald auf die andere Art herantreten, um ihr Interesse wachzurufen, sie aus dem religiösen Schlaf zu erwecken, sie von den verschiedensten Seiten her und mit den verschiedensten Methoden aufzurütteln und dergleichen mehr.

Die schlagfertige, lebendige, talentvolle, witzige und offen das herrschende Pfaffentum angreifende Publizistik der alten Atheisten des 18. Jahrhunderts wird sich durchweg als tausendmal geeigneter erweisen zur Aufrüttelung der Menschen aus ihrem religiösen Schlummer als die langweiligen, trockenen, fast von keinen geschickt zusammengestellten Tatsachen veranschaulichten marxistischen Wiederholungen, die in unserer Literatur überwiegen und – gestehen wir es offen ein – den Marxismus häufig entstellen. Alle größeren Werke von Marx und Engels sind bei uns übersetzt. Es liegt auch nicht der geringste Grund zur Befürchtung vor, der alte Atheismus und Materialismus könnte uns um die von Marx und Engels gegebenen Verbesserungen bringen. Das Wichtigste – das vergessen gerade unsere vermeintlich marxistischen, in Wirklichkeit aber den Marxismus entstellenden Kommunisten am allerhäufigsten – ist, daß man es versteht, das Interesse der noch gänzlich unentwickelten Massen für eine bewußte Einstellung zu religiösen Fragen und eine bewußte Kritik der Religion zu wecken.

Und nun die andere Seite. Man sehe sich einmal die Vertreter der modernen wissenschaftlichen Religionskritik an. Fast immer »ergänzen« diese Vertreter der gebildeten Bourgeoisie ihre eigene Widerlegung der religiösen Vorurteile durch solche Betrachtungen, die sie sofort als geistige Sklaven der Bourgeoisie, als »diplomierte Lakaien des Pfaffentums« entlarven.

Zwei Beispiele. Professor R. J. Wipper ließ 1918 ein Büchlein unter dem Titel »Der Ursprung des Christentums« (Pharos-Verlag, Moskau) erscheinen. Der Verfasser gibt die wichtigsten Ergebnisse der modernen Wissenschaft wieder und verzichtet dabei nicht nur auf jeden Kampf gegen Vorurteile und Betrug, die die Waffe der Kirche als einer politischen Organisation bilden, er weicht diesen Fragen nicht nur aus, sondern erhebt darüber hinaus den geradezu lächerlichen und durch und durch reaktionären Anspruch, über beiden »Extremen«, dem idealistischen wie dem materialistischen, zu stehen. Was ist das anderes als Liebedienerei der herrschenden Bourgeoisie gegenüber, die überall auf der Welt hunderte Millionen Rubel des von ihr aus den Werktätigen herausgepreßten Profits zur Unterstützung der Religion verwendet.

Der bekannte deutsche Gelehrte Arthur Drews spricht sich am Schlusse seines Buches »Die Christusmythe«, in dem er vorher die religiösen Vorurteile und Märchen widerlegt und den Nachweis führt, daß es einen Christus niemals gegeben hat, für die Religion aus, allerdings für eine aufgefrischte, zurechtgeputzte, raffinierte Religion, die fähig wäre, »der täglich mehr und mehr anschwellenden naturalistischen Strömung« zu widerstehen (S. 238, 4. deutsche Auflage 1910). Hier haben wir einen offenen, bewußten Reaktionär vor uns, der den Ausbeutern vor aller Oeffentlichkeit behilflich ist, die alten, morsch gewordenen religiösen Vorurteile durch neue, noch widerwärtigere und gemeinere, zu ersetzen.

Das besagt nicht, daß eine Uebersetzung Drews' ins Russische unnötig sei, sondern, daß die Kommunisten und alle konsequenten Materialisten bei dem innerhalb gewisser Schranken mit dem progressiven Teil der Bourgeoisie zu verwirklichenden Bündnis die Bourgeoisie, sobald sie reaktionär wird, unermüdlich zu entlarven haben. Das besagt weiter, daß ein Zurückschrecken vor einem Bündnis mit den Vertretern der Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts, also jener Epoche, in der das Bürgertum noch revolutionär war, einem Verrate am Marxismus und Materialismus gleichkäme, denn im Kampfe gegen die herrschenden religiösen Finsterlinge ist für uns ein »Bündnis« selbst mit den Drews in der einen oder anderen Form, in diesem oder jenem Ausmaße, eine unbedingte Pflicht.

Die Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus«, die ein Organ des streitbaren Materialismus sein will, muß der atheistischen Propaganda, den Uebersichten der entsprechenden Literatur und der Beseitigung der gewaltigen Mängel unserer staatlichen Tätigkeit auf diesem Gebiete viel Platz einräumen. Besonders wichtig ist die Verwertung jener Bücher und Broschüren, die viel konkretes Tatsachenmaterial und Zusammenstellungen enthalten, die den Zusammenhang der Klasseninteressen und Klassenorganisationen der modernen Bourgeoisie mit den religiösen Institutionen und der religiösen Propaganda aufzeigen.

Aeußerst wichtig sind alle auf die Vereinigten Staaten von Nordamerika bezugnehmenden Materialien. In Amerika tritt zwar der offizielle, amtliche, staatliche Zusammenhang zwischen Religion und Kapital weniger hervor, dafür aber wird es uns umso klarer, daß die sogenannte »moderne Demokratie« (vor der die Menschewiki, die Sozialrevolutionäre und z. T. auch die Anarchisten und dergl., aller Vernunft zum Trotz, auf dem Bauche rutschen) nichts anderes darstellt als die Freiheit, das zu predigen, was für die Bourgeoisie vorteilhaft ist. Vorteilhaft aber ist für die Bourgeoisie das Predigen der allerreaktionärsten Ideen, der Religion, des Obskurantismus, der Verteidigung der Ausbeuter u. ä. m.

Man darf wohl erwarten, daß eine Zeitschrift, die ein Organ des streitbaren Materialismus sein will, unserem lesenden Publikum Uebersichten über atheistische Literatur bieten und sie mit Charakteristiken versehen wird, die zeigen, für welchen Leserkreis und in welcher Beziehung die einen oder anderen Werke geeignet wären, und auch auf das hinweisen wird, was bei uns bereits erschienen ist (als erschienen sind nur leidlich gute Uebersetzungen zu betrachten, deren es nicht allzu viele gibt) und was noch erscheinen müßte.

Außer einem Bündnis mit konsequenten, der Kommunistischen Partei nicht angehörenden Materialisten ist für die vom streitbaren Materialismus zu bewältigende Aufgabe nicht minder wichtig, wenn nicht gar wichtiger, ein Bündnis mit solchen Vertretern der modernen Naturwissenschaft, die sich dem Materialismus zuneigen und sich nicht scheuen, ihn gegen die in der sogenannten »gebildeten Gesellschaft« herrschenden philosophischen Modeschrullen in der Richtung des Idealismus und Skeptizismus hin zu vertreten und zu propagieren.

Der in Nummer 1/2 der Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus« erschienene Artikel A. Timirjasews[Anmerkungen 47] über die Relativitätstheorie Einsteins[Anmerkungen 48] läßt uns hoffen, daß es der Zeitschrift gelingen wird, auch dieses zweite Bündnis zu verwirklichen. Man muß ihm mehr Aufmerksamkeit widmen. Man muß dabei stets im Auge behalten, daß gerade die in der modernen Naturwissenschaft eingetretene starke Gärung aus sich heraus immer wieder reaktionäre philosophische Schulen und Schülchen, Richtungen und Richtungchen gebiert. Aufmerksames Verfolgen der Fragen, die die neueste Revolution auf dem Gebiete der Naturwissenschaft aufwirft, sowie die Heranziehung von Naturwissenschaftlern zur Mitarbeit an der philosophischen Zeitschrift ist daher eine Aufgabe, ohne deren Lösung der streitbare Materialismus weder streitbar noch materialistisch sein wird. Wenn Timirjasew in der ersten Nummer der Zeitschrift sich genötigt sah, festzustellen, daß die Theorie Einsteins – der selbst, nach den Worten Timirjasews, keinerlei aktive Kampagne gegen die Grundlagen des Materialismus führt – bereits von einer Unmenge von Vertretern der bürgerlichen Intellektuellen aller Länder aufgegriffen worden ist, so gilt das nicht allein für Einstein, sondern seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für eine ganze Reihe, wenn nicht die Mehrheit aller großen Reformer auf dem Gebiete der Naturwissenschaft.

Wollen wir also einer solchen Erscheinung gegenüber bewußt Stellung nehmen, so müssen wir begreifen, daß ohne eine solide philosophische Begründung keine wie immer geartete Naturwissenschaft, kein wie immer gearteter Materialismus den Kampf gegen den Ansturm bürgerlicher Ideen und gegen die Renaissance bürgerlicher Weltanschauung bestehen kann. Um diesen Kampf zu bestehen und mit vollem Erfolg zu Ende zu führen, muß der Naturforscher moderner Materialist, bewußter Anhänger des von Marx vertretenen Materialismus, d. h. dialektischer Materialist sein. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Mitarbeiter der Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus« ein systematisches, von materialistischen Gesichtspunkten ausgehendes Studium der Dialektik Hegels[Anmerkungen 49] organisieren, jener Dialektik, die Marx konkret sowohl in seinem »Kapital« als auch in seinen historischen und politischen Schriften angewandt hat, und zwar mit solchem Erfolg, daß heute jeder Tag des Erwachens neuer Klassen des Ostens zum Leben und Kampf (Japan, Indien, China) – d. h. jener Hunderte von Millionen Menschen, die den größten Teil der Bevölkerung der Erde ausmachen und durch ihre historische Untätigkeit, ihren historischen Schlaf bisher Stillstand und Zersetzung in vielen vorgeschrittenen Staaten Europas verursachten –, daß jeder Tag des Erwachens neuer Völker und neuer Klassen die Richtigkeit des Marxismus immer mehr und mehr bestätigt.

Gewiß ist ein solches Studium, ein solches Erläutern, eine solche Propaganda Hegelscher Dialektik eine äußerst schwierige Sache, und die ersten Versuche in dieser Richtung werden zweifellos mit Fehlern behaftet sein. Doch nur derjenige macht keine Fehler, der nichts tut. Gestützt auf die von Marx befolgte Anwendung der materialistisch erfaßten Dialektik Hegels, können und müssen wir diese Dialektik nach allen Richtungen hin ausarbeiten, in unserer Zeitschrift Auszüge aus den wichtigsten Werken Hegels abdrucken und unter Anführung von Beispielen der Anwendung der Dialektik durch Marx, wie auch von Beispielen der Dialektik auf dem Gebiete der ökonomischen und politischen Beziehungen, wie sie uns die neueste Geschichte, besonders der moderne imperialistische Krieg und die Revolution in so ungewöhnlich reichem Maße bieten, diese Hegelsche Dialektik in die Sprache der Materialisten übersetzen. Der Kreis der Redakteure und Mitarbeiter der Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus« sollte meines Erachtens eine Art »Gesellschaft materialistischer Freunde der Hegelschen Dialektik« bilden. Der moderne Naturforscher wird in der materialistisch erfaßten Dialektik Hegels (wenn er nur zu suchen versteht, und wenn wir es lernen, ihm hierbei behilflich zu sein) eine ganze Reihe von Antworten auf jene philosophischen Fragen finden, die die gegenwärtige Revolution in der Naturwissenschaft aufwirft, und die die intellektuellen Anbeter der bürgerlichen Mode »konfus machen«, und sie veranlassen, sich auf die Seite der Reaktion zu schlagen.

Ohne sich eine solche Aufgabe gestellt zu haben und ohne an ihrer Lösung systematisch zu arbeiten, kann der Materialismus kein streitbarer Materialismus sein, denn er wird, um einen Ausdruck Schtschedrins[Anmerkungen 50] zu gebrauchen, weniger ein niederringender als ein niedergerungener Materialismus sein.

Vernachlässigen die hervorragenden Naturwissenschaftler den dialektischen Materialismus, wie sie es bisher getan haben, so werden sie in bezug auf philosophische Schlußfolgerungen und Verallgemeinerungen auch fernerhin hilflos dastehen, denn die Naturwissenschaft schreitet so schnell vorwärts und macht dabei auf allen Gebieten eine so tiefgehende revolutionäre Gärung durch, daß sie ohne entsprechende philosophische Verallgemeinerungen unter keinen Umständen wird weiterkommen können …

Aus der Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus« Nr. 3, 1922, siehe die deutsche Ausgabe Bd. I, 1, März 1925, S. 11 ff.

VI. Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution

(1908)

Den Namen des großen Künstlers neben die Revolution zu stellen, die er offenkundig nicht verstanden hat, der er offenkundig aus dem Wege gegangen ist, mag auf den ersten Blick seltsam und unnatürlich anmuten. Man kann doch nicht etwas als Spiegel bezeichnen, was eine Erscheinung offensichtlich nicht richtig wiedergibt. Nun ist aber unsere Revolution eine überaus komplizierte Erscheinung; unter der Masse ihrer unmittelbaren Vollstrecker und Teilnehmer gibt es viele soziale Elemente, die die Geschehnisse ebenfalls offenkundig nicht verstanden, die ebenfalls den wirklichen historischen Aufgaben, vor die wir durch den Gang der Ereignisse gestellt wurden, aus dem Wege gingen. Und haben wir es mit einem wirklich großen Künstler zu tun, so wird er nicht umhin können, wenigstens einige der wesentlichsten Seiten der Revolution in seinen Werken widerzuspiegeln.

Die legale russische Presse, die mit Artikeln, Briefen und Notizen anläßlich des 80. Geburtstages Tolstois[Anmerkungen 51] überfüllt ist, befaßt sich am allerwenigsten mit einer Analyse seiner Werke vom Standpunkte des Charakters und der Triebkräfte der russischen Revolution. Diese ganze Presse ist bis zur Uebelkeit voll von Heuchelei, und zwar von einer zweifachen Heuchelei: einer offiziellen und einer liberalen. Die erste ist die plumpe Heuchelei käuflicher Skribenten, denen gestern befohlen wurde, gegen Tolstoi zu hetzen, und denen man heute befiehlt, bei ihm Patriotismus ausfindig zu machen und tunlichst den Anstand vor Europa zu wahren. Daß die Skribenten dieser Sorte ihr Geschreibsel bezahlt kriegen, ist jedermann bekannt, und so können sie niemanden irreführen. Weit raffinierter und darum weit schädlicher und gefährlicher ist die liberale Heuchelei. Hört man die kadettischen Flötenspieler von der »Rjetsch«, so scheinen sie Tolstoi vollste und wärmste Sympathie entgegenzubringen. In Wirklichkeit sind die berechneten Deklamationen und die schwülstigen Phrasen vom »großen Gottsucher« nichts als Lug und Trug, denn weder glaubt der russische Liberale an den Tolstoischen Gott noch sympathisiert er mit der Tolstoischen Kritik an der bestehenden Ordnung. Er macht sich an den populären Namen heran, um sein politisches Kapitälchen zu vermehren, um die Rolle des Führers der gesamtnationalen Opposition spielen zu können, er ist bemüht, durch Phrasengeklingel die Notwendigkeit einer offenen und klaren Beantwortung der Frage zu übertönen: wodurch werden die schreienden Widersprüche im »Tolstoianertum« hervorgerufen, welche Mängel und Schwächen unserer Revolution bringen sie zum Ausdruck?

Die Widersprüche in den Werken, in den Anschauungen, in den Lehren und in der Schule Tolstois sind tatsächlich schreiend. Einerseits ein genialer Künstler, der nicht nur unvergleichliche Bilder aus dem russischen Leben, sondern auch erstklassige Werke der Weltliteratur geliefert hat. Andererseits ein Gutsbesitzer und Narr in Christo. Einerseits ein merkwürdig heftiger, unmittelbarer und aufrichtiger Protest gegen die gesellschaftliche Lüge und Unehrlichkeit, andererseits ein »Tolstoianer«, d. h. ein abgenutzter, hysterischer Jammerlappen, genannt russischer Intellektueller, der sich öffentlich an die Brust schlägt und sagt: »Ich bin schlecht, ich bin ekelhaft, aber ich befasse mich mit moralischer Selbstvervollkommnung: ich esse kein Fleisch mehr und ernähre mich jetzt von Reiskoteletts«. Einerseits schonungslose Kritik der kapitalistischen Ausbeutung, Entlarvung der Gewalttaten der Regierung, der Komödie der Justiz und der staatlichen Verwaltung, Enthüllung der ganzen Tiefe der Widersprüche zwischen dem Wachstum des Reichtums und der Errungenschaften der Zivilisation und dem Wachstum der Armut, der Verwilderung und der Qualen der Arbeitermassen; andererseits ein blödsinniges Predigen des »Widersetze dich dem Bösen nicht durch Gewalt«. Einerseits nüchternster Realismus, Herunterreißen aller und jeglicher Masken, andererseits das Predigen eines der niederträchtigsten Dinge, die es überhaupt auf der Welt gibt, nämlich der Religion, – das Streben, an Stelle beamteter Popen Popen aus sittlicher Ueberzeugung zu setzen, d. h. das Kultivieren des raffiniertesten und deshalb besonders widerwärtigen Pfaffentums. Wahrhaftig:

O du armseliges und doch gesegnetes,

O du so mächtiges und doch ohnmächtiges

Mütterchen Rußland![Anmerkungen 52]

Daß Tolstoi angesichts solcher Widersprüche sowohl die Arbeiterbewegung und ihre Rolle im Kampf für den Sozialismus als auch die russische Revolution absolut nicht verstehen konnte, liegt auf der Hand. Doch sind die Widersprüche in den Anschauungen und Lehren Tolstois keine Zufälligkeiten, sondern vielmehr der Ausdruck jener widerspruchsvollen Bedingungen, in die das russische Leben des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts versetzt worden war. Das patriarchalische Dorf, erst gestern von der Leibeigenschaft befreit, wurde dem Kapital und dem Fiskus buchstäblich zur Ausplünderung ausgeliefert. Die alten Grundpfeiler der Bauernwirtschaft und des Bauernlebens, Grundpfeiler, die sich tatsächlich Jahrhunderte hindurch gehalten hatten, brachen ungewöhnlich schnell zusammen. Und die Widersprüche in den Anschauungen Tolstois sind nicht unter dem Gesichtspunkte der modernen Arbeiterbewegung und des modernen Sozialismus zu beurteilen (eine solche Beurteilung ist natürlich notwendig, aber sie genügt nicht), sondern vom Gesichtspunkte jenes Protestes gegen den anrückenden Kapitalismus, gegen die Ruinierung und das Landlosmachen der Massen, der im patriarchalischen russischen Dorfe entstehen mußte. Tolstoi ist lächerlich als Prophet, der neue Rezepte zur Rettung der Menschheit erfunden haben will, und schon ganz kläglich sind darum die ausländischen und russischen »Tolstoianer«, die ausgerechnet die schwächste Seite seiner Lehre zum Dogma erheben wollen. Tolstoi ist groß, soweit er die Ideen und Stimmungen zum Ausdruck bringt, die zur Zeit des Anbruchs der bürgerlichen Revolution in Rußland die Millionenmasse der russischen Bauernschaft erfaßt hatten. Tolstoi ist originell, weil die Gesamtheit seiner Anschauungen, als Ganzes schädlich, gerade die Besonderheiten unserer Revolution als einer bürgerlichen Bauernrevolution zum Ausdruck bringt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, sind die Widersprüche in den Anschauungen Tolstois ein wirklicher Spiegel der widerspruchsvollen Bedingungen, in die die historische Tätigkeit der Bauernschaft während unserer Revolution versetzt wurde. Einerseits hatten der jahrhundertelange Druck der Leibeigenschaft und die Jahrzehnte des forcierten Ruins nach der Reform[Anmerkungen 53] eine Unmenge von Haß, Erbitterung und verzweifelter Entschlossenheit aufgespeichert. Das Bestreben, sowohl die offizielle Kirche als auch die Gutsbesitzer samt ihrer Regierung bis auf den Grund hinwegzufegen, alle alten Formen und Regelungen des Grundbesitzes zu zerschlagen, das Land zu säubern und an Stelle des Polizei- und Klassenstaates ein Gemeinwesen freier und gleichberechtigter Kleinbauern aufzurichten, – dieses Bestreben durchzieht wie ein roter Faden jeden historischen Schritt der Bauern in unserer Revolution, und zweifellos entspricht der geistige Inhalt der Werke Tolstois viel mehr diesem Bestreben der Bauern als dem abstrakten »christlichen Anarchismus«, als welcher das »System« seiner Anschauungen mitunter gewertet wird.

Andererseits verhielt sich die Bauernschaft in ihrem Streben nach neuen Formen des Zusammenlebens sehr unbewußt, patriarchalisch und närrisch der Frage gegenüber, wie dieses Gemeinwesen aussehen soll, durch welchen Kampf die Freiheit zu erringen ist, was für Führer die Bauernschaft in diesem Kampfe haben kann, wie sich das Bürgertum und die bürgerlichen Intellektuellen zur Bauernrevolution verhalten, warum für die Vernichtung des gutsherrlichen Grundbesitzes ein gewaltsamer Sturz der Zarenmacht notwendig ist. Die ganze Vergangenheit hat die Bauernschaft den Haß gegen den Gutsherrn und den Tschinownik gelehrt, hat sie aber nicht gelehrt und konnte sie auch nicht lehren, wo die Antwort auf all diese Fragen zu suchen wäre. In unserer Revolution hat nur der kleinere Teil der Bauernschaft wirklich gekämpft und sich zu diesem Zweck wenigstens einigermaßen organisiert, und nur ein ganz geringer Teil hat sich mit der Waffe in der Hand zur Ausrottung seiner Feinde, zur Vernichtung der Zarenknechte und der Verteidiger der Gutsbesitzer erhoben. Die Mehrzahl der Bauernschaft jammerte und betete, räsonierte und träumte, schrieb Gesuche und entsandte »Fürsprecher« – ganz im Geiste von Leo Nikolajewitsch Tolstoi! Und wie es immer in solchen Fällen zu sein pflegt, hatte die tolstoianische Enthaltsamkeit von der Politik, die tolstoianische Verleugnung der Politik, der Mangel an Interesse und Verständnis für die Politik zur Folge, daß dem klassenbewußten und revolutionären Proletariat nur eine Minderheit der Bauernschaft folgte, die Mehrheit dagegen die Beute jener prinzipienlosen und speichelleckerischen bürgerlichen Intellektuellen wurde, die, Kadetten genannt, in die Versammlungen der Trudowiki und in das Vorzimmer Stolypins[Anmerkungen 54] liefen, bettelten, kuhhandelten, versöhnten, zu versöhnen versprachen, – bis sie durch einen Fußtritt des Militärstiefels hinausgeworfen wurden. Tolstois Ideen sind der Spiegel der Schwächen und der Mängel unseres Bauernaufstandes, die Widerspiegelung der Schwammigkeit des patriarchalischen Dorfes und der vertrockneten Feigheit des »wirtschaftlichen Bäuerleins«.

Man betrachte die Soldatenaufstände von 1905-1906. Ihrer sozialen Herkunft nach stellen diese Kämpfer unserer Revolution ein Mittelding dar zwischen Bauernschaft und Proletariat. Das letztere ist in der Minderheit, deshalb zeigt die Bewegung innerhalb der Truppen nicht annähernd solche Geschlossenheit im Reichsmaßstabe, solches Parteibewußtsein, wie es vom Proletariat an den Tag gelegt wurde, als es gleichsam auf einen Wink hin sozialdemokratisch wurde. Andererseits gibt es keine irrigere Meinung als die, daß die Ursachen des Mißlingens der Soldatenaufstände in dem Mangel an Führern aus dem Offiziersstande zu suchen seien. Im Gegenteil, der riesengroße Fortschritt der Revolution seit der Zeit der »Narodnaja Wolja« äußerte sich gerade darin, daß das »graue Viehzeug« zur Waffe gegen die Obrigkeit griff, eine Selbständigkeit, die die liberalen Gutsbesitzer und die liberalen Offiziere so sehr erschreckte. Der Soldat war voller Sympathie für die Sache der Bauern: seine Augen glühten auf bei der bloßen Erwähnung von Land. Mehrfach war die Macht bei den Truppen in die Hände der Soldatenmasse übergegangen, doch hat es fast nie eine entschlossene Ausnützung dieser Macht gegeben; die Soldaten schwankten; einige Stunden, nachdem sie irgendeinen verhaßten Vorgesetzten getötet hatten, setzten sie die anderen in Freiheit, traten in Verhandlungen mit den Behörden und ließen sich dann erschießen, legten sich unter die Ruten, ließen sich wieder ins Joch spannen – ganz im Geiste von Leo Nikolajewitsch Tolstoi!

Tolstoi hat den aufgespeicherten Haß, das reif gewordene Streben zum Besseren, den Wunsch, sich von dem Vergangenen zu befreien, – aber auch die Unreife der Träumereien, den Mangel an politischer Erziehung, die revolutionäre Schwammigkeit wiedergegeben. Die historisch-ökonomischen Bedingungen erklären sowohl die Notwendigkeit der Entstehung des revolutionären Kampfes der Massen wie auch den Mangel an Vorbereitung zum Kampf und das tolstoianische »Sich dem Bösen nicht widersetzen«, das eine ganz ernste Ursache der Niederlage der ersten revolutionären Kampagne war.

Man sagt, geschlagene Armeen pflegen gut zu lernen. Gewiß, ein Vergleich revolutionärer Klassen mit Armeen ist nur in ganz begrenztem Sinne richtig. Die Entwicklung des Kapitalismus verändert und verschärft mit jeder Stunde die Bedingungen, durch die die Millionenmasse der Bauern, zusammengeschweißt durch gemeinsamen Haß gegen die grundherrlichen Sklavenhalter und ihre Regierung, in einen revolutionär-demokratischen Kampf getrieben wurde. Innerhalb der Bauernschaft selbst verdrängt das Wachsen des Warenaustausches, der Herrschaft des Marktes und der Macht des Geldes immer mehr die patriarchalischen alten Zustände und die patriarchalische philosophische Ideologie. Doch eine Errungenschaft der ersten Jahre der Revolution und der ersten Niederlagen im revolutionären Massenkampfe steht außer Zweifel: das ist der Todesstoß, der der früheren Weichlichkeit und Mürbigkeit der Massen versetzt wurde. Die Trennungslinien sind schärfer geworden. Klassen und Parteien haben sich voneinander abgesondert. Unter dem Hammer der von Stolypin erteilten Lehren, bei beharrlicher, konsequenter Agitation der revolutionären Sozialdemokraten wird nicht nur das sozialistische Proletariat, sondern werden auch die demokratischen Massen der Bauernschaft unvermeidlich immer gestähltere Kämpfer hervorbringen, die immer weniger in unsere historische Sünde des Tolstoianertums verfallen werden!

(»Proletarij« Nr. 35, 11. [24.] September 1908)

VII. Zwei Briefe Lenins an Gorki

I.

14. November 1913

Teurer A. M.!

Was machen Sie denn da eigentlich? – Es ist ja geradezu entsetzlich!

Gestern las ich in der »Rjetsch« Ihre Antwort auf das »Geheul« wegen Dostojewski und ich wollte mich schon freuen, heute aber trifft die Liquidatorenzeitung[Anmerkungen 55] ein, in der ein Absatz Ihres Artikels abgedruckt ist, den es in der »Rjetsch« nicht gegeben hat.

Dieser Absatz lautet folgendermaßen:

»Die ›Gottsucherei‹ aber muß man eine Zeitlang (nur eine Zeitlang?) aufschieben – das ist eine zwecklose Beschäftigung: es hat keinen Zweck zu suchen, wenn es einem nicht gegeben ist. Wer nicht säet, der erntet nicht. Ihr habt keinen Gott, Ihr habt ihn noch (noch!) nicht geschaffen. Die Götter sucht man nicht – man schafft sie; das Leben wird nicht ausgedacht, man erzeugt es.«

Daraus geht also hervor, daß Sie nur für »eine Zeitlang« gegen die »Gottsucherei« sind!! Daß Sie nur deshalb gegen die Gottsucherei sind, weil Sie sie durch eine Gotterschaffung ersetzen wollen!! Nun, ist es denn nicht grauenhaft, daß bei Ihnen so was herauskommt??

Das Gottsuchen unterscheidet sich vom Gottkonstruieren oder Gotterschaffen oder Gotterzeugen usw. keineswegs mehr, als ein gelber Teufel sich von einem blauen Teufel unterscheidet. Ueber das Gottsuchen sprechen, nicht zu dem Zweck, um sich gegen jegliche Teufel und Götter auszusprechen, gegen jegliche geistige Nekrophilie[Anmerkungen 56] – (jeder Gott bedeutet Nekrophilie und mag es der sauberste, idealste, nicht gesuchte, sondern erschaffene Gott sein, das ist einerlei), sondern um einen blauen Teufel dem gelben vorzuziehen – das ist hundertmal schlimmer, als überhaupt nicht davon reden.

In den freiesten Ländern, in solchen Ländern, wo ein Aufruf »An die Demokratie, an das Volk, an die Oeffentlichkeit und die Wissenschaft« ganz unangebracht wäre, in solchen Ländern (Amerika, die Schweiz usw.) macht man das Volk und die Arbeiter auf das eifrigste gerade mit der Idee eines reinen, geistigen, erst zu schaffenden Gottes stumpfsinnig. Gerade deshalb, weil jede religiöse Idee, jede Idee von jedem Gott, ja sogar jedes Kokettieren mit einem Gott – unaussprechliche Gemeinheit ist, die von der demokratischen Bourgeoisie besonders gern geduldet (oft sogar mit Wohlwollen aufgenommen wird) – gerade deshalb ist es die gefährlichste Gemeinheit, die niederträchtigste »Infektion«. Eine Million Sünden, Schweinereien, Vergewaltigungen und Ansteckungen physischer Art wird von der Menge viel leichter durchschaut und ist daher weniger gefährlich als die raffinierte, vergeistigte, mit den prächtigsten »ideologischen« Kostümen ausstaffierte Gottidee. Ein katholischer Pfaffe, der Mädchen vergewaltigt (von dem ich jetzt gerade zufällig in einer deutschen Zeitung las), ist gerade für die »Demokratie« weit weniger gefährlich als ein Pfaffe ohne Meßgewand, ein Pfaffe ohne plumpe Religion, ein ideeller und demokratischer Pfaffe, der die Erschaffung und Aufrichtung eines Gottes predigt. Denn den ersten Pfaffen zu entlarven, ist leicht, es ist nicht schwer, ihn zu verurteilen und wegzujagen, aber den zweiten kann man nicht so einfach fortjagen – es ist tausendmal schwerer, ihn zu entlarven, und kein »zerbrechlicher und kläglich wankelmütiger« Kleinbürger wird sich bereit finden, ihn »zu verurteilen«.

Und Sie, der Sie die »Zerbrechlichkeit und klägliche Wankelmütigkeit« der russischen (warum der russischen? ist die italienische etwa besser??) spießbürgerlichen Seele kennen, verwirren diese Seele mit dem süßesten und am meisten mit allerlei Zuckerwerk und buntem Firlefanz verhüllten Gift!!

Das ist wirklich entsetzlich.

»Genug der Selbstbespeiungen, die bei uns die Selbstkritik ersetzen.«

Und ist die Gotterschaffung vielleicht nicht die übelste Art der Selbstbespeiung?? Jeder Mensch, der sich mit der Erschaffung eines Gottes beschäftigt oder auch nur eine solche Erschaffung zuläßt, bespeit sich auf die übelste Art, denn er beschäftigt sich statt mit »Taten« gerade mit der Selbstbetrachtung und der Selbstbespiegelung, wobei ein solcher Mensch gerade die unsaubersten, stupidesten, knechtischsten Züge oder Züglein seines »Ichs«, die er mit seiner Gotterschaffung zu vergöttlichen sucht, liebevoll »betrachtet«.

Vom sozialen Gesichtpunkte, nicht vom persönlichen, ist jede Gotterschaffung nichts anderes als die liebevolle Selbstbetrachtung des stumpfsinnigen Kleinbürgertums, des zerbrechlichen Spießertums, der träumerisch »sich selbst bespeienden« Philister und Kleinbourgeois, die »verzweifelt und müde« sind (wie Sie das sehr richtig von der Seele zu sagen geruhten – nur hätten Sie nicht von der »russischen«, sondern von der kleinbürgerlichen Seele schlechthin sprechen müssen, denn die jüdische, italienische, englische Kleinbürgerseele ist nicht anders, es ist Jacke wie Hose, überall ist das schäbige Kleinbürgertum gleich gemein, während das »demokratische Kleinbürgertum«, das sich mit ideologischer Nekrophilie beschäftigt, doppelt gemein ist).

Ich lese mich in Ihren Artikel hinein und möchte herausfinden, woher dieser Fehler bei Ihnen kommen konnte – und staune. Was ist das? Sind es Ueberreste Ihrer »Beichte«,[Anmerkungen 57] die Sie selbst nicht billigten?? Ein Widerhall davon??

Oder etwas anderes – z. B. ein mißglückter Versuch, sich zum allgemein demokratischen Standpunkt herabzulassen, statt den proletarischen Standpunkt einzunehmen? Vielleicht wollten Sie, um ein Gespräch mit der »Demokratie überhaupt« zu ermöglichen, ein wenig (entschuldigen Sie den Ausdruck!) »zuzzeln«, wie man es mit Kindern zu tun pflegt? Vieleicht wollten Sie »zwecks Popularisierung« einen Augenblick lang die Vorurteile der Spießer gelten lassen?

Aber das ist doch eine unrichtige Methode, unrichtig in jedem Sinne, in jeder Beziehung!

Ich sagte schon, daß in demokratischen Ländern ein Appellieren »an die Demokratie, an das Volk, an die Oeffentlichkeit und Wissenschaft« von seiten eines proletarischen Schriftstellers ganz unangebracht wäre. Nun, und bei uns in Rußland? Ein solcher Appell ist nicht ganz angebracht, denn er schmeichelt ebenfalls auf irgendeine Weise den spießbürgerlichen Vorurteilen. Einen Aufruf, so allgemein und nebelhaft gehalten – bei uns würde sogar ein Isgojew[Anmerkungen 58] von der »Russkaja Mysl« mit beiden Händen unterschreiben. Warum soll man Losungen nehmen, die Sie zwar sehr wohl vom Isgojewismus zu scheiden wissen, aber nicht der Leser?? Warum soll man sich vor dem Leser demokratisch verschleiern, statt klar zu trennen zwischen den Kleinbürgern (den zerbrechlichen, kläglich wankelmütigen, ermüdeten, verzweifelten, sich selbst betrachtenden, gottbetrachtenden, gotterschaffenden, gottgewährenden, sich selbst bespeienden, blöd-anarchistischen – ein prachtvolles Wort!! usw. usw.) – und den Proletariern (die verstehen, nicht nur in Worten mutig zu sein, die verstehen, »Wissenschaft und Oeffentlichkeit« der Bourgeoisie von ihrer eigenen, die bürgerliche Demokratie von der proletarischen zu unterscheiden)?

Warum tun Sie das?

Es kränkt einen verteufelt!

Ihr W. Uljanow

II.

[Dezember 1913]

In der Frage nach Gott, dem Göttlichen und allem, was damit zusammenhängt, kommt bei Ihnen ein Widerspruch heraus – derselbe, meiner Ansicht nach, auf den ich in unseren Gesprächen während unseres letzten Beisammenseins auf Capri hinwies. Sie haben mit den »Vorwärtslern« gebrochen (oder scheinen mit ihnen gebrochen zu haben), ohne die ideologischen Grundlagen des »Vorwärtslertum« zu bemerken.

So auch jetzt. Sie sind »ärgerlich«, Sie »können nicht begreifen, wie der Ausdruck ›eine Zeitlang‹ Ihnen entschlüpfen konnte«, – so schreiben Sie, und gleichzeitig verteidigen Sie die Idee von Gott und Gotterschaffung.

»Gott ist der Komplex jener von Rasse, Nation, Menschheit erschaffenen Ideen, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren, mit dem Ziele, die Persönlichkeit mit der Gesellschaft zu verbinden, den zoologischen Individualismus zu zügeln.«

Diese Theorie hängt offensichtlich mit der Theorie oder den Theorien Bogdanows[Anmerkungen 59] und Lunatscharskis zusammen.

Und sie ist – offensichtlich falsch und offensichtlich reaktionär. Wie die christlichen Sozialisten (die schlimmste Abart des »Sozialismus« und seine schlimmste Verzerrung), wenden Sie eine Methode an, die (trotz Ihrer besten Absichten) den Hokus-Pokus des Pfaffentums wiederholt: aus der Gottheitsidee wird das ausgeschaltet, was ihr historisch und in der Lebenspraxis anhaftet (Teufelsspuk, Vorurteile, Heiligsprechung der Unwissenheit und Verschüchtertheit einerseits, der Leibeigenschaft und der Monarchie anderseits), wobei an Stelle der historischen und alltäglichen Realität in die Gottheitsidee eine gutherzige, kleinbürgerliche Phrase hineingelegt wird (Gott = »Ideen, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren«).

Sie wollen damit etwas »Gutes und Schönes« sagen, auf die »Wahrheit – Gerechtigkeit« hinweisen und dergleichen mehr. Aber dieser Ihr frommer Wunsch bleibt Ihr persönlicher Besitz, ein subjektiver »harmloser Wunsch«. Sobald Sie ihn einmal niedergeschrieben haben, dringt er in die Masse, und seine Bedeutung wird nicht durch Ihren frommen Wunsch, sondern durch das gesellschaftliche Kräfteverhältnis, durch die objektive Wechselbeziehung der Klassen bestimmt. Kraft dieser Wechselbeziehung erweist es sich (es erweist sich wider Ihren Willen und unabhängig von Ihrem Bewußtsein), daß Sie die Idee der Klerikalen, der Purischkewitsche, des Nikolaus II. und der Herren Struve geschminkt und gezuckert wiedergegeben haben, denn tatsächlich hilft die Gottheitsidee diesen Leuten, das Volk in Sklaverei zu halten. Indem Sie die Gottheitsidee ausschmücken, schmücken Sie die Ketten, mit denen sie die unwissenden Arbeiter und Bauern fesseln. Seht ihr wohl – werden die Popen und Co. sagen – was für eine schöne und tiefe Idee das ist (die Gottheitsidee), daß sie sogar von »euren« Herren Demokraten, von den Führern anerkannt wird, und wir (die Popen und Co.) dienen dieser Idee.

Es ist nicht wahr, daß Gott ein Komplex von Ideen ist, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren. Das ist Bogdanowscher Idealismus, der den materiellen Ursprung der Ideen vertuscht. Gott ist (historisch und praktisch) zu allererst ein Komplex von Ideen, die entstanden sind infolge der stumpfsinnigen Niedergedrücktheit des Menschen sowohl durch die äußere Natur wie durch die Klassenknechtschaft –, von Ideen, die diese Niedergedrücktheit festigen, die den Klassenkampf einschläfern. Wohl gab es eine Zeit in der Geschichte, wo trotz dieses Ursprungs und trotz dieser tatsächlichen Bedeutung der Gottheitsidee der Kampf der Demokratie und des Proletariats in Gestalt des Kampfes einer religiösen Idee wider die andere vor sich ging.

Aber auch diese Zeit ist längst vorbei.

Jetzt ist sowohl in Europa als auch in Rußland jede, selbst die verfeinertste, die wohlgemeinteste Verteidigung oder Rechtfertigung der Gottheitsidee – eine Rechtfertigung der Reaktion.

Ihre ganze Definition ist durch und durch reaktionär und bürgerlich. Gott soll ein Komplex von Ideen sein, die »die sozialen Gefühle wecken und organisieren, mit dem Ziele, die Persönlichkeit mit der Gesellschaft zu verbinden, den zoologischen Individualismus zu zügeln«.

Weshalb ist das reaktionär? Weil es die Idee der Popen und der Verfechter der Leibeigenschaft von der »Zügelung« der Zoologie ausschmückt.

In Wirklichkeit hat nicht die Gottheitsidee den »zoologischen Individualismus« gezügelt, dieser wurde vielmehr durch die Urherde und die Urkommune gebändigt. Die Gottheitsidee hat die »sozialen Gefühle« immer eingeschläfert und abgestumpft und Lebendes durch Totes ersetzt, da sie immer die Idee der Sklaverei (der schlimmsten, rettungslosen Sklaverei) war. Nie hat die Gottheitsidee »die Persönlichkeit mit der Gesellschaft verbunden«, aber immer band sie die unterdrückten Klassen durch den Glauben an die Göttlichkeit der Unterdrücker.

Bürgerlich ist Ihre Definition (und unwissenschaftlich, unhistorisch), weil sie mit undifferenzierten, allgemeinen, »robinsonhaften« Begriffen überhaupt operiert, statt mit bestimmten Klassen einer bestimmten geschichtlichen Epoche.

Die Gottheitsidee beim wilden Syrjanen usw. (oder auch beim Halbwilden) und die Gottheitsidee bei Struve und Co. sind zwei verschiedene Dinge. In beiden Fällen unterstützt die Klassenherrschaft diese Idee und wird ihrerseits von dieser Idee unterstützt. Der »volkstümliche« Begriff vom lieben Gott und dem Göttlichen ist »volkstümlicher« Stumpfsinn, Verschüchterung, Unwissenheit, genau dasselbe wie die »volkstümliche« Vorstellung vom Zaren, vom Waldteufel, vom Prügeln der Ehefrauen. Wie Sie die »volkstümliche Vorstellung« von Gott eine »demokratische« nennen können, ist mir absolut unerfindlich.

Daß der philosophische Idealismus »immer nur die Interessen der Persönlichkeit im Auge hat«, das stimmt nicht. Hatte Descartes im Vergleich zu Gassendi die Interessen der Persönlichkeit etwa mehr im Auge? Oder Fichte und Hegel verglichen mit Feuerbach?

Daß »das Gotterschaffen ein Prozeß weiterer Entwicklung und Ansammlung sozialer Momente im Individuum und in der Gesellschaft« sein soll, das ist geradezu fürchterlich!! Wenn in Rußland Freiheit herrschte – die ganze Bourgeoisie würde Sie ja für solche Sachen, für diese Soziologie und Theologie von rein bürgerlichem Typus und Charakter auf den Schild heben.

Nun genug für heute – der Brief hat sich ohnedies in die Länge gezogen. Ich drücke Ihnen nochmals kräftig die Hand und bleiben Sie mir hübsch gesund.

Ihr W. I.

VIII. Über kommunistische und religiöse Moral

(1920)[Anmerkungen 60]

… Dabei muß ich vor allem auf die Frage der kommunistischen Moral eingehen.

Ihr müßt euch zu Kommunisten erziehen. Die Aufgabe des Jugendverbandes besteht darin, seine praktische Tätigkeit so zu gestalten, daß die Jugend durch ihr Studium, ihre organisatorische Arbeit, ihren Zusammenschluß und ihren Kampf sich selbst und alle diejenigen erziehe, die in ihr den Führer sehen, daß sie Kommunisten erziehe. Die ganze Erziehung, Bildung und Unterweisung der heutigen Jugend muß eine Erziehung zur kommunistischen Moral sein.

Aber gibt es denn eine kommunistische Moral? Gibt es denn eine kommunistische Sittlichkeit? Natürlich! Oft stellt man sich die Sache so vor, als ob wir keine eigene Moral hätten. Und sehr oft erhebt die Bourgeoisie gegen uns die Anklage, daß wir Kommunisten jede Moral verneinen.

Das ist eine Methode der Verwirrung der Begriffe, der Irreführung der Arbeiter und Bauern.

In welchem Sinne verneinen wir die Moral, die Sittlichkeit?

In dem Sinne, in dem sie von der Bourgeoisie gepredigt wird, die diese Sittlichkeit aus den Geboten Gottes ableitet. Hier sagen wir natürlich, daß wir nicht an Gott glauben, denn wir wissen sehr gut, daß die Geistlichkeit, die Gutsbesitzer und die Bourgeoisie im Namen Gottes redeten, um ihre Ausbeuterinteressen zu schützen. Oder anstatt diese Moral aus den sittlichen Geboten, aus den Geboten Gottes abzuleiten, leiteten sie sie von idealistischen und halbidealistischen Phrasen ab, die stets auf etwas hinausliefen, das den Geboten Gottes verdammt ähnlich sah.

Wir verneinen jede Sittlichkeit, die aus übernatürlichen, klassenlosen Begriffen abgeleitet wird. Wir erklären das für einen Betrug, für einen Schwindel, für eine Verdummung der Arbeiter und Bauern im Interesse der Gutsbesitzer und Kapitalisten.

Wir erklären, daß unsere Sittlichkeit vollkommen den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet ist.[Anmerkungen 61] Unsere Sittlichkeit leiten wir aus den Interessen des proletarischen Klassenkampfes ab.[Anmerkungen 62]

Die alte Gesellschaft beruhte auf der Unterdrückung aller Arbeiter und Bauern durch die Gutsbesitzer und Kapitalisten. Wir mußten diese Gesellschaft zerstören, mußten sie beseitigen. Dazu bedarf es aber der Organisation. Der liebe Gott ist nicht imstande, eine solche Organisation zu schaffen.

Eine solche Organisation konnten nur die Fabriken und Werke, konnte nur das geschulte, aus langem Schlaf erweckte Proletariat schaffen. Erst mit der Entstehung dieser Klasse begann die Massenbewegung, die zu dem führte, was wir jetzt sehen: zum Sieg der proletarischen Revolution in einem der schwächsten Länder, das sich seit drei Jahren gegen den Ansturm der Bourgeoisie der ganzen Welt behauptet. Wir sehen das Anwachsen der proletarischen Revolution in der ganzen Welt. Und wir können jetzt auf Grund der Erfahrung sagen, daß nur das Proletariat imstande war, eine einheitliche Bewegung, eine Kraft zu schaffen, hinter der die zersplitterte, zerstreute Bauernschaft steht, eine Kraft, die jedem Ansturm der Ausbeuter standgehalten hat. Nur diese Klasse kann den werktätigen Massen helfen, sich zu organisieren, sich zusammenzuschließen, die kommunistische Gesellschaft auf immer zu sichern und ihren Aufbau zu vollenden.

Deshalb sagen wir: für uns gibt es keine Sittlichkeit außerhalb der menschlichen Gesellschaft. Das ist Betrug. Für uns ist die Sittlichkeit den Interessen des proletarischen Klassenkampfes untergeordnet …

Fußnoten

  1. In der um die Teile IV und VIII erweiterten Auflage von 1931 haben wir auch das Vorwort der ersten Auflage (erschienen 1926) entsprechend ergänzt und eine Reihe Anmerkungen hinzugefügt.
  2. oder Kommunismus; beide Worte sind hier gleichbedeutend.
  3. Die Briefe des 19jährigen Engels an seine Jugendfreunde, die Pastorensöhne F. und W. Gräber (Marx-Engels, »Gesamtausgabe«, I. Abt., Bd. 2) zeigen sehr anschaulich, in welch starken inneren Kämpfen aus dem pietistisch erzogenen Jüngling durch die Lektüre von Schleiermacher, Strauß, Hegel und – etwas später – Feuerbach ein Pantheist, Rationalist und dann sehr bald ein streitbarer Materialist wurde. In denselben »Deutsch-Französischen Jahrbüchern«, in denen Marx' oben zitierter Satz stand, schrieb auch der 24jährige Engels (1844): »Wir wollen das, was sich als übernatürlich und übermenschlich ankündigt, aus dem Wege schaffen, und dadurch die Unwahrhaftigkeit entfernen, denn die Prätension (Anmaßung) des Menschlichen und Natürlichen, übermenschlich, übernatürlich sein zu wollen, ist die Wurzel aller Unwahrheit und Lüge. Deswegen haben wir aber auch der Religion und den religiösen Vorstellungen ein für allemal den Krieg erklärt, und kümmern uns wenig darum, ob man uns Atheisten oder sonst irgendwie nennt.« (Marx-Engels, »Ueber historischen Materialismus«, Teil I, S. 37 f.)
  4. »Der Atheismus bei ihnen hat sich schon überlebt; dies rein negative Wort hat auf sie keine Anwendung mehr, indem sie nicht mehr in einem theoretischen, sondern nur noch in einem praktischen Gegensatz zum Gottesglauben stehen: sie sind mit Gott einfach fertig, sie leben und denken in der wirklichen Welt und sind daher Materialisten«, – so schätzte Engels bereits 1874 die Mehrzahl der deutschen sozialdemokratischen Arbeiter ein (Engels, »Internationales aus dem Volksstaat«, 1871/75, S. 44). Leider erwies sich das als eine gewisse Ueberschätzung.
  5. So hieß es im Görlitzer Programm der SPD (1921): »Religion ist Privatsache, Sache innerer Überzeugung, nicht Parteisache, nicht Staatssache.«
  6. Uebrigens schrieb auch Marx in einem Brief an Engels (vom 25. September 1869): »Bei dieser Tour durch Belgien, Aufenthalt in Aachen und Fahrt den Rhein herauf habe ich mich überzeugt, daß energisch, speziell in den katholischen Gegenden, gegen die Pfaffen losgegangen werden muß. Ich werde in diesem Sinne durch die Internationale wirken« (Marx-Engels Briefwechsel, Dietzausgabe, Bd. IV, S. 194). Wir empfehlen diesen Satz dem »Roten Blatt der katholischen Sozialisten«, an dem Severing, Braun und Hermann Müller treue Mitarbeiter sind.
  7. Eine Ausgabe der Briefe Lenins an Gorki ist 1924 im Verlag für Literatur und Politik erschienen.
  8. Eine Fraktion innerhalb der bolschewistischen Partei, die sich gegen die Ausnutzung gewisser legaler Propagandamöglichkeiten (Beteiligung an der Reichsduma) gewandt hatte.
  9. Aber das Zentralorgan der SPD begrüßte am 14. Februar und 7. März 1930 frohlockend den Kreuzzug des Papstes gegen die Sowjetunion, oder – wie der »Vorwärts« sagt – »gegen die Auferstehung des Mittelalters«, »gegen das bolschewistische System einer neuen Inquisition«. Das Zentrumsorgan, die »Germania« (vom 14. März 1930), konnte denn auch freundnachbarlich seinen Dank abstatten: »Der ›Vorwärts‹-Artikel hat seinen Wert … Was da gesagt wird, kann wörtlich von uns unterstrichen werden.«
  10. Programm der Kommunistischen Internationale (Verlag Carl Hoym, 1929, S. 56). Im Abschnitt: Die allgemeinen Bewegungsgesetze des Kapitalismus und die »Epoche des Industriekapitals« kennzeichnet das Programm »die Unfähigkeit der Bourgeoisie, trotz der gewaltigen Fortschritte der Naturwissenschaften zur Synthese einer wissenschaftlichen Weltanschauung zu gelangen; das Wachsen des idealistischen, mystischen und religiösen Aberglaubens …« (S. 10.) Und in dem Einführungsabschnitt des Programms heißt es ausdrücklich: »Die Kommunistische Internationale verficht und propagiert den dialektischen Materialismus von Marx und Engels und wendet ihn als revolutionäre Methode der Erkenntnis der Wirklichkeit, zu ihrer revolutionären Umgestaltung an; sie kämpft aktiv gegen alle Spielarten der bürgerlichen Weltanschauung …« (S. 6 f.)
  11. »Religion ist das Opium des Volks.« Dieser Satz aus Marx' Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844) – siehe Marx-Engels, »Ueber historischen Materialismus«, Teil I, S. 17 (»Elementarbücher des Kommunismus«, 1930) – wurde von den Bolschewiken nach der siegreichen Revolution 1917 in Moskau an der Mauer gegenüber der berühmten Kapelle der iberischen Gottesmutter eingemeißelt.
  12. Mittelalterliche Maßnahmen zur Feststellung und Bestrafung der »Ketzerei«.
  13. Desgl. auch das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 166 und die ebenso reaktionären Bestimmungen des neuen Strafgesetzentwurfes.
  14. Aehnlich formulierte Lenin in seiner 1903 geschriebenen Flugschrift »An die Dorfarmut«: »Die Sozialdemokraten verlangen weiter, daß jeder das Recht habe, sich vollkommen frei zu einem beliebigen Glauben zu bekennen. Von allen europäischen Staaten haben nur Rußland und die Türkei noch schmachvolle Gesetze gegen Leute eines anderen, nicht orthodoxen Glaubens, gegen die Raskolniki, Sektierer, Juden. Diese Gesetze verbieten entweder einen bestimmten Glauben überhaupt oder sie verbieten, ihn zu verbreiten, und nehmen Leuten eines bestimmten Glaubens verschiedene Rechte. Alle diese Gesetze gehören zu den ungerechtesten, gewalttätigsten, schmachvollsten. Jeder muß die vollständige Freiheit haben, sich nicht nur zu jedem beliebigen Glauben zu bekennen, sondern auch jeden beliebigen Glauben zu verbreiten und den Glauben zu wechseln. Kein Beamter darf auch nur das Recht haben, irgendwen nach seinem Glauben zu fragen: das ist Sache des Gewissens, und niemand darf sich da einmischen. Es darf keinen » herrschenden« Glauben und keine » herrschende« Kirche geben. Alle Glaubensbekenntnisse, alle Kirchen müssen vor dem Gesetz gleich sein. Den Geistlichen der verschiedenen Glaubensbekenntnisse können diejenigen einen Unterhalt geben, die zu ihrem Glauben gehören, der Staat aber darf aus staatlichen Geldern keinen einzigen Glauben unterstützen, darf keinem Geistlichen, weder den orthodoxen noch denen der Raskolniki oder der Sektierer oder irgendeiner andern Kirche, den Unterhalt geben. Dafür kämpfen die Sozialdemokraten, und solange diese Maßnahmen nicht ohne Ausflüchte, ohne Hintertüren durchgeführt sind, wird das Volk sich von den schmachvollen polizeilichen Verfolgungen wegen seines Glaubens und von den nicht weniger schmachvollen Polizeialmosen für einen bestimmten Glauben nicht befreien können.« (Siehe Lenin, Sämtliche Werke, Bd. V, S. 418 f.)
  15. F. Engels, »Internationales aus dem Volksstaat (1871 bis 1875)«, Berlin 1894, S. 44: »[Es] wäre doch nichts einfacher, als dafür zu sorgen, daß die prachtvolle französische materialistische Literatur des vorigen Jahrhunderts massenhaft unter den Arbeitern verbreitet würde, jene Literatur, in der der französische Geist nach Form und Inhalt bisher sein Höchstes geleistet hat und die – den damaligen Stand der Wissenschaft berücksichtigt – dem Inhalt nach auch heute noch unendlich hoch steht und der Form nach nie wieder erreicht worden ist« (aus dem Volksstaat 1874).
  16. So verlangte auch das von Lenin und Plechanow entworfene Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (1903) nur »Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche« (vgl. Lenin, »Sämtliche Werke«, V, S. 526). Lenins Entwurf der Umarbeitung des Parteiprogramms (1917) fügte noch die Worte an: »völlige Weltlichkeit der Schule«.
  17. »Schwarze Hundert« wurden die vom »Bund des russischen Volkes« (einer im Oktober 1905 von Gutsbesitzern, Groß- und Kleinbürgern, Polizeibeamten usw. gegründeten Organisation) unter Heranziehung des Lumpenproletariats zusammengestellten Banden genannt, die die Pogrome gegen die Juden und gegen andere nationale Minderheiten sowie gegen revolutionäre Arbeiter und Intellektuelle durchführten.
  18. Ludwig Feuerbach (1804-1872) – deutscher Philosoph, erst Anhänger von Hegel, dann Materialist, führte den Beweis (im »Wesen des Christentums«), daß die Herrschaft von Religionssystemen über den menschlichen Geist zu Ende sei. Das höchste Ziel des Menschen ist in ihm selbst und im irdischen Leben enthalten. Außerhalb desselben gibt es kein anderes Leben. In seiner Gottesvorstellung schaut der Mensch nur seinen eigenen idealisierten Gattungsbegriff an und hält ihn im Glauben für wirklich. Sein materialistischer Standpunkt versperrte Feuerbach den Weg zur bürgerlich-akademischen Laufbahn.
  19. Eugen Dühring (1833-1921) – deutscher Philosoph und Nationalökonom, vertrat den Standpunkt der Klassenversöhnung und des steigenden Anteils der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Wohlstand. In seinem Werk »Anti-Dühring« unterzog Engels die Lehren D.s einer vernichtenden Kritik.
  20. Blanquisten – Anhänger des französischen Revolutionärs und Sozialisten Blanqui; sie glaubten den Umsturz der Gesellschaft nicht durch bewußtes organisiertes Vorgehen der werktätigen Massen selbst, sondern durch Aufstände geheimer, eng begrenzter Verschwörerorganisationen herbeiführen zu können.
  21. Das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie wurde 1891 auf dem Erfurter Parteitag an Stelle des veralteten Gothaer Programms angenommen und diente als Vorbild für die Programme vieler ausländischer sozialdemokratischer Parteien, darunter auch für die russische. Wie die Nachkriegs-SPD den Satz »Erklärung der Religion zur Privatsache« auslegt, ermesse man an folgendem Tiefsinn Sollmanns (im August-Heft 1927 der »Gesellschaft«, S. 128): »Der tiefere Grund und Sinn des berühmten Satzes von der Religion als Privatsache ist, daß der Marxismus mit den verschiedensten Weltanschauungen vereinbar ist.« (!)
  22. Engels im 1891 erschienenen Vorwort zu Marx, »Der Bürgerkrieg in Frankreich«: »Reformen, die die republikanische Bourgeoisie nur aus Feigheit unterlassen hatte, die aber für die Aktion der Arbeiterklasse eine notwendige Grundlage bildeten, wie die Durchführung des Satzes, daß dem Staat gegenüber die Religion bloße Privatsache sei.«
  23. Enzyklopädisten nennt man die Mitarbeiter an der berühmten französischen Enzyklopädie (Sachwörterbuch der Wissenschaften), einem Werk, das das gesamte wissenschaftliche Material in materialistischem Geiste zusammenfaßte und 1751-72 unter der Redaktion von Diderot und d'Alembert erschien.
  24. Ein von Feuerbach in der 4. Vorlesung seines »Wesen der Religion« zitierter Vers eines römischen Dichters.
  25. So betonte Lenin in einem Artikel des »Sozialdemokrat« zur Zeit des Weltkrieges (am 26. Juli 1915): »Der Krieg muß in den Massen unbedingt die stürmischsten Gefühle hervorrufen, die den üblichen Zustand der Psychologie des Schlafes durchbrechen … Welches sind die Hauptströme dieser stürmischen Gefühle? 1. Schrecken und Verzweiflung. Daher – Stärkung der Religion. Die Kirchen beginnen sich von neuem zu füllen – frohlocken die Reaktionäre. ›Wo Leiden sind, da ist Religion‹, sagt der Erzreaktionär Barrès. Und er hat Recht« (siehe Lenin, Sämtliche Werke, Bd. XVIII, S. 226).
  26. Narodniki – aus dem russischen Wort »Narod« (Volk) abgeleitet, »Volkstümler«; ursprünglich die russischen revolutionären Intellektuellen, die Anfang der siebziger Jahre d. v. Jahrhunderts »ins Volk gingen«, um dort die revolutionären Ideen zu verbreiten; später allgemein die Anhänger der auf diesem Boden entstandenen antimarxistischen kleinbürgerlich-revolutionären Ideologie, des sogenannten »Narodnitschestwo«, die sogenannten Sozialrevolutionäre, Volkssozialisten und andere Gruppen und Grüppchen dieses Schlages gehören dieser Richtung an. Die Richtung artete zur offenen Konterrevolution aus.
  27. »Wjechi« (»Merkpfähle«) – ein Sammelbuch, 1909 von bürgerlichen Intellektuellen herausgegeben, die in Mystik und philosophischen Idealismus verfallen waren und ihren Revolutionarismus während der Revolution 1905 bereuten. Mitarbeiter waren auch die ehemaligen Marxisten Struve, Bulgakow u. a.
  28. Most (1846-1900) – bekannter deutscher Sozialdemokrat in den siebziger Jahren; Mitglied des Reichstages. Während des Sozialistengesetzes entwickelte sich Most zum Anarchisten, wanderte nach England, später nach Amerika aus und propagierte die wildesten Kampfmethoden: terroristische Akte, Expropriationen usw.
  29. nec plus ultra – Höchstmaß; nicht mehr weiter, es ist erreicht!
  30. Reichsduma – die höchste gesetzgebende Institution im zaristischen Rußland, ein Ergebnis der Revolution von 1905. Die erste (1906) wie die zweite Reichsduma (1907) gerieten in Konflikt mit der Regierung und wurden aufgelöst. Am 3. Juni 1907 erließ Minister Stolypin (siehe auch Teil VI, Anm. 4) gleichzeitig mit dem Auseinanderjagen der zweiten Reichsduma, unter Verletzung der Verfassung, ein Edikt, in dem das für die Arbeiter und Bauern ohnehin schon stark beschränkte Wahlrecht noch mehr zugunsten der Großgrundbesitzer und der Großbourgeoisie geändert wurde (so wurde u. a. das ständische Kurienwahlsystem eingeführt). Die dritte, die sog. »Dritte-Juni-Duma«, in der auf diese Weise eine monarchistische Mehrheit zustande gekommen war, existierte die gesetzliche Zeit. Die 4. Duma wurde von der Revolution 1917 liquidiert.
  31. Heiliger Synod hieß die an der Spitze der russischen Kirche stehende Reichsbehörde. Ihre Mitglieder wurden vom Zaren ernannt, der selbst durch den Oberprokuror vertreten war, eine Person weltlichen Standes mit den Rechten und der Stellung eines Ministers.
  32. Die Altgläubigen (auch Raskolniki genannt) spalteten sich im 17. Jahrhundert von der orthodoxen Staatskirche ab. Sie hielten sich an die alten Bücher und Gebräuche, verwarfen aber zugleich auch die politische Zentralisation, ja oft sogar die Gewalt des Zaren selbst, die Bürokratie, die Rekrutenaushebungen u. a. An den Aufständen von Rasin und Pugatschew waren sie stark beteiligt. Sie hatten daher heftige Verfolgungen von Regierung und Kirche zu erdulden.
  33. Die Konstitutionell-Demokratische Partei, nach den Anfangsbuchstaben abgekürzt »Kadetten«, auch Partei der Volksfreiheit genannt, entstand im Oktober 1905. Die Hauptpunkte ihres Programms waren: Parlamentarische Monarchie, Ablösung eines Teiles des Grundherrenbesitzes zu einem »gerechten« Preise, Hebung der Lage der Arbeiter, Zulassung des Achtstundentages dort, wo es möglich ist. Ihre Taktik war die dem Opportunismus der Liberalen eigentümliche: den Massen gegenüber wohlklingende oppositionelle Phrasen, besonders in Zeiten revolutionären Aufschwunges, in Wirklichkeit beständiges Streben zur Verständigung mit der alten Macht. Während des Weltkrieges unterstützten die Kadetten die Eroberungspolitik des Zarismus. Unter dem Druck der Massen erklärten sich die Kadetten nach der Februarrevolution 1917 für die Republik. Sie wurden zur Regierungspartei und sammelten rasch alle konterrevolutionären Elemente um sich. Sie unterstützten den General Kornilow bei seinem konterrevolutionären Marsch auf Petrograd sowie den ganzen Kampf der russischen und internationalen Bourgeoisie gegen die Oktoberrevolution. In der Emigration spaltete sich die Partei: die Linken mit Miljukow an der Spitze in Paris blieben republikanisch und treten für einen Block mit den rechten Sozialrevolutionären ein, die Rechten, die sich um die in Berlin erscheinende Zeitung »Rul« gruppieren, kehrten zurück zum alten konstitutionell monarchistischen Programm und sind für eine Koalition mit den Monarchisten.
  34. Aneignung des Kirchengutes durch den weltlichen Staat.
  35. Oktobristen – Mitglieder des Verbandes des 17. Oktober, der Partei der reaktionären Großbourgeoisie und der rechten Kreise der Semstwoleute. Der gemäßigt-konstitutionelle Verband nahm von seiner Entstehung (1905) an sofort eine konterrevolutionäre Stellung ein, verteidigte den weißen Terror und die Feldgerichte. Weder in der ersten noch in der zweiten Duma spielte der Verband eine Rolle. Erst in der 3. Duma, die auf Grund eines stark gestutzten Wahlrechtes gewählt war, fingen die Oktobristen an, die Rolle einer Regierungspartei zu spielen, wurden aber sehr bald von der anwachsenden Reaktion für zu links befunden. Während des imperialistischen Krieges vertraten sie den Standpunkt des »Krieges bis zum siegreichen Ende« mit Annexionen und Kontributionen. Die Revolution 1917 drängte die Oktobristen sofort ins Lager der Konterrevolution.
  36. 22. (9.) Januar 1905 – der »blutige Sonntag« in Petersburg, an dem der Zar auf eine friedliche Arbeiterdemonstration (unter Führung des Popen Gapon) schießen ließ. Es gab mehrere 1000 Tote und Verwundete.
  37. Am 30. ( 17.) Oktober 1905 erließ die Zarenregierung ein Manifest, in dem die Schaffung der Reichsduma und die Sicherung der bürgerlichen Freiheiten versprochen wurde. Das Manifest war ein Ergebnis der breit angewachsenen revolutionären Bewegung.
  38. »Golos Moskwy« (»Die Stimme Moskaus«) – Tageszeitung der Oktobristen, die 1906-1915 erschien und die Politik der Zarenregierung unterstützte.
  39. Narodnaja Wolja (Volkswille) – die Partei der russischen revolutionären Narodniki, entstanden 1879. Die Narodnaja Wolja entwickelte ihre Propagandatätigkeit hauptsächlich unter der studierenden Jugend, dem Militär, aber auch unter der Arbeiterschaft. Sie blieb aber im wesentlichen eine streng konspirative Verschwörerorganisation. Sie baute ihre Kampftaktik gegen die Selbstherrschaft auf dem Terror auf. Diese Taktik war für die Narodnaja Wolja unvermeidlich, da dieser Kampf ein heldenhafter Zweikampf einer kleinen Gruppe von Revolutionären ohne Unterstützung der Massen gegen die gesamte Macht des russischen Absolutismus war. Auf Beschluß des Exekutivkomitees der Narodnaja Wolja wurde der Zar Alexander II. umgebracht. Gleich darauf wandte sich das Exekutivkomitee mit einem Brief an Alexander III., in dem Amnestie, demokratische Freiheiten und die Einberufung einer konstituierenden Versammlung gefordert wurden. Mitte der achtziger Jahre wurde die Narodnaja Wolja von der Zarenregierung zertrümmert.
  40. »Rjetsch« – Zentralorgan der Kadettenpartei bis zur Oktoberrevolution.
  41. Peter Struve – in den neunziger Jahren Sozialdemokrat, nahm teil an der Ausarbeitung des Manifestes des 1. Parteitages der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Im Anfange des 20. Jahrhunderts bricht St. mit dem Marxismus und geht in das liberale Lager über. Bei Entstehung der Kadettenpartei wird er Mitglied ihres Zentralkomitees. Nach der Niederlage der Revolution von 1905 wird er Führer des äußersten rechten Flügels der Liberalen und landet schließlich beim ultra-reaktionären Nationalismus. Während des Bürgerkrieges nahm er an der weißgardistischen Regierung des Generals Denikin teil und war nachher Minister bei dem Nachfolger Denikins, Wrangel.
  42. Miljukow – Führer der russischen liberalen Bourgeoisie, Professor, Historiker, der im Gegensatz zu den Marxisten die Besonderheit des russischen historischen Entwicklungsprozesses vertrat. In der Revolution von 1905 war er Führer der revolutionären Bewegung, Organisator und Führer der Kadettenpartei. In der 3. und 4. Reichsduma führte er die liberal-opportunistische Opposition. Während des Weltkrieges war er leidenschaftlicher Anhänger des »Krieges bis zum siegreichen Ende« und trat für die Annexion der Dardanellen, des Bosporus, Galiziens, Ostpreußens und Armeniens ein. Nach dem Sturze des Zarismus 1917 wurde er Minister des Aeußeren in der Provisorischen Regierung, in welcher Stellung er seine Eroberungspolitik fortsetzte. Die Empörung des revolutionären Proletariats zwang ihn im April 1917 zur Demission. Während des Bürgerkrieges war er Inspirator konterrevolutionärer Aktionen gegen Sowjetrußland. Gegenwärtig ist er in Paris Führer der »demokratischen Gruppe« der Kadettenpartei.
  43. Trudowiki (Gruppe der »Werktätigen«) – eine ihrem Programm wie ihrer Zusammensetzung nach verschwommene Gruppe in der Reichsduma. Die Trudowiki drückten die Stimmung des radikalen Kleinbürgertums, in erster Linie der mittleren Bauernschaft, aus. Zu Beginn ihrer Tätigkeit in der Reichsduma gingen die Trudowiki im Schlepptau der Kadetten, später traten sie jedoch in Opposition zur opportunistischen Taktik der Kadetten und gingen des öfteren zusammen mit der sozialdemokratischen Fraktion. Während des Weltkrieges waren sie »Vaterlandsverteidiger«. Der Wortführer der Fraktion der Trudowiki war der Sozialrevolutionär Kerenski, der nach der Februarrevolution in der Rolle des Ministerpräsidenten und Oberbefehlshabers sich vergeblich bemühte, die untergehende bürgerliche Gesellschaftsordnung zu retten.
  44. Artikel des zarentreuen »Moskowskije Wjedomosti« (»Moskauer Nachrichten«) vom 18. Dezember 1901, dem die folgenden drei Zitate entnommen sind.
  45. Titelheld eines Romans von Gontscharow, Typus eines Gutsbesitzers, der sein Leben im Träumen von allerhand schönen Dingen verbringt, aber nie die Energie aufbringt, sie zu verwirklichen.
  46. »Pod snamenjem marksisma« (»Unter dem Banner des Marxismus«) – eine in Rußland erscheinende philosophische und politisch-ökonomische Zeitschrift, erscheint seit 1925 auch deutsch im Verlag für Literatur und Politik, Wien-Berlin.
  47. A. Timirjasew – Professor an der Moskauer Universität, ein Gelehrter von internationalem Ruf, stellte sich sofort nach der Oktoberrevolution der Sowjetmacht zur Verfügung.
  48. Einstein, Relativitätstheorie: »Die Relativitätstheorie geht von der Tatsache aus, daß es nichts gibt, was nachweislich absolut ruht. Sie stellt deswegen das Prinzip auf, daß die Naturgesetze, d. h. die Beziehungen zwischen Raum, Zeit und Materie, unabhängig vom Bewegungszustand des Körpers, auf dem sie gelten, sein müssen. Die Folgerung daraus ist, daß der Raum und die Zeit erst durch die Materie und deren Bewegung bestimmt sein muß (damit die Beziehung zwischen ihnen sich gleich bleibt).«
  49. Hegel (1770-1831) – deutscher Philosoph, bedeutendster Vertreter einer idealistischen Entwicklungslehre. »Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen ›Idee‹ in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg (Schöpfer) des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle« ( Marx im Nachwort zum 1. Band des »Kapital«. Vgl. Marx-Engels »Ueber historischen Materialismus«, Bd. II, S. 95).
  50. Saltykow-Schtschedrin – bekannter russischer Satiriker.
  51. Tolstoi, am 9. Sept. 1828 geboren, starb am 7. Nov. 1910.
  52. Aus einem Gedicht Nekrassows (1822-1877).
  53. »Reform« ist hier die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland 1861.
  54. Stolypin – Premierminister in der Epoche der Reaktion nach 1905. Seine Politik wird durch seine Worte charakterisiert: »Zunächst Beruhigung, dann Reformen«. Die »Beruhigung« suchte er durch Zertrümmerung der Gewerkschaften, Aufhebung der politischen Freiheiten, Erdrosselung der Arbeiterpresse usw. zu erreichen. Seine Reform bestand darin, die wohlhabenden Bauern von der Dorfgemeinde loszulösen, sie in Einzelgehöften anzusiedeln und dadurch lebensfähige Farmerwirtschaften zu schaffen, die eine Stütze des Zarismus auf dem Lande sein sollten. Seine Politik wurde vom rechten Flügel der Bourgeoisie unterstützt.
  55. Gemeint ist die »Nowaja Rabotschaja Gazeta« (»Neue Arbeiter-Zeitung«).
  56. Nekrophilie – Leichenbegattung.
  57. »Beichte« – ein Buch von Gorki.
  58. A. Isgojew – Mitte der neunziger Jahre Mitarbeiter von marxistischen Zeitschriften. Später wurde er einer der konservativsten Publizisten der Kadettenpartei, Mitarbeiter des Sammelbuches »Wjechi« und ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift »Ruskaja Mysl« in jener Zeit, als dieses Organ unter Leitung Struves zum ausgesprochensten Organ der ideologischen Konterrevolution und des bösartigsten Kampfes gegen die revolutionäre Bewegung wurde.
  59. Bogdanow – alter russischer Sozialdemokrat. Betätigte sich als Schriftsteller besonders auf philosophischem Gebiete, wobei er ein »eigenes« philosophisches System (den »Empiriomonismus«) zu begründen suchte, eine Abart des Empiriokritizismus, d. h. er ist ein Anhänger der idealistischen Richtung von Mach und Avenarius (ausführlich darüber siehe »Materialismus und Empiriokritizismus« von Lenin, siehe »Sämtliche Werke«, Bd. XIII).
  60. Aus der Rede, gehalten am 2. Oktober 1920 auf dem 3. Allrussischen Kongreß des Kommunistischen Jugendverbandes Rußlands (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXV, S. 483 f.). Von dieser höchst bedeutsamen Rede ist auch eine billige Einzelausgabe im Verlag der Jugendinternationale erschienen.
  61. In diesem Sinne betonte Lenin z. B. in seiner Schrift »Der ›Radikalismus‹ die Kinderkrankheit des Kommunismus«, verfaßt 1920 (siehe »Elementarbücher des Kommunismus«, Bd. 9, 3. Aufl., 1930, S. 42): »Man muß zu all und jedem Opfer entschlossen sein und sogar – wenn es sein muß – zu allen möglichen Listen, Kniffen, illegalen Methoden, zur Verschweigung, Verheimlichung der Wahrheit bereit sein, um nur in die Gewerkschaften einzudringen, in ihnen zu bleiben und dort um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten«.
  62. In einem Gespräch mit Clara Zetkin (ebenfalls aus dem Herbst 1920) wandte sich Lenin gegen die einseitige und unwissenschaftliche Behandlung der Sexualmoral, »kurz gegen die Theorien jener spezifischen Literatur, die auf den Mistbeeten der bürgerlichen Gesellschaft üppig emporwächst«. »Dieser vermummte Respekt vor der bürgerlichen Moral ist mir ebenso zuwider wie das Herumwühlen im Sexuellen. Es mag sich noch so wild und revolutionär gebärden, es ist doch zuletzt ganz bürgerlich.« (Clara Zetkin, »Erinnerungen an Lenin«, S. 57.)
  1. Engels, »L. Feuerbach« (»Marxist. Bibl., Bd. 3, S. 50).
  2. Vgl. Engels, »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, S. 23 ff. (»Elementarbücher des Kommunismus«, Bd. 7).
  3. Marx-Engels, »Ueber historischen Materialismus«, Teil I, S. 16.
  4. Siehe Marx-Engels, »Programmkritiken« (Elementarbücher des Kommunismus«, Bd. 12, 1930, S. 41). Dort auch S. 68 die Engelsche Kritik am Erfurter Programmentwurf.
  5. Vgl. »Unter dem Banner des Marxismus«, Jahrgang I, Nr. 1, S. 64 ff.
  6. Verlag für Literatur und Politik, Wien-Berlin (1927). Wir verweisen auch noch auf die kurz gedrängte Darstellung des philosophischen Marxismus durch Lenin. (Lenin, »Karl Marx«, Kleine Lenin-Bibliothek, Bd. 1, 1931, S. 10 ff., 57 f.)
  7. Deutsche Ausgabe »Unter dem Banner des Marxismus« Nr. 1, S. 1 ff. (Verlag für Literatur und Politik, Wien-Berlin 1925).
  8. Vgl. Lenin-Plechanow, »L. N. Tolstoi im Spiegel des Marxismus«. Eine Sammlung von Aufsätzen (»Marxistische Bibliothek«, Bd. 18, 1928).