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Erinnerungen an Lenin  (Clara Zetkin)

Aus ProleWiki


Erinnerungen an Lenin
Autor*inClara Zetkin
VerlagDietz Verlag Berlin
Veröffentlicht1957
Quellehttps://www.projekt-gutenberg.org/zetkin/lenin/titlepage.html


Aus dem Briefwechsel Clara Zetkins mit W. I. Lenin und N. K. Krupskaja.

Vorbemerkung

Clara Zetkin sah im Sowjetvolk stets den Vorposten im Kampf des internationalen Proletariats für Frieden und Sozialismus. Sie war erfüllt von großer Bewunderung für die Erfolge der sowjetischen Arbeiter und Bauern. In der ruhmreichen Kommunistischen Partei der Sowjetunion sah Clara Zetkin stets das Vorbild und die Führerin des Weltproletariats. Mit dem genialen Schöpfer des ersten sozialistischen Staates, dem Führer der Sowjetvölker, Wladimir Iljitsch Lenin, verband sie eine herzliche Freundschaft.

Die vorliegende Arbeit »Erinnerungen an Lenin« enthält Gespräche, die Clara Zetkin mit Lenin führte und die sie aus dem tiefen Nachhall dieses großen Erlebnisses niederschrieb. Sie geben – ohne Lenins Ausführungen wörtlich zu wiederholen – einen starken Eindruck von Lenins Schlichtheit und Größe. Kürzungen wurden durch Punkte gekennzeichnet.

Der erste Teil der Arbeit wurde 1924 vom Verlag für Literatur und Politik, Wien – Berlin und der zweite Teil 1926 in der Broschüre »Lenin ruft die werktätigen Frauen« erstmalig veröffentlicht. Die vorliegende Neuauflage wurde nach der im Jahre 1929 im Verlag für Literatur und Politik, Wien – Berlin erschienenen vollständigen Ausgabe vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands besorgt.

Der erste Teil dieser Neuauflage wurde nach dem Originalmanuskript Clara Zetkins überarbeitet. Die Fotokopie des Manuskriptes und weiteres wertvolles Brief- und Fotomaterial aus dem Nachlaß Clara Zetkins wurden unserem Institut vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der KPdSU übergeben. Die in einem Anhang erstmalig veröffentlichten Briefe aus diesem Nachlaß entnahmen wir dem Briefwechsel Clara Zetkins mit W. I. Lenin und N. K. Krupskaja.

Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands

Clara Zetkin mit N. K. Krupskaja

I

In diesen schweren Stunden, wo jeder von uns mit dem tiefsten persönlichen Schmerz erdrückend empfindet, daß ein Unersetzlicher von uns gegangen, steigt leuchtend, lebensfrisch die Erinnerung an einzelnes empor, das blitzartig in dem großen Führer den großen Menschen zeigt. Das harmonische Zusammenklingen der Größe des Führers und des Menschen prägte Lenins Gestalt und hat ihn für immer eingeschreint in dem großen Herzen des Weltproletariats, wie dies Marx als ruhmvolles Los der Kommunekämpfer pries. Denn die Werktätigen, die dem Reichtum Geopferten, die wie des Dichters Seume Kanadier »Europens übertünchte Höflichkeit« nicht kennen – lies: die konventionellen Lügen und Heucheleien der bürgerlicheIhr Lenin n Welt –, unterscheiden mit feinem, instinktivem Empfinden zwischen Echtem und Unechtem, zwischen schlichter Größe und protziger Aufgeblasenheit, zwischen ihnen zugewendeter, aufopferungsvoller, tatgebärender Liebe und dem Haschen nach einer Popularität, in dem sich hohle Eitelkeit spiegelt.

Es widerstrebt mir, Persönliches in die Öffentlichkeit zu tragen. Es deucht mich jedoch Pflicht, einiges aus dem Schatz meiner persönlichen Erinnerungen an den unvergeßlichen Führer und Freund mitzuteilen. Pflicht gegen ihn, der uns durch Theorie und Tat gelehrt hat, daß der revolutionäre Wille das geschichtlich Nötige und Vorbereitete bewußt zu formen vermag. Pflicht gegen die, denen seine Liebe und sein Handeln galt: die Proletarier, die Schaffenden, Ausgebeuteten, Unfreien der ganzen Welt, die sein mitfühlendes Herz als Leidende umfaßte und die sein stolzer Gedanke als revolutionäre Kämpfer, als Erbauer einer höheren Gesellschaftsordnung wertete.


Es war im Frühherbst 1920, als ich Lenin zum ersten Male wiedersah, seit die russische Revolution begonnen hatte, »die Welt zu erschüttern«. Unmittelbar nach meiner Ankunft in Moskau, bei einer Parteitagung im Swerdlow-Saal des Kreml, wenn ich mich recht erinnere. Lenin erschien mir unverändert, kaum gealtert. Ich hätte Eide schwören mögen, daß er den gleichen bescheidenen, sauber gebürsteten Rock trug, in dem ich ihn 1907 bei dem Weltkongreß der II. Internationale zu Stuttgart zum ersten Male gesehen hatte. Rosa Luxemburg, der das Auge eines Künstlers für das Charakteristische eignete, zeigte mir Lenin mit der Bemerkung: »Schau den da gut an! Das ist Lenin. Sieh den eigenwilligen, hartnäckigen Schädel! Ein echt russischer Bauernschädel mit einigen leicht asiatischen Linien. Dieser Schädel hat die Absicht, Mauern umzustoßen. Vielleicht, daß er daran zerschmettert. Nachgeben wird er nie.«

In Haltung und Auftreten war Lenin ebenfalls ganz der alte. Die Debatten wurden ab und zu sehr lebhaft, ja stürmisch. Wie früher auf den Kongressen der II. Internationale zeichnete sich Lenin dabei durch aufmerksames Beobachten und Verfolgen der Verhandlungen aus, durch die große, selbstsichere Ruhe, die zusammengeballte innere Anteilnahme, Energie und Elastizität war. Das bewiesen seine gelegentlichen Zwischenrufe und Bemerkungen, seine längeren Ausführungen, wenn er das Wort ergriff. Seinem scharfen Blick, seinem klaren Geist schien nichts Bemerkenswertes zu entgehen. Als hervorragendsten Wesenszug Lenins empfand ich während der Sitzung – wie stets später – die Schlichtheit und Herzlichkeit, die Selbstverständlichkeit seines Verkehrs mit allen Genossen. Ich sage Selbstverständlichkeit, denn ich hatte den starken Eindruck: Dieser Mann kann sich nicht anders geben, als er sich gibt. Es ist natürlicher Ausdruck inneren Wesens, wie er sich zu den Genossen verhält.

Lenin hatte die unbestrittene Führung in einer Partei, die zielsetzend und wegweisend den russischen Proletariern und Bauern im Kampf um die Macht vorangeschritten war und die nun, von ihrem Vertrauen getragen, regierte, die Diktatur des Proletariats ausübte. Soweit ein einzelner das sein kann, war Lenin der Schöpfer und Leiter des großen Reiches, das zum ersten Arbeiter- und Bauernstaat der Welt umgewälzt ward. Seine Gedanken, sein Wille lebten in Millionen, auch außerhalb Sowjetrußlands. Seine Auffassung war hier für jede wichtige Entscheidung maßgebend, sein Name ein Symbol der Hoffnung und Befreiung, wo immer es Ausgebeutete und Unterdrückte gibt. »Genosse Lenin führt uns zum Kommunismus, wir halten durch, wie schwer es auch sei«, erklärten die russischen Arbeiter, die, ein ideales Reich höchster Menschlichkeit vor der Seele, hungernd, frierend an die Fronten eilten oder sich unter unsäglichen Schwierigkeiten um die Wiederaufrichtung der Industrie mühten. »Was brauchen wir zu fürchten, daß die Herren wiederkommen und uns die Äcker wegnehmen? Iljitsch und die Bolschewiki mit den Rotarmisten werden uns erretten.« So meinten die landgesättigten Bauern. »Eviva Lenin!« stand auf der Mauer mehr als einer Kirche in Italien, der Ausdruck enthusiastischer Bewunderung irgendeines Proletariers, der in der russischen Revolution die Bahnbrecherin seiner Befreiung grüßte. Unter Lenins Namen sammelten sich in Amerika wie in Japan und Indien Rebellen wider die versklavende Macht der Besitzer.

Wie einfach, wie bescheiden trat Lenin auf, der schon auf ein historisches Riesenwerk zurückblicken konnte und auf dem eine erdrückende Last gläubigen Vertrauens, schwerster Verantwortlichkeit und nie endender Arbeit lag! Er tauchte ganz in der Masse der Genossen unter, war eins mit ihr, war einer von vielen. Mit keiner Geste, keiner Miene wollte er als »Persönlichkeit« wirken. Solches Gehabe war ihm fremd, denn er war wirklich eine Persönlichkeit. Unaufhörlich brachten Kuriere Mitteilungen von den verschiedenen Kanzleien, von Zivil- und Militärorganen. Mitteilungen, die oft durch ein paar rasch hingeworfene Zeilen beantwortet wurden. Lenin hatte für jeden ein freundliches Lächeln oder Zunicken, dessen Widerschein stets ein freudestrahlendes Gesicht war. Während der Verhandlungen fanden ab und zu unauffällige Verständigungen mit führenden Genossen statt. Während der Pausen ein wahrer Ansturm auf Lenin. Genossen und Genossinnen aus Moskau, Petrograd, aus den verschiedensten Zentren der Bewegung und Jugendliche, viele Jugendliche umdrängten ihn. »Wladimir Iljitsch, bitte ...« »Genosse Lenin, Sie dürfen nicht abschlagen ...« »Wir wissen wohl, Iljitsch, daß Sie ... aber ...« So und so ähnlich schwirrten Bitten, Anfragen, Vorschläge durcheinander.

Lenin war im Anhören und Antworten von unerschöpflicher, rührender Geduld. Er hatte ein offenes Ohr und einen guten Rat für jede Parteisorge wie für persönliche Schmerzen. Herzerquickend war die Art und Weise, wie er mit der Jugend verkehrte – kameradschaftlich, frei von jeder pedantischen Schulmeisterei, von jedem Dünkel, daß das Alter allein schon eine unübertreffliche Tugend sei. Lenin bewegte sich als gleicher unter gleichen, mit denen er durch alle Fasern seines Herzens verbunden war. Er hatte nicht die Spur eines »Herrenmenschen« an sich, seine Autorität in der Partei war die eines idealen Vaters, dessen Überlegenheit man sich in dem Bewußtsein fügt, daß er versteht und verstanden sein will. Nicht ohne Bitterkeit kam mir in der Atmosphäre um Lenin die Erinnerung an die steifleinene Grandezza der »Parteiväter« der deutschen Sozialdemokratie. Und erst recht an das geschmacklose Parvenütum, mit dem der Sozialdemokrat Ebert als »Herr Reichspräsident« der Bourgeoisie abzugucken beflissen ist, »wie sie sich räuspert und wie sie spuckt«, ein Parvenütum, das jeden Stolz auf die historische Bedeutung des Proletariats und jegliche menschliche Würde vergessen läßt. Freilich: Diese Herren waren nie so »töricht und vermessen« wie Lenin, »eine Revolution machen zu wollen«. Und unter ihrer Hut kann die Bourgeoisie in des weiland »römischen Reiches Kinderstube« einstweilen noch sicherer schnarchen als zu Heinrich Heines Zeit unter 34 Monarchen. Bis die Revolution endlich auch hier aus den Fluten des geschichtlich Vorbereiteten und Notwendigen emportaucht und dieser Gesellschaft zudonnert: »Quos ego!«


Mein erster Besuch bei der Familie Lenins vertiefte den Eindruck, den ich auf der Parteikonferenz empfangen hatte und der seither bei mehreren Besprechungen verstärkt worden war. Gewiß, Lenin wohnte im Kreml, der früheren Zarenburg, und man mußte an mancher Wache vorüber, ehe man zu ihm gelangte – eine Maßregel, die durch die damals noch nicht aufgegebenen konterrevolutionären Attentatspläne gegen die Führer der Revolution gerechtfertigt war. Lenin empfing auch, wenn es sein mußte, in prächtigen, goldstrotzenden Staatsgemächern. Jedoch seine Privatwohnung war von äußerster Einfachheit und Anspruchslosigkeit. Ich bin in mehr als einer Arbeiterwohnung gewesen, die weit reicher ausgestattet war als das Heim des »allmächtigen moskowitischen Diktators«. Ich fand Frau und Schwester Lenins beim Abendbrot, das zu teilen ich sofort herzlichst eingeladen wurde. Es war einfach, wie das die Schwere der Zeit forderte: Tee, Schwarzbrot, Butter, Käse. Später mußte die Schwester »dem Gast zu Ehren« nachsehen, ob nicht etwas »Süßes« da sei, und sie entdeckte glücklich ein kleines Gläschen mit eingemachten Beeren. Es war bekannt, daß die Bauern »ihren Iljitsch« mit reichlichen Sendungen von weißem Mehl, Speck, Eiern, Obst usw. bedachten, aber man wußte auch, daß nichts davon in Lenins Haushaltung blieb. Alles wanderte in die Krankenhäuser und Kinderheime; die Familie Lenins hielt streng den Grundsatz fest, nicht besser zu leben als die anderen, das heißt die schaffenden Massen.

Genossin Krupskaja, Lenins Frau, hatte ich seit der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz zu Bern im März 1915 nicht gesehen. Ihr liebes Gesicht mit den warmen, gütigen Augen trug unverwischbare Zeichen der tückischen Krankheit, die an ihr zehrt. Aber davon abgesehen, war auch sie die gleiche geblieben, die Verkörperung der Aufrichtigkeit, der Bescheidenheit des Wesens und einer geradezu puritanischen Schlichtheit. Mit ihrem glatt zurückgekämmten Haar, am Hinterkopf in einen kunstlosen Knoten aufgesteckt, in ihrem schmucklosen Kleid konnte man sie für eine abgehetzte Arbeiterfrau halten, deren ewige Sorge ist, Zeit zu sparen, Zeit zu gewinnen. Die »erste Frau des großen russischen Reiches« – nach bürgerlicher Auffassung und Terminologie – ist unstreitig die erste an opferfreudiger Selbstvergessenheit, an Hingebung für die Sache der Mühseligen und Beladenen. Die innigste Gemeinschaft des Lebensweges und Lebenswerkes vereinigte sie mit Lenin. Unmöglich von ihm zu sprechen, ohne ihrer zu gedenken. Sie war »Lenins rechte Hand«, sein oberster und bester Sekretär, seine überzeugteste Ideengenossin, die kundigste Deuterin und Vermittlerin seiner Ansichten, ebenso unermüdlich darin, dem genialen Meister tatkräftig und mit Klugheit Freunde und Anhänger zu werben, als in seinem Sinne propagandistisch unter der Arbeiterschaft zu wirken. Daneben hatte sie ihren eigenen, persönlichen Tätigkeitskreis, dem sie sich mit ganzer Seele widmete: das Volksbildungs- und Erziehungswesen.

Die Vermutung wäre lächerlich, wäre beleidigend gewesen, daß Genossin Krupskaja im Kreml als »Lenins Frau« repräsentierte. Sie arbeitete und sorgte mit ihm, für ihn, wie sie das ein Leben lang getan hatte, auch wenn die Illegalität und die härtesten Verfolgungen sie trennten. Eine tief mütterliche Natur, machte Genossin Krupskaja – von Lenins Schwester Maria Iljinitschna dabei liebevoll unterstützt – die Wohnung zu einem »Heim« im edelsten Sinne des Wortes. Sicherlich nicht in der Bedeutung deutscher Spießbürgerlichkeit, wohl aber durch die geistige Atmosphäre, die es erfüllte und die der Ausfluß der Beziehungen war, die die hier lebenden und webenden Menschen miteinander verband. Man empfand es, in diesen Beziehungen war alles auf das Echte, auf Wahrhaftigkeit, Verstehen und Herzlichkeit gestimmt. Obgleich ich Genossin Krupskaja bis dahin nur wenig persönlich gekannt hatte, fühlte ich mich doch sofort in ihrem »Reich« und unter ihrer freundschaftlichen Fürsorge wie zu Hause. Als Lenin kam und etwas später, von der Familie aufs freudigste begrüßt, eine große Katze erschien, die dem »Schreckensführer« auf die Schulter sprang und es sich dann auf seinem Schoß bequem machte, hätte ich wirklich wähnen können, daheim zu sein oder bei Rosa Luxemburg und ihrer für die Freunde geschichtlich gewordenen Katze »Mimi«.

Lenin fand uns drei Frauen im Gespräch über Kunst, Bildungs- und Erziehungsfragen. Ich äußerte gerade meine enthusiastische Bewunderung für die einzig dastehende, titanenhafte Kulturarbeit der Bolschewiki, für das Regen und Bewegen schöpferischer Kräfte, die der Kunst und Erziehung neue Bahnen öffnen wollten. Dabei verhehlte ich nicht den empfangenen Eindruck, daß sich reichlich viel unsicheres, unklares Tasten und Experimentieren zeige und zusammen mit dem leidenschaftlichen Ringen nach neuem Inhalt, neuen Formen, neuen Wegen des Kulturlebens auch manche künstlerische, kulturelle »Modefatzkerei« nach westlichem Muster. Lenin griff sofort sehr lebhaft in das Gespräch ein.

»Das Erwachen, die Betätigung von Kräften, die Sowjetrußland eine neue Kunst und Kultur schaffen wollen«, sagte er, »ist gut, ganz gut. Das stürmische Tempo dieser Entwicklung ist begreiflich und nützlich. Wir müssen und wollen nachholen, was in Jahrhunderten versäumt worden ist. Die chaotische Gärung, das fieberhafte Suchen nach neuen Lösungen und Losungen, das ›Hosianna‹ für bestimmte Kunst- und Geistesrichtungen heute, das ›Kreuziget sie‹ morgen: all das ist unvermeidlich.

Die Revolution entfesselt alle zurückgehaltenen Kräfte und treibt sie aus der Tiefe an die Oberfläche. Um ein Beispiel herauszugreifen: Denken Sie an den Druck, der auf die Entwicklung unserer Malerei, Bildhauerkunst und Architektur durch die Moden und Launen am Zarenhofe ausgeübt wurde, ebenso durch den Geschmack, die Liebhabereien der Herren Aristokraten und Bourgeois. In einer Gesellschaft des Privateigentums produziert der Künstler Waren für den Markt, er braucht Käufer. Unsere Revolution hat den Druck dieses sehr prosaischen Standes der Dinge von den Künstlern genommen. Sie hat den Sowjetstaat zu ihrem Schützer und Auftraggeber gemacht. Jeder Künstler und jeder, der sich dafür hält, nimmt als sein gutes Recht in Anspruch, frei nach seinem Ideal zu schaffen, mag das nun etwas taugen oder nicht. Da haben Sie die Gärung, das Experimentieren, das Chaotische.

Aber natürlich, wir sind Kommunisten. Wir dürfen nicht die Hände in den Schoß legen und das Chaos gären lassen, wie es will. Wir müssen auch diese Entwicklung bewußt, klar zu leiten und ihre Ergebnisse zu formen, zu bestimmen suchen. Daran fehlt es noch, fehlt es sehr. Mir scheint es, daß auch wir unsere Dr. Karlstadt[Anmerkung 1] haben. Wir sind viel zuviel ›Bilderstürmer‹. Man soll Schönes erhalten, zum Muster nehmen, daran anknüpfen, auch wenn es ›alt‹ ist. Warum sich von wirklich Schönem abkehren und es als Ausgangspunkt weiterer Entwicklung ein für allemal verwerfen, nur weil es ›alt‹ ist? Warum das Neue als Gott anbeten, dem man gehorchen soll, nur weil es ›das Neue‹ ist? Das ist Unsinn, nichts als Unsinn. Übrigens ist auch viel konventionelle Kunstheuchelei dabei im Spiele und der Respekt vor der Kunstmode im Westen. Selbstverständlich unbewußt. Wir sind gute Revolutionäre, aber wir fühlen uns verpflichtet zu beweisen, daß wir auf ›der Höhe zeitgenössischer Kultur‹ stehen. Ich habe den Mut, mich als ›Barbar‹ zu zeigen. Ich kann die Werke des Expressionismus, Futurismus, Kubismus und anderer Ismen nicht als höchste Offenbarungen des künstlerischen Genies preisen. Ich verstehe sie nicht. Ich habe keine Freude an ihnen.«

Ich konnte nicht umhin zu gestehen, auch mir fehle das Organ, um zu begreifen, daß die künstlerische Erscheinungsform einer begeisterten Seele ein Dreieck statt einer Nase sei und daß revolutionärer Tatendrang den gegliederten Körper des Menschen in einen formlosen Sack verwandle, auf zwei Stelzen gestellt und mit zwei fünfzinkigen Gabeln. Lenin lachte herzlich. »Ja, liebe Clara, es ist schon so, daß wir zwei Alte sind. Es muß uns genügen, in der Revolution einstweilen noch Junge zu bleiben und voranzugehen. Mit der neuen Kunst kommen wir nicht mehr mit, wir humpeln hinter ihr drein.

Aber«, so fuhr Lenin fort, »wichtig ist nicht unsere Meinung über Kunst. Wichtig ist auch nicht, was die Kunst einigen Hundert, ja einigen Tausend von einer Bevölkerung gibt, die nach so vielen Millionen wie die unsrige zählt. Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß sie in ihrem Fühlen, Denken und Wollen verbinden und emporheben. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln. Dürfen wir einer Minderheit süßen, ja raffinierten Biskuit reichen, während es den Massen der Arbeiter und Bauern an Schwarzbrot fehlt? Ich meine das, was ja naheliegt, nicht nur im buchstäblichen Sinne des Wortes, sondern auch figürlich. Haben wir immer die Arbeiter und Bauern vor Augen. Lernen wir ihretwegen wirtschaften und rechnen, auch auf dem Gebiete der Kunst und Kultur.

Damit die Kunst zum Volk und das Volk zur Kunst kommen kann, müssen wir erst das allgemeine Bildungs- und Kulturniveau heben. Wie sieht es da in unserem Lande aus? Sie schwärmen von dem ungeheuren Kulturwerk, das wir seit der Machtergreifung verrichtet haben. Nun ja, ohne ruhmredig zu sein, können wir sagen, daß von uns viel in dieser Hinsicht geschehen ist, sehr viel. Wir haben nicht nur ›Köpfe abgeschnitten‹, wie uns die Menschewiki aller Länder und ihre Kautskys unterstellen, wir haben auch Köpfe erleuchtet – viele Köpfe. Allein, ›viele‹ doch nur gezählt an der Vergangenheit und den Sünden der in ihr herrschenden Klassen und Cliquen. Riesengroß steht vor uns das erwachte und von uns angestachelte Bedürfnis der Arbeiter und Bauern nach Bildung und Kultur. Nicht bloß in Petrograd und Moskau, in den Industriezentren, auch draußen, bis in die Dörfer. Und wir sind ein armes Volk, ein bettelarmes Volk! Ob wir es wollen oder nicht, die meisten Alten bleiben kulturell die Geopferten, die Enterbten. Nun gewiß, wir führen einen wirklich hartnäckigen Feldzug gegen das Analphabetentum. Wir errichten Bibliotheken und ›Lesehütten‹ in den großen und kleinen Städten und Dörfern. Wir organisieren Kurse der verschiedensten Art. Wir veranstalten gute Theatervorstellungen und Konzerte, wir senden ›Bildungszüge‹ und ›Wanderausstellungen‹ durch das Land. Aber ich wiederhole: Was ist das alles für die vielen Millionen, denen es an dem elementarsten Wissen, der primitivsten Kultur gebricht! Während in Moskau vielleicht heute Zehntausend und morgen wieder Zehntausend sich an glänzenden Aufführungen im Theater berauschen, schreit das Bedürfnis von Millionen nach der Kunst, buchstabieren, den Namen schreiben und rechnen zu lernen, schreit nach der Kultur, zu erfahren, daß die Erde eine Kugel und nicht eine Scheibe ist, daß Naturgesetze und nicht zusammen mit dem ›himmlischen Väterchen‹ Hexen und Zauberer das Weltall regieren.«

»Klagen Sie nicht so bitter über das Analphabetentum, Genosse Lenin«, warf ich dazwischen. »Es hat euch sicherlich in gewissem Maße die Revolution erleichtert. Es hat das Gehirn der Arbeiter und Bauern davor geschützt, mit bürgerlichen Begriffen und Anschauungen vollgepfropft und verseucht zu werden. Eure Propaganda und Agitation fällt auf jungfräulichen Boden. Es ist leichter, dort zu säen und zu ernten, wo nicht erst ein ganzer Urwald ausgerottet werden muß.«

»Ja, das ist richtig«, erwiderte Lenin, »jedoch nur innerhalb gewisser Grenzen oder besser gesagt: für eine bestimmte Periode unseres Kampfes. Das Analphabetentum vertrug sich allenfalls mit dem Kampf um die Eroberung der Macht, mit der Notwendigkeit, den alten Staatsapparat zu zerschlagen. Aber zerstören wir denn nur um des Zerstörens willen? Wir zerstören, um Besseres aufzubauen. Das Analphabetentum verträgt sich schlecht, verträgt sich gar nicht mit den Aufgaben des Aufbaus. Er muß doch nach Marx das Werk der Arbeiter selbst sein und, so füge ich hinzu, der Bauern, wenn sie alle frei werden sollen. Unsere Sowjetordnung erleichtert das. Dank ihrer lernen jetzt Tausende aus dem werktätigen Volk in den verschiedenen Sowjets und Sowjetorganen am Aufbau arbeiten. Es sind Männer und Frauen ›in den besten Jahren‹, wie man bei euch zu sagen pflegt. Das bedeutet für uns, daß die meisten von ihnen noch unter dem alten Regime groß geworden sind, also ohne Bildung und Kultur. Leidenschaftlich streben sie jetzt danach. Wir sind auf das ernstlichste bemüht, immer neue Männer und Frauen zur Sowjetarbeit heranzuziehen und sie durch diese praktisch und theoretisch zu erziehen. Allein, trotz allem kann der Bedarf an verwaltenden, aufbauenden Kräften bei weitem nicht gedeckt werden. Wir müssen Bürokraten alten Stils verwenden, und wir bekommen einen zünftigen Bürokratismus. Ich hasse ihn herzlich. Nicht den einzelnen Bürokraten. Der kann ein tüchtiger Kerl sein. Aber ich hasse das System. Es lähmt und korrumpiert unten und oben. Der entscheidende Faktor zur Überwindung und Ausrottung des Bürokratismus ist breiteste Volksbildung und Volkserziehung.

Und welche Perspektiven haben wir für die Zukunft? Wir haben prächtige Einrichtungen geschaffen und wirklich gute Maßnahmen getroffen, damit die Jugend des Proletariats und der Bauernschaft lernen, studieren, Kultur erwerben kann. Aber auch hier tritt die peinigende Frage auf: Was ist das für so viele? Schlimmer noch! Wir haben bei weitem noch nicht genug Kindergärten, Kinderheime und Elementarschulen. Millionen Kinder wachsen ohne Erziehung, ohne Unterricht auf. Sie wachsen auf in der Unwissenheit und der Unkultur ihrer Väter und Großväter. Wie viele Talente werden dadurch abgewürgt, wie viele Sehnsucht wird dadurch zertreten. Das ist ein grausames Verbrechen gegen das Glück des heranwachsenden Geschlechts und ein Diebstahl an dem Reichtum des Sowjetstaats, der sich zur kommunistischen Gesellschaft entwickeln soll. Es ist eine schwere Gefahr für die Zukunft.«

In der für gewöhnlich so ruhigen Stimme Lenins grollte verhaltene Empörung. Wie muß ihm diese Sache am Herzen liegen, ihn hinreißen, dachte ich, daß er vor uns dreien eine Agitationsrede hält. Es fielen – ich erinnere mich nicht von wem – einige Bemerkungen, die für manche hervorstechenden Erscheinungen des Kunst- und Kulturlebens auf »mildernde Umstände« plädierten, sie aus der gegebenen Situation der Stunde erklärten. Lenin erwiderte darauf:

»Ich weiß schon! Manche sind ehrlich überzeugt, mit ›panem et circenses‹ über die Schwierigkeiten und Gefahren des Augenblicks hinwegzukommen. ›Panem‹ – jawohl! ›Circenses‹ – meinetwegen! Aber man vergesse dabei nicht, daß Zirkusspiele keine große, wahre Kunst sind, sondern mehr oder weniger schöne Unterhaltung. Man vergesse dabei nicht, daß unsere Arbeiter und Bauern kein römisches Lumpenproletariat sind. Sie werden nicht vom Staat erhalten, sie erhalten durch ihre Arbeit den Staat. Sie haben die Revolution ›gemacht‹ und ihr Werk mit beispiellosen Opfern, mit Strömen von Blut verteidigt. Unsere Arbeiter und Bauern verdienen wirklich mehr als Zirkusspiele. Sie haben ein Anrecht auf echte, große Kunst. Darum vor allem: breiteste Volksbildung und Volkserziehung. Sie schafft den Kulturboden – gesichertes Brot vorausgesetzt –, auf dem eine wirklich neue, große Kunst erwachsen wird, eine kommunistische Kunst, die ihrem Inhalt entsprechend auch die Formen gestaltet. Hier liegen ungeheure, dankbarste Aufgaben für unsere Intellektuellen vor. Sie zu verstehen und sie zu erfüllen, wäre der Zoll dafür, daß die proletarische Revolution auch ihnen weit das Tor geöffnet hat, das ins Freie führt, heraus aus dem niedrigen Zustand ihrer Lebensbedingungen, den das ›Kommunistische Manifest‹ so unübertrefflich charakterisierte.«

Wir sprachen in dieser Nacht – es war spät geworden – noch über mancherlei Fragen. Der Eindruck davon verblaßte, kaum daß die Worte verklungen, neben Lenins Äußerungen über Kunst, Kultur, Volkserziehung und Volksbildung. Wie aufrichtig und warm liebt er das Volk der Arbeit, ging es mir in der Erinnerung daran durch den Sinn, als ich mit heißem Kopf durch die kühle Nacht nach Hause fuhr. Und es gibt Leute, die diesen Mann für eine kalte Verstandesmaschine halten, für einen starren Formelfanatiker, der die Menschen nur als »historische Kategorien« kennt und mit ihnen fühllos wie mit Kügelchen rechnet und spielt. Lenins Äußerungen bewegten mich so stark, daß ich sie in ihren Grundzügen sofort aufzeichnete, ähnlich, wie ich während meines ersten Aufenthaltes auf Sowjetrußlands revolutionsheiligem Boden tagtäglich alles notierte, was mir bemerkenswert erschien.


Unauslöschlich ist meiner Erinnerung ein anderes Gespräch mit Lenin eingegraben. Ich hatte, wie viele, die zu jener Zeit aus dem Westen nach Moskau kamen, dem Wechsel der Lebensweise meinen Tribut zu zahlen und mußte das Bett hüten. Lenin besuchte mich. Fürsorglich, wie die beste Mutter, erkundigte er sich, ob ich entsprechende Pflege und Ernährung, gute ärztliche Behandlung usw. habe und was meine Wünsche seien. Ich sah hinter ihm Genossin Krupskajas liebe Gestalt. Lenin zweifelte daran, daß alles so gut und so herrlich sei, wie ich es empfand. Besonders regte er sich darüber auf, daß ich im vierten Stockwerk eines Sowjethauses wohnte, »das zwar theoretisch einen Lift hat, der jedoch praktisch nicht funktioniert. Genau wie die Liebe und der Wille der Kautskyaner zur Revolution«, meinte Lenin sarkastisch. Bald lenkte das Schifflein unseres Gespräches in das politische Fahrwasser ein.

Der Rauhfrost des Rückzugs der Roten Armee aus Polen hatte die revolutionären Blütenträume nicht reifen lassen, die wir und viele mit uns gehegt hatten, als die Sowjettruppen in einem blitzartig raschen und kühnen Vorstoß bei Warschau gestanden waren. Ich schilderte Lenin, wie es auf die revolutionäre Vorhut des deutschen Proletariats gewirkt hatte, wie auf die Scheidemänner und Dittmänner, wie auf die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum, als die Rotarmisten mit dem Sowjetstern an der Mütze, in unmöglichen alten Uniformstücken und Zivilkleidern, mit Bastschuhen oder zerrissenen Stiefeln ihre kleinen, flinken Rosse dicht an der deutschen Grenze tummelten. »Werden sie oder werden sie nicht Polen besetzt halten und über die Grenze kommen, und was dann?« Das waren die Fragen, die damals in Deutschland die Gemüter erhitzten und bei deren Beantwortung die Bierbankstrategen verblüffend großartige Schlachten schlugen. Es zeigte sich dabei, daß in allen Klassen, in allen sozialen Schichten weit mehr chauvinistischer Haß gegen das weißgardistische, imperialistische Polen vorhanden war als gegen den französischen »Erbfeind«. Allein, stärker, zwingender als der chauvinistische Haß gegen Polen und als die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Versailler Vertrags war die Furcht vor dem Ausblick auf die Revolution. Vor ihr verkroch sich der wortgewaltige Patriotismus wie der sanft säuselnde Pazifismus in die Büsche. Bourgeoisie und Kleinbürgertum mitsamt ihrer reformistischen Gefolgschaft aus dem Proletariat sahen so mit einem lachenden und einem weinenden Auge die spätere Entwicklung der Dinge in Polen.

Lenin hörte aufmerksam zu, was ich ihm dazu und über das Verhalten der Kommunistischen Partei wie der reformistischen Partei- und Gewerkschaftsführer im einzelnen berichtete. Er saß dann einige Minuten schweigend da, in Nachsinnen versunken. »Ja«, sagte er endlich, »es ist in Polen gekommen, wie es gekommen ist, wie es vielleicht kommen mußte. Sie kennen doch alle die Umstände, die bewirkt haben, daß unsere tollkühne, siegessichere Vorhut keinen Nachschub von Truppenmassen und Munition und nicht einmal von genug trockenem Brot erhalten konnte. Sie mußte Brot und anderes Unentbehrliche bei den polnischen Bauern und Kleinbürgern requirieren. Und diese erblickten in den Rotarmisten Feinde, nicht Brüder und Befreier. Sie fühlten, dachten und handelten keineswegs sozial, revolutionär, sondern national, imperialistisch. Die Revolution in Polen, mit der wir gerechnet hatten, blieb aus. Die Bauern und Arbeiter, von den Pilsudski- und Daszynski-Leuten beschwindelt, verteidigten ihre Klassenfeinde, sie ließen unsere tapferen Rotarmisten verhungern, lockten sie in Hinterhalte und schlugen sie tot.

Unser Budjonny ist heute gewiß der glänzendste Reiterführer der Welt. Natürlich ein Bauernjunge, das wissen Sie doch? Er trug wie die Soldaten der französischen Revolutionsheere den Marschallstab im Tornister, in seinem Fall in der Satteltasche. Er besitzt kein schweres kriegswissenschaftliches Gepäck, aber einen ausgezeichneten strategischen Instinkt. Er ist mutig bis zur halsbrecherischen Tollkühnheit, bis zur vermessenen Unbesonnenheit. Er teilt die härtesten Entbehrungen und schwersten Gefahren mit seinen Reitern, und sie würden sich für ihn in Stücke hauen lassen. Er allein ersetzt uns ganze Schwadronen. Aber alle Vorzüge Budjonnys und anderer revolutionärer Heerführer konnten unsere Nachteile in militärischer und technischer Hinsicht nicht ausgleichen, noch weniger unseren politischen Rechenfehler: die Hoffnung auf die Revolution in Polen ...

Wissen Sie, daß in der Partei der Friedensschluß mit Polen zuerst auf starken Widerstand gestoßen ist? Ähnlich wie der Friedensschluß zu Brest-Litowsk. Ich wurde auf das heftigste bekämpft, weil ich für die Annahme der Friedensbedingungen war, die unzweifelhaft sehr günstig für die Polen, hart für uns sind. Fast alle unsere Sachverständigen behaupteten, daß angesichts der Situation in Polen, insbesondere angesichts der miserablen Finanzlage dort, weit vorteilhaftere Friedensbedingungen für uns zu erreichen gewesen wären, wenn wir nur noch einige Zeit im Kriege ausgehalten hätten. Sogar ein voller Sieg unsererseits wäre dann nicht ausgeschlossen gewesen. Bei Fortdauer des Krieges würden die nationalen Gegensätze und Konflikte in Ostgalizien und anderen Landesteilen die militärische Kraft des offiziellen, imperialistischen Polens erheblich schwächen. Trotz der Subventionen und Kredite aus Frankreich würden die steigenden Kriegslasten und das Finanzelend doch schließlich die Bauern und Arbeiter mobilisieren. Noch andere Umstände wurden dafür angeführt, daß wir bei Weiterführung des Krieges immer bessere Chancen bekämen.

Ich glaube selbst«, spann Lenin nach kurzer Pause den Faden seiner Gedanken weiter, »daß wir durch unsere Lage nicht gezwungen waren, um jeden Preis Frieden zu schließen. Wir konnten den Winter über durchhalten. Aber ich hielt es politisch für klüger, dem Feind entgegenzukommen, und die zeitweiligen Opfer des harten Friedens erschienen mir billiger als die Fortdauer des Krieges. Auf die Dauer gewann unser Verhältnis zu den Polen dadurch. Die pazifistischen Losungen sind natürlich Flausen, nichts weiter als Flausen. Sie vertrauen auf Wrangel. Wir aber werden den Frieden mit Polen ausnutzen, um uns mit aller Kraft auf Wrangel zu stürzen und ihn so vernichtend zu schlagen, daß wir für immer Ruhe vor ihm haben. In der gegenwärtigen Situation hat Sowjetrußland nur zu gewinnen, wenn es durch sein Verhalten beweist, daß es nur Krieg führt, um sich zu verteidigen, die Revolution zu schützen; daß es der einzige große Friedensstaat der Welt ist; daß ihm jede Absicht fernliegt, Land zu rauben, Nationen zu unterjochen, sich in imperialistische Abenteuer zu stürzen. Vor allem aber: Durften wir ohne die allerzwingendste Notwendigkeit das russische Volk den Schrecken, den Leiden eines weiteren Kriegswinters preisgeben? Unsere heldenmütigen Rotarmisten an den Fronten, unsere Arbeiter und Bauern, die soviel entbehrt und geduldet! Nach den Jahren des imperialistischen Krieges und des Bürgerkrieges ein weiterer Kriegswinter, wo Millionen hungern, frieren, stumm verzweifelnd sterben! Lebensmittel und Kleider werden jetzt schon knapp. Die Arbeiter klagen, die Bauern murren, daß man ihnen nur nimmt, nicht gibt. – Nein, der Gedanke an die Qualen eines Kriegswinters mehr war unerträglich. Wir mußten Frieden schließen.«

Während Lenin so sprach, war sein Gesicht vor meinen Augen zusammengeschrumpft. Furchen, große und kleine, ohne Zahl, gruben sich tief hinein. Und jede Furche war von einer schweren Sorge oder von einem nagenden Schmerz gezogen. Ein Ausdruck unausgesprochenen und unsäglichen Leidens lag auf Lenins Gesicht. Ich war ergriffen, erschüttert. Vor meiner Seele stand das Bild eines gekreuzigten Christus des mittelalterlichen Meisters Grünewald. Ich glaube, daß dieses Gemälde unter der Bezeichnung bekannt ist: »Der Jammermann«. Grünewalds Gekreuzigter hat keine Spur von Ähnlichkeit mit Guido Renis berühmtem süßen, verzeihenden Dulder, für den als »Seelenbräutigam« so viele ältere Mädchen und unglücklich verheiratete Frauen schwärmen. Grünewalds Gekreuzigter ist der grausam zu Tode Gemarterte und Gequälte, der »der Welt Sünden trägt«. Als solchen »Jammermann« sah ich Lenin vor mir, belastet, durchbohrt von dem Gedanken an die Leiden und Opfer, die das russische Volk der Arbeit im Kampfe für seine Freiheit trug, tragen mußte, damit es über seine tückischen, skrupellosen Feinde triumphiere. Er ging bald darauf fort. Unter anderem hatte er mir noch mitgeteilt, daß zehntausend Lederanzüge, fest schließend, in Auftrag gegeben seien für die Rotarmisten, die vom Meere aus den Perekop[Anmerkung 2] nehmen sollten. Noch ehe diese Anzüge fertig waren, konnten wir über die Nachricht jubeln, daß die todesmutigen Schützer Sowjetrußlands unter Genossen Frunses ebenso genialer wie kühner Führung stürmender Hand die Landenge erobert und damit Wrangels Schreckensherrschaft auf der Krim ein Ende bereitet hatten. Eine beispiellose militärische Leistung von Führern und Geführten. Eine Sorge, ein Schmerz war von Lenin genommen; eine Sorge, ein Leid war bei Lenin weniger! Auch an der Südfront gab es keinen Kriegswinter.


Der III. Weltkongreß unserer Internationale und die 2. Internationale Konferenz der Kommunistinnen führten mich 1921 ein zweites Mal zu längerem Aufenthalt nach Moskau. In schwüler Zeit; weniger, weil die Tagungen in die zweite Junihälfte und die erste Julihälfte fielen, wo die Sonne ihre glühendsten Strahlen über die goldenen und farbenprächtigen Kuppeln der Stadt herabschießt, als wegen der Atmosphäre in den Parteien der Kommunistischen Internationale. Namentlich in der Kommunistischen Partei Deutschlands war sie elektrisch geladen, Stürme, Blitz und Donner gehörten zu den Erscheinungen jedes Tages. Pessimisten unter uns, die nur begeistert werden, wenn sie glauben, Unheil wittern zu können, prophezeiten das Auseinanderfallen, das Ende der Partei. Die in der III. Internationale organisierten Kommunisten wären schlechte »Internationale« gewesen, wenn die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um Theorie und Praxis in der deutschen Partei nicht auch in den anderen Ländern die Gemüter der Genossen erhitzt hätten. »Die deutsche Frage« war in Wirklichkeit eine internationale Frage und in jenen Tagen die Frage der Kommunistischen Internationale selbst.

Die »Märzaktion«[Anmerkung 3] und die sogenannte »Offensivtheorie«, die ihr zugrunde lag und sich von ihrem Ausgangspunkt nicht trennen ließ, wenngleich sie erst nachträglich zu ihrer Rechtfertigung mit Schärfe und Klarheit formuliert ward, zwangen die gesamte Kommunistische Internationale, die weltwirtschaftliche und weltpolitische Situation gründlich zu durchleuchten. Sie mußte damit einen sicheren Boden für ihre grundsätzliche und taktische Einstellung gewinnen, das heißt für ihre nächsten Aufgaben, für die revolutionäre Mobilisierung und Aktivierung des Proletariats, der schaffenden Massen.

Bekanntlich zählte ich zu den schärfsten Kritikern der »Märzaktion«, soweit sie nicht Kampf von Proletariern gewesen war, sondern falsch aufgefaßte, schlecht vorbereitete, organisierte, geleitete und durchgeführte Parteiaktion. Die mit Ach und Krach produzierte »Offensivtheorie« bekämpfte ich auf das entschiedenste. Dazu hatte ich noch ein persönliches »Schuldkonto«. Das Um und Auf bei der Stellungnahme der deutschen Parteileitung zum Kongreß der italienischen Sozialdemokratie von Livorno und zu der Taktik der Exekutive hatte mich veranlaßt, von heut auf morgen demonstrativ aus der Zentrale auszutreten.[Anmerkung 4] Schwer, sehr schwer trug ich an dem Bewußtsein, durch diesen »Disziplinbruch« in schroffen Gegensatz zu denen geraten zu sein, die mir politisch und persönlich am nächsten standen, zu den russischen Freunden.

In der Exekutive und in der russischen Partei wie in vielen anderen Sektionen der Kommunistischen Internationale hatte die »Märzaktion« nicht wenige fanatische Verteidiger, die sie als einen revolutionären Massenkampf feierten, von Hunderttausenden tatentschlossener Proletarier getragen. Die »Offensivtheorie« ward gleich einem neuen Evangelium der Revolution gepriesen. Ich wußte, daß mich heißeste Kämpfe erwarteten, und ich war fest entschlossen, sie um die große grundsätzliche Linie der kommunistischen Politik aufzunehmen und durchzufechten, mochten sie Sieg oder Niederlage bringen.

Wie urteilt Lenin über all die aufgerollten Probleme? Er, der wie keiner die marxistischen revolutionären Grundsätze zur Tat zu formen vermag, Menschen und Dinge in ihrem historischen Verbundensein erfaßt und Kräfteverhältnisse abzumessen versteht? Gehört er zu der »Linken« oder zu der »Rechten«? – jedem, der nicht bedingungslos die »Märzaktion« und die »Offensivtheorie« bejubelte, wurde natürlich die Etikette als »Rechter«, als »Opportunist«, aufgeklebt. Auf die unzweideutige Beantwortung dieser Fragen wartete ich in zitternder Ungeduld. Sie würde entscheidend sein für die Zielsetzung, die Aktionskraft, ja die Existenz der Kommunistischen Internationale. Seit meinem Austritt aus der Zentrale der deutschen Partei waren die Fäden meiner Korrespondenz mit den russischen Freunden zerrissen. So hatte ich über Lenins Auffassung von »Märzaktion« und »Offensivtheorie« nur Gerüchte und Vermutungen gehört, bald bezweifelt und bald beschworen. Eine längere Unterredung mit ihm gab mir darüber einige Tage nach meiner Ankunft unmißverständlich Bescheid.

Lenin forderte vor allem einen Bericht über die Situation in Deutschland im allgemeinen und innerhalb der Partei. Ich bemühte mich, ihn mit möglichster Klarheit und Objektivität zu geben, führte Tatsachen und Zahlen an. Lenin warf ab und zu Fragen dazwischen, die den Punkt auf das I setzten, und machte kurze Notizen. Ich verhehlte meine Besorgnisse über die Gefahren nicht, die meiner Auffassung nach der deutschen Partei und der Kommunistischen Internationale drohten, wenn sich der Weltkongreß auf den Boden der »Offensivtheorie« stellen würde. Lenin lachte sein gutes, selbstsicheres Lachen.

»Seit wann sind Sie denn unter die Schwarzseher gegangen?« fragte er. »Seien Sie ruhig, auf dem Kongreß werden die Bäume der ›Offensivtheoretiker‹ nicht in den Himmel wachsen. Wir sind auch noch da. Meint ihr, wir hätten die Revolution ›gemacht‹, ohne daraus zu lernen? Und wir wollen, daß auch ihr daraus lernt. Ist das überhaupt eine Theorie? Bewahre, das ist eine Illusion, ist Romantik, ja, nichts als Romantik. Deshalb wurde sie im ›Lande der Dichter und Denker‹ fabriziert, mit Hilfe meines lieben Bela,[Anmerkung 5] der auch einer dichterisch begabten Nation angehört und sich verpflichtet fühlt, stets linker als links zu sein. Wir dürfen nicht dichten und träumen. Wir müssen die weltwirtschaftliche und weltpolitische Situation nüchtern sehen, ganz nüchtern, wenn wir den Kampf gegen die Bourgeoisie aufnehmen und siegen wollen. Und wir wollen siegen, wir müssen siegen. Die Entscheidung des Kongresses über die Taktik der Kommunistischen Internationale und alle damit verbundenen Streitfragen müssen im Zusammenhang stehen und betrachtet werden mit unseren Thesen zur internationalen Wirtschaftslage. Das alles muß ein Ganzes bilden. Einstweilen hören wir noch mehr auf Marx als auf Thalheimer und Bela. Von der russischen Revolution kann man immerhin noch mehr lernen als von der deutschen ›Märzaktion‹. Wie gesagt, mir ist um die Stellungnahme des Kongresses nicht bange.«

»Der Kongreß hat auch sein Urteil zu sprechen über die ›Märzaktion‹, die doch die Frucht, die Praxis der ›Offensivtheorie‹ ist, ihr geschichtliches Schulbeispiel«, so unterbrach ich Lenin. »Kann man Theorie und Praxis voneinander trennen? Ich sehe aber, daß hier viele Genossen zwar die ›Offensivtheorie‹ verwerfen, jedoch die ›Märzaktion‹ leidenschaftlich verteidigen. Ich finde das unlogisch. Gewiß werden wir uns alle in aufrichtiger Sympathie vor den Proletariern neigen, die gekämpft haben, weil sie sich von Hörsings Schergenpraktiken provoziert fühlten und ihr gutes Recht wahren wollten. Wir alle werden uns solidarisch mit ihnen erklären, ganz gleich, ob es Hunderttausende waren, wie Märchenerzähler glauben machen wollen, oder nur einige Tausende. Aber ein anderes war und ist die grundsätzliche und taktische Einstellung unserer Zentrale, zur ›Märzaktion‹. Sie war und bleibt ein putschistischer Sündenfall, und den Mohren dieses Tatbestandes wird keine theoretische, politische oder literarische Seife weißwaschen.«

»Natürlich müßte die Abwehraktion kampfbereiter Proletarier und der Offensivvorstoß der nicht gut beratenen Partei – oder besser gesagt ihrer Leitung – verschieden beurteilt werden.« Lenin sagte das rasch und entschieden. »Allein, ihr ›Antis der Märzaktion‹ seid selbst mit schuld daran, daß das nicht geschehen ist. Ihr habt nur die verkehrte Politik der Zentrale und ihre schlimme Auswirkung gesehen und nicht die kämpfenden Proletarier in Mitteldeutschland. Außerdem hat Paul Levis ganz negative Kritik, die das Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Partei vermissen ließ und die Genossen vielleicht mehr durch ihren Ton als durch ihren Inhalt erbitterte, die Aufmerksamkeit von wichtigsten Teilen des Problems abgelenkt. Was die wahrscheinliche Stellungnahme des Kongresses zur ›Märzaktion‹ anbelangt, so müssen Sie bedenken, daß wir unbedingt einen Boden für ein Kompromiß haben müssen. Ja, schauen Sie mich nur verwundert und vorwurfsvoll an, Sie und Ihre Freunde müssen ein Kompromiß schlucken. Ihr müßt euch daran genügen lassen, daß ihr den Löwenanteil der Kongreßausbeute heimbringt. Eure grundsätzliche politische Linie wird siegen, glänzend siegen. Das wird auch eine Wiederholung der ›Märzaktion‹ verhindern. Die Beschlüsse des Kongresses müssen auf das strengste durchgeführt werden. Dafür wird die Exekutive sorgen. Daran zweifle ich nicht.

Der Kongreß wird der famosen ›Offensivtheorie‹ den Hals umdrehen, er wird die Taktik beschließen, die eurer Auffassung entspricht. Dafür muß er aber auch den Anhängern der ›Offensivtheorie‹ einige Brosamen Trost spenden. Wenn wir bei der Beurteilung der ›Märzaktion‹ in den Vordergrund schieben, daß von den Lakaien der Bourgeoisie provozierte Proletarier gekämpft haben, und wenn wir im übrigen etwas väterliche ›historische‹ Milde walten lassen, so ist das möglich. Sie, Clara, werden sich ja dagegen als gegen eine Vertuschung und anderes wehren. Das hilft Ihnen nichts. Wenn sich die vom Kongreß zu beschließende Taktik möglichst schnell und ohne starke Reibungen durchsetzen, Gesetz für die Tätigkeit der kommunistischen Parteien werden soll, so dürfen unsere lieben ›Linkser‹ nicht gar zu gedemütigt und erbittert nach Hause zurückkehren. Wir müssen auch – und zwar zuerst und am meisten – an die Stimmung der wirklich revolutionären Arbeiter in der Partei und außerhalb ihr denken. Sie haben mir einmal geschrieben, wir Russen sollten ein wenig die westliche Psychologie verstehen lernen und den Leuten nicht sofort mit dem harten, struppigen Reisigbesen ins Gesicht fahren. Das habe ich mir gemerkt.« Lenin lächelte vergnügt vor sich hin. »Nun wohl, wir wollen den ›Linksern‹ nicht gleich mit dem Reisigbesen ins Gesicht fahren, wollen ihnen sogar etwas Balsam auf ihre Wunden streichen. Sie sollen bald freudig und mit Energie zusammen mit euch darangehen, die Taktik des III. Kongresses unserer Internationale durchzuführen. Denn das bedeutet: breite Massen des Proletariats auf der Linie eurer Politik sammeln, mobilisieren und unter kommunistischer Führung in den Kampf gegen die Bourgeoisie und für die Eroberung der Macht werfen.

Übrigens sind die Grundlinien der zu befolgenden Taktik klar in der Resolution enthalten, die Sie dem Zentralausschuß der deutschen Partei vorgelegt hatten. Die Resolution war durchaus nicht negativ wie Paul Levis Broschüre, sie war bei aller Kritik sehr positiv. Wie war es nur möglich, daß sie abgelehnt wurde und obendrein nach welcher Diskussion und mit welchen Gründen! Anstatt den Unterschied zwischen dem positiven Charakter Ihrer Resolution und dem negativen der Broschüre Levis auszunutzen, um Sie von Levi zu trennen, prügelte man Sie geradezu auf seine Seite.« »Meinen Sie vielleicht, lieber Genosse Lenin«, unterbrach ich ihn, »daß Sie auch mir einige Brosamen Trost reichen müssen, weil ich das Kompromiß schlucken soll? Bei mir geht es auch ohne Trost und Balsam.« »Nein«, wehrte Lenin ab, »so ist es nicht gemeint. Zum Beweis dafür werde ich Ihnen sofort eine gehörige Tracht Prügel verabfolgen. Sagen Sie mir, wie konnten Sie eine solche Kapitaldummheit begehen, jawohl, eine Kapitaldummheit, und aus der Zentrale davonlaufen? Wo hatten Sie nur Ihren Verstand? Ich war empört darüber, heftig empört. So kopflos zu handeln, ohne Rücksicht auf die Wirkung des Schrittes und ohne uns mit einem Wort zu benachrichtigen und unsere Meinung einzuholen! Warum haben Sie nicht Sinowjew geschrieben, warum nicht mir? Sie konnten wenigstens ein Telegramm schicken.« Ich legte Lenin die Gründe dar, die meinen Entschluß bestimmt hatten, der aus der damals vorliegenden Situation plötzlich entsprungen war. Er ließ meine Gründe nicht gelten.

»Ach was!« rief er lebhaft aus, »Sie hatten Ihr Mandat in der Zentrale nicht von den Genossen dort, sondern von der Partei als Ganzes. Sie durften das Ihnen geschenkte Vertrauen nicht wegwerfen.« Da Lenin mich unbußfertig fand, fuhr er mit der scharfen Kritik an meinem Ausscheiden aus der Zentrale fort und setzte dann unvermittelt hinzu: »Soll man es als eine verdiente Strafe betrachten, daß gestern auf der Frauenkonferenz ein regelrechter organisierter Überfall gegen Sie gemacht wurde als auf die Verkörperung des schlimmsten Opportunismus? Unter persönlicher Leitung des guten Reuter (Friesland),[Anmerkung 6] der sich dadurch meines Wissens zum erstenmal an der kommunistischen Arbeit unter den Frauen beteiligt hat. Das war einfach dumm, ganz dumm. Sich einzubilden, die ›Offensivtheorie‹ könne gerettet werden, wenn man auf der Frauenkonferenz Sie hinterhältig überfällt! Es war freilich auch noch andere Spekulation und Hoffnung dabei im Spiele ... Ich hoffe, Sie nehmen diese Episode politisch von der heiteren Seite, wenn sie auch menschlich einen sehr unangenehmen Beigeschmack hat. Nur immer nach den Arbeitern, nach den Massen sehen, liebe Clara, nur immer an sie denken und an unser Ziel, das wir erreichen werden, und solche Kleinigkeiten versinken in Nichts. Wem von uns blieben sie erspart? Ich habe mein Teil davon hinunterwürgen müssen, das können Sie glauben. Meinen Sie vielleicht, daß die von Ihnen so bewunderte bolschewistische Partei mit einem Schlage fix und fertig gewesen ist? Auch Freunde haben manchmal das Gegenteil von Klugheiten gemacht. Doch zurück zu Ihrer Sünde! Sie müssen mir in die Hand versprechen, daß Sie nie mehr solch unüberlegten Streich machen, sonst ist es mit unserer Freundschaft aus.«

Unser Gespräch wandte sich nach diesem Zwischenspiel wieder der Hauptfrage zu. Lenin entwickelte in den Grundzügen seine Auffassung über die Taktik der Kommunistischen Internationale, wie er sie später auf dem Kongreß[1]

in seiner großzügigen, lichtvollen Rede dargelegt hat und polemisch noch schärfer zugespitzt in den vorausgegangenen Kommissionsberatungen vertrat. »Die erste Welle der Weltrevolution ist abgeflutet. Die zweite hat sich noch nicht erhoben«, erklärte er. »Es wäre gefährlich, wenn wir uns darüber Illusionen machen würden. Wir sind nicht Xerxes, der das Meer mit Ketten peitschen ließ. Aber heißt Tatsachen feststellen und beachten etwa untätig sein, das heißt verzichten? Keinesfalls! Lernen, lernen, lernen! Handeln, handeln, handeln! Vorbereitet sein, gut und ganz vorbereitet sein, um bewußt mit voller Kraft die nächste heranrollende revolutionäre Welle ausnutzen zu können. Das ist's. Unermüdlich Parteiagitation und Parteipropaganda, gipfelnd in Parteiaktion, aber Parteiaktion, frei von dem Wahn, sie könne Massenaktion ersetzen. Wie haben wir Bolschewiki unter den Massen gearbeitet, bis wir uns sagen durften: ›Es ist soweit! Los!‹ Darum: Heran an die Massen! Eroberung der Massen als Vorbedingung für die Eroberung der Macht. Mit dieser Stellungnahme des Kongresses könnt ihr ›Antis‹ wahrhaftig zufrieden sein.«

»Und Paul Levi! Wie stehen Sie zu ihm, wie Ihre Freunde, wie wird der Kongreß sich zu ihm stellen?« Schon längst brannte mir diese Frage auf der Zunge. »Paul Levi, das ist leider ein Fall für sich geworden«, antwortete Lenin. »Die Schuld daran liegt in der Hauptsache an Paul selbst. Er hat sich von uns entfernt und eigensinnig in eine Sackgasse verrannt. Davon müssen Sie sich doch bei Ihrer so intensiven Agitation in den Delegationen überzeugt haben. Bei mir haben Sie solche Agitation nicht nötig. Sie wissen, wie hoch ich Paul Levi und seine Fähigkeiten schätze. Ich habe ihn in der Schweiz kennengelernt und Hoffnungen auf ihn gesetzt. Er hat sich in der Zeit schlimmster Verfolgungen bewährt, war tapfer, klug, aufopfernd. Ich glaubte, daß er fest mit dem Proletariat verbunden sei, obgleich ich in seinem Verhältnis zu den Arbeitern eine gewisse Kühle empfand. So etwas wie ›Distanz-halten-wollen‹. Seit dem Erscheinen seiner Broschüre sind mir Zweifel an ihm gekommen. Ich fürchte, es steckt in ihm eine starke Neigung zu Eigenbrötelei und Eingängertum und auch ein Stück Literateneitelkeit. Eine rücksichtslose Kritik der ›Märzaktion‹ war notwendig. Was aber hat Paul Levi gegeben? Es ist grausame Zerfleischung der Partei. Er kritisierte nicht nur höchst einseitig, übertrieben, ja gehässig; er gibt nichts, woran sich die Partei orientieren könnte. Er läßt Solidaritätsgeist mit der Partei vermissen. Und das ist es, was die Genossen in Reih und Glied so empört und taub und blind gemacht hat für das viele Richtige in der Kritik Levis. So entstand eine Stimmung – sie übertrug sich auch auf die nichtdeutschen Genossen –,in der der Streit um die Broschüre und namentlich um die Person Levis ausschließlicher Gegenstand der Auseinandersetzung ward, statt der falschen Theorie und der schlechten Praxis der ›Offensivtheoretiker‹ und ›Linkser‹. Die haben es Paul Levi zu verdanken, daß sie bis jetzt so gut davongekommen sind, viel zu gut. Paul Levi ist sein eigener schlimmster Feind.«

Die letzten Sätze mußte ich gelten lassen, dagegen opponierte ich energisch gegen andere Äußerungen Lenins. »Paul Levi ist kein eitler, selbstgefälliger Literat«, sagte ich. »Er ist kein ehrgeiziger politischer Streber. Es war sein Verhängnis und ist nicht sein Wunsch, daß er jung, ohne große politische Erfahrung und tiefere theoretische Schulung die Führung der Partei erhielt. Nach Rosas, Karls und Leos Ermordung mußte er sie übernehmen, er hat sich oft genug dagegen gesträubt. Das ist Tatsache. Wenn es auch unseren Genossen nicht recht warm im Verkehr mit ihm wird und er ein Einsamer ist, so bin ich doch überzeugt, daß er mit allen Fasern seines Wesens mit der Partei, mit den Arbeitern lebt. Die unglückselige ›Märzaktion‹ hat ihn aufs tiefste erschüttert. Er glaubte fest, sie habe leichtfertig die Existenz der Partei aufs Spiel gesetzt und vertan, wofür Karl, Rosa, Leo und so viele ihr Leben gegeben. Er hat geweint, buchstäblich geweint vor Schmerz bei dem Gedanken, daß die Partei verloren sei. Ihre Rettung hielt er nur bei Anwendung der stärksten Mittel für möglich. Er schrieb seine Broschüre in der Stimmung des sagenhaften Römers, der sich freiwillig in den sich öffnenden Abgrund stürzte, um durch das Opfer seines Lebens das Vaterland zu retten. Paul Levis Absichten waren die reinsten, die selbstlosesten.«

»Darüber will ich mit Ihnen nicht streiten«, erwiderte Lenin. »Sie sind ein besserer Anwalt für Levi als er selbst. Allein, Sie wissen ja, in der Politik kommt es nicht auf die Absicht an, sondern auf die Wirkung. Habt ihr Deutschen nicht ein Sprichwort, das so ähnlich lautet: ›Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert‹? Der Kongreß wird Paul Levi verurteilen, wird hart gegen ihn sein. Das ist unvermeidlich. Jedoch Pauls Verurteilung wird nur wegen Disziplinbruchs erfolgen, nicht wegen seines grundsätzlichen politischen Standpunktes. Wie wäre das auch möglich in dem Augenblick, wo dieser Standpunkt in Wirklichkeit als richtig anerkannt wird. Damit steht Paul Levi der Weg weit offen, um sich zurück zu uns zu finden. Möchte er selbst sich diesen Weg nicht verrammeln. Sein politisches Geschick liegt in seiner Hand. Er muß sich der Entscheidung des Kongresses als disziplinierter Kommunist fügen und für einige Zeit aus dem politischen Leben verschwinden. Das wird ihm sehr sauer ankommen, gewiß. Ich fühle mit ihm, und er tut mir aufrichtig leid. Das können Sie glauben. Ersparen kann ich ihm diese harte Prüfungszeit nicht.

Paul muß sie auf sich nehmen, wie wir Russen unter dem Zarismus in die Verbannung oder ins Gefängnis gingen. Es kann eine Periode eifrigsten Studiums und ruhiger Selbstverständigung für ihn sein. Er ist noch jung an Jahren und jung in der Partei. Sein theoretisches Wissen ist voller Lücken, in der Nationalökonomie ist er geradezu noch ein ABC-Schüler des Marxismus. Er wird mit tieferer Schulung, grundsätzlich gefestigt und als besserer, klügerer Parteiführer zu uns zurückkehren. Wir sollten Levi nicht verlieren. Seinetwegen und der Sache wegen. Wir sind nicht überreich mit Talenten gesegnet, wir müssen möglichst halten, was wir haben. Und wenn Ihre Meinung über Paul richtig ist, so würde seine endgültige Trennung von der revolutionären Vorhut des Proletariats ihm selbst eine unheilbare Wunde schlagen. Reden Sie ihm freundschaftlich zu, helfen Sie ihm die Dinge sehen, wie sie sind, vom allgemeinen Standpunkt aus und nicht von seinem persönlichen der ›Rechthaberei‹. Ich werde Sie dabei unterstützen. Wenn Levi sich der Disziplin unterwirft, sich gut hält – er kann zum Beispiel anonym an der Parteipresse mitarbeiten, einige gute Broschüren verfassen usw. –, so werde ich schon nach drei oder vier Monaten in einem offenen Brief seine Rehabilitierung fordern. Er hat seine Feuerprobe vor sich. Hoffen wir, daß er sie besteht.«

Ich seufzte. Die Empfindung kroch mir kalt über die Seele, daß ich einem Unabwendbaren gegenüberstand, dessen Auswirkungen sich nicht vorausbestimmen ließen. »Lieber Lenin«, sagte ich, »tun Sie, was Sie können! Euch Russen sitzt das Handgelenk lose, um zu schlagen. Eure Arme öffnen sich rasch, um ans Herz zu drücken. Ich weiß aus eurer Parteigeschichte, daß bei euch Fluch und Segen kommt und geht wie euer flüchtiger Steppenwind. Wir ›Westler‹ sind schwerblütig. Auf uns lastet jener geschichtliche Alp, von dem Marx gesprochen. Ich bitte Sie nochmals inständig: Tun Sie, was Sie können, daß Paul Levi uns nicht verlorengeht.« Lenin antwortete: »Seien Sie unbesorgt! Ich werde mein Ihnen gegebenes Versprechen halten. Wenn nur Paul sich selbst hält.« – Lenin griff nach seiner Mütze, der einfachen, schon etwas abgetragenen Schirmmütze, und ging mit ruhigen, energischen Schritten davon.

Die »Oppositionellen« in der deutschen Delegation – die Genossen Malzahn, Neumann, Franken und Müller – hatten begreiflicherweise den heißen Wunsch, mit Lenin zusammenzukommen, um auf Grund ihrer Erfahrungen über den Charakter und die Folgen der »Märzaktion« zu berichten. Genosse Franken für einen Teil des Rheinlands, die anderen drei als Gewerkschafter. Sie legten mit Recht großes Gewicht darauf, dem unbestritten ersten Führer der Kommunistischen Internationale die Stimmung umfangreicher Kreise klassenbewußter, gut revolutionär gesinnter Proletarier zu schildern und ihre eigene Meinung zu äußern über die »Offensivtheorie« und die ihnen nötig dünkende Taktik. Es lag ihnen natürlich auch viel daran, persönlich Lenins Ansicht über die Fragen zu hören, die sie bewegten. Lenin hielt es für selbstverständlich, den Wunsch der Genossen zu erfüllen. Es wurde Tag und Stunde verabredet, da er mit ihnen bei mir zusammentreffen wollte. Die Genossen kamen etliche Zeit vor ihm, weil wir uns über unser Eingreifen in die Debatten des Kongresses verständigen mußten.

Lenin war große Pünktlichkeit eigen. Fast zur verabredeten Minute trat er ins Zimmer, einfach, wie es seine Art war, von den eifrig diskutierenden Genossen kaum bemerkt. »Guten Tag, Genossen!« Er schüttelte allen die Hand und setzte sich unter sie, um sich sofort an dem Gespräch zu beteiligen. Mir war das alles vertraut, und ich hielt es für die selbstverständlichste Sache der Welt, daß jeder Genosse Lenin kennen müsse. So kam es mir nicht in den Sinn, ihn den Genossen vorzustellen. Nach vielleicht zehn Minuten des allgemeinen Gesprächs zog mich einer von ihnen beiseite und fragte leise: »Sagen Sie, Genossin Clara, wer ist eigentlich der Genosse?« »Ja, haben Sie ihn nicht erkannt?« gab ich zurück, »das ist ja Genosse Lenin.« »Nein, so was!« meinte unser Freund, »ich dachte schon, als ›großer Herr‹ werde er uns aufsitzen lassen. Der einfachste Genosse kann nicht einfacher und herzlicher sein! Da muß man gesehen haben, wie unser Exgenosse Hermann Müller seine Rockschöße im Reichstag feierlich spazieren trägt, seit er mal Reichskanzler gewesen ist.«

Mir schien, daß die »oppositionellen« Genossen und Lenin im gegenseitigen Examen voreinander bestanden. Lenin kam es offenbar mehr darauf an, zu hören, zu vergleichen, festzustellen, sich zu orientieren, als selbst »Leitartikel zu reden«, wenngleich er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berge hielt. Er war unermüdlich im Fragen und verfolgte mit gespanntem Interesse die Ausführungen der Genossen, oft Erläuterungen oder Ergänzungen anregend. Er betonte stark die Bedeutung planmäßiger, organisierter Arbeit unter den großen Massen der Arbeiterschaft und die Notwendigkeit der Zentralisation und straffen Disziplin. Lenin erklärte mir später, die Zusammenkunft habe ihn sehr erfreut. »Prächtige Kerle, diese deutschen Proletarier vom Schlage Malzahn und seiner Freunde. Ich gebe zu, daß sie vielleicht nie auf einem radikalen Wortjahrmarkt als Feuerfresser auftreten werden. Ich weiß nicht, ob sie als Stoßtrupp taugen. Aber dessen bin ich ganz sicher, daß Leute wie sie die breiten, festgegliederten Heeressäulen des revolutionären Proletariats bilden, daß sie die tragende, durchhaltende Kraft in den Betrieben und den Gewerkschaften sind. Solche Elemente müssen wir sammeln und aktiv machen. Sie verbinden uns mit den Massen.«

Eine unpolitische Parenthese. Wenn Lenin zu mir kam, so war das ein hoher Festtag für alle im Hause: von den Rotarmisten, die am Eingang Wache standen, bis zu dem jungen Küchenmädchen – von den Delegierten aus dem nahen und fernen Orient nicht zu reden, die wie ich in der sehr geräumigen Villa untergebracht waren, welche die Revolution aus dem Eigentum eines reichen Fabrikanten in das der Kommune Moskau verwandelt hatte. »Wladimir Iljitsch ist gekommen.« Die Kunde flog von Person zu Person. Alle standen auf der Lauer, strömten in der großen Diele zusammen oder am Haustor, um Lenin zu grüßen und ihm zuzuwinken. Innigste Freude verklärte die Gesichter, wenn er an den Wartenden vorüberschritt, mit seinem gütigen Lächeln grüßte, dem und jenem ein paar Worte zurief. Nicht ein Hauch von Demut, geschweige denn von Knechtseligkeit war auf der einen Seite, nicht ein Anflug von Herablassung oder Effekthascherei auf der anderen. Die Rotarmisten, Arbeiter und Angestellten, die Kongreßdelegierten aus Dagestan, Persien mitsamt den durch Paul Levi so berühmt gewordenen »Turkestanern« in ihren märchenhaften Kostümen: sie alle liebten Lenin als einen der ihrigen, und er selbst empfand sich als einer von ihnen. Im Gefühl herzlichster Brüderlichkeit waren sie alle eines Stammes.

Die »Offensivtheoretiker« hatten in den Debatten über Trotzkis Referat »Die wirtschaftliche Lage und die neuen Aufgaben der Kommunistischen Internationale« in den Kommissionsberatungen wie im Plenum keine Erfolge errungen. Durch Abänderungs- und Zusatzanträge zu den Thesen über »Die Taktik der Kommunistischen Internationale« hofften sie ihrer Auffassung dennoch den Sieg zu erstreiten. Die Anträge wurden von der deutschen, österreichischen und italienischen Delegation eingebracht. Genosse Terracini verteidigte sie, eine leidenschaftliche Agitation wurde für ihre Annahme getrieben. Wie würde die Entscheidung fallen? Eine Atmosphäre höchster Spannung erfüllt den hohen, weiten Kremlsaal, wo das leuchtende Rot des kommunistischen Volkshauses dem funkelnden Gold des ehemaligen Fürstenpalastes Kälte und Prunkhaftigkeit nimmt. Jeden Nerv in Aufmerksamkeit gestrafft, folgen die Hunderte von Delegierten, die dicht zusammengedrängten Zuhörer den Verhandlungen.

Lenin ergreift das Wort. Die Ausführungen sind ein Meisterstück seiner Beredsamkeit. Ohne jeden rhetorischen Schmuck! Nur die Wucht des klaren Gedankens wirkt, die unerbittliche Logik der Argumentation, die konsequent festgehaltene Linie. Wie unbehauene Blöcke werden die Sätze hingeworfen und fügen sich zum einheitlichen Ganzen. Lenin will nicht blenden, nicht hinreißen, er will überzeugen. Er überzeugt und reißt hin. Nicht durch das tönende, schöne Wort, das berauscht, vielmehr durch den lichtvollen Geist, der ohne Selbsttäuschung die Welt der sozialen Erscheinungen in ihrer Wirklichkeit erfaßt und der mit grausamer Wahrhaftigkeit »ausspricht, was ist«. Jetzt wie schneidende Peitschenhiebe, nun wie zerschmetternde Keulenschläge sausen Lenins Darlegungen auf jene nieder, »die aus der Jagd auf die Rechten einen Sport machen« und nicht verstehen, was uns zum Siege führt. »Nur wenn wir im Kampfe selbst die Mehrheit der Arbeiterschaft und nicht die Mehrheit der Arbeiter allein, sondern die Mehrheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten auf unsere Seite bekommen, nur dann werden wir wirklich siegen.« Jeder empfindet: Die entscheidende Schlacht ist geschlagen. Als ich Lenin in heller Begeisterung die Hand schüttelte, konnte ich mich nicht enthalten, ihm zu sagen: »Wissen Sie, Lenin, bei uns würde ein Versammlungsleiter in Posemuckel sich scheuen, so einfach, so schlicht zu sprechen wie Sie. Er würde fürchten, ›nicht gebildet‹ genug zu sein. Ich kenne nur ein Seitenstück zu Ihrer Art der Rede. Es ist Tolstois große Kunst. Sie haben wie er die große, einheitliche, geschlossene Linie, den unerbittlichen Wahrheitssinn. Das ist Schönheit. Ist das vielleicht ein spezifisch slawischer Wesenszug?« »Das weiß ich nicht«, sagte Lenin. »Ich weiß nur, daß ich, als ich ›unter die Redner‹ ging, stets an Arbeiter und Bauern als meine Zuhörerschaft dachte. Ich wollte von ihnen verstanden werden. Wo immer ein Kommunist spricht, muß er an die Massen denken, muß er für sie sprechen. Es ist übrigens gut, daß niemand Ihre völkerpsychologischen Hypothesen gehört hat. Es könnte sonst heißen: Schau, schau, der Alte läßt sich durch Komplimente einwickeln. Wir müssen vorsichtig sein, damit nicht der Verdacht aufkommt, die beiden Alten verschwören sich gegen Links. Links wird natürlich gar nicht intrigiert und komplottiert.« Kräftig lachend ging Lenin aus dem Saale an die ihn erwartende Arbeit.

Am Tage meiner Abreise kam Lenin, um Abschied zu nehmen und mir »gute Lehren« mitzugeben, die mir nach seiner Ansicht »not taten«. »Sie sind natürlich von dem Ergebnis des Kongresses nicht voll befriedigt«, meinte er. »Sie machen kein Hehl daraus, daß Sie es unlogisch vom Kongreß finden, sich grundsätzlich, taktisch in eine Linie mit Paul Levi zu stellen und ihn trotzdem auszuschließen. Strafe muß sein. Ich denke dabei nicht bloß an Levis Fehler, von denen ich früher gesprochen habe. Ich denke insbesondere auch daran, wie sehr er es uns erschwert hat, die Taktik der Masseneroberung durchzusetzen. Auch er muß seine Fehler erkennen und eingestehen, um aus ihnen zu lernen, dann wird er bei seinen politischen Fähigkeiten bald wieder die Partei führen.« »Ich glaube«, antwortete ich, »daß es einen Weg gibt, auf dem Paul sich der Disziplin der Kommunistischen Internationale fügen könnte, ohne daß er sich seiner persönlichen Meinung nach etwas vergibt. Er legt sein Reichstagsmandat nieder und stellt das Erscheinen seiner Zeitschrift mit einem Heft ein, in dem er das Werk unseres III. Weltkongresses von der höchsten geschichtlichen Warte aus völlig objektiv wertet. Das schließt selbstredend die Kritik an diesem Werk nicht aus, sondern schließt sie ein. Ebenso eine Erklärung, daß er das Urteil des Kongresses gegen sich zwar als ein Unrecht empfindet und für unlogisch hält, daß er sich jedoch dessenungeachtet um der Sache willen fügt. Paul Levi könnte durch diesen Akt mannhafter Selbstüberwindung als Politiker und Mensch nicht verlieren, nur gewinnen. Er würde entgegen den schmutzigen Verdächtigungen seiner Gegner beweisen, daß ihm der Kommunismus über alles geht.«

»Ihr Vorschlag ist ganz ausgezeichnet«, äußerte sich Lenin, »aber wird der Ausgeschlossene ihm folgen? Jedenfalls wünsche ich, daß Ihr warmherziger Optimismus in der Beurteilung Levis recht behält und nicht der Pessimismus vieler anderer. Ich verspreche Ihnen nochmals, durch einen offenen Brief für die Wiederaufnahme Levis in die Partei einzutreten, wenn er selbst das nicht unmöglich macht. Doch zur Hauptsache! Im großen ganzen müssen uns die Entscheidungen unseres III. Kongresses mit Genugtuung erfüllen. Sie haben weittragende geschichtliche Bedeutung und bilden tatsächlich einen ›Wendepunkt‹ der Kommunistischen Internationale. Sie schließen die erste Periode ihrer Entwicklung zur revolutionären Massenpartei ab. Deshalb mußte der Kongreß gründlich mit den linken Illusionen aufräumen, daß die Weltrevolution ununterbrochen in ihrem stürmischen Anfangstempo weiterrase, daß wir von einer zweiten revolutionären Welle getragen würden und daß es einzig und allein vom Willen der Partei und ihrer Aktion abhänge, den Sieg an unsere Fahnen zu fesseln. Natürlich auf dem Papier und im Kongreßsaal ist es leicht, in einem von objektiven Bedingungen gereinigten, luftleeren Raum die Revolution zu ›machen‹ als ›glorreiche Tat der Partei allein‹, ohne Massen. Letzten Endes ist das gar keine revolutionäre, sondern eine ganz spießbürgerliche Auffassung. Die ›linken Dummheiten‹ fanden in der deutschen ›Märzaktion‹ und in der ›Offensivtheorie‹ den konkreten, schärfsten Ausdruck. So kam es, daß sie auf euren Rücken liquidiert werden mußten, daß ihr die Prügeljungen wart. In Wirklichkeit aber war die Abrechnung international.

Nun müßt ihr in Deutschland als einheitliche, straffe Partei die beschlossene Taktik durchführen. Der sogenannte Friedensvertrag zwischen euch, den wir zusammengeleimt haben, ist allein keine feste Grundlage dafür. Er ist ein Wisch, wenn ihr nicht von links und von rechts den guten, ehrlichen Willen daruntersetzt, als eine Partei auf einer klaren, bestimmten politischen Linie zu handeln. Trotz Ihrer Abneigung und Ihres Widerstrebens müssen Sie daher unbedingt in die Zentrale. Und Sie dürfen nicht wieder aus ihr herausspringen, auch wenn es Ihnen persönlich scheint, daß Sie dazu das Recht und sogar die Pflicht haben. Sie haben gar kein Recht als das, in schwerer Zeit der Partei und damit dem Proletariat zu dienen. Ihre Pflicht ist es jetzt, die Partei zusammenzuhalten. Ich mache Sie ganz persönlich dafür verantwortlich, daß es zu keiner Spaltung kommt, höchstens zu einer kleinen Absplitterung. Sie müssen streng sein mit den jungen Genossen, die noch ohne tiefere theoretische Schulung und ohne große praktische Erfahrung sind, und Sie müssen gleichzeitig viel Geduld mit ihnen haben. Ich bitte Sie, sich insbesondere des Genossen Reuter (Friesland) etwas anzunehmen. Er hat bei uns mehrere Jahre sehr eifrig und gut mitgearbeitet. Als Führer der ›radikalen‹ Berliner muß er in die Zentrale. Dadurch allein wird ein besseres Verhältnis zwischen ihnen und der Zentrale hergestellt. Wie ich Reuter kenne, wird er sich durch den ›Friedensvertrag‹ verpflichtet fühlen, auch mit den sogenannten Rechten kameradschaftlich zusammenzuarbeiten. Während des Kongresses habe ich allerdings eine gewisse Starrheit und Enge an ihm beobachtet, die wenig zur Führerschaft taugt, und wenn sie ins Wackeln und Rutschen kommt, gibt es meist kein Halten mehr.«

Hier unterbrach ich Lenins »gute Lehren« mit der erstaunten Frage: »Haben Sie denn darüber irgendwelche Vermutungen?« Mein Lehrmeister lachte: »Nein, aber Erfahrung.« Dann fuhr er fort: »Besonders wichtig ist es, daß Sie bei unserer Fahne tüchtige Genossen halten, die schon früher in der Arbeiterbewegung ihre Sporen verdient haben. Ich denke an Genossen wie Adolf Hoffmann, Fritz Geyer, Däumig, Fries und andere. Auch mit ihnen heißt es Geduld haben und nicht sofort die ›Reinheit des Kommunismus‹ für gefährdet und verloren halten, wenn ihnen gelegentlich einmal die klare, scharfe Formulierung eines kommunistischen Gedankens noch nicht gelingt. Diese Genossen haben den besten Willen, gute Kommunisten zu sein, und ihr müßt ihnen helfen, gute Kommunisten zu werden. Natürlich dürft ihr reformistischen Überlebseln der Auffassung keine Konzessionen machen. Der Reformismus darf nicht unter irgendwelcher falschen Flagge eingeschmuggelt werden. Ihr müßt aber Genossen dieser Art in Positionen bringen, wo sie gar nicht anders reden und handeln können, denn als Kommunisten. Vielleicht, ja wahrscheinlich werdet ihr trotzdem Enttäuschungen erleben. Wenn ihr einen Genossen verliert, der ›rückfällig‹ wird, so werdet ihr doch bei festem, klugem Auftreten zwei, drei, zehn Genossen behalten, die mit ihm zu euch gekommen und wirklich Kommunisten geworden sind. Genossen wie Adolf Hoffmann, Däumig usw. bringen Erfahrung und mancherlei Sachkenntnis in die Partei, und sie sind vor allem lebendige Bindeglieder zwischen ihr und breiten Arbeitermassen, deren Vertrauen sie besitzen. Auf die Massen kommt es an. Wir dürfen sie weder durch ›linke‹ Dummheiten noch durch ›rechte‹ Ängstlichkeiten kopfscheu machen. Und wir werden die Massen bekommen, wenn wir im kleinen und großen stets als konsequente Kommunisten handeln. Ihr in Deutschland müßt jetzt das Examen in der Taktik der Masseneroberung bestehen. Enttäuscht uns nicht, indem ihr den Anfang dazu mit der Parteispaltung macht. Immer an die Massen denken, Clara, und ihr kommt zur Revolution, wie wir zu ihr gekommen sind: mit den Massen, durch die Massen.«


Zweimal war ich nach diesem Abschiedsgespräch in Moskau gewesen, und wie ein dunkler Schatten hatte es auf meinem Aufenthalt gelegen, daß ich Lenin nicht sprechen, nicht sehen konnte. Schweres Leiden hatte ihn, den Urkräftigen, den Widerstandsstarken, niedergeworfen. Entgegen den düstersten Gerüchten und Prophezeiungen erholte er sich. Als ich Ende Oktober 1922 zum IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale reiste, wußte ich, daß ich Lenin wiedersehen würde. Er war so weit hergestellt, daß er ein Referat halten sollte über: »Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution«. Konnte es eine schönere Jubiläumsfeier der russischen Revolution geben, als daß ihr genesener genialster Führer über sie vor den Vertretern der revolutionären proletarischen Vorhut sprechen würde? Am zweiten Tage nach meiner Ankunft kam der Genosse, der meine Wohnung betreute und offenbar vom alten zum neuen »Regime« übergegangen war, in freudiger Erregung zu mir: »Genossin, Wladimir Iljitsch will Sie besuchen. Das ist nämlich der Herr Lenin. Er wird gleich hier sein.« Die Anmeldung wühlte mich so auf, daß mir für den Augenblick die Komik des »Herrn Lenin« gar nicht zum Bewußtsein kam. Ich sprang sofort vom Schreibtisch auf und eilte zur Tür. Da war er schon, Wladimir Iljitsch, in einer grauen Flauschjoppe, frisch, kräftig aussehend, wie vor den bösen Tagen der Krankheit. Während ich vor Glück lachte und weinte wie ein Kind, machte sich's Lenin neben dem Schreibtisch bequem. »Seien Sie ohne Sorge!« erwiderte er auf meine Fragen nach seinem Befinden, »ich fühle mich ganz wohl, ganz kräftig. Sogar ›vernünftig‹ bin ich geworden, oder was die Herren Doktoren so nennen. Ich arbeite, aber ich schone mich, halte mich dabei streng an die ärztlichen Vorschriften. Ich danke schön, ich will nicht wieder krank werden! Das ist eine üble Sache. Es gibt so viel zu tun, und Nadeshda Konstantinowna und Maria Iljinitschna dürfen nicht noch einmal die Sorgen- und Pflegelast haben. – Nun, die Weltgeschichte ist auch ohne mich in Rußland und überall weitergegangen. Die führenden Genossen haben in unserer Partei sehr, sehr kameradschaftlich zusammengearbeitet, und das ist die Hauptsache. Aber sie alle hatten übermäßig zu tun, und ich bin froh, wenn ich sie etwas entlasten kann.«

Genosse Lenin erkundigte sich dann, wie jedesmal, wenn er mit mir zusammentraf, herzlich nach meinen Söhnen und forderte mich schließlich auf, über Deutschland und die deutsche Partei zu berichten. Ich tat es in Kürze, von der Empfindung beherrscht, Lenin nicht ermüden zu dürfen. Dieser schien in Gedanken an unsere Gespräche während des III. Kongresses der Internationale anzuknüpfen. Er zog mich wegen meiner damaligen »Psychologie der Gutmütigkeit im Falle Levi« auf. »Weniger Psychologie, mehr Politik!« sagte er. »Nun, Sie haben ja in der Auseinandersetzung mit Levi gezeigt, daß Sie auch das können. Seine harte Abstrafung durch Sie war wohlverdient. Levi hat sich für uns rascher und gründlicher selbst erledigt, als das sein schlimmster Feind hätte tun können. Uns kann er nicht mehr gefährlich werden. Für uns ist er nur noch eine Nummer bei der Sozialdemokratie, nichts weiter. Er kann für uns nichts mehr sein, auch wenn er dort vielleicht noch eine gewisse Rolle spielen sollte. Das ist bei dem Verkommen dieser Partei nicht schwer. Für einen nahen Kampfgenossen und Freund Rosas und Karls ist es aber das schimpflichste Ende, das sich denken läßt, jawohl, das schimpflichste Ende. Deshalb war es auch ausgeschlossen, daß sein Abfall und Verrat die Kommunistische Partei ernstlich erschüttert und gefährdet hätte. Einige Zuckungen in kleinen Kreisen und die Absplitterung einiger Personen. Die Partei ist gesund, ist in ihrem Kern gesund. Sie ist auf dem besten Wege, Massenpartei zu werden, führende revolutionäre Massenpartei des deutschen Proletariats. – Und was ist's mit eurer Opposition?« fragte Lenin nach einer kleinen Pause. »Hat sie endlich gelernt, Politik zu betreiben, kommunistische Politik?« Ich gab eine Darstellung der einschlägigen Sachlage und schloß sie damit, daß die »Berliner Opposition«[Anmerkung 7] dem IV. Internationalen Kongreß die Aufgabe zugedacht habe, die Stellungnahme seines Vorgängers zu revidieren und rückgängig zu machen. »Zurück zum II. Kongreß« sei ihre Losung.

Lenin amüsierte sich über diese »beispiellose Naivität«, wie er sich wörtlich ausdrückte. »Die ›linken‹ Genossen halten die Kommunistische Internationale für die treue Penelope«, rief er heiter aus. »Aber unsere Internationale webt doch nicht am Tage, um in der Nacht das Gewebte aufzutrennen. Sie kann sich nicht den Luxus gönnen, einen Schritt vorwärts- und bald darauf einen Schritt zurückzugehen. Haben die Genossen keine Augen für das, was sich abspielt? Was hat sich in der Weltlage geändert, daß die Eroberung der Massen nicht mehr unsere vornehmste Aufgabe wäre? Solche ›Linken‹ sind wie die Bourbonen, sie haben nichts gelernt und nichts vergessen. Soweit ich unterrichtet bin, steckt hinter der ›linken‹ Kritik an den Fehlern der Durchführung der Einheitsfronttaktik der Wunsch, die Einheitsfronttaktik selbst zum Teufel zu schicken. Nicht aufheben, nein, bestätigen, unterstreichen, stark unterstreichen muß der bevorstehende Kongreß der Kommunistischen Internationale die Beschlüsse des III. Kongresses. Sie sind ein Fortschritt über die Arbeit des II. Kongresses hinaus. Wir müssen auf ihnen weiterbauen, sonst werden wir nicht zur Massenpartei, zur führenden revolutionären Klassenpartei des Proletariats. Wollen wir die Machteroberung, die Diktatur der Arbeiter, die Revolution, ja oder nein? Wenn ja, so gibt es heute wie gestern keinen anderen Weg, als ihn der III. Kongreß gezeigt hat.«

Bei einer späteren Begegnung während des Kongresses kam Lenin auf seine Meinungsäußerungen über die »linke Opposition« in Deutschland zurück. Er hatte inzwischen an einer Sitzung der deutschen Delegation teilgenommen, in der Artur König und besonders Ruth Fischer als Vertreter und Führer der »Linken« ihre Auffassung jener der Zentrale und der Parteimehrheit entgegengestellt hatten. Es geschah politisch außerordentlich schwach und überdies auffallend zahm und mild, wie die »linke Opposition« ja auch im Plenum des Kongresses überraschend »gemäßigt« auftrat, verglichen mit ihren wilden, kraftmeierischen Gebärden in Deutschland. Den Kopf leicht vorgeneigt, die Hand ans Ohr gelegt, folgte Lenin den Verhandlungen. Er beteiligte sich jedoch nicht an der Diskussion, murmelte aber zwei-, dreimal gegen die oppositionellen Darlegungen Bemerkungen, die nichts weniger als Sympathie und Zustimmung ausdrückten. Welchen Eindruck hatte er von der Sitzung davongetragen? Bei unserer zufälligen Begegnung fragte ich ihn danach.

Lenin erwiderte kopfschüttelnd: »Hm, hm! Ich begreife, daß es in der Situation bei euch so etwas wie eine ›linke Opposition‹ geben kann. Es gibt gewiß noch KAPdistische[Anmerkung 8] Stimmungen, unzufriedene, leidende Arbeiter, die revolutionär empfinden, aber politisch ungeschult und konfus sind. Es geht ihnen zu langsam vorwärts. Die Weltgeschichte scheint es nicht eilig zu haben; die unzufriedenen Arbeiter aber meinen, eure Parteileitung wolle es nicht eilig haben. Sie machen diese für das Tempo der Weltrevolution verantwortlich, kritteln und schimpfen. Das alles begreife ich. Aber was ich nicht begreife, das sind solche Führer der ›linken Opposition‹, wie ich sie gehört habe.« Mit beißendem Sarkasmus sprach sich Lenin über die »bessere Hälfte« der Linksdelegation aus. Er hielt ihr »Linkssein« für eine »persönliche Zufälligkeit«, für politisch grundsätzlich steuerlos. »Die Verbindung der Linken mit Maslow ist ganz schlimm. Ich habe meine Meinung über diesen Menschen nicht geändert.« Lebhaft rief Lenin zum Schluß aus: »Nein, solche Opposition, solche Führung imponiert mir ganz und gar nicht. Aber ich sage es offen heraus, ebensowenig imponiert mir eure Zentrale, die es nicht versteht, die nicht die Energie aufbringt, mit derartigen Demagogen kleinen Formats fertigzuwerden. Es müßte doch ein leichtes sein, solche Leutchen zu erledigen, die revolutionär gestimmten Arbeiter von ihnen loszulösen und politisch zu erziehen. Gerade weil es revolutionär gestimmte Arbeiter sind, während Radikale der vorliegenden Art im Grunde schlimmste Opportunisten sind.«

Doch zurück zu dem Besuch Lenins, der der Ausgangspunkt meiner Erinnerung war.

Lenin äußerte dann seine Befriedigung über die sichere, wenn auch noch langsame Belebung der Wirtschaft in Sowjetrußland. Er nannte Tatsachen und führte Zahlen an für die Fortschritte. »Doch darüber werde ich in meinem Referat sprechen«, brach er seinen Gedankengang ab. »Die mir von meinen ärztlichen Tyrannen zugebilligte Zeit für Besuche ist vorüber. Sie sehen, wie diszipliniert ich bin. Trotzdem muß ich Ihnen noch etwas erzählen, worüber Sie sich besonders freuen werden. Denken Sie, da bekomme ich neulich einen Brief aus dem abgelegenen Dörfchen ... (Den schweren Namen habe ich leider vergessen. C. Z.) Die etwa hundert Kinder eines Heims schreiben mir: ›Liebes Großväterchen Lenin! Wir wollen Dir erzählen, daß wir sehr brav geworden sind. Wir lernen fleißig. Wir lesen und schreiben schon gut. Wir machen viele und schöne Sachen. Wir waschen uns tüchtig jeden Morgen, und jedesmal waschen wir die Hände, wenn wir essen gehen. Wir wollen unserem Lehrer Freude machen. Er liebt uns nicht, wenn wir schmutzig sind‹, und so fort. Sehen Sie, liebe Clara, wir machen auf allen Gebieten Fortschritte, ernste Fortschritte. Wir lernen Kultur, wir waschen uns schon und gar täglich. Bei uns arbeiten schon die Kinderchen im Dorf am Aufbau Sowjetrußlands mit. Und da sollten wir fürchten, nicht zu siegen?« Lenin lachte, lachte sein altes, frohes Lachen, aus dem soviel Güte und Siegesgewißheit klang.

Ich hörte Lenins Referat über die russische Revolution, das Referat eines Genesenen, der den eisernen Willen zum eigenen Leben hat, um schöpferisch soziales Leben zu gestalten, die Worte eines Genesenen, nach dem jedoch der Tod schon erbarmungslos seinen beinernen Arm ausstreckte. Aber gleichwertig neben dieser letzten geschichtlichen Leistung steht mir unauslöschlich in der Seele der Schluß des letzten persönlichen Gespräches, das ich mit Lenin hatte – von kurzen Meinungsäußerungen bei gelegentlichen Begegnungen abgesehen. Es schließt sich mit meiner ersten »unpolitischen« Unterredung mit ihm zum Ringe. Hier wie dort der ganze Lenin, der gleiche Lenin. Lenin, der in dem Kleinen das Große sah, der das Kleine im inneren Zusammenhang mit dem Großen erfaßte und wertete. Lenin, der in Marx' Geist die innige Wechselwirkung zwischen Volksbildung und Revolution erkannte, für den die Volkserziehung Revolution, die Revolution Volkserziehung war. Lenin, der heiß, selbstlos das schaffende Volk liebte und namentlich die Kinder, die Zukunft dieses Volkes, die Zukunft des Kommunismus. Lenin, dessen Herz ebenbürtig war seinem Geist und seinem Willen und der deshalb der überragende große Führer des Proletariats werden konnte. Lenin, der stark und kühn, der ein Sieger ward, weil er ganz von einem erfüllt war: von der Liebe zu den schaffenden Massen, vom Vertrauen in die schaffenden Massen, vom Glauben an die Größe und Güte der Sache, an die er sein Leben hingab, vom Glauben an ihren Sieg. So konnte er das geschichtliche »Wunder« vollbringen. Er versetzte Berge.

Moskau, Ende Januar 1924

II

Wiederholt sprach Genosse Lenin mit mir über die Frauenfrage. Er legte offensichtlich der Frauenbewegung eine sehr große Bedeutung bei, und zwar als einem wesentlichen Bestandteil, unter Umständen als einem entscheidenden Bestandteil der Massenbewegung. Selbstverständlich war die volle soziale Gleichberechtigung der Frau für ihn ein Grundsatz, der für Kommunisten außerhalb jeder Diskussion steht. Es war in Lenins großem Arbeitszimmer im Kreml, wo wir im Herbst 1920 das erste längere Gespräch über den Gegenstand hatten. Lenin saß an seinem Schreibtisch, der mit Papieren und Büchern bedeckt von Studium und Arbeit ohne »geniale Unordnung« redete.

»Wir müssen unbedingt eine kräftige internationale Frauenbewegung schaffen, auf klarer theoretischer Grundlage«, so leitete Lenin das Gespräch nach der Begrüßung ein. »Ohne marxistische Theorie keine gute Praxis, das ist klar. Uns Kommunisten ist auch in dieser Frage größte grundsätzliche Reinheit nötig. Wir müssen uns von allen anderen Parteien scharf abgrenzen. Leider hat unser II. Internationaler Kongreß bei der Behandlung der Frauenfrage versagt. Er hat die Frage aufgerollt, ist aber nicht zu einer Stellungnahme gekommen. Die Sache steckt noch in einer Kommission. Sie soll eine Resolution ausarbeiten, Thesen, Richtlinien. Bis jetzt ist sie jedoch nicht weit gekommen. Sie müssen dabei helfen.«

Was Lenin sagte, hatte ich bereits von anderer Seite gehört und äußerte mein Erstaunen darüber. Ich war voller Enthusiasmus für das, was die russischen Frauen in der Revolution geleistet hatten und noch jetzt zu ihrer Verteidigung und Weiterentwicklung leisteten. Auch was die Stellung und Betätigung der Genossinnen in der bolschewistischen Partei anbelangt, erschien diese mir als eine Musterpartei, als die Musterpartei schlechthin. Sie allein schon brachte einer internationalen kommunistischen Frauenbewegung wertvolle, geschulte und erfahrene Kräfte und ein großes geschichtliches Beispiel zu.

»Das ist richtig, das ist ganz gut und schön«, meinte Lenin mit einem stillen, feinen Lächeln. »In Petrograd, hier in Moskau, in Städten und Industriezentren draußen im Lande haben sich die Proletarierinnen in der Revolution prächtig gehalten. Ohne sie hätten wir nicht gesiegt, oder auch kaum gesiegt. Das ist meine Meinung. Wie tapfer waren sie, wie tapfer sind sie noch jetzt! Stellen Sie sich all die Leiden und Entbehrungen vor, die sie tragen. Und sie halten aus, weil sie die Sowjets behaupten wollen, weil sie die Freiheit, den Kommunismus wollen. Jawohl, unsere Proletarierinnen sind prächtige Klassenkämpferinnen. Sie verdienen, daß man sie bewundert und liebt. Übrigens muß man anerkennen, daß auch die Damen der ›konstitutionellen Demokratie‹ in Petrograd sich viel tapferer gegen uns gezeigt haben als die Junkerlein. Das ist wahr. In der Partei haben wir zuverlässige, kluge und unermüdlich tätige Genossinnen. Wir konnten manchen wichtigen Posten in den Sowjets und Vollzugsausschüssen, in den Volkskommissariaten und öffentlichen Diensten jeder Art mit ihnen besetzen. Manche arbeiten Tag und Nacht in der Partei oder unter den Massen der Proletarier, der Bauern, in der Roten Armee. Das ist für uns sehr viel wert. Es ist auch wichtig für die Frauen überall in der Welt. Es beweist die Fähigkeiten der Frauen, den großen Wert, den ihre Arbeit für die Gesellschaft hat. Die erste Diktatur des Proletariats ist wahre Bahnbrecherin für die volle soziale Gleichberechtigung der Frau. Sie rottet mehr Vorurteile aus als Bände frauenrechtlerischer Literatur. Aber mit alledem haben wir noch keine internationale kommunistische Frauenbewegung, und die müssen wir unbedingt haben. Wir müssen sofort darangehen, sie zu schaffen. Ohne sie ist die Arbeit unserer Internationale und ihrer Parteien keine ganze Arbeit, wird sie nie ganze Arbeit sein. Wir müssen aber ganze Arbeit für die Revolution machen. Erzählen Sie mir, wie es mit der kommunistischen Arbeit draußen steht.«

Ich berichtete darüber, so gut ich damals bei der noch sehr losen und unregelmäßigen Verbindung zwischen den Parteien unterrichtet sein konnte, die sich der Kommunistischen Internationale angeschlossen hatten. Lenin hörte aufmerksam zu, den Oberkörper etwas vorgebeugt, ohne Anzeichen von Langeweile, Ungeduld oder Ermüdung, mit angespanntem Interesse auch Nebensächliches verfolgend. Ich habe niemand gekannt, der besser zuhörte als er und das Gehörte rasch ordnete und in allgemeine Zusammenhänge brachte. Das zeigten die kurzen, stets sehr bestimmten Fragen, die er ab und zu in den Bericht warf und das spätere Zurückkommen auf diese oder jene Einzelheit des Gesprächs. Lenin machte sich einige kurze Notizen.

Es war natürlich, daß ich besonders eingehend über den Stand der Dinge in Deutschland sprach. Ich erzählte Lenin, welch großes Gewicht Rosa Luxemburg darauf gelegt habe, daß wir die breitesten Frauenmassen für die revolutionären Kämpfe erfassen. Nach Gründung der Kommunistischen Partei drängte sie auf das Erscheinen eines Frauenblattes. Als Leo Jogiches bei seinem letzten Zusammensein mit mir – anderthalb Tage vor seiner Meuchelung – die nächsten Arbeiten der Partei mit mir besprach und mir verschiedene Aufgaben übertrug, gehörte dazu ein Plan für die Organisierung der Arbeit unter den werktätigen Frauen. Auf ihren ersten illegalen Konferenzen beschäftigte sich die Partei mit dieser Frage. Fast ausnahmslos waren die in der Vorkriegszeit und Kriegszeit hervorgetretenen geschulten und erfahrenen Agitatorinnen und Führerinnen bei der Sozialdemokratie beider Schattierungen geblieben und hielten die sich regenden und bewegenden Proletarierinnen in ihrem Gefolge. Jedoch hatte sich bereits ein kleiner Stamm sehr energischer, opferfreudiger Genossinnen gesammelt, die an allen Arbeiten und Kämpfen der Partei teilnahmen. Diese selbst aber hatte schon die planmäßige Tätigkeit unter den Proletarierinnen organisiert. Natürlich war alles noch Anfang, aber immerhin schon ein guter Anfang.

»Nicht übel, gar nicht übel!« sagte Lenin. »Die Energie, Opferfreudigkeit und Begeisterung der Genossinnen, ihr Mut und ihre Klugheit in der Zeit der Illegalität und der Halblegalität eröffnen eine gute Perspektive auf die Entwicklung der Arbeit. Es sind wertvolle Momente für die Ausdehnung der Partei und das Wachsen ihrer Kraft, die Massen zu ergreifen und Aktionen durchzuführen. Aber wie steht es mit der grundsätzlichen Klarheit und Schulung der Genossinnen und der Genossen in der Frage? Sie ist doch von grundlegender Bedeutung für die Arbeit unter den Massen. Sie ist von großem Einfluß darauf, was unter die Massen kommt, wofür sie gewonnen, begeistert werden. Ich kann mich im Augenblick nicht darauf besinnen, wer gesagt hat: ›Um große Dinge zu vollbringen, muß man begeistert sein.‹ Wir und die Werktätigen der ganzen Welt haben wirklich noch große Dinge zu vollbringen. Also wofür begeistern sich eure Genossinnen, die proletarischen Frauen Deutschlands? Wie steht es mit ihrem proletarischen Klassenbewußtsein, konzentrieren sie ihr Interesse, ihre Betätigung auf die politischen Forderungen der Stunde, was ist der Mittelpunkt ihrer Gedanken?

Darüber habe ich von russischen und deutschen Genossen Sonderbares gehört. Das muß ich sagen. Mir wurde erzählt, daß eine begabte Kommunistin in Hamburg eine Zeitung für die Prostituierten herausgibt und diese für den revolutionären Kampf organisieren will. Rosa hat als Kommunistin menschlich gefühlt und gehandelt, als sie sich in einem Artikel der Prostituierten annahm, die irgendein Vergehen gegen die Polizeivorschriften über die Ausübung ihres traurigen Gewerbes ins Gefängnis gebracht hat. Sie sind bedauernswerte doppelte Opfer der bürgerlichen Gesellschaft: erst ihrer verfluchten Eigentumsordnung und dann noch ihrer verfluchten moralischen Heuchelei. Das ist klar. Nur ein roher und kurzsichtiger Mensch kann das vergessen. Aber es ist doch etwas ganz anderes, das zu begreifen, als die Prostituierten – wie soll ich gleich sagen – als eine besondere zünftige revolutionäre Kampftruppe zu organisieren und eine Gewerbezeitung für sie herauszugeben. Gibt es in Deutschland wirklich keine Industriearbeiterinnen mehr, die zu organisieren sind, für die es ein Blatt geben sollte, die zu euren Kämpfen herangezogen werden müßten? Hier handelt es sich um einen krankhaften Auswuchs. Er erinnert mich stark an die literarische Mode, jede Prostituierte in eine süßliche Madonna umzudichten. Auch da war der Ursprung gesund: das soziale Mitgefühl, Auflehnung wider die Tugendheuchelei der ehrenwerten Bourgeois. Aber das Gesunde wurde bürgerlich angefressen und entartete. Übrigens: Die Frage der Prostitution wird uns auch hier noch manches schwierige Problem aufwerfen. Zurückführung der Prostituierten zur produktiven Arbeit, Eingliederung in die soziale Wirtschaft – darauf kommt es an. Aber bei dem jetzigen Stand unserer Wirtschaft und unter den gegebenen gesamten Umständen das durchzuführen, das ist schwer und kompliziert. Da haben Sie ein Stück Frauenfrage, das sich nach der Eroberung der Staatsmacht durch das Proletariat breit vor uns hinstellt und praktische Lösung fordert. Es wird uns hier in Sowjetrußland noch viel zu schaffen machen. Doch zurück zu eurem besonderen Fall in Deutschland. Die Partei darf keinesfalls solchem Unfug ihrer Mitglieder ruhig zusehen. Das stiftet Verwirrung und zersplittert Kräfte. Und Sie selbst, was haben Sie dagegen getan?«

Noch ehe ich antworten konnte, fuhr Lenin fort: »Ihr Sündenregister, Clara, ist noch größer. Es wurde mir erzählt, daß in den Lese- und Diskussionsabenden der Genossinnen besonders die sexuelle Frage, die Ehefrage behandelt werde. Sie sei Hauptgegenstand des Interesses, politischer Unterrichts- und Bildungsgegenstand. Ich glaubte meinen Ohren nicht trauen zu dürfen, als ich das hörte. Der erste Staat der proletarischen Diktatur ringt mit den Gegenrevolutionären der ganzen Welt. Die Lage in Deutschland selbst fordert die größte Konzentration aller proletarischen, revolutionären Kräfte zur Zurückwerfung der immer mehr vorwärtsdringenden Gegenrevolution. Die tätigen Genossinnen aber erörtern die sexuelle Frage und die Frage der Eheformen ›in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft‹. Sie halten es für ihre wichtigste Pflicht, die Proletarierinnen darüber aufzuklären. Die gelesenste Schrift soll die Broschüre einer jungen Wiener Genossin über die sexuelle Frage sein. Ein Schmarren! Was Richtiges darin steht, haben die Arbeiter schon längst bei Bebel gelesen. Nur nicht so langweilig, als ledernes Schema wie in der Broschüre, sondern agitatorisch packend, aggressiv gegen die Bourgeoisgesellschaft. Die Erweiterung durch die Freudschen Hypothesen sieht ›gebildet‹, ja nach Wissenschaft aus, ist aber Laienstümperei. Die Freudsche Theorie ist jetzt auch solch eine Modenarrheit. Ich bin mißtrauisch gegen die sexuellen Theorien der Artikel, Abhandlungen, Broschüren usw., kurz, gegen die Theorien jener spezifischen Literatur, die auf den Mistbeeten der bürgerlichen Gesellschaft üppig emporwächst. Ich bin mißtrauisch gegen jene, die stets nur auf die sexuelle Frage starren wie der indische Heilige auf seinen Nabel. Mir scheint, daß dieses Überwuchern sexueller Theorien, die zum größten Teile Hypothesen sind, oft recht willkürliche Hypothesen, aus einem persönlichen Bedürfnis hervorgeht, nämlich das eigene anormale oder hypertrophische Sexualleben vor der bürgerlichen Moral zu rechtfertigen und von ihr Duldsamkeit zu erbitten. Dieser vermummte Respekt vor der bürgerlichen Moral ist mir ebenso zuwider wie das Herumwühlen im Sexuellen. Es mag sich noch so wild und revolutionär gebärden, es ist doch zuletzt ganz bürgerlich. Es ist im besonderen eine Liebhaberei der Intellektuellen und der ihnen nahestehenden Schichten. In der Partei, beim klassenbewußten, kämpfenden Proletariat ist kein Platz dafür.«

Ich warf hier ein, daß die sexuelle Frage und die Ehefrage unter der Herrschaft des Eigentums und der bürgerlichen Ordnung vielgestaltige Probleme, Konflikte, Leiden für die Frauen aller sozialen Klassen und Schichten zeitige. Der Krieg und seine Folgen hätten gerade in den sexuellen Verhältnissen die vorliegenden Konflikte und Leiden für die Frauen außerordentlich verschärft, hätten Probleme sichtbar gemacht, die früher für sie verschleiert waren. Dazu füge sich die Atmosphäre der in Fluß gekommenen Revolution. Die alte Gefühls- und Gedankenwelt habe zu wanken begonnen. Die bisherigen sozialen Bindungen lockern sich und zerreißen, es zeigen sich die Ansätze zu neuen Beziehungen und Einstellungen von Mensch zu Mensch. Das Interesse für die einschlägigen Fragen sei ein Ausdruck des Bedürfnisses nach Aufhellung und Neuorientierung. Es offenbare sich darin auch eine Reaktion gegen die Unnatur und Heuchelei der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ehe- und Familienformen im Wandel der Geschichte, in ihrer Abhängigkeit von der Wirtschaft seien geeignet, im Denken der Proletarierinnen den Aberglauben von der Ewigkeit der bürgerlichen Gesellschaft zu zerstören. Eine kritisch-historische Stellung dazu müsse zur rücksichtslosen Zergliederung der bürgerlichen Ordnung, zur Enthüllung ihres Wesens und seiner Auswirkungen werden, die Brandmarkung der sexuellen Sittlichkeitsverlogenheit inbegriffen. Alle Wege führen nach Rom. Jede wirklich marxistische Analyse eines wichtigen Teils vom ideologischen Überbau der Gesellschaft, einer hervortretenden sozialen Erscheinung müsse zur Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Eigentumsgrundlage führen, müsse ausklingen in dem Carthaginem esse delendam.[Anmerkung 9] Lenin nickte lächelnd. »Da haben wir's. Sie sind eine advokatorische Verteidigerin Ihrer Genossinnen und Ihrer Partei! Natürlich stimmt das, was Sie sagen. Aber damit wird der in Deutschland begangene Fehler im günstigsten Falle entschuldigt, gerechtfertigt wird er nicht. Er ist und bleibt ein Fehler. Können Sie mir ernsthaft versichern, daß in den Lese- und Diskussionsabenden die Sexual- und Ehefrage vom Standpunkt des reifen, lebendigen historischen Materialismus aus behandelt wird? Das hat ein vielseitiges, tiefes Wissen zur Voraussetzung, klarste marxistische Bewältigung eines ungeheuren Materials. Wo habt ihr jetzt die Kräfte dafür? Wären sie vorhanden, so würde es nicht vorkommen, daß eine Broschüre wie die erwähnte bei den Lese- und Diskussionsabenden als Unterrichtsmaterial benutzt wird. Man empfiehlt und verbreitet sie, statt daß man sie kritisiert. Worauf denn läuft die unzulängliche, unmarxistische Behandlung der Frage hinaus? Daß die Sexual- und Ehefrage nicht als Teil der großen sozialen Frage erfaßt wird. Umgekehrt, daß die große soziale Frage als ein Teil, als ein Anhängsel der Sexualprobleme erscheint. Die Hauptsache tritt als Nebensache zurück. Das schadet nicht bloß der Klarheit in dieser einen Frage, das trübt das Denken, das Klassenbewußtsein der Proletarierinnen überhaupt.

Außerdem und nicht zuletzt! Schon der weise Salomo sagte, daß alles seine Zeit hat. Ich bitte Sie, ist jetzt die Zeit, monatelang die Proletarierinnen damit zu unterhalten, wie man liebt und sich lieben läßt, wie man freit und sich freien läßt? Natürlich ›in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft‹, bei verschiedenen Völkern, was man dann stolz historischen Materialismus nennt! Jetzt müssen alle Gedanken der Genossinnen, der Frauen des arbeitenden Volkes auf die proletarische Revolution gerichtet sein. Sie schafft auch für die notwendige Erneuerung der Ehe- und Sexualverhältnisse die Grundlage. Jetzt treten doch wahrhaftig andere Probleme in den Vordergrund als die Eheformen der Australneger und die Geschwisterehe in alter Zeit. Die Rätefrage steht für die deutschen Proletarier noch immer auf der Tagesordnung; der Versailler Vertrag und seine Auswirkungen im Leben der Frauenmassen, Arbeitslosigkeit, sinkende Löhne, Steuern und vieles andere. Kurz, ich bleibe dabei, daß diese Art politischer, sozialer Bildung der Proletarierinnen falsch ist, ganz und gar falsch. Wie konnten Sie zu ihr schweigen? Sie mußten Ihre Autorität dagegen einsetzen.«

An Kritik und Vorstellungen bei den führenden Genossinnen in den einzelnen Orten hätte ich es nicht fehlen lassen, erklärte ich dem eifernden Freunde. Allein, er wisse doch, ein Prophet gelte nichts in seinem Vaterlande und bei seiner Verwandtschaft. Ich hätte mich durch meine Kritik verdächtig gemacht, »starke Überlebsel sozialdemokratischer Einstellung und altmodischer Spießbürgerlichkeit« zu bewahren. Jedoch, schließlich sei die Kritik nicht vergeblich geblieben. Die Sexual- und Ehefrage sei nicht mehr der Mittelpunkt der Kurse und Diskussionsabende. Lenin verfolgte aber den angesponnenen Gedanken noch weiter.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er, »auch ich bin in dieser Beziehung bei manchen Leutchen der Philisterhaftigkeit etwas verdächtig, obgleich diese mir widerlich ist. Es steckt soviel Heuchelei und Beschränktheit in ihr. Na, ich trag's ruhig! Die kaum aus dem Ei bürgerlicher Anschauungen geschlüpften Vögelchen mit den gelben Schnäbeln sind stets furchtbar klug. Damit haben wir uns abzufinden, ohne uns zu bessern. Auch die Jugendbewegung krankt an der ›Modernität‹ der Einstellung zur sexuellen Frage und an der überwuchernden Beschäftigung mit ihr.« Lenin betonte das Wort Modernität ironisch und schnitt eine ablehnende Grimasse. »Wie mir von vielen berichtet worden ist«, redete er weiter, »ist die sexuelle Frage ebenfalls Lieblingsstudium in euren Jugendorganisationen. Es soll kaum genügend viel Vortragende darüber geben. In der Jugendbewegung ist dieser Unfug besonders schädlich, besonders gefährlich. Er kann sehr leicht bei den einzelnen zur Übersteigerung und Überhitzung des sexuellen Lebens beitragen, zur Verwüstung jugendlicher Gesundheit und Kraft. Sie müssen auch gegen diese Erscheinung ankämpfen. Die Frauen- und die Jugendbewegung haben doch nicht wenige Berührungspunkte. Überall sollten unsere Genossinnen planmäßig mit der Jugend zusammenarbeiten. Das ist eine Fortsetzung, eine Ausweitung und Erhöhung der Mütterlichkeit aus dem Individuellen in das Soziale. Und alles erwachende soziale Leben und Wirken der Frauen muß gefördert werden, damit sie die Enge ihrer spießbürgerlichen individuellen Heim- und Familienpsychologie abstreifen. Doch das nebenher.

Auch bei uns ist ein großer Teil der Jugend heftig dabei, die ›bürgerliche Auffassung und Moral‹ in der Sexualfrage zu ›revidieren‹. Und ich muß hinzusetzen, ein großer Teil unserer besten, unserer wirklich vielversprechenden Jugend. Es ist so, wie Sie vorhin meinten. In der Atmosphäre der Kriegsauswirkungen und der begonnenen Revolution lösen sich auf der sich umwälzenden wirtschaftlichen Grundlage der Gesellschaft die alten ideologischen Werte auf und verlieren ihre bindende Kraft. Die neuen Werte kristallisieren sich langsam, unter Kämpfen heraus. Auch in den Beziehungen von Mensch zu Mensch, zwischen Mann und Frau, revolutionieren sich die Gefühle und Gedanken. Neue Abgrenzungen werden gemacht zwischen dem Recht des einzelnen und dem Recht der Gesamtheit, also der Pflicht des einzelnen. Die Dinge sind noch in vollster chaotischer Gärung. Die Richtung, die Entwicklungskraft der verschiedenen einander widersprechenden Tendenzen treten noch nicht mit voller Klarheit hervor. Es ist ein langsamer und oft sehr schmerzhafter Prozeß des Vergehens und Werdens. Gerade auch auf dem Gebiet der sexuellen Beziehungen, der Ehe, der Familie. Der Verfall, die Fäulnis, der Schmutz der bürgerlichen Ehe mit ihrer schweren Lösbarkeit, ihrer Freiheit für den Mann, ihrer Versklavung für die Frau, die ekelhafte Verlogenheit der sexuellen Moral und Verhältnisse erfüllen die geistig Regsamsten und Besten mit tiefem Abscheu.

Der Zwang der bürgerlichen Ehe und der Familiengesetze der Bourgeoisstaaten verschärft Übel und Konflikte. Es ist der Zwang des ›heiligen‹ Eigentums. Er heiligt Käuflichkeit, Niedrigkeit, Schmutz. Die konventionelle Heuchelei der honetten bürgerlichen Gesellschaft tut das übrige. Die Menschen suchen ihr Recht gegen die herrschende Widerlichkeit und Unnatur. Und die Gefühle des einzelnen wandeln sich rasch, das Begehren und das Drängen nach Wechsel im Genuß gewinnen leicht ungezügelte Gewalt in einer Zeit, wo mächtige Reiche zertrümmert, alte Herrschaftsverhältnisse gesprengt werden, wo eine ganze gesellschaftliche Welt zu versinken beginnt. Sexual- und Ehereform in bürgerlichem Sinne genügt nicht. Eine Sexual- und Eherevolution ist im Anzuge, entsprechend der proletarischen Revolution. Es ist naheliegend, daß der dadurch aufgerollte sehr verwickelte Fragenkomplex wie die Frauen, so auch die Jugend besonders beschäftigt. Sie leidet wie jene ganz besonders schwer unter den heutigen sexuellen Mißständen. Sie rebelliert mit dem vollen Ungestüm ihrer Jahre dagegen. Das begreift sich. Nichts wäre falscher, als der Jugend mönchische Askese zu predigen und die Heiligkeit der schmutzigen bürgerlichen Moral. Allein, es ist bedenklich, wenn in jenen Jahren psychisch das Sexuelle zum Mittelpunkt wird, das schon physisch stark hervortritt. Wie verhängnisvoll wirkt sich das aus ...

Die veränderte Einstellung der Jugend zu den Fragen des sexuellen Lebens ist natürlich ›grundsätzlich‹ und beruft sich auf eine Theorie. Manche nennen ihre Einstellung ›revolutionär‹ und ›kommunistisch‹. Sie glauben ehrlich, daß dem so sei. Mir Altem imponiert das nicht. Obgleich ich nichts weniger als finsterer Asket bin, erscheint mir das sogenannte ›neue sexuelle Leben‹ der Jugend – manchmal auch des Alters – oft genug als rein bürgerlich, als eine Erweiterung des gutbürgerlichen Bordells. Das alles hat mit der Freiheit der Liebe gar nichts gemein, wie wir Kommunisten sie verstehen. Sie kennen gewiß die famose Theorie, daß in der kommunistischen Gesellschaft die Befriedigung des sexuellen Trieblebens, des Liebesbedürfnisses, so einfach und belanglos sei wie ›das Trinken eines Glases Wasser‹. Diese Glas-Wasser-Theorie hat einen Teil unserer Jugend toll gemacht, ganz toll. Sie ist vielen jungen Burschen und Mädchen zum Verhängnis geworden. Ihre Anhänger behaupten, daß sie marxistisch sei. Ich danke für einen solchen Marxismus, der alle Erscheinungen und Umwandlungen im ideologischen Überbau der Gesellschaft unmittelbar und gradlinig aus deren wirtschaftlicher Basis ableitet. Gar so einfach liegen denn doch die Dinge nicht. Das hat ein gewisser Friedrich Engels schon längst betreffs des historischen Materialismus festgestellt.

Die berühmte Glas-Wasser-Theorie halte ich für vollständig unmarxistisch und obendrein für unsozial. Im sexuellen Leben wirkt sich nicht bloß das Naturgegebene aus, sondern auch das Kulturgewordene, mag es nun hoch oder niedrig sein. Engels hat in seinem ›Ursprung der Familie‹ darauf hingewiesen, wie bedeutsam es ist, daß sich der allgemeine Geschlechtstrieb zur individuellen Geschlechtsliebe entwickelt und verfeinert hat. Die Beziehungen der Geschlechter zueinander sind doch nicht einfach ein Ausdruck des Wechselspiels zwischen der Wirtschaft der Gesellschaft und einem physischen Bedürfnis, das durch die physiologische Betrachtung gedanklich isoliert wird. Rationalismus, nicht Marxismus wäre es, die Umwandlung dieser Beziehungen für sich und losgelöst aus ihrem Zusammenhang mit der gesamten Ideologie unmittelbar auf die wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft zurückführen zu wollen. Nun gewiß! Durst will befriedigt sein. Aber wird sich der normale Mensch unter normalen Bedingungen in den Straßenkot legen und aus einer Pfütze trinken? Oder auch nur aus einem Glas, dessen Rand fettig von vielen Lippen ist? Wichtiger als alles ist aber die soziale Seite. Das Wassertrinken ist wirklich individuell. Zur Liebe gehören zwei, und ein drittes, ein neues Leben kann entstehen. In diesem Tatbestand liegt ein Gesellschaftsinteresse, eine Pflicht gegen die Gemeinschaft.

Als Kommunist habe ich nicht die geringste Sympathie für die Glas-Wasser-Theorie, auch wenn sie die schöne Etikette trägt: ›Befreiung der Liebe‹. Übrigens ist diese Befreiung der Liebe weder neu noch kommunistisch. Sie werden sich erinnern, daß sie zumal gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts als die ›Emanzipation des Herzens‹ in der schönen Literatur gepredigt wurde. In der Praxis der Bourgeoisie entpuppte sie sich als die Emanzipation des Fleisches. Die Predigt war damals talentvoller als heute, wie es mit der Praxis sich verhält, kann ich nicht beurteilen. Nicht etwa, als ob ich mit meiner Kritik die Askese predigen möchte. Fällt mir nicht ein! Der Kommunismus soll nicht Askese bringen, sondern Lebensfreude, Lebenskraft auch durch erfülltes Liebesleben. Jedoch meiner Ansicht nach gibt die jetzt häufig beobachtete Hypertrophie des Sexuellen nicht Lebensfreude und Lebenskraft, sie nimmt nur davon. In dem Zeitalter der Revolution ist das schlimm, ganz schlimm.

Zumal die Jugend braucht Lebensfreude und Lebenskraft. Ein gesunder Sport, Turnen, Schwimmen, Wandern, Leibesübungen jeder Art, Vielseitigkeit der geistigen Interessen. Lernen, studieren, untersuchen, soviel als möglich gemeinsam! Das alles wird der Jugend mehr geben als die ewigen Vorträge und Diskussionen über sexuelle Probleme und das sogenannte Ausleben. Gesunder Körper, gesunder Geist! Weder Mönch noch Don Juan, aber auch nicht als Mittelding den deutschen Philister. Sie kennen doch den jungen Genossen X.Y.Z. Ein prächtiger Bursche, hochbegabt. Ich fürchte, trotz allem wird nie etwas Rechtes aus ihm werden. Er saust und torkelt von Weibergeschichte zu Weibergeschichte. Das taugt nicht für den politischen Kampf, nicht für die Revolution. Ich wette nicht auf die Zuverlässigkeit, die Ausdauer im Kampf jener Frauen, bei denen sich der persönliche Roman mit der Politik verschlingt. Auch nicht der Männer, die jedem Unterrock nachlaufen und sich von jedem jungen Weibchen bestricken lassen. Nein, nein, das verträgt sich nicht mit der Revolution!« Lenin sprang auf, schlug mit der Hand auf den Tisch und machte einige Schritte im Zimmer.

»Die Revolution fordert Konzentration, Steigerung der Kräfte. Von den Massen, von den einzelnen. Sie duldet keine orgiastischen Zustände, wie sie für D'Annunzios dekadente Helden und Heldinnen das Normale sind. Die Zügellosigkeit des sexuellen Lebens ist bürgerlich, ist Verfallserscheinung. Das Proletariat ist eine aufsteigende Klasse. Es braucht nicht den Rausch zur Betäubung oder als Stimulus – so wenig den Rausch sexueller Übersteigerung wie den Rausch durch Alkohol. Es darf und will nicht sich vergessen, nicht vergessen die Abscheulichkeit, den Schmutz, die Barbarei des Kapitalismus. Es empfängt die stärksten Antriebe zum Kampf aus seiner Klassenlage, aus dem kommunistischen Ideal. Es braucht Klarheit, Klarheit und nochmals Klarheit. Deshalb, ich wiederhole es, keine Schwächung, Vergeudung, Verwüstung von Kräften. Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin ist nicht Sklaverei, auch nicht in der Liebe. Doch entschuldigen Sie, Clara! Ich bin weit abgekommen vom Ausgangspunkt unseres Gespräches. Warum haben Sie mich nicht zur Ordnung gerufen? Mir ist die Zunge mit Sorgen durchgegangen. Die Zukunft unserer Jugend liegt mir sehr am Herzen. Es ist ein Stück der Revolution. Und wenn sich schädliche Erscheinungen zeigen, die aus der bürgerlichen Gesellschaft in die Welt der Revolution hinüberkriechen – wie die Wurzeln mancher Wucherpflanzen sich weit verbreiten –, so ist es besser, frühzeitig dagegen aufzutreten. Die berührten Fragen sind übrigens ja auch Teile der Frauenfragen.«

Lenin hatte mit großer Lebhaftigkeit und Eindringlichkeit gesprochen. Ich fühlte an jedem Wort, daß es ihm aus der Seele kam, der Ausdruck seiner Züge bekräftigte es. Manchmal unterstrich eine energische Handbewegung einen Gedanken. Ich bewunderte, daß Lenin neben überragenden großen politischen Fragen auch Einzelerscheinungen soviel Aufmerksamkeit zuwandte und sich mit ihnen auseinandersetzte. Und das nicht bloß in Sowjetrußland, sondern auch in den noch kapitalistischen Staaten. Als der vorzügliche Marxist, der er war, erfaßte er das einzelne, wo und in welcher Gestalt es sich zeigte, in seinem Zusammenhang mit dem Großen, dem Ganzen und in seiner Bedeutung dafür. Sein Lebenswille, sein Lebensziel waren einheitlich, unerschütterlich wie eine unwiderstehliche Naturgewalt auf das eine gerichtet: auf die Beschleunigung der Revolution als Massenwerk. So wertete er alles in seiner Auswirkung auf die bewußten Triebkräfte der Revolution. National wie international, denn vor seinen Augen stand stets bei voller Würdigung des historisch gegebenen Besonderen in den einzelnen Ländern und der verschiedenen Entwicklungsetappen die eine, unteilbare proletarische Weltrevolution.

»Wie bedaure ich, daß nicht Hunderte, nicht Tausende Ihre Worte gehört haben, Genosse Lenin!« rief ich aus. »Sie wissen ja, mich brauchen Sie nicht zu bekehren. Aber wie wichtig wäre es, daß Freund und Feind Ihre Meinung hörten.« Lenin lächelte gutmütig. »Vielleicht spreche oder schreibe ich einmal über die angeschnittenen Fragen. Später – jetzt nicht! Jetzt muß alle Kraft und Zeit auf andere Dinge konzentriert werden. Es gibt größere, schwerere Sorgen. Der Kampf um die Behauptung und die Befestigung des Sowjetstaates ist noch lange nicht zu Ende. Wir müssen den Ausgang des Krieges mit Polen verdauen und das Beste daraus zu machen suchen. Im Süden steht noch Wrangel. Nun, ich habe die feste Zuversicht, daß wir damit fertigwerden. Das wird auch den englischen und französischen Imperialisten und ihren kleinen Vasallen zu denken geben. Wir haben aber noch den schwierigsten Teil unserer Aufgabe vor uns: den Aufbau. Damit werden sich auch die Fragen der sexuellen Beziehungen, der Ehe und Familie als aktuell hervordrängen. Inzwischen müßt ihr euch damit herumschlagen, wann und wo es not tut. Ihr müßt verhindern, daß diese Fragen unmarxistisch behandelt werden und den Nährboden abgeben für zerrüttende Abweichungen und Quertreibereien. Und damit komme ich endlich auf Ihre Arbeit.«

Lenin blickte auf die Uhr. »Die mir für Sie zur Verfügung stehende Zeit ist schon zur Hälfte abgelaufen«, sagte er. »Ich habe mich verplaudert. Sie sollen Richtlinien für die kommunistische Arbeit unter den Frauenmassen ausarbeiten. Ich kenne Ihre prinzipielle Einstellung und praktische Erfahrung. Unsere Aussprache über die Arbeit kann daher kurz sein. Also schießen Sie los. Wie denken Sie sich die Richtlinien?« Ich gab einen gedrängten Überblick darüber. Lenin nickte wiederholt zustimmend, ohne mich zu unterbrechen. Als ich geendet hatte, schaute ich fragend zu ihm hin. »Einverstanden!« meinte er. »Besprechen Sie die Arbeit noch mit Sinowjew. Es ist auch gut, wenn Sie darüber in einer Sitzung der führenden Genossinnen berichten und diskutieren. Schade, sehr schade, daß Genossin Inessa nicht hier ist. Sie ist krank nach dem Kaukasus gefahren. Nach der Diskussion schreiben Sie die Richtlinien. Eine Kommission wird sie beraten, und die Exekutive wird zuletzt entscheiden. Ich will mich nur zu einigen Hauptpunkten äußern, in denen ich Ihre Einstellung durchaus teile. Sie scheinen mir auch für unsere laufende Agitations- und Propagandaarbeit wichtig, wenn diese Arbeit Aktion, Kampf vorbereiten und erfolgreich machen soll.

Die Richtlinien müssen scharf zum Ausdruck bringen, daß wahre Frauenbefreiung nur möglich ist durch den Kommunismus. Der unlösbare Zusammenhang zwischen der sozialen und menschlichen Stellung der Frau und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln ist stark herauszuarbeiten. Damit wird die feste, unverwischbare Trennungslinie gegen die Frauenrechtelei gezogen. Damit ist aber auch die Grundlage gegeben, die Frauenfrage als Teil der sozialen Frage, der Arbeiterfrage aufzufassen und als solche fest mit dem proletarischen Klassenkampf und der Revolution zu verbinden. Die kommunistische Frauenbewegung selbst muß Massenbewegung sein, ein Teil der allgemeinen Massenbewegung, nicht nur der Proletarier, sondern der Ausgebeuteten und Unterdrückten jeder Art, aller Opfer des Kapitalismus oder eines Herrschaftsverhältnisses. Darin liegt auch ihre Bedeutung für die Klassenkämpfe des Proletariats und für seine geschichtliche Schöpfung: die kommunistische Gesellschaft. Wir können mit Recht stolz darauf sein, daß wir eine Elite revolutionärer Frauen in der Partei, in der Kommunistischen Internationale haben. Aber das ist nicht entscheidend. Wir müssen die Millionen werktätiger Frauen in der Stadt und im Dorfe für uns gewinnen. Für unsere Kämpfe und ganz besonders für die kommunistische Umwälzung der Gesellschaft. Ohne die Frauen gibt es keine wirkliche Massenbewegung.

Aus unserer ideologischen Auffassung ergibt sich das Organisatorische: Keine Sondervereinigungen von Kommunistinnen. Wer Kommunistin ist, gehört als Mitglied in die Partei wie der Kommunist. Mit gleichen Pflichten und Rechten. Darüber kann es keine Meinungsverschiedenheit geben. Jedoch dürfen wir uns einer Erkenntnis nicht verschließen. Die Partei muß Organe haben, Arbeitsgruppen, Kommissionen, Ausschüsse, Abteilungen oder wie sonst man sagen mag, deren besondere Aufgabe es ist, die breitesten Frauenmassen zu wecken, mit der Partei zu verbinden und dauernd unter ihrem Einfluß zu halten. Dazu gehört natürlich, daß wir ganz systematisch unter diesen Frauenmassen tätig sind. Wir müssen die Erweckten schulen und für die proletarischen Klassenkämpfe unter Führung der Kommunistischen Partei gewinnen und ausrüsten. Ich denke dabei nicht allein an die Proletarierinnen, ob sie nun in der Fabrik oder am häuslichen Herd stehen. Mir sind dabei auch die Kleinbäuerinnen gegenwärtig, die Kleinbürgerinnen der verschiedenen Schichten. Auch sie alle sind die Beute des Kapitalismus, und seit dem Krieg mehr als je. Die unpolitische, unsoziale, rückständige Psyche dieser Frauenmassen, ihr isolierender Betätigungskreis, der gesamte Zuschnitt ihres Lebens sind Tatsachen. Es wäre töricht, sie nicht zu beachten, absolut töricht. Wir brauchen eigene Organe zur Arbeit unter ihnen, besondere Agitationsmethoden und Organisationsformen. Das ist nicht Feminismus, das ist praktische, revolutionäre Zweckmäßigkeit.«

Ich sagte Lenin, daß seine Darlegungen mir eine wertvolle Ermutigung seien. Viele Genossen, sehr gute Genossen, bekämpften es auf das entschiedenste, daß die Partei Sonderorgane für die planmäßige Arbeit unter den Frauenmassen schaffe. Sie verfemten das als Frauenrechtelei und Rückfall in sozialdemokratische Traditionen. Sie machten geltend, daß die kommunistischen Parteien, weil sie die Frauen grundsätzlich gleichberechtigen, in der Folge auch ohne Differenzierung unter den werktätigen Massen überhaupt in ihrer Gesamtheit tätig zu sein hätten. Die Frauen müßten zusammen mit den Männern und unter den gleichen Bedingungen wie sie erfaßt werden. Jede agitatorische und organisatorische Berücksichtigung der von Lenin hervorgehobenen Umstände werde von den Verfechtern der gegenteiligen Ansicht als Opportunismus, als Preisgabe und Verrat des Prinzips gekennzeichnet.

»Das ist nichts Neues und kein Beweis«, meinte Lenin. »Ihr dürft euch dadurch nicht beirren lassen. Warum haben wir nirgends – nicht einmal bei uns in Sowjetrußland – ebensoviel Frauen als Männer in der Partei? Warum ist die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen so klein? Die Tatsachen geben zu denken. Die Ablehnung der unentbehrlichen besonderen Organe für unsere Arbeit unter den breiten Frauenmassen ist ein Ableger der auch sehr grundsätzlichen, sehr radikalen Auffassung unserer lieben Freunde von der Kommunistischen Arbeiterpartei. Danach darf es nur eine einzige Organisationsform geben: die Arbeiterunion. Ich kenne das. Die Berufung auf das Prinzip stellt sich bei manchen revolutionär gesinnten, aber unklaren Köpfen immer dann ein, ›wenn sonsten die Begriffe fehlen‹, das heißt, wenn der Sinn sich den nüchternen Tatsachen verschließt, die berücksichtigt werden müssen. Wie finden solche Hüter des ›reinen Prinzips‹ sich mit den uns historisch aufgezwungenen Notwendigkeiten unserer Revolutionspolitik ab? All das Gerede bricht vor der unerbittlichen Notwendigkeit zusammen. Ohne Millionen Frauen mit uns können wir nicht die proletarische Diktatur ausüben, können wir nicht kommunistisch aufbauen. Wir müssen den Weg zu ihnen suchen, müssen studieren, probieren, um ihn zu finden.

Es ist daher auch richtig, daß wir Forderungen zugunsten der Frauen erheben. Das ist kein Mindest- und Reformprogramm im Sinne der Sozialdemokratie, der II. Internationale. Kein Bekenntnis, daß wir an die Ewigkeit oder auch nur an eine lange Dauer der Bourgeoisherrlichkeit und ihres Staates glauben. Kein Versuch, die Frauenmassen durch Reformen zu besänftigen und vom Wege des revolutionären Kampfes zu locken. Das alles und anderer reformistischer Schwindel mehr ist es durchaus nicht! Unsere Forderungen sind nur praktische Schlußfolgerungen, die wir aus den brennenden Nöten, den schändlichen Demütigungen der Frauen als Schwache und Rechtlose in der bürgerlichen Ordnung ziehen. Wir beweisen dadurch, daß wir diese Nöte kennen und die Demütigungen der Frau, das Vorrecht des Mannes fühlen. Daß wir alles hassen, jawohl, hassen und beseitigen wollen, was die Arbeiterin, die Arbeiterfrau, die Bäuerin, die Frau des kleinen Mannes, ja in mancher Beziehung sogar auch die Frau der besitzenden Klassen drückt und quält. Die Rechte und sozialen Maßregeln, die wir für die Frauen von der bürgerlichen Gesellschaft verlangen, sind Beweise dafür, daß wir die Lage und Interessen der Frauen verstehen und unter der proletarischen Diktatur berücksichtigen werden. Natürlich nicht als einschläfernde und bevormundende Reformisten – nein, gewiß nicht –, als Revolutionäre, die die Frauen aufrufen, als Gleichberechtigte selbst mit an der Umwälzung der Wirtschaft und des ideologischen Überbaus zu arbeiten!«

Ich versicherte Lenin, daß ich seine Auffassung teile, doch werde sie gewiß auf Widerstand stoßen. Unsichere und ängstliche Gemüter würden sie als bedenklichen Opportunismus zurückweisen. Auch sei nicht zu leugnen, daß unsere Gegenwartsforderungen für die Frauen falsch aufgefaßt und ausgelegt werden könnten. »Ach was!« rief Lenin etwas unwirsch aus. »Diese Gefahr besteht für alles und jedes, was wir sagen und tun. Wenn wir uns aus Furcht vor ihr abhalten lassen, das Zweckmäßige und Nötige zu tun, so können wir uns gleich zu indischen Säulenheiligen machen. Nicht rühren, nur nicht rühren, wir könnten von der hohen Säule unserer Grundsätze herunterpurzeln! In unserem Falle kommt es doch nicht allein auf das Was unserer Forderungen an, sondern auch auf das Wie. Ich glaube das klar genug angedeutet zu haben. Es versteht sich, daß wir unsere Forderungen für die Frauen nicht wie die Perlen eines Rosenkranzes propagandistisch abbeten. Nein, je nach den vorliegenden Umständen müssen wir bald für diese, bald für jene kämpfen. Natürlich stets im Zusammenhang mit den allgemeinen proletarischen Interessen.

Jeder solche Kampf bringt uns in Gegensatz zu der ehrenwerten bürgerlichen Sippschaft und zu ihren nicht weniger ehrenwerten reformistischen Lakaien. Er zwingt diese, entweder unter unserer Führung mitzukämpfen – was sie nicht wollen – oder aber sich selbst zu entlarven. Also, der Kampf grenzt uns ab und zeigt unser kommunistisches Gesicht. Er gewinnt uns das Vertrauen von breiten Frauenmassen, die sich ausgebeutet, versklavt, zertreten fühlen durch die Herrschaft des Mannes, durch die Macht des Unternehmers, durch die ganze bürgerliche Gesellschaft. Von allen verraten, verlassen, erkennen die schaffenden Frauen, daß sie mit uns zusammen kämpfen müssen. Muß ich Ihnen noch besonders schwören oder Sie schwören lassen, daß auch die Kämpfe für die Frauenforderungen mit dem Ziel verbunden werden müssen: Eroberung der Macht, Aufrichtung der proletarischen Diktatur? Das ist und bleibt in dieser Zeit unser Alpha und Omega. Das ist klar, ganz klar! Aber die breitesten Frauenmassen des schaffenden Volkes werden sich nicht unwiderstehlich getrieben fühlen, unsere Kämpfe um die Staatsmacht zu teilen, wenn wir dazu stets nur diese eine Forderung blasen, und wäre es mit den Posaunen von Jericho. Nein, nein! Wir müssen unsere Aufforderung auch im Bewußtsein der Frauenmassen politisch mit den Leiden, Bedürfnissen, Wünschen der werktätigen Frauen verknüpfen. Sie müssen wissen, was für sie die proletarische Diktatur bedeutet: volle Gleichberechtigung mit dem Mann im Gesetz und in der Praxis, in der Familie, im Staat, in der Gesellschaft; Knebelung der Macht der Bourgeoisie.«

»Sowjetrußland beweist es«, rief ich dazwischen. »Das wird unser großes Schulbeispiel sein.« Lenin fuhr fort: »Sowjetrußland rückt unsere Frauenforderungen in ein neues Licht. Unter der proletarischen Diktatur sind sie nicht Kampfobjekt zwischen Proletariat und Bourgeoisie; durchgeführt, werden sie Bausteine der kommunistischen Ordnung. Das zeigt den Frauen draußen die entscheidende Wichtigkeit der Machteroberung durch das Proletariat. Der Unterschied muß scharf herausgearbeitet werden, damit ihr die Frauenmassen für die revolutionären Klassenkämpfe des Proletariats habt. Ihre Mobilisation, durchgeführt in klarer grundsätzlicher Erkenntnis und auf fester organisatorischer Basis, ist eine Lebensfrage der kommunistischen Parteien und ihrer Siege. Täuschen wir uns jedoch nicht. Unseren nationalen Sektionen fehlt noch immer das richtige Verständnis dafür. Sie sind abwartend, lässig, angesichts der Aufgabe, eine Massenbewegung der werktätigen Frauen unter kommunistischer Führung zu schaffen. Sie begreifen nicht, daß die Entfaltung und Leitung einer solchen Massenbewegung ein wichtiger Teil der gesamten Parteitätigkeit ist, ja, die Hälfte der allgemeinen Parteiarbeit. Ihre gelegentliche Anerkennung der Notwendigkeit und des Wertes einer kräftigen, zielklaren kommunistischen Frauenbewegung ist ein platonisches Lippenbekenntnis, nicht stete Sorge und Arbeitspflicht der Partei.

Man betrachtet die agitatorische und propagandistische Betätigung unter den Frauenmassen, deren Erweckung und Revolutionierung als etwas Nebensächliches, als Angelegenheit der Genossinnen allein. Ihnen allein macht man es zum Vorwurf, daß es damit nicht schneller und kräftiger vorwärtsgeht. Das ist falsch, grundfalsch! Wirklicher Separatismus und Frauenrechtelei à rebours, wie die Franzosen sagen; umgekehrte Frauenrechtelei! Was liegt denn der falschen Einstellung unserer nationalen Sektionen zugrunde? Ich spreche nicht über Sowjetrußland. Letzten Endes nichts anderes als die Geringschätzung der Frau und ihrer Leistungen. Jawohl! Leider heißt es auch bei vielen unserer Genossen: ›Kratzt den Kommunisten, und der Philister erscheint‹. Natürlich muß man an der empfindlichen Stelle kratzen, an seiner Mentalität in puncto Frau. Gibt es einen drastischeren Beweis dafür, als daß die Männer ruhig zusehen, wie die Frauen bei der kleinlichen, eintönigen, kraft- und zeitzersplitternden und verzehrenden Arbeit im Einzelhaushalt verkümmern, daß ihr Geist dabei eng und matt, ihr Herzschlag träge, ihr Wille schwach wird? Ich spreche natürlich nicht von den Damen der Bourgeoisie, die alle häuslichen Arbeiten, die Kinderpflege inbegriffen, auf Mietlinge abwälzen. Was ich sage, gilt für die ungeheure Mehrzahl der Frauen, auch der Arbeiterfrauen und sogar dann, wenn sie tagsüber in der Fabrik stehen und verdienen.

Die wenigsten Männer – auch die Proletarier nicht – denken daran, wie manche Mühe und Plage sie der Frau erleichtern, ja, ganz abnehmen könnten, wenn sie bei ›Weiberarbeit‹ zugreifen wollten. Aber nein, das ist gegen ›das Recht und die Würde des Mannes‹, die verlangen, daß er seine Ruhe und Bequemlichkeit hat. Das häusliche Leben der Frau ist ein tägliches Geopfertwerden bei tausend nichtigen Kleinigkeiten. Das alte Herrenrecht des Mannes lebt versteckt weiter. Objektiv nimmt seine Sklavin ihre Rache dafür – ebenfalls versteckt. Die Rückständigkeit der Frau, ihre Verständnislosigkeit für die revolutionären Ideale des Mannes vermindern dessen Kampffreudigkeit und Kampfentschlossenheit. Sie gleichen winzigem Gewürm, das unbeachtet, langsam aber sicher zermürbt und zernagt. Ich kenne das Arbeiterleben – und nicht bloß aus Büchern. Unsere kommunistische Arbeit unter den Frauenmassen, unsere politische Arbeit unter ihnen, schließt ein großes Stück Erziehungsarbeit unter den Männern in sich ein. Wir müssen den alten Herrenstandpunkt bis zur letzten, feinsten Wurzel ausrotten – in der Partei und bei den Massen. Es gehört das zu unserer politischen Aufgabe, ebenso wie die dringend nötige Herausbildung eines Stabes von Genossinnen und Genossen, die in Theorie und Praxis gründlich geschult die Parteitätigkeit unter den werktätigen Frauen durchführen und leisten.«

Auf meine Frage nach den einschlägigen Verhältnissen in Sowjetrußland antwortete Lenin: »Die Regierung der proletarischen Diktatur bietet natürlich im Bunde mit der Kommunistischen Partei und den Gewerkschaften alles auf, um die rückständige Auffassung der Männer und Frauen zu überwinden, um der alten unkommunistischen Psychologie den Boden zu entziehen. Eine Selbstverständlichkeit ist die volle Gleichberechtigung von Frau und Mann in der Gesetzgebung. Auf allen Gebieten zeigt sich das aufrichtige Bestreben, die Gleichberechtigung durchzuführen. Wir gliedern die Frauen in die soziale Wirtschaft, Verwaltung, Gesetzgebung und Regierung ein. Wir öffnen ihnen alle Kurse und Bildungsanstalten, um ihre berufliche und soziale Leistungsfähigkeit zu heben. Wir gründen Gemeinschaftsküchen und öffentliche Speisehäuser, Wasch- und Reparaturanstalten, Krippen, Kindergärten, Kinderheime, Erziehungsinstitute verschiedener Art. Kurz, wir machen ernst mit unserer programmatischen Forderung, die wirtschaftlichen und erzieherischen Funktionen des Einzelhaushaltes der Gesellschaft zu übertragen. Dadurch wird die Frau von der alten Haussklaverei und jeder Abhängigkeit vom Manne erlöst. Es wird ihr je nach Begabung und Neigung volles Wirken in der Gesellschaft ermöglicht. Die Kinder erhalten günstigere Entwicklungsbedingungen als daheim. Wir haben die fortgeschrittensten Arbeiterinnenschutzgesetze der Welt, und die Beauftragten der organisierten Arbeiter führen sie durch. Wir errichten Entbindungsanstalten, Mütter- und Säuglingsheime, organisieren Mütterberatungsstellen, Kurse für Säuglings- und Kleinkinderpflege, Ausstellungen für Mutter- und Säuglingsschutz und ähnliches. Wir machen die ernstesten Anstrengungen, um den Nöten unversorgter, arbeitsloser Frauen zu steuern.

Wir wissen sehr gut, daß das noch nicht viel ist, gemessen an den Bedürfnissen der arbeitenden Frauenmassen, daß es bei weitem noch nicht alles zu ihrer tatsächlichen Befreiung ist. Dennoch ist es ein ungeheurer Fortschritt, verglichen mit dem, was im zaristisch-kapitalistischen Rußland war. Es ist sogar viel, verglichen mit dem, was dort ist, wo der Kapitalismus noch unumschränkt herrscht. Es ist ein guter Anfang in der rechten Richtung, und wir werden ihn konsequent weiterentwickeln, mit aller Energie; das könnt ihr draußen glauben! Denn mit jedem Tag Existenz des Sowjetstaates zeigt sich deutlicher, daß wir ohne die Frauenmillionen nicht vorwärtskommen. Stellen Sie sich vor, was das in einem Lande bedeutet, wo gut 80 Prozent der Bevölkerung Bauern sind. Kleinbauernwirtschaft besagt Einzelhaushalt, Fesselung der Frau an ihn. Ihr werdet es in dieser Hinsicht soviel besser und leichter haben als wir. Vorausgesetzt, daß auch eure Proletarier endlich einmal die geschichtliche Reife der Dinge für die Machteroberung, die Revolution begreifen. Indessen, wir verzweifeln trotz großer Schwierigkeiten nicht. Mit ihnen wachsen unsere Kräfte. Die Notwendigkeit der Praxis wird uns auch für die Entsklavung der Frauenmassen auf neue Wege stoßen. Im Zusammenwirken mit dem Sowjetstaat wird die Genossenschaftlichkeit Großes leisten. Natürlich Genossenschaftlichkeit in kommunistischem, nicht in bürgerlichem Sinne, wie die Reformisten sie predigen, deren früherer revolutionärer Enthusiasmus in billigen Essig verdunstet ist. Hand in Hand mit der Genossenschaftlichkeit muß auch eine persönliche Initiative gehen, die Gemeinschaftsbetätigung wird und mit ihr verschmilzt. Unter der proletarischen Diktatur wird die Befreiung der Frau durch den sich verwirklichenden Kommunismus auch auf dem Dorfe vor sich gehen. Ich hoffe dafür das Beste von der Elektrifizierung unserer Industrie und Landwirtschaft. Ein grandioses Werk, das! Groß, ungeheuer groß sind die Schwierigkeiten seiner Durchführung. Die gewaltigsten Massenkräfte müssen zu ihrer Meisterung gelöst, erzogen werden. Millionen Frauenkräfte müssen dabeisein.«

Während der letzten zehn Minuten hatte es zweimal geklopft. Lenin hatte weitergesprochen. Jetzt öffnete er die Tür und rief hinaus: »Ich komme sofort!« Zu mir gewandt, setzte er lachend hinzu: »Wissen Sie, Clara, ich nutze es aus, daß ich mit einer Frau zusammen war. Ich erkläre natürlich meine Verspätung mit der bekannten weiblichen Beredsamkeit. Obgleich diesmal das Vielreden wirklich nicht auf der Seite der Frau, sondern des Mannes war. Übrigens stelle ich Ihnen das Zeugnis aus, daß Sie wirklich ernsthaft zuhören können. Vielleicht hat aber gerade das mich zum Vielreden gereizt.« Lenin half mir während dieser scherzenden Worte in den Mantel. »Sie müssen sich wärmer anziehen«, meinte er fürsorglich. »Moskau ist nicht Stuttgart. Man muß nach Ihnen sehen. Erkälten Sie sich nicht. Auf Wiedersehen!« Er schüttelte mir kräftig die Hand.


Ein weiteres Gespräch mit Lenin über die Frauenbewegung hatte ich ungefähr zwei Wochen später. Lenin kam zu mir. Wie fast stets war sein Besuch unerwartet, eine Improvisation im Zwischendrin der riesenhaften Arbeitslast, die der Führer der siegreichen Revolution bewältigte. Lenin sah sehr abgehetzt und sehr versorgt aus. Noch war Wrangels Niederwerfung nicht entschieden, und die Lebensmittelversorgung der großen Städte starrte gleich einer unerbittlichen Sphinx die Sowjetregierung an.

Lenin fragte, wie es mit den Richtlinien oder Thesen stehe. Ich berichtete ihm, daß eine große Kommission getagt habe, an der alle in Moskau anwesenden führenden Genossinnen teilnahmen und ihre Meinung äußerten. Die Richtlinien seien fertig und sollten demnächst in einer kleinen Kommission beraten werden. Lenin meinte, wir müßten danach trachten, daß der III. Weltkongreß die Frage mit der nötigen Gründlichkeit behandle. Schon die Tatsache allein werde manches Vorurteil der Genossen überwinden. Im übrigen müßten in erster Linie die Genossinnen zupacken, und zwar kräftig. »Nicht lispeln wie brave Tanten, als Kämpferinnen laut reden, deutlich reden!« rief Lenin lebhaft aus. »Ein Kongreß ist kein Salon, in dem Frauen durch Anmut glänzen sollen, wie es im Roman heißt. Er ist ein Kampfplatz, wo wir um Erkenntnisse für revolutionäres Handeln ringen. Beweist, daß ihr kämpfen könnt! Mit den Feinden natürlich an erster Stelle, aber auch in der Partei, wenn es notwendig ist. Es geht doch um die großen Frauenmassen. Unsere russische Partei wird für alle Vorschläge und Maßnahmen eintreten, die zu ihrer Eroberung helfen. Wenn diese Massen nicht mit uns sind, so kann es den Gegenrevolutionären gelingen, sie gegen uns zu führen. Daran sollten wir stets denken.« – »Die Frauenmassen, wir müssen sie haben, und wenn sie, wie es von Stralsund hieß, mit Ketten an den Himmel geschlossen wären«, fing ich Lenins Gedanken auf. »Mir ist hier in dem Milieu der Revolution mit seinem reich quellenden Leben, seinem raschen, starken Pulsschlag der Plan zu einer großen internationalen Aktion unter den schaffenden Frauenmassen gekommen. Den besonderen Anstoß dazu haben mir eure großen parteilosen Frauenkonferenzen und Frauenkongresse gegeben. Wir sollten den Versuch wagen, sie aus dem Nationalen ins Internationale zu übersetzen. Es ist Tatsache, daß der Weltkrieg mit seinen Auswirkungen die breitesten Frauenmassen der verschiedenen sozialen Klassen und Schichten auf das tiefste erschüttert hat. Sie sind in Gärung, in Bewegung geraten. In Gestalt von bittersten Sorgen um Lebensunterhalt und Lebensinhalt stehen Fragen vor ihnen, die die meisten früher kaum geahnt, die wenigsten klar erfaßt haben. Die bürgerliche Gesellschaft ist außerstande, eine befriedigende Antwort auf diese Fragen zu geben. Nur der Kommunismus vermag das. Das sollten wir den breitesten Frauenmassen der kapitalistischen Länder zum Bewußtsein bringen und zu diesem Zweck einen parteilosen, internationalen Frauenkongreß veranstalten.«

Lenin antwortete nicht gleich. Den Blick wie nach innen gekehrt, den Mund fest zusammengepreßt, die Unterlippe etwas vorgeschoben, überlegte er. »Ja«, sagte er dann, »das sollten wir. Der Plan ist gut. Aber der gute, ja vorzüglichste Plan taugt nichts, wenn er nicht gut durchgeführt wird. Haben Sie über die Durchführung schon nachgedacht? Wie denken Sie sich diese?« Ich legte Lenin meine Gedanken darüber ausführlich dar. Zuerst müsse in stetem, engstem Einvernehmen mit unseren nationalen Sektionen von Genossinnen der verschiedenen Länder ein Komitee für die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung des Kongresses gebildet werden. Ob dieses Komitee sofort offiziell und öffentlich zu arbeiten anfange, sei eine noch zu erwägende Zweckmäßigkeitsfrage. Jedenfalls sei erste Aufgabe seiner Mitglieder in den einzelnen Ländern, mit Führerinnen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen, der politischen proletarischen Frauenbewegung, der bürgerlichen Frauenorganisationen jeder Art und Richtung, mit angesehenen Ärztinnen, Lehrerinnen, Schriftstellerinnen usw. in Verbindung zu treten und einen nationalen parteilosen Vorbereitungs- und Arbeitsausschuß zusammenzusetzen. Aus Mitgliedern dieser nationalen Komitees sei ein internationaler Ausschuß zu bilden, der den internationalen Kongreß vorzubereiten, einzuberufen, seine Tagesordnung, Ort und Datum des Stattfindens festzusetzen habe.

Der Kongreß solle meiner Ansicht nach an erster Stelle behandeln: das Recht der Frau auf Berufsarbeit. Dabei seien aufzurollen die Fragen der Arbeitslosigkeit, des gleichen Lohnes und Gehaltes für gleiche Leistung, des gesetzlichen Achtstundentages und Arbeiterinnenschutzes, der Gewerkschafts- und Berufsorganisation, der sozialen Fürsorge für Mutter und Kind, der sozialen Einrichtungen zur Entlastung der Hausfrau und Mutter usw. Ferner sei auf die Tagesordnung zu setzen: die Stellung der Frau im Familien- und Eherecht und im öffentlich-politischen Recht. Ich begründete diese Vorschläge und führte dann weiter aus, daß und wie die nationalen Ausschüsse in den einzelnen Ländern durch eine planmäßige Kampagne in Versammlungen und in der Presse den Kongreß gründlich vorzubereiten hätten. Diese Kampagne sei von besonderer Wichtigkeit, um die größten Frauenmassen aufzurufen, sie zur ernsten Beschäftigung mit den zur Diskussion gestellten Problemen zu veranlassen und ihre Aufmerksamkeit auf den Kongreß zu richten und damit auf den Kommunismus, auf die Parteien der Kommunistischen Internationale. Die Kampagne müsse sich an die berufstätigen, die schaffenden Frauen aller sozialen Schichten wenden; sie habe dem Kongreß die Anwesenheit und Mitarbeit von Vertreterinnen aller in Betracht kommenden Organisationen zu sichern wie von Delegierten aus öffentlichen Frauenversammlungen. Der Kongreß müsse in ganz anderem Sinne als die bürgerlichen Parlamente eine »Volksvertretung« sein.

Selbstverständlich hätten die Kommunisten nicht bloß die treibende, sondern namentlich auch die führende Kraft der Vorbereitungsarbeit zu sein. Die energischste Unterstützung unserer Sektionen müsse ihnen zuteil werden. All das gelte natürlich auch für die Tätigkeit des internationalen Ausschusses, die Kongreßarbeiten selbst und deren umfangreiche Auswertung. Dem Kongreß müßten zu allen Fragen der Tagesordnung kommunistische Thesen beziehungsweise Resolutionen vorgelegt werden, grundsätzlich, scharf geschliffen und dabei sachlich und mit wissenschaftlicher Beherrschung der sozialen Tatbestände begründet. Diese Thesen müßten vorher von der Exekutive der Kommunistischen Internationale beraten und gebilligt werden. Die kommunistischen Lösungen und Losungen hätten im Mittelpunkt der Kongreßarbeiten, der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stehen. Sie müßten nach der Tagung durch Agitation und Propaganda unter die breitesten Frauenmassen getragen und bestimmend für internationale Massenaktionen der Frauen werden. Unerläßliche Voraussetzung sei selbstredend, daß die Kommunistinnen in allen Ausschüssen und auf dem Kongreß selbst stets als feste, geschlossene Einheit auftreten würden, daß sie grundsätzlich klar und unerschütterlich planmäßig zusammenwirkten. Ein Aus-der-Reihe-Tanzen dürfe es für niemanden geben.

Lenin hatte während meiner Ausführungen mehrmals zustimmend genickt oder kurze, beipflichtende Zwischenrufe gemacht. »Mir scheint, liebe Genossin«, sagte er, »daß Sie die Sache nach der politischen Seite ganz gut durchdacht haben und nach der organisatorischen Seite hin in der Hauptsache ebenfalls. Ich bin durchaus der Meinung, daß in der gegebenen Situation solch ein Kongreß Wichtiges leisten könnte. Er trägt die Möglichkeit in sich, breiteste Frauenmassen mit uns zu verbinden; ganz besonders Massen berufstätiger Frauen aller Art, die Industriearbeiterinnen, die Heimarbeiterinnen und auch die Lehrerinnen und andere Beamtinnen. Das wäre gut, sehr gut! Denken wir an die Situation bei großen wirtschaftlichen Kämpfen oder auch bei politischen Streiks. Welch ein Machtzuwachs der revolutionären Proletarier durch sich bewußt auflehnende Frauenmassen! Vorausgesetzt natürlich, daß wir solche bekommen und zu halten verstehen. Der Gewinn wäre groß, ja geradezu ungeheuer. Aber wie denken Sie über einige Fragen? Es ist wahrscheinlich, daß die staatlichen Gewalten das Kongreßwerk sehr ungnädig betrachten, daß sie es zu hindern suchen würden. Sie werden es jedoch kaum brutal zu unterdrücken wagen. Was von ihrer Seite kommt, wird euch nicht schrecken. Allein, befürchten Sie nicht, daß die Kommunistinnen in den Ausschüssen und auf dem Kongreß selbst dem numerischen Übergewicht der Bürgerlichen und Reformistinnen und ihrer unzweifelhaft großen Routine unterliegen werden? Und dann und vor allem: Haben Sie wirklich das Zutrauen zu der marxistischen Schulung unserer Genossinnen, daß sich aus ihnen ein Stoßtrupp rekrutieren läßt, der den Kampf mit Ehren besteht?«

Ich antwortete Lenin darauf, daß die Behörden schwerlich mit gepanzerter Faust gegen den Kongreß vorgehen würden. Schikanen und Brutalitäten gegen ihn würden nur für ihn, für uns agitieren. Der Zahl und Routine nichtkommunistischer Elemente hätten wir Kommunistinnen entgegenzusetzen die wissenschaftliche Überlegenheit des historischen Materialismus in der Erfassung und Durchleuchtung der sozialen Probleme, in der Konsequenz unserer Forderungen zu ihrer Lösung, schließlich und nicht am wenigsten den Sieg der proletarischen Revolution in Rußland und ihr grundlegendes Werk für die Frauenbefreiung. Die Schwächen und Mängel in der Schulung und Reife einzelner Genossinnen könnten ausgeglichen werden durch planmäßige Vorbereitung und Zusammenarbeit. In dieser Hinsicht erwarte ich das Beste von den russischen Genossinnen. Sie würden der eherne Kern unserer Phalanx sein. Mit ihnen zusammen würde ich zuversichtlich ganz anderes wagen als Kongreßschlachten. Außerdem: Sogar wenn wir überstimmt werden, wird die Tatsache unseres Kampfes den Kommunismus in den Vordergrund schieben und von außerordentlicher propagandistischer Wirkung sein, uns auch Anknüpfungspunkte für spätere Arbeit schaffen.

Lenin lachte herzlich. »Immer die gleiche Enthusiastin für die russischen Revolutionärinnen. Ja, ja, alte Liebe rostet nicht. Ich glaube, Sie haben in der Sache recht. Auch die Niederlage nach heißem Kampfe wäre ein Vorteil, eine Vorbereitung künftiger Eroberungen unter den schaffenden Frauenmassen. Alles in allem handelt es sich um ein Unternehmen, das den Einsatz wert ist. Wir können dabei nie ganz verlieren. Aber natürlich hoffe ich auf den Sieg, wünsche von ganzem Herzen den Sieg. Er würde uns eine bedeutende Stärkung unserer Macht, eine große Ausdehnung und Festigung unserer Kampffront bringen, Leben, Bewegung, Aktivität in die Reihen tragen. Das ist stets von Nutzen. Zudem würde der Kongreß Unruhe, Unsicherheit, Gegensätze, Konflikte im Lager der Bourgeoisie und ihrer reformistischen Freunde hervorrufen und steigern. Man stelle sich vor, wer alles zusammen mit den ›Hyänen der Revolution‹ tagen soll und, wenn es gut geht, unter deren Führung: brave, zahme Sozialdemokratinnen unter Scheidemanns, Dittmanns und Legiens Oberleitung; fromme Christinnen, vom Papst gesegnet oder auf Luther schwörend; leibhaftige Geheimratstöchter und neugebackene Regierungsrätinnen; englische ladylike Pazifistinnen und leidenschaftliche französische Frauenrechtlerinnen. Welch ein Spiegelbild des Chaos, des Verfalls der bürgerlichen Welt müßte der Kongreß geben. Welch ein Spiegelbild ihrer Auswegs- und Hoffnungslosigkeit! Seine Auswirkung würde die Zersetzung steigern und dadurch die Kräfte der Gegenrevolution schwächen. Jede Kräfteschwächung der Feinde ist gleichbedeutend mit Stärkung unserer Macht. Ich bin für den Kongreß, sprechen Sie darüber mit Grigory. Er wird die Wichtigkeit der Sache voll erfassen. Wir werden sie energisch unterstützen. Also fangen Sie an und viel Glück zum Kampf!«

Wir sprachen noch über die Situation in Deutschland, besonders über den bevorstehenden »Einigungskongreß« der alten »Spartakisten« mit dem linken Flügel der Unabhängigen. Dann eilte Lenin davon, kameradschaftlich einige Genossen grüßend, die in einem Zimmer arbeiteten, das er passieren mußte. – Auch Genosse Sinowjew billigte meinen Plan. Ich ging hoffnungsfreudig an die Vorbereitungsarbeiten. Leider scheiterte der Kongreß an der Einstellung der deutschen und bulgarischen Genossinnen, die damals außerhalb Sowjetrußlands die beste kommunistische Frauenbewegung trugen. Sie lehnten den Kongreß ab. Als ich das Lenin mitteilte, erwiderte er: »Schade, sehr schade! Die Genossinnen haben eine glänzende Gelegenheit unbenutzt gelassen, breitesten Frauenmassen eine Perspektive der Hoffnung zu eröffnen und sie dadurch den revolutionären Kämpfen der Proletarier zuzuführen. Wer weiß, ob solch eine günstige Gelegenheit so bald wiederkehrt. Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Aber die Aufgabe selbst ist geblieben. Ihr müßt den Weg zu den Frauenmassen suchen, die vom Kapitalismus in furchtbares Elend gestoßen werden. Unbedingt, ihr müßt ihn suchen! Es gibt kein Ausweichen vor dieser Notwendigkeit. Ohne organisierte Massenbetätigung unter Führung der Kommunisten kein Sieg über den Kapitalismus, kein Aufbau des Kommunismus. Und deshalb muß sich endlich auch der Acheron der Frauenmassen bewegen.«

Das erste Jahr des revolutionären Proletariats ohne Lenin. Es hat die Festigkeit seines Werkes, die überragende Genialität des Führers bewiesen. Es hat fühlbar gemacht, wie groß und unersetzlich der erlittene Verlust ist. Kanonenschüsse künden die schwarze Stunde, da Lenin vor einem Jahr seine weit- und tief schauenden Augen für immer geschlossen hat. Ich sehe die endlosen Züge von ernsten Männern und Frauen des schaffenden Volkes, die nach Lenins Ruhestatt ziehen. Ihre Trauer ist meine Trauer, ist die Trauer von Millionen. Aus dem frischbelebten Schmerz aber steigt die Erinnerung überwältigend stark empor, eine Wirklichkeit, vor der die schmerzliche Gegenwart versinkt. Ich höre jedes Wort, das Lenin im Gespräch sagt. Ich sehe jede Veränderung seiner Miene dabei, und ich muß schreiben, muß! – Fahnen senken sich vor Lenins Ruhestatt, Fahnen, mit dem Blut von Revolutionskämpfern gefärbt. Lorbeerkränze werden niedergelegt. Keiner ist zuviel. Ich füge ihnen diese bescheidenen Blätter hinzu.

Moskau, Ende Januar 1925.

Anhang

Brief 1

26. VII. 1918

Sehr geehrte Genossin Zetkin!

Besten und wärmsten Dank für Ihren Brief vom 27. 6., den mir Genossin Herta Gordon gebracht hat. Ich werde alles tun, um der Genossin Gordon zu helfen.

Es freut uns alle in höchstem Maße, daß Sie, Genosse Mehring und andere »Spartakusgenossen« in Deutschland »mit Kopf und Herz mit uns« sind. Das bringt uns Zuversicht, daß die besten Elemente der westeuropäischen Arbeiterschaft uns doch – trotz aller Schwierigkeiten – zu Hilfe kommen werden.

Wir erleben hier jetzt vielleicht die schwierigsten Wochen der ganzen Revolution. Der Klassenkampf und Bürgerkrieg sind in die Tiefe der Bevölkerung gegangen: in allen Dörfern Spaltung – die Armen sind für uns, die Großbauern wütend gegen uns. Die Entente hat die Tschechoslowaken gekauft, der konterrevolutionäre Aufstand tobt, die gesamte Bourgeoisie macht alle Anstrengungen, um uns zu stürzen. Wir hoffen jedoch mit Zuversicht, daß wir diesen »gewöhnlichen« (wie 1794 und 1849) Gang der Revolution vermeiden und die Bourgeoisie besiegen werden.

Mit großer Dankbarkeit, besten Grüßen und wärmster Hochachtung

Ihr Lenin

PS: Meine Frau bittet mich, Sie ganz besonders zu grüßen. An Genossen Hoschka (seine Rede wie Ihren Artikel haben wir übersetzt) wie an alle, alle Freunde beste Grüße!

PS: Man hat mir soeben das neue Staatssiegel gebracht. Hier der Abdruck. Die Aufschrift heißt: Sozialistische Föderative Sowjet-Republik Rußlands. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!

Veröffentlicht in der Broschüre »Kämpferin für die proletarische Weltrevolution«, Moskau/Leningrad 1933.

Brief 2

Petrograd, d. 17. XI. 1920

Lieber, verehrter Genosse Lenin,

nun muß ich Ihnen noch vor meinem Scheiden beschwerlich fallen. Ich befürworte bei Ihnen den Wunsch des Genossen Halle, ihm ein kurzes Interview gewähren zu wollen. Genosse Halle ist von den Genossen Däumig und Stoecker als Vertreter ihrer Presse nach Sowjetrußland geschickt worden. Er ist nicht bloß Korrespondent von Tageszeitungen, sondern schreibt auch an einem größeren Werk über Sowjetrußland. Da er Jurist ist, möchte er gern Ihre Meinung über einige Fragen revolutionären Staatsrechtes hören. Das um so mehr, als Ihre Abhandlung über den Staat ihn zum Revolutionär und Kommunisten gemacht hat. Genosse Halle ist gewissenhaft und kenntnisreich, ein zuverlässiger, der Sache ergebener Mann. Ich bin überzeugt, daß diese Nutzen von seiner Arbeit haben wird.

Morgen früh dampfe ich nach Reval ab. Hoffentlich komme ich noch zur Zeit zu unserem Parteitag. Ich habe hier noch viel gesehen und gelernt, auch gearbeitet. Mein Vortrag über Erziehungsfragen hat sich zu einer größeren Broschüre ausgewachsen. Vielleicht hat sie einigen Nutzen für Euch. Leider fand sich hier niemand, der das Manuskript abschreiben konnte, so daß ich den Text erst aus Deutschland schicken kann. Wie gern hätte ich über diese Arbeit mit Genossin Lenin gesprochen. Ich bin unsicher, ob ich für Rußland das Richtige getroffen habe. Daß ich die Arbeit fertig schreiben und allen Besichtigungen etc. standhalten konnte, verdanke ich in hohem Maße der aufopfernden Pflege Angelicas, sie hat mich betreut wie eine Mutter und Schwester, und ich mußte es geschehen lassen, weil mein Befinden oft schlecht war. Man wandelt nicht ungestraft unter den Palmen des revolutionären Sowjetrußlands, wenn man weißhaarig ist wie ich.

Doch Schluß! Lieber, lieber, verehrter Freund Lenin, erhalten Sie sich uns, der Revolution! Die Freude über die Niederlage Wrangels wird Ihre Kräfte steigern, das heißt Sowjetrußlands Kräfte. Sie und Sowjetrußland sind ja eins. Der Sieg über Wrangel ist ein Sieg über die Entente und über das weißgardistische Polen. Die Aktien von Sowjetrußlands Auslandspolitik werden wieder auf dem Markt der Bourgeoisie und der Kleingläubigen steigen.

Im guten Zeichen dieses Sieges grüße ich Sie, Ihre liebe Frau und die Schwestern aufs herzlichste und umarme Euch in treuer Freundschaft und froher Kampfesgenossenschaft.

Ihre Clara Zetkin

Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der KPdSU, Fonds: Rat des Volkskommissars und Rat für Verteidigung und Arbeit. Fotokopie im Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED.

Brief 3

Geliebte Genossin Zetkin,

Ihren Brief habe ich gestern, den 18ten, am Mittag gekriegt. Lenin hatte gestern die Nacht nicht geschlafen und war außerordentlich nervös und erregt. In solchem Zustand war es unmöglich, ihn zu untersuchen. Eine Menge Ärzte, russische, deutsche etc. hatten ihn schon früher untersucht. Das hatte ihn so erregt, daß einmal sogar eine starke Verschlechterung seines Zustandes eintrat. Also, man muß sehr vorsichtig sein und ohne dringende Notwendigkeit keine neuen Untersuchungen vornehmen. Das wichtigste ist jetzt nicht Diagnose, sondern sorgsame, aufmerksame Pflege. Alles hängt ab vom allgemeinen Zustand seiner Kräfte. In dieser Hinsicht hat im letzten Monat eine sichtbare Besserung stattgefunden, und es gibt Tage, wo ich anfing zu hoffen, daß die Genesung nicht ausgeschlossen sei.

Geliebte Genossin, in diesen schweren Monaten habe ich manchmal an Sie gedacht und sehnte mich, Sie zu sehen, da ich weiß, daß Sie Lenin und mich von ganzem Herzen lieben.

Ich umarme Sie und danke für Ihre Liebe

19. VI. 1923

Ihre N. Krupskaja

Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der KPdSU, Fonds: Krupskaja. Fotokopie im Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED.

Brief 4

Archangelskoje, den 21. Januar 1933

Genossin N. K. Krupskaja,

Moskau, Kreml.

Verehrte, teuerste Freundin und Genossin

Nadeshda Konstantinowna!

Morgen kehrt der schwarze Tag wieder, der uns allen den Unersetzlichen genommen hat, der Tag, an dem ich nicht fassen konnte, daß die Sonne weiter schien und der Gang des historischen Geschehens nicht stillstand. Wie schmerzhaft empfinden wir alle den Verlust des großen revolutionären Führers und des großen grundgütigen Menschen gerade jetzt, wo für den fortschreitenden sozialistischen Aufbau sein überragendes Talent, seine reife theoretische Schulung und sein reiner, selbstloser Charakter von besonderer Bedeutung sein würde.

Mein physisches und psychisches Befinden macht es mir leider unmöglich, Ihnen ausführlich zu schreiben. Ich bin morgen mit meinem ganzen Herzen bei Ihnen im Gedenken des uns Genommenen, der uns allen der Lebendige bleibt. In Gedanken flüchte ich zu Ihnen, die Sie für mich das weiterklopfende Herz und die getreue Testamentsvollstreckerin Lenins sind.

Wollen Sie bitte Maria Iljinitschna und der älteren Schwester Anna versichern, wie aufrichtig und heiß ich ihre Trauer teile.

Liebe teure Freundin und Genossin, ich küsse und umarme Sie in treuester Verbundenheit

Ihre Clara Zetkin

Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der KPdSU. Fonds: Clara Zetkin. Fotokopie im Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED.

Fußnoten

  1. Dr. Karlstadt – Andreas Bodenstein (1480-1541), bedeutender Vertreter der Reformation, beteiligte sich führend an der Zerstörung katholischer Heiligenbilder. Die Red.
  2. Befestigte Landenge, welche die Krim mit der Ukraine verbindet. Die Red.
  3. Märzaktion – gemeint sind die Kämpfe der mitteldeutschen Arbeiter im März 1921 gegen die schwerbewaffneten Polizeitruppen und die Reichswehr, durch die die deutsche Bourgeoisie Mitteldeutschland besetzen ließ. Mit dieser Provokation sollte die kommunistische Bewegung niedergeschlagen und der Widerstand der deutschen Arbeiterklasse gegen die weitere Senkung ihres Lebensniveaus gebrochen werden. Die Mehrheit der Zentrale der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands (VKPD) versuchte, die Märzkämpfe nachträglich mit der »Offensivtheorie« zu rechtfertigen. Diese ihrem Wesen nach linksopportunistische, sektiererische Theorie besagte, daß die Partei, um Niederlagen zu vermeiden, von der Verteidigung zur Offensive übergehen müsse. Die »Offensivtheorie« ging davon aus, daß die VKPD als Vorhut der revolutionären Arbeiter auch ohne Unterstützung und Sympathie der Massen der Arbeiter, der werktätigen Bauern und der städtischen Mittelschichten den Sieg erringen könne. Lenin und der III. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale halfen der KPD bei der Überwindung dieser Fehler durch die Orientierung auf die Hauptaufgabe der Partei: die Gewinnung der Mehrheit der Arbeiterklasse.
  4. Der Livornoer Kongreß (XVII. Parteitag der Sozialistischen Partei Italiens) tagte im Januar 1921. Die Kommunisten kämpften auf dem Kongreß gegen Reformisten und Maximalisten um die Annahme der Aufnahmebedingungen für den Eintritt der Partei in die Kommunistische Internationale. In den Aufnahmebedingungen wurde unter anderem verlangt, daß sich die Partei von den Reformisten trenne. Nachdem sich jedoch Reformisten und Maximalisten zu einem Block zusammengeschlossen hatten, verließen die Kommunisten den Kongreß und gründeten die Kommunistische Partei Italiens. Einige Mitglieder der Zentrale der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands – Levi, Däumig, Breß, Hoffmann und Clara Zetkin – traten gegen diese Spaltung und damit gegen die Linie der Kommunistischen Internationale auf. Sie legten ihre Funktionen nieder, als sie in der Abstimmung über diese Frage auf der Zentralausschußsitzung vom 22. bis 24. Februar 1921 eine Niederlage erlitten hatten. 30
  5. Gemeint ist Bela Khun, Mitglied des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale. Die Red.
  6. Reuter (Friesland) – Ernst Reuter (1889-1953), trat 1912 in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein. Im ersten Weltkrieg kam er in russische Gefangenschaft und schloß sich nach der Oktoberrevolution der kommunistischen Bewegung an. 1918 wurde er Mitglied des Spartakusbundes. Während der Märzkämpfe in Mitteldeutschland und auf dem III. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1921 nahm er zusammen mit Maslow, Ruth Fischer und anderen als Vertreter der »Offensivtheorie« eine ultralinke Position ein. Anfang des Jahres 1922 wurde er als rechter Opportunist und wegen Fraktionsmacherei aus der Kommunistischen Partei Deutschlands ausgeschlossen. Danach schloß er sich wieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an. Nach 1945 war er Regierender Bürgermeister von Westberlin. 36
  7. Gemeint sind Maslow, Ruth Fischer und andere. Die Red.
  8. Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), ultralinke, sektiererische, halbanarchistische Gruppierung. Auf dem II. Parteitag der KPD in Heidelberg vom 20. bis 23. Oktober 1919, der illegal stattfand, kam es zu einer Spaltung der KPD. Auf dem Parteitag trat eine Gruppe von »Linken« als Verteidiger anarchosyndikalistischer Auffassungen auf: des Parlamentsboykotts, der Negierung des politischen Kampfes, der Ablehnung der Arbeit in den reformistischen Gewerkschaften usw. Die »Linken« blieben in der Minderheit und wurden aus der Partei ausgeschlossen, nachdem sie es abgelehnt hatten, sich den Beschlüssen des Parteitages zu fügen. Sie schufen ihre eigene Organisation, die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands. Ihnen schlossen sich revolutionär gesinnte, aber politisch ungeschulte Arbeiter an. Nachdem sich die ehrlichen, revolutionären Arbeiter wieder der KPD zugewandt hatten, sank die KAPD zu einer unbedeutenden kleinbürgerlichen, anarchistischen Sekte hinab, die der KPD und der Arbeiterklasse feindlich gegenüberstand. 55
  9. Ceterum censeo Carthaginem esse delendam (lat.) – »Übrigens meine ich, Karthago muß zerstört werden.« Dem älteren Cato zugeschriebene Redewendung. Die Red.
  1. Siehe W. I. Lenin, Werke, 4. Ausgabe, Bd. 32, S. 444-458, russ. Die Red.