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In den Reihen der deutschen Revolution 1909–1919 | |
|---|---|
| Autor*in | Karl Radek |
| Verlag | Kurt Wolff Verlag München |
| Veröffentlicht | 1921 |
Meiner Frau Rosa
Widme ich die Auslese der Arbeitsfrucht von zehn gemeinsam durchkämpften und durchdachten Jahren.
Einleitung
Das Tempo seiner Zeit, der Spanne von 1848 bis 1871, hat Daumier einmal geistvoll charakterisiert, indem er Kronos auf das Fahrrad setzte. Der Zeitgeist kam heraus aus dem bedächtigen Biedermeiertrott der voraufgegangenen Jahrzehnte, heraus aus der Enge der Gassen und Winkel auf die freie Straße der Geschichte, wo der Wind bläst und die eigenen Kräfte sich mit ihm erproben.
Das Tempo von heute ist das des Äroplans, das Hundert-Kilometer-Tempo, das Tempo, das im Fluge die Länder überquert, das keine Grenzpfähle duldet, und über die nationale Idee erhebt, den Horizont gewaltig erweitert und uns in Kontinenten denken lehrt. Dieses Buch bringt es uns zu Bewußtsein. Wie – fünf bis zehn Jahre nur liegen diese Probleme und diese Kämpfe hinter uns und schon so ferne? Zwischen heut und damals liegt in dicken Schwaden der Pulverdampf des Weltkrieges und lodern die Flammen der Revolution. Zwischen heut und damals haben wir unser Denken und Wollen so entschieden umgestellt, sind unsere Aufgaben und Vorsätze so riesig gewachsen, daß wir heut lächelnd auf manchen Streit zurückschauen, den wir damals so blutig ernst nahmen.
Wozu aber dann dieses Buch? Wir sitzen im Flugzeug und müssen vorwärts blicken, die Sinne konzentrieren auf die unbekannte Zukunft, die im Fluge Gegenwart sein wird, Gegenwart mit ihren Gefahren, ihren neuen Zielen, Aufgaben und Kämpfen.
Dies Buch will kein beschauliches Versenken in die Vergangenheit. Sein Verfasser ist so eingestellt auf das Heute und Morgen, daß es für ihn das Erledigte, Überwundene, Tote nicht mehr gibt. Er ist so voller Aktion, so erfüllt von dem Streben, alle Kräfte für den Kampf der Gegenwart mobil zu machen, daß es ihm ein Verbrechen erscheinen müßte, die Streiter abzulenken. Dies Buch dient ausschließlich dem Kampf von heute. Es will die Ereignisse, die wir jetzt erleben und an denen wir handelnd beteiligt sind, in die richtige Perspektive setzen. Es will uns den Blick schärfen für die historischen Tatsachen, uns Rücksichtslosigkeit im Denken lehren und die leitenden Gesichtspunkte für taktische Entscheidungen geben.
Die richtige Perspektive! Darauf kommt es wesentlich an. Wer die Revolution nur als die Folge des Zusammenbruchs im Kriege ansieht, und den Krieg selber als das Produkt einer wahnsinnigen Politik verwegener und verantwortungsloser Glückspieler, dem können die heutigen Ereignisse nur die Wirren einer Zeit sein, die aus ihrem Geleise geworfen ist, Wirren, die es zu besänftigen gilt, um die alte Ordnung wieder herzustellen. Wem es aber gelingt, Krieg und Revolution als unvermeidliche Notwendigkeiten der Geschichte zu erkennen und zwar nicht als Folgen zufälliger Einzelursachen, sondern als Produkte des alles umfassenden sozialen Prozesses, wer daraus die Unentrinnbarkeit der Forderungen unserer Zeit erkennt, der wird jede schwächliche Ausflucht ausschlagen und kühn der Geschichte ehernes Muß vollstrecken helfen. Die Rückschau eröffnet uns den Blick in die Zukunft.
Tiefschürfend wie kein anderer Praktiker der deutschen Politik, ausgerüstet mit den Erfahrungen einer Revolution (Rußland 1905) und der lebendigen Kenntnis der Klassenkämpfe anderer Völker, hat Karl Radek in den letzten anderthalb Jahrzehnten die Einzeltatsachen der weltpolitischen Entwicklung verfolgt, ihren Zusammenhängen nachgespürt und mit dem Stereoskop der marxistischen Methode die weiteren Etappen auf den einzelnen Entwicklungslinien und deren gemeinsamen Knotenpunkt abgesteckt. Hegels Grundsatz: Alles was ist, ist vernünftig! leitete ihn beim Studium des modernen Imperialismus, indem er jede moralische Entrüstung über die Politik, die die Arbeiterschaft knebelte und sie zum Kriege trieb, verschmähte, und statt dessen die Triebkräfte zu erkennen suchte, die jene Politik erzwang. Er fand bei jeder Einzelheit der modernen sozialen Entwicklung die Auffassung bestätigt, die er zusammen mit den anderen Radikalen, mit Rosa Luxemburg, Pannekoek usw. verfocht. Danach sank bei gleichzeitiger riesiger Entwicklung der Produktivkräfte die Profitrate immer tiefer. Die Lebenshaltung der Arbeiterklasse in den modernen Industrieländern mußte niedrig gehalten werden. Die Folge war, daß der innere Markt für die gesteigerte Produktion relativ immer weniger aufnahmefähig wurde. Das trieb den modernen Kapitalismus auf die Suche nach neuen Absatzgebieten für Waren und Kapital, entfesselte den Kampf um sie, in welchem die Staatsmacht immer stärker engagiert wurde, schuf immer neue, mühselig überbrückte Weltkonflikte und führte schließlich in den Weltkrieg hinein. Aber dieser Weltkrieg, ganz gleich wie sein Ausgang war, konnte keine Lösung der Fragen bringen. Selbst die Hoffnung der einzelnen Kapitalistengruppen, durch den Sieg über die Konkurrenten alle Schwierigkeiten zu heben, mußte sich als trügerisch herausstellen. Eine Zerrüttung der Wirtschaft mußte die Folge des Krieges sein, die die alten Schwierigkeiten verschärfte und neue hinzubrachte, und deren Überwindung das Wesen der kapitalistischen Profitwirtschaft selbst im Wege stand. Der Krieg konnte nur die Revolution beschleunigen, die objektiv das Ziel der Entwicklung war. Das sind die Leitgedanken der Arbeiten, die in diesem Buche vereinigt sind. Die Tatsachen haben ihre Richtigkeiten erwiesen und erweisen sie täglich mehr.
Aber diese theoretischen Ergebnisse genügten Radek nicht. Erkenntnisse haben für ihn nur insoweit Wert, als sie zu Taten führen. Für den Kampf jedes einzelnen Tages sollten sie fruchtbar gemacht werden. Der Arbeiterklasse sollten sie in jeder Tagesfrage den Weg zur Lösung weisen und damit der ganzen Politik eine Zielsicherheit, Geschlossenheit und Stetigkeit verleihen, die die Kräfte des Proletariats konzentrierte und potenzierte. Diesem Zwecke diente Radeks journalistische Tätigkeit.
In seinem Bestreben stieß Radek auf die Unbeweglichkeit der proletarischen Massen, die zwar die Notwendigkeit eines rücksichtslosen Kampfes gegen die imperialistischen Tendenzen empfanden, aber keine selbständige Initiative entfalten konnten. Sie waren gefesselt durch die Organisationen, deren Leiter in der Zeit groß geworden waren, als eine Kunktatorpolitik allein möglich war, die kleinbürgerlich versimpelt waren und vor der »unbestimmten Ungeheuerlichkeit« der revolutionären Zwecke immer wieder zurückschreckte. Um so unsicherer waren die Massen, weil die offizielle Parteipolitik von Männern verteidigt wurde, die bis dahin als die anerkannten Hüter des Marxismus einen Ruf in der Internationale genossen. Jede Anwandlung von Schwäche in den Massen, jede Erbärmlichkeit der Organisationsinstanzen fand hier ihre »wissenschaftlich« begründete Rechtfertigung. Kautsky, der selbst als einer der ersten auf die Konsequenzen der imperialistischen Politik hingewiesen hatte, war zum Verteidiger einer seicht opportunistischen Taktik geworden, die im Kielwasser der Fortschrittler und Pazifisten schwamm. Hatten Radek und seine Verbündeten nachgewiesen, daß der Imperialismus die Politik des krachenden Kapitalismus war, so suchte Kautsky nach Beweisen dafür, daß der Kapitalismus noch eine andere, sanftmütigere Politik treiben könne. Zeigte Radek immer wieder an den Tatsachen, wie die Entwicklung der Weltmarktkonkurrenz dem Weltkriege zueilte, so glaubte Kautsky in starken Schichten der Kapitalistenklasse ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens und damit eine Garantie gegen den Krieg zu finden. Während Radeks Taktik darauf hinauslief, die Massen in einen konsequenten Kampf gegen den Imperialismus zu führen, anknüpfend an die Tagesfragen, appellierte Kautsky zusammen mit dem Parteivorstand an das Bürgertum und die Regierungen der Großmächte, indem er die pazifizierenden Wirkungen der Bündnisse, der Abrüstung und der internationalen Schiedsgerichte pries. In alle Schlupfwinkel der Sophistik ist ihm Radek nachgekrochen und hat das Illusionäre dieser Auffassung in jeder ihrer Nuancen nachgewiesen. Kautsky freilich ist dadurch von seinen Illusionen nicht geheilt worden. Er spielte weiter den Landpastor noch in der Zeit, als die Tragikomödie mit dem Völkerbund längst ausgespielt war.
Dem Kampfe gegen die Kriegsgefahr diente auch die Propaganda des Milizgedankens. Hier zeigte sich deutlich Kautskys Spießbürgertum. Er fand, daß die Miliz ebenfalls eine teure Sache für den Staat werden könne, und deshalb jagte er weiter dem bunten Schmetterling der Abrüstungsidee nach. Radek dagegen stellte sich mit beiden Füßen fest auf den Boden der Tatsachen. Er untersuchte die Entwicklungstendenzen des Militarismus und erklärte es nach marxistischem Grundsatze als die Aufgabe der Partei, das ganze Gewicht auf die Förderung jener Tendenzen zu legen, die auf eine Demokratisierung des Heeres hinausliefen und es dadurch für imperialistische Raubkriege und arbeiterfeindliche Unternehmungen immer mehr unbrauchbar machen mußten. Heute ist die Frage für Europa anders gelöst. Die Revolution hat in Rußland die Rote Arbeiterarmee, in Deutschland die weißen Garden und damit die Parole der Bewaffnung des Proletariats für die Revolution gebracht.
Diese theoretische Arbeit Radeks und ihre Ausmünzung in der täglichen Aufklärung durch die Presse hatte das Ziel der revolutionären Massenaktion gegen Imperialismus und Krieg. Er erreichte diese Wirkung nicht. Der radikalen Gruppe gelang es nur, eine kleine Schar revolutionärer Kämpfer um sich zu vereinigen. Obwohl Radek die Parteibureaukratie und die sozialdemokratischen Parlamentarier durchaus kennen gelernt hatte, »obwohl er keineswegs der Meinung war, daß die Massen sich in jeder kriegerischen Situation zu einer Abwehraktion aufraffen können«, traf ihn der moralische Zusammenbruch der Partei am 4. August doch furchtbar. Er schrieb uns damals nach der Redaktion der »Bremer Bürgerzeitung« einen Brief, in dem die tiefe Enttäuschung, Zorn und Scham erzitterten. Der Schlag war hart und schwer. Wohl hatte Radek am deutlichsten und sogar am eigenen Leibe die Versumpfung der Partei im Opportunismus erkannt. Aber politisch arbeiten kann man überhaupt nur dann, wenn man erfüllt ist von der Gewißheit, seine Partei in die eigene Bahn zu lenken. Er selber sprach die Hoffnung aus, daß der Opportunismus in der deutschen Sozialdemokratie überwunden werde. Wie tief war jetzt der Fall, wo sein spöttisches Wort: »Plechanow, Lenin, Parvus – diese vermaledeiten Kerle, gehören nicht zu denen, die so schnell umlernen!« sich so bös gegen ihn gewandt hatte. Heute wirkt es wie eine Blasphemie, den Namen Lenin mit denen des Chauvinisten Plechanow und des germanophilen Allerweltgeschäftsmannes Parvus in einem Atem zu nennen. Und mancher der alten Weggenossen hatte Radek verlassen. Hänisch schrieb ihm süßliche Briefe, in denen er zu rechtfertigen suchte, daß er künftig seinen Bedarf an Begeisterungsstimulanzen im Lager des Feindes zu decken gedenke. Paul Lensch, der Radek persönlich schon längst verraten, braute jetzt aus revolutionären Phrasen imperialistisches Gift zusammen. Alfred Henke, der trotz seiner massigen Gestalt ewig Schwankende, kam aus Bedenklichkeiten und Katzenjammer nicht heraus. Was blieb fest von der alten radikalen Gruppe? Der Nestor Franz Mehring, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Das war so ziemlich alles.
Aber mit Klagen hielt sich Radek nicht auf. Er stellte sich auf den neugeschaffenen Boden und wirkte im alten Sinne. Schon in dem erwähnten Briefe gab er eine Analyse und umriß die Aufgaben der Radikalen. Er benutzte die geringe Bewegungsfreiheit, die er unter dem Druck der Zensur und angesichts der Ängstlichkeit Henkes in der »Bremer Bürgerzeitung« noch hatte, und setzte diese Arbeit dann in den Blättern der Schweizer Linken fort. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen gab er dann konzentriert in der 1916 von Knief in Bremen gegründeten »Arbeiterpolitik«. Dabei zeigte sich die Tatsache: Wie der Weltkrieg die Konsequenz, die Fortführung der alten Politik mit großkalibrigen Argumenten war, so zeigten sich in dem sozialdemokratischen Reflex der Situation die alten Tendenzen, nur schärfer gefaßt und zu ihren Konsequenzen getrieben. Der rechte Flügel der Partei, wie sich jetzt herausstellte, ihr Gros, ging zum Gegner über. Das Parteizentrum, die späteren Unabhängigen haschten nach pazifistischen Illusionen, verkündeten den Arbeitern stets aufs neue das Nahen des Heilands: Verständigungsfrieden, Stockholm, Wilson, Völkerbund, und hoffte auf die Sittlichkeit und Einsicht der Regierungen, solange die Arbeitermassen das Objekt der Geschichte blieben, welches das Parteizentrum trotz aller Geschwätzigkeit selbst war. Die Aufgabe der Linken blieb hier die Zerstörung aller Illusionen. Sie war zu steigern auf unmittelbare Vorbereitungen der Massen für den revolutionären Kampf. Diese Vorbereitung hatte zu geschehen in der Klärung der weltpolitischen Probleme, in der Ausrodung aller nationalistischen Gedankengänge und moralischen Schwächen, der Ausnutzung aller Rebellionen der Arbeiterklasse gegen die sich verschärfende wirtschaftliche Lage zu politischen Aktionen und schließlich in der moralischen Zermürbung der Front. Die alten Aufgaben also im wesentlichen, aber in einer höheren Qualität.
Das Grundproblem war jetzt die Frage der Landesverteidigung geworden. Hier stieß Radek wiederum mit Kautsky zusammen. Um nicht zu Konsequenzen gezwungen zu sein, tüftelte dieser aus, daß der Weltkrieg keinen imperialistischen Charakter habe. Er glaubte weiter besonders marxistisch zu handeln, wenn er die Parolen von Marx und Engels bei früheren internationalen Konflikten ohne Rücksicht auf die gründlich veränderten Verhältnisse übernahm. Radek wandte im Gegensatz dazu die marxistische Methode zur Untersuchung der augenblicklichen Situation an und zog die der Gegenwart entsprechenden Schlüsse. Da zeigte sich, daß die Unterscheidung von Angriffs- und Verteidigungskrieg sinnlos geworden und auch kein historischer Fortschritt vom Siege einer bestimmten Ländergruppe zu erwarten war. Die Schlußfolgerung müßte sein, das internationale Proletariat aus seiner Selbstzerfleischung im Interesse seiner Herren herauszureißen und es in den Kampf gegen den Kapitalismus überhaupt zu führen. Das hieß aber Zertrümmerung der ausgehöhlten 2. Internationale und Vorbereitung einer Internationale der revolutionären Tat (Zimmerwald, Kiental). Das hieß zugleich Schaffung der Kampfkaders für das revolutionäre Proletariat in den einzelnen Ländern, Zermürbung des alten Parteiapparates und Zusammenfassung der Revolutionäre in einzelnen Gruppen mit dem Ziele der Bildung einer revolutionären Partei. Für diese Aufgaben hat Radek von Bern, von Stockholm und Petersburg aus aufklärend, beratend und anfeuernd gewirkt. Damit bereitete er mit den Boden vor für die Kommunistische Partei Deutschlands und ihre Taktik, der er seitdem in allen schwierigen Situationen mit seinem klaren Urteil zur Seite gestanden hat.
Die heutigen Differenzen in der Arbeiterklasse Deutschlands sind im Grunde dieselben, die Radek in der Zeit der nahenden Revolution untersucht hat: Unterwerfung der Arbeiterklasse unter den Kapitalismus, Ausflucht in pazifistische Illusionen oder Führung des Proletariats in den Kampf. Und erst wenn man das Wesen dieser Differenzen der vergangenen Zeit richtig erkannt hat, kann man die taktischen Wendungen der verschiedenen Parteien und die Notwendigkeiten der Stunde richtig erfassen.
In Karl Radeks wissenschaftlichen Arbeiten offenbart sich das, was er auch in der Regierung Sowjetrußlands praktisch gezeigt hat: er ist Realpolitiker. Freilich nicht so, wie ihn der Kleinbürger auffaßt. Nicht jener pfiffige Geschäftsmann, der wunder denkt, wie praktisch er ist, wenn er nur sieht, was vor seiner Nase kriecht, der als kleiner Räuber mit den großen Hain jagt, sich zu allem mißbrauchen lassen muß und als Regierungsmann nach dem Geständnis eines sozialdemokratischen Ministers stets in die Klemme kommt zwischen zwei Dummheiten, eine zu wählen. Radek ist der Realpolitiker großen Wurfs wie die Lenin, Bucharin, Trotzki. Sein stärkster Charakterzug ist die Kühnheit des Gedankens und der Tat. Die Kühnheit, die dem Bewußtsein der geistigen Beherrschung des gesellschaftlichen Prozesses entspringt. Und diese geistige Herrschaft ist bei ihm die Frucht eines von eisernem Willen vorwärts gepeitschten Fleißes, der nicht ruht, bis er alles Tatsachenmaterial in seinen Einzelheiten aufgenommen hat, wie der unerbittlichen Selbstkritik, die ihn treibt, den Problemen bis auf den Grund zu gehen, die keinen Zwiespalt zwischen Erkenntnis und politischer Entscheidung duldet. Für jeden seiner Entschlüsse aber wirkt und kämpft er mit der verhaltenen Begeisterung und Leidenschaft einer starken Seele. Sein klarer Blick in die Dinge und sein entschlossener Wille zum Handeln haben ihn zu einem der ersten Politiker des Proletariats geschmiedet, zu einem Staatsmann der Revolution.
Bremen, den 7. August 1920.
Paul Frölich.
Diese Sammlung enthält eine Auswahl von Arbeiten, die sich an das deutsche Proletariat wandten und es für die kommenden revolutionären Kämpfe vorbereiteten. Sie ist eine der geistigen Urkunden der Entstehung der deutschen kommunistischen Partei. Aus Raumrücksichten mußten die zahllosen weltpolitischen Arbeiten, inwieweit sie nicht prinzipieller und taktischer Natur waren, ausscheiden, da sie allein mehrere Bände füllen würden. Was die russische Revolution anbetrifft, so finden in diesem Bande nur diejenigen Artikel und Reden Platz, die von vornherein auf die deutschen Arbeiter berechnet waren, selbst wenn sie zuerst in russischer Sprache erschienen. Die anderen Arbeiten, die in den Organen der russischen Partei und Regierung, in der Petrograder und Moskauer »Prawda«, den »Izwestja«, dem Petrograder und Moskauer »Kommunist« erschienen sind und der Selbstverständigung des russischen Proletariats dienten, werden in einer besonderen Sammlung: »In den Reihen der russischen Revolution« erscheinen. Da ich nach Rußland abreise und die Herausgabe dieser beiden Sammlungen nicht selbst besorgen kann, wird Frau Charlotte Stucke-Kornfeld so freundlich sein, sie zu übernehmen.
Berlin, den 5. Dezember 1919
Gefängnis Lehrterstraße
Karl Radek.
Die auswärtige Politik der deutschen Sozialdemokratie.
Es lebe der Krieg!
Die erfreuliche Einmütigkeit, mit der sich die Parteipresse gegen den Genossen Leuthner wandte, war eine Äußerung des Willens zum Frieden, wie er im deutschen Proletariat lebt. Der Standpunkt Leuthners wurde ganz richtig als eine Aufmunterung der deutschen Kriegshetzer aufgefaßt, und das genügte, um ihn für die deutsche Sozialdemokratie unmöglich zu machen. Die Sozialdemokratie ist der Hort des Friedens, diese Tatsache ist ein Produkt der Entwicklung seit dem Frankfurter Frieden oder noch mehr seit dem Ausbruch der neuen kolonialen Ära. Denn nicht immer war der Friede die Losung der Sozialdemokratie. Es gab eine Zeit, da sie für den Krieg Propaganda machte. Ein Rückblick auf die Umstände, unter welchen dies geschah, ist nicht nur von historischem Interesse. Erstens wird er uns erlauben, die veränderte Situation, in der die jetzige Stellungnahme der Sozialdemokratie entstand, schärfer ins Auge zu fassen, zweitens wird er uns helfen, in der Argumentation der offen oder versteckt kriegsfreundlichen Genossen manche Elemente der alten Position wiederzufinden.
Diese Position war die folgende: Im Jahre 1848 schrieb Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung: »Nur der Krieg mit Rußland ist ein Krieg des revolutionären Deutschlands, ein Krieg, worin es die Sünden der Vergangenheit abwaschen, worin es sich ermannen, worin es seine eigenen Autokraten besiegen kann, worin es, wie einem die Ketten langer träger Sklaverei abschüttelnden Volke geziemt, die Propaganda der Zivilisation mit dem Opfer seiner Söhne erkauft und sich nach innen frei macht, indem es sich nach außen befreit.« In demselben Blatt befürwortete Marx den Krieg um Schleswig-Holstein, der gegen Dänemark, England, Rußland und das alte Preußen geführt wurde, mit folgenden Argumenten: »Gerade solch ein Krieg tut der einschlummernden deutschen Bewegung not, ein Krieg gegen die drei Großmächte der Konterrevolution, ein Krieg, der Preußen in Deutschland wirklich aufgehen läßt, der die Allianz der Polen zum unumgänglichen Bedürfnis macht, der die Freilassung Italiens sofort herbeiführt, der gerade gegen die alten konterrevolutionären Alliierten von 1792 bis 1815 gerichtet ist, ein Krieg, der das ›Vaterland in Gefahr‹ bringt und es gerade dadurch rettet, indem er den Sieg Deutschlands vom Siege der Demokratie abhängig macht.«
Im Juni des Jahres 1859, während der europäischen Krisis, die mit dem Kriege Österreichs gegen Italien endete, schrieb Fr. Engels an Lassalle: »Vive la guerre (Es lebe der Krieg), wenn Franzosen und Russen uns zugleich angreifen, wenn wir dem Ertrinken nahe sind, denn in dieser verzweifelten Situation müssen sich alle Parteien von der jetzt herrschenden bis zu Zitz und Blum abnutzen, und die Nation muß, um sich zu retten, sich endlich an die energischste Partei wenden.« (Zitiert im 47. Briefe Lassalles an Marx: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels. Stuttgart 1902, S. 185.)
Seit dieser Zeit war die Hervorhebung der Notwendigkeit des Krieges mit Rußland ein steter Bestandteil der auswärtigen Politik der deutschen Sozialdemokratie, bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Wie sich aber selbst diese Losung veränderte, zeigt die folgende Ausführung Liebknechts, eines Hüters der traditionellen auswärtigen Politik Marx auch in Zeiten, als dieselbe schon teilweise der internationalen Situation nicht mehr entsprach: »Wenn die Regierungen Österreichs, Englands, Frankreichs klar und nett vor die Alternative gestellt würden: kosakisch oder demokratisch, sie würden unbedingt und ohne sich zu besinnen antworten: kosakisch. Indes, wenn auch von den jetzigen Staaten kein radikales Vorgehen gegen Rußland zu erwarten ist, so folgt daraus doch nicht, daß man fatalistisch die Hände in den Schoß legen solle. Es ist richtig: die russische Macht kann nur bis zu einem gewissen Punkt anschwellen, und dann muß von Seiten der erwachten und mündig gewordenen Völker der vernichtende Rückschlag kommen, aber die Frist bis zu diesem Rückschlag wird dadurch, daß man den Völkern die Tragweite der orientalischen Frage zeigt, wesentlich abgekürzt.« Diese Worte schrieb Liebknecht im Jahre 1878, zur Zeit des Russisch-Türkischen Krieges (Zur orientalischen Frage, oder soll Europa kosakisch werden. Leipzig 1878, S. 49), und es unterliegt keinem Zweifel, daß dies die Grundlage der späteren Kundgebungen der Partei gegen den Zarismus bildete.
Dies die Position der Sozialdemokratie. Werfen wir nun einen Blick auf die Situation, die sie bedingte. Sie zerfällt in zwei Zeitabschnitte: bis zum Frankfurter Frieden (1871), und von dann bis in die neunziger Jahre. Sie entstand während der deutschen Revolution und entsprach den inneren Verhältnissen Deutschlands und seiner internationalen Lage. Die Übermacht Rußlands in Europa, die bis zum Japanisch-Russischen Kriege anhielt, hemmte die demokratische Entwicklung auf Schritt und Tritt. Ein Krieg mit Rußland wäre ein Krieg gegen die Konterrevolution gewesen. Er hätte einen Umschwung in der inneren Situation Deutschlands geschaffen. Das deutsche Spießbürgertum machte Miene, schon nach dem ersten Siege der Revolution diese freudejohlend der Konterrevolution auszuliefern. Ein Krieg gegen Rußland, in dem es alle Kräfte hätte anspannen müssen, hätte es aus dem Schlafe gerüttelt, hätte es genötigt, die damals noch kleinliche Furcht vor dem Proletariat abzuschütteln; der Krieg mit Rußland hätte nicht nur die Revolution geschützt, sondern auch ihre Basis erweitert.
Etwas anders war die Situation im Jahre 1859. Die Konterrevolution in Deutschland hatte dank der Schwächlichkeit der Bourgeoisie gesiegt. Im ganzen Lande fühlte man nicht einen Hauch mehr von dem Geist der Revolution. In dieser Situation entstand ein Konflikt zwischen dem um seine Vereinigung ringenden Italien und Österreich, das einen Teil Italiens besaß. Napoleon III. unterstützte die italienischen Bestrebungen, um als Verfechter einer populären Idee in Frankreich seine Stellung zu befestigen. Marx und Engels glaubten erstens fest daran, daß Rußland sie aktiv unterstütze, und zweitens, daß dem Schlage gegen Österreich am Po ein zweiter am Rhein gegen Deutschland folgen würde. Obwohl sie seit Jahren ihr Wort für die Befreiung Italiens in die Wagschale warfen, hielten sie es jetzt für ihre Pflicht, gegen Italien Stellung zu nehmen, weil ein Sieg Italiens den Sieg Rußlands bedeuten, weil er Napoleon, also die Konterrevolution in Frankreich befestigen, weil er die Einigung Deutschlands verschleppen würde. Sie machten auch aus dem Grunde Propaganda für den Krieg, weil er den Bann der Konterrevolution in Deutschland – wie sie glaubten – brechen und der Revolution zum Durchbruch verhelfen würde. Wie falsch auch manche ihrer Voraussetzungen und ihre taktische Position waren – und daß sie falsch, bewies Lasalle in einer genialen Auseinandersetzung, in der er einen wunderbaren Einblick, man könnte sagen, eine Vorahnung der künftigen proletarischen auswärtigen Politik an den Tag legt,[Anmerkungen 1] – ihre Position hatte nichts zu tun mit »patriotischen« Erwägungen à la Leuthner oder Maurenbrecher, und wir glauben, daß man ihre tiefsten Beweggründe besser in der intimen Äußerung Engels gegenüber Lasalle, als in seiner Broschüre: Po und Rhein (Berlin 1859, bei Dunker), welche anonym herausgegeben, sich an das bürgerliche Publikum wandte und nach Mehrings Zeugnis allgemein für das eines hochgestellten und vorzüglich unterrichteten Militärs gehalten wurde, finden kann.
Die Herrlichkeit des neugegründeten Reiches und der Niedergang des Liberalismus führten dazu, daß bei den Führern der deutschen Sozialdemokratie der Glauben an die Möglichkeit eines Vorgehens des Deutschen Reiches gegen Rußland zerstob; die veränderte Situation der Ära des bewaffneten Friedens hätte die Agitation für einen Krieg in die pure Agitation für militärische Rüstungen verwandelt. Das führte, zusammen mit Momenten, über die wir noch sprechen werden, dazu, daß die kriegsfreundliche Stellung der Sozialdemokratie nur noch in der Form zu finden ist, die ich in der oben angeführten Äußerung Liebknechts wiedergegeben habe. In dieser Fassung wandelte sich die auf direkte, sofortige Beeinflussung der bürgerlichen auswärtigen Politik gerichtete Agitation in eine agitatorisch-propagandistische Vorbereitung zukünftiger Kämpfe. Zur Beurteilung dieser Position muß noch ein Moment hervorgehoben werden. Während dieser Epoche kann man eigentlich nur von der auswärtigen Politik der Führer der Sozialdemokratie, nicht aber von der des Proletariats sprechen. An dem Fehlen des Proletariats starb eben die deutsche Revolution; dieses Fehlen schob die Führer der Sozialdemokratie auf die Bahn des Spekulierens auf revolutionäre Situationen, die das Kleinbürgertum revolutionieren würden; es führte dazu, daß sie mehr an eine den Interessen der Revolution dienende auswärtige Politik der Bourgeoisie, als an die des Proletariats dachten. Nach dem Jahre 1848 sprachen sie über auswärtige Politik nicht von proletarischen Tribünen, sondern anonym in bürgerlichen Blättern, in Broschüren, von denen fast niemand wußte, daß sie die revolutionäre »Schwefelbande« zu ihren Verfassern hatten. Diese Umstände gaben ihrem Standpunkt eine gewisse Färbung, eine Abtönung, deren Entstehen wir bei der Beurteilung ihrer Positionen nicht aus den Augen verlieren dürfen, wenn wir nicht blinde Nachbeter unserer Altmeister sein, sondern sie gerecht, d. h. historisch beurteilen wollen.
Die Sozialdemokratie als Hort des Friedens.
Nach dem Deutsch-Französischen Kriege wuchs mit jedem Jahre die Last der Rüstungen in Deutschland und den benachbarten Staaten. Im Jahre 1868 behauptete Moltke, die Einigung Deutschlands sei der beste Weg zur Abrüstung Europas. Zwanzig Jahre später, während des Kriegsrummels des Jahres 1887, erklärte er: »Meine Herren, ganz Europa starrt in Waffen. Wir mögen uns nach links oder rechts wenden, so finden wir unsere Nachbarn in voller Rüstung, die selbst ein reiches Land auf die Dauer nur schwer ertragen kann.« Das Land, d. h. die Arbeiterklasse, mußte sich jedoch das Wachsen der Kriegslasten gefallen lassen, weil sie noch nicht die genügende Kraft besaß, das von der Bourgeoisie im Jahre 1848 versäumte Werk zu vollbringen. Sie mußte sich noch mehr gefallen lassen. Es hagelten auf ihren Rücken die Skorpione Bismarcks, die Verfolgungen des Sozialistengesetzes. Und die klassenbewußten Arbeiter bildeten schon kein kleines Häuflein mehr; die Zeit, da Lassalle als letzter Mohikaner der Revolution in Düsseldorf lebte, war schon vorüber. Hunderttausende deutsche Arbeiter kämpften unter der roten Fahne. Die Rüstungen gingen vonstatten unter der Losung eines Krieges mit Frankreich. So bekam die Solidarität mit der französischen Arbeiterklasse eine praktische Bedeutung, eine konkrete Äußerungsform: sie wurde der Beweggrund der scharf ablehnenden Haltung gegen die Rüstungen, gegen die Franzosenhetze; sie wurde zum ehernen Fundament einer friedlichen auswärtigen Politik, der die Arbeiterklasse das Wort sprach. Zwar kehrte, wenn die theoretische Möglichkeit eines Abwehrkrieges gegen Rußland besprochen wurde, die alte Erklärung: diesen Kampf machen wir mit, wieder, wer aber den Geist der Parteipresse aus diesen Zeiten kennen lernt, der spürt in ihr nicht einmal den Hauch des Willens zum Kriege.
Auf das Entstehen dieser Atmosphäre des Krieges gegen die Bourgeoisie und der Friedfertigkeit dem Auslande gegen über wirkten neben den angezeigten noch andere Momente ein. Trotz des von Zeit zu Zeit entstehenden Kriegsrummels, der die Motive zum weiteren Rüsten liefern sollte, waren die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts keine Kriegszeiten. Die Grenzen der Staaten schienen unwandelbar zu sein. In diesen Jahren entstand die bekannte Theorie des Bankiers Bloch von der Unmöglichkeit der Kriege. Die Bourgeoisie richtete sich in dem neuen Hause gemütlich ein, sie nutzte in schnellem Tempo den neugeschaffenen einheitlichen inneren Markt aus, sie schuf eine enorme Industrie und ein stets anschwellendes Proletariat. Die Arbeiterklasse entwickelte in ihrem Gesamtbewußtsein den Antagonismus zum kapitalistischen System, sie organisierte im nationalen Rahmen den Kampf gegen die Bourgeoisie. Und wie die Bourgeoisie wirklich an keinen Krieg dachte, so floß auch die friedliche auswärtige Politik der Arbeiterklasse mehr aus ihrer Opposition gegen die innere Politik der Bourgeoisie und der Regierung, aus der Auflehnung gegen die Verrücktheit der Rüstungen, als aus der Bewertung der Gefahr eines bevorstehenden Krieges.
In dem letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts begannen sich die Verhältnisse zu ändern: Die schon in den achtziger Jahren begonnene Ära der Kolonialpolitik fing an, ihre Folgen in der internationalen Situation anzukündigen. Der Kapitalismus stieß auf dem nationalen Markte auf ein Hindernis: das unter seiner Herrschaft waltende Lohngesetz, das der Masse der Arbeiterklasse nur die notwendigsten Unterhaltungsmittel gewährte, beengte die Möglichkeit einer dem Wachstum der Produktivkräfte entsprechenden Ausbreitung des Absatzes. Dieses Hindernis wurde desto bedeutsamer, einen je größeren Teil der Bevölkerung die Arbeiterklasse ausmachte. Das Kapital suchte neue, ferne Absatzmärkte, auf denen es der Konkurrenz auswärtiger Kapitalisten begegnete. Es rief die Staatsmacht um Hilfe und Unterstützung an, es forderte von ihr monopolisierte Märkte. Das im schnellsten Tempo gesammelte Kapital schrie nach Anlagegelegenheit »bei möglichst guten Zinsen«. Im alten kapitalistischen Europa waren die Profite zu klein. Es versuchte, sich vermittels der Staatsgewalt bessere zu verschaffen: Kolonien, d. h. vom Staate besetzte Gebiete, wo man Bahnen bauen, verschiedene Bauten anlegen könne, wurden zur Losung. Die schwere Industrie, die Eisenkönige und Finanzbarone und die »Königlichen Kaufleute« wurden zu Trägern, ihre Sorgen und Hoffnungen die Triebfeder der neuen Kolonialära. Dieses ist eine internationale Erscheinung; je nach den historischen Verhältnissen jedes Landes kommen zu diesen allgemeinen Ursachen der Belebung der kolonialen Bestrebungen spezielle soziale und politische Gründe. Wie mannigfaltig sie aber auch waren, sie hatten ein gemeinsames Resultat. Die Reibungsflächen der Staaten wuchsen ungeheuer, das Konfliktsmaterial sammelte sich an den verschiedensten Stellen der Welt. Das Burenland, Faschoda, China, Marokko, die Mandschurei, oder wie die entfernten Gegenden heißen, überall konnte der Brand entstehen, der Europa in ein Schlachtfeld verwandelte. Selbstverständlich erweckte dies die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse. Während sie in den Werkstätten den Mehrwert für die Kapitalisten produzierte, aber auch die Waffen gegen sie schmiedete, konnten die Herrschenden in einen Konflikt hineinrennen, dessen Ausgang das Vergießen ihres Blutes und die Zerstörung ihres Gutes bilden mußte. Vor der Arbeiterklasse erstand die Möglichkeit, sich nicht nur für eine fremde, sondern für eine feindliche Sache abschlachten lassen zu müssen. Während der Deutsch-Französische Krieg ein Krieg für die Vereinigung Deutschlands war, also eine begrenzte Lösung durch die deutsche Konterrevolution der von der Revolution ungelösten Aufgabe, während also in ihm zwar durch Mittel, welche die Sozialdemokratie bekämpfte und durch ihre Feinde aber doch eine Frage zur Lösung kam, deren Lösung die Sozialdemokratie im Interesse der Arbeiterklasse für notwendig erachtete, würden jetzt in einem eventuellen Kriege feindliche Interessen im Spiele sein. Die Arbeiterklasse bekämpft die kapitalistische Kolonialpolitik nicht nur darum, weil diese ohne Unterdrückung der Eingeborenen unmöglich ist, sie bekämpft sie in erster Linie aus dem Grunde, weil sie in ihr eine Flucht vor dem Sozialismus sieht. Die ökonomischen Verhältnisse Westeuropas sind schon für den Sozialismus reif. Nur die Schnitter fehlen noch, denn der Prozeß des Bewußtwerdens proletarischer Massen geht nicht so schnell vonstatten, wie die ökonomische Entwicklung. Diese macht die weitere Entwicklung der Produktivkräfte auf kapitalistischer Grundlage mit jedem Jahre mehr zur Unmöglichkeit. Dem Kapitalismus drohen Erschütterungen, in denen das Bewußtsein der Massen in wunderbarer Eile reifen würde. Die soziale Revolution rückt in greifbare Nähe. Der Kapitalismus will eine Zuflucht und Rettung in den Kolonien finden. Es wird nur eine Galgenfrist sein, das weiß die Arbeiterklasse. Soll sie ihm diese aber gewähren? Die Kolonialpolitik der Regierungen kann zu einem Zusammenstoß der konkurrierenden Großmächte führen, der den Zusammenbruch des Kapitalismus beschleunigen würde. Das weiß die Arbeiterklasse und trotz des Schreckens der Kriege graut ihr nicht vor ihrem Ausgang. Sie weiß erstens, daß der Krieg die Geister der Arbeiterklasse zur Auflehnung gegen das ganze System des Kapitalismus, zum Kampf um den Sozialismus aufpeitschen wird, je kriegsfeindlicher die Masse »verseucht« ist. Zweitens erblickt sie ihr spezifisches Kampfesmittel im Kampfe gegen die Kapitalistenklasse, der die Proletarier aller Länder vereint, im Klassenkampf, und nicht im Kriege, der sie, wenn auch nur auf kurze Zeit und ungewollt, entzweien könnte.
Darum wächst der bewußte Wille zum Frieden in den letzten Jahren so gewaltig im Proletariat, der proletarische Gedanke arbeitet und sucht nach Mitteln, um die Kriege unmöglich zu machen, darum erklärt seine Vertretung, der internationale sozialistische Kongreß, daß es die Pflicht des Proletariats ist, alles zu tun, um den Ausbruch des Krieges zu verhindern, und falls dies nicht gelingt, die von ihm geschaffene Situation für einen kräftigen Vorstoß der proletarischen Armee zu benutzen. Untersuchen wir jetzt die internationale Lage und die konkreten Resultate einer solchen proletarischen Politik.
Die gefährlichere englische – die friedliche deutsche auswärtige Politik.
Die oben geschilderte Stellung der deutschen Sozialdemokratie zu den Fragen der auswärtigen Politik äußerte sich in den letzten Jahren konkret in der Stellung zu dem Streit um Marokko und zu der viel wichtigeren Angelegenheit der deutsch-englischen Beziehungen. Während aber im ersten Falle die Haltung der Partei eine allgemeine Anerkennung in der Internationale fand, wird sie im zweiten von einigen Genossen kritisiert. Ohne darauf einzugehen, wie einheitlich diese Kritik ist und aus welchen Quellen sie fließt, wollen wir hier ganz ruhig ihre wichtigen Einwände besprechen. Als erstes Argument gegen die Stellung der deutschen Sozialdemokratie kommt die folgende Behauptung in Betracht: der englische Imperialismus ist gefährlicher als der deutsche; die auswärtige Politik der deutschen Regierung ist friedlich. Betrachten wir diese Argumentation etwas näher.
Worin besteht der englisch-deutsche Gegensatz? In erster Linie in der Furcht Englands vor dem Verlust seiner außereuropäischen Besitzungen. In Indien und Ägypten entwickelt sich eine Bewegung der einheimischen Bevölkerung, die Selbstverwaltung für sich fordert. Mit dem Fortschritt der kapitalistischen Wirtschaft wird die Bewegung in diesen Ländern an Kraft zunehmen und in anderen entstehen. Um sich in diesen Ländern zu befestigen, steuert die englische Politik in der Richtung der direkten oder indirekten Beschlagnahmung des ganzen Gebietes der Türkei und Persiens, das zwischen Ägypten und Indien liegt. Wenn man also fragen würde, ob diese Politik für Indien, Ägypten, Persien und die Türkei gefährlich ist, so müßte man diese Frage bejahen. Aber nicht darum geht es den Gegnern unserer Position. Für den europäischen Frieden wird sie erst dadurch gefährlich, daß die deutsche Bourgeoisie diese Pläne der englischen kreuzen will.
Die deutsche Bourgeoisie und ihre auswärtige Politik wird von den Genossen Renner und Leuthner als friedlich dargestellt. Würden diese Genossen dabei auch nur an die Pläne der führenden Parteien und der deutschen Regierung denken, so würden sie schon Unrecht haben. Das deutsche Kapital schreit nach Kolonien, wie jedes andere, und daß die deutsche Regierung es bis jetzt nur mit Brocken speisen konnte, verdankt die deutsche Arbeiterklasse nur der Tatsache, daß die deutsche Kolonialpolitik sehr spät begonnen hat. Die deutsche Bourgeoisie aber verliert nicht die Hoffnung: sie war schon auf dem Sprunge, beim chinesischen Raub mitzumachen, und noch jetzt, wo der Prozeß der Regenerierung Chinas im Flusse ist, will sie Kiautschau nicht aus den Händen lassen, um einen Anhaltspunkt für eine Aktion zu haben, wenn sich eine entsprechende Gelegenheit zu ihr biete, d. h. wenn andere Großstaaten auch zugreifen. Selbst Paul Rohrbach, der immer eine friedliche auswärtige Expansion des Kapitals befürwortete, bekämpft in seinen »deutsch-chinesischen Studien« (Berlin 1909) die Idee der Aufgabe Kiautschaus mit obigen Argumenten. So steht es selbst mit den friedlichen Plänen der deutschen Regierung. Noch weniger kann man an die Friedlichkeit ihrer auswärtigen Politik glauben, wenn man ihre Wirkung und eventuellen Ergebnisse ins Auge faßt. Nehmen wir die deutsche Politik in der Türkei.
Das deutsche Kapital sucht in der Türkei Anlagegelegenheit und einen Markt. Eine starke türkische Regierung würde ihm die Sicherheit seiner Zinsen garantieren. Darum unterstützte es Abdul Hamid, darum wird es auch die Jungtürken aufrichtig unterstützen. Es hat einstweilen zu viel in der Türkei zu verdienen, um jetzt auf ihre Teilung hinzuwirken. Diese friedliche Politik des deutschen Kapitals würde aber augenblicklich in eine kriegerische umschlagen, sowie es sich zeigen würde, daß das neue Regime in der Türkei den schwierigen Aufgaben nicht gewachsen ist, daß es dem deutschen Kapital die Sicherheit für seine Zinsen nicht garantieren kann. Die deutsche Regierung würde dann selbst die nötige Sicherheit der deutschen Bourgeoisie zu schaffen versuchen, indem sie die vom deutschen Kapital ökonomisch eroberten Teile der Türkei mit der Waffe in der Hand besetzen würde. Die friedliche Politik der deutschen Regierung kann also in ihrer Entwicklung zu solchen gar nicht friedlichen Resultaten führen. Dasselbe würde der Fall sein, wenn England seine Pläne in der Türkei zu realisieren versuchte. Das deutsche Kapital würde streben, auch sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. In beiden Fällen könnte es zu einem Kriege zwischen Deutschland und England kommen. So ist es um die friedliche deutsche Politik bestellt. Wie die »gefährlichere« englische, so auch die »friedliche« deutsche Politik können einen Zusammenstoß bereiten, wobei die englische sich von der deutschen dadurch unterscheidet, daß sie in einem eventuellen Kriege die traditionelle Lage Englands verteidigen, während die deutsche um die Zukunft der deutschen Kolonialmacht kämpfen würde.
Aber was wäre gegen unsere Taktik bewiesen, wenn wir zugeben würden, daß die englische auswärtige Politik gefährlicher ist als die deutsche? Würde die Sozialdemokratie darum eine andere Taktik anschlagen müssen? Keinesfalls! Die deutsche Sozialdemokratie müßte weiter aus allen Kräften die deutschen Kolonial- und Flottenschwärmer bekämpfen, sie müßte die Einschränkung der Flottenrüstungen fordern, denn erstens bedeuten sie eine ungeheure Last für die Arbeiterklasse, zweitens dienen sie Zwecken, die den Interessen der Arbeiterklasse und der sozialen Entwicklung feindlich sind, drittens würde nur die Aktion der deutschen Arbeiterklasse der englischen helfen, den englischen Imperialismus zu bekämpfen. Dagegen wendet Leuthner ein: solch ein Kampf der deutschen Arbeiterklasse könnte nur dieses Resultat haben, daß die starke deutsche Arbeiterklasse, die imstande ist, den deutschen Imperialisten Halt zu gebieten, den englischen den Weg ebnen würde, weil die »schwache« englische Arbeiterklasse diese nicht bezwingen könne. Wir wollen hier nicht die Frage von dem Verhältnis der beiden Arbeiterklassen besprechen – es würde sich zeigen, daß es mit dieser Frage etwas anders steht, als es Leuthner glaubt – wir wollen die prinzipielle Seite der Frage beantworten. Die Antwort lautet: Wir betrachten die Kolonialpolitik nicht als ein Gut, um das wir andere »Nationen« im Interesse der Arbeiterklasse beneiden sollten. Im Interesse der deutschen Arbeiterklasse liegt es in allererster Linie, daß Deutschland keine Kolonialpolitik treibt. Die Arbeiterklasse in den Dienst der deutschen Kolonialschwärmer zu stellen aus Furcht vor dem Wachstum der englischen Kolonialmacht, das können nur Leute, die die kapitalistische Kolonialpolitik nicht prinzipiell als den Interessen der Arbeiterklasse feindlich bekämpfen. Denn nur der kann einen Krieg mit England für ein kleineres Unglück betrachten, als das ausschließliche Wachstum der englischen Kolonialmacht, der den kolonialen Besitz an und für sich als ein Glück der Arbeiterklasse ansieht. Würde es der englischen Arbeiterklasse nicht gelingen, parallel zur deutschen, die englischen Jingos zu bezähmen, würde also die deutsche Bourgeoisie nur zusehen müssen, wie die englische neue Kolonien beschlagnahmt, so würde die deutsche Arbeiterklasse dabei nichts verlieren. Die Produkte der deutschen Industrie – wenn sie durch ihre Güte konkurrenzfähig sein werden – könnten schon ihren Weg in die englischen Kolonien finden, wie sie ihn auch jetzt nach England finden. Und darum könnte es sich für die deutsche Arbeiterklasse höchstens handeln.
Kurz gesagt; erstens: würde man auch die Richtigkeit der besprochenen Argumente zugeben, so brauchte die Sozialdemokratie noch keinesfalls ihren Kampf gegen den deutschen Imperialismus einzustellen; zweitens: diese Argumente, konsequent durchdacht, sind nur möglich im Munde von Leuten, die grundsätzlich Anhänger der Kolonialpolitik sind.
Die panslawistische Gefahr. – Die südöstlichen nationalen Bewegungen.
In den Angriffen auf die auswärtige Politik der deutschen Sozialdemokratie fehlte nicht der Hinweis auf die russische Gefahr. In den Aufsätzen Leuthners finden wir Erzählungen vom »Anmarsch des Slawentums gegen Mitteleuropa«, von der Macht des Panslawismus usw. Diese Erzählungen finden selbst bei kritischeren Köpfen Gehör. So schreibt z. B. Renner: »Die proletarische Internationale hat keine Ursache, moralische Unterscheidungen zu machen, politisch aber bildet der mächtigere Despotenwille des Moskowitertums die größere Bedrohung des europäischen Proletariats in sich, als die durch drei Millionen sozialdemokratischer Stimmen gebändigte Imperatorenromantik Wilhelms II. Die auf dem Wahlunrecht aufgebaute Duma und die vorübergehende englische Entente ändern nichts an der Tatsache, daß der Zarismus der Hauptfeind des europäischen Sozialismus ist und bleibt.« (Der »Kampf«, J. II, Nr.4.) Wären diese Behauptungen so richtig, wie sie unrichtig sind, sie würden auch dann nichts gegen die auswärtige Politik der deutschen Sozialdemokratie beweisen. Die Sozialdemokratie fordert doch die Verwandlung der stehenden Heere in eine Miliz, also das beste Mittel, vermittels dessen das deutsche Volk seine Unabhängigkeit auch gegen »den Despotenwillen des Moskowitertums« nötigenfalls verteidigen könnte. Leuthner hat auch bis jetzt noch nicht so weit »umgelernt«, daß er von der Sozialdemokratie verlangte, für den Militarismus zu stimmen. Wozu also die Behauptung? Sie soll die Lage Deutschlands als von Rußland bedroht erscheinen lassen, damit die englische Gefahr eine noch größere Bedeutung für den Leser bekommt. Wir haben schon gezeigt, wie es mit dieser Gefahr bestellt ist, jetzt wollen wir zur russischen übergehen. Gegen die Überschätzung der Gefährlichkeit Rußlands für Europa kämpften schon im Jahre 1896/97 in der Diskussion über die orientalische Frage Kautsky und Luxemburg. Kautsky bewies dann in seinem lehrreichen Aufsatz über die Flottenvorlage (Schippel, Brentanus und die Flottenvorlage; Neue Zeit XVIII, 1. Bd., S. 771) wie sich die Gefahr seitens Rußlands vermindert. Seit dieser Zeit erlebten wir den Russisch-Japanischen Krieg, der nicht nur die innere Faulheit Rußlands an den Tag legte, sondern auch den Prozeß des weiteren Verfalls der russischen Macht – wenn sie nicht inzwischen durch einen Sieg der Revolution gerettet wird – beschleunigt. Angesichts des Hervorhebens der russischen Gefahr ist es am Platze, kurz auf die Ursachen der Ohnmacht Rußlands einzugehen, um so mehr, als sie noch jahrelang einen dauernden Einfluß auf die internationale Politik ausüben wird. Vielleicht werden bei dem Genossen Leuthner diese Ausführungen mehr Glauben finden, wenn sie sich nicht an die Analyse der russischen Verhältnisse eines Plechanow, Lenin, Parvus – diese vermaledeiten Kerle gehören nicht zu denen, die so schnell »umlernen« –, sondern an die Ausführungen eines bürgerlichen Politikers anlehnen. Wir können das an der Hand einer tiefen Analyse Paul Rohrbachs tun, eines der wenigen bürgerlichen politischen Schriftsteller Deutschlands, die mit viel Wissen und Gründlichkeit, wenn auch nicht immer mit der nötigen Konsequenz vom bürgerlichen Standpunkt aus die Fragen der auswärtigen Politik besprechen.
In seinem lehrreichen Buche: »Deutschland unter den Weltvölkern« beweist Rohrbach, daß Rußland für absehbare Zeit überhaupt aus der Reihe derjenigen Mächte zu streichen ist, die imstande sind, einen großen modernen Krieg zu führen, d. h. sich einen maßgebenden Einfluß auf die Weltpolitik zu wahren (S. 78). Er beweist diese These nicht nur mit der kompletten Zerrüttung der Wirtschaft Rußlands, nicht nur mit dem unabwendbar bevorstehenden Zusammenbruch seiner Finanzen. Um die in Rußland angelegten Kapitalien nicht zu verlieren und Rußland gegen Deutschland eventuell auszunutzen, könnten England und Frankreich das erstere in der Gefahr vermittelst großer finanzieller Opfer als ihren Prätorianer über dem Wasser halten. Aber der Einfluß des wirtschaftlichen Ruins Rußlands beschränkt sich nicht auf die Zerrüttung seiner Finanzen, er zeigt sich auch in dem menschlichen Material, über das Rußland verfügt. Mit dem Fortschritt in der Technik des Kriegswesens, der Tragweite der Infanteriewaffen und der Geschütze, der Vergrößerung der Heere, der komplizierten Ausgestaltung des Signal- und Meldewesens, des Aufklärungsdienstes, mit der beinahe ins Unendliche wachsenden Vergrößerung des Gefechtsfeldes und vor allem mit der notwendigen Auflösung der fechtenden Truppe während des Kampfes in immer kleinere Körper, ja schließlich in die einzelnen Individuen und der damit zusammenhängenden Notwendigkeit einer steten Erhöhung der Selbständigkeit bei Mannschaften und Offizieren, mußte der Moment eintreten, in dem das Material der russischen Armee versagte. Der Feldzug gegen die Japaner hat gezeigt, daß mit den heutigen Anforderungen an ein Heerwesen großen Stils der Punkt, bis zu dem die Leistungsfähigkeit des russischen Durchschnittssoldaten und Offiziers unter den obwaltenden Verhältnissen noch gesteigert werden konnte, bereits überschritten ist … Rußland ist nicht imstande, im Gebrauch der Mittel, die in der heutigen Kriegstechnik zur Anwendung gelangen müssen, mit geistig und moralisch höher entwickelten Völkern Schritt zu halten.
Wir können an dieser Stelle nicht alle anderen Momente, die in dieser Frage in Betracht kommen, besprechen. Das Gesagte genügt, um zu beweisen, daß es keine Abhilfe für das zarische Rußland gibt, daß ihm England und Frankreich hie und da zu einem Knochen verhelfen können, daß es als Parasit des deutsch-englischen Gegensatzes sich weiter als Großmacht gebärden kann, daß es aber als Land des Absolutismus seine Rolle im Konzerte der Mächte ausgespielt hat. Die allslawistischen Kongresse und Agitationen, auf die sich Leuthner beruft, würden die Vorstoßkraft Rußlands vergrößern – wenn sie existieren würden. Da sie aber nicht vorhanden ist, ist ihre im österreichisch-serbischen Konflikt offenbarte Schwäche eine kalte Dusche auf die erhitzten allslawischen Ideologen und Geschäftspolitiker. Dabei hat der All- oder Panslawismus keine anderen Kitte als den Glauben an die Macht Rußlands, der jetzt flöten geht. Die inneren Differenzen zwischen den slawischen Völkern (Polen-Unterdrückung in Rußland, Ruthenen-Unterdrückung in Galizien, die Tschechisierung der Polen in Schlesien, der serbisch-kroatische Gegensatz), die Verschiedenheit ihrer wirtschaftlichen und politischen Struktur, das alles sind Momente, welche in den Augen jedes ernsten Politikers die Drohungen mit dem Panslawismus zur Albernheit machen.
Der Verfall der Macht des Zarismus gibt verschiedenen Fragen der auswärtigen Politik eine andere Gestalt. In erster Linie der Frage unserer Stellung zu den nationalen Bewegungen im Südosten. Schon vor zehn Jahren vertraten Bernstein, Kautsky und Luxemburg gegen Wilhelm Liebknecht die Auffassung, daß die Sozialdemokratie nicht die geringste Ursache hat, diesen Bewegungen feindlich gegenüberzustehen, da der Zarismus nicht imstande ist, sie dauernd für sich auszunutzen, und weil er ihnen darum selber entgegentritt. Seit dieser Zeit gewann die Behauptung noch mehr an Kraft. Wir wollen das Verhältnis dieser Bewegungen zur türkischen Revolution jetzt nicht besprechen, sondern nur ein Moment hervorheben: Ist diese Behauptung richtig, dann liegt die Gefahr, daß diese Bewegungen einen Krieg der Großmächte hervorrufen können, weder in der Natur dieser Bewegungen, noch in Petersburg, sondern ausschließlich in den kolonialpolitischen Gelüsten der Großmächte, in ihrem Streit um die Türkei. Wollen wir also dieser Gefahr entgegenwirken, dann gilt es weder die Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanvölker usw. zu bekämpfen, noch sich wegen des erfundenen scharfen Vorgehens der deutschen Regierung in Petersburg zu freuen, sondern in erster Linie aus allen Kräften die Flottenpolitik in Berlin und London zu bekämpfen.
Kritisches und Taktisches.
Wir versuchten in kurzen Zügen die Entwicklung der auswärtigen Politik der deutschen Sozialdemokratie darzustellen und die gegen sie hervorgehobenen Einwendungen als unrichtig zu beweisen. An dieser Probe auf das Exempel, an der Stellung der deutschen Sozialdemokratie zum deutsch-englischen Gegensatz, bewiesen wir, daß die Haltung der Partei in den Fragen der auswärtigen Politik den Interessen der Arbeiterklasse entspricht. Natürlich ließe sich noch viel über diese Angelegenheiten sagen, wir müssen jedoch unsere Artikelserie beenden und können uns nur noch einige kritische Bemerkungen erlauben.
In erster Linie fällt es in die Augen, daß nicht nur die Masse des Proletariats, sondern die Partei selbst zu wenig auf die Vorgänge der internationalen Politik reagiert, was man auch von fast allen ausländischen Bruderparteien sagen kann. Die Ursache dieser Erscheinung ist nicht nur darin zu suchen, daß in der Arbeiterklasse, die ihr ganzes Leben in der Tretmühle des Kampfes um ihr bißchen Brot verlebt, das Interesse für die »fernen Fragen« schwer zu wecken ist; eine große Rolle spielt bei dieser Gleichgültigkeit die Tatsache, daß es seit dem Französisch-Deutschen Krieg keinen Krieg zwischen den großen Kulturvölkern gab, was in der Masse den Glauben erweckte; es könne niemals zu ihm kommen; dazu kommt noch eine gewisse Blasiertheit mancher Parteikreise, die den Massenkundgebungen in den Fragen der auswärtigen Politik keine praktische Bedeutung zuschreiben. Die Erschütterung des europäischen »Gleichgewichts« durch den Zusammenbruch der russischen Macht, das Gären und Brodeln, das an allen Ecken der Welt in den letzten Jahren bemerkbar ist, das alles wird schon Bewegung in die Massen bringen, und es ist die Sache der aufgeklärtesten und energischesten Parteikreise, dafür zu sorgen, daß die Sozialdemokratie diese Bewegung ausnützt, sie belebt und vorwärtstreibt. In einem Aufsatz über die Lehren des Kriegsrummels in Österreich fragt Genosse M. Schacherl (Kampf Nr. 10) ganz richtig: Wo war die Internationale während des serbisch-österreichischen Konflikts? Es lohnt sich, auf diesen Fall speziell einzugehen, denn an ihm läßt es sich kraß zeigen, wie sich die internationalen Verhältnisse jetzt verzweigen, wie es an einer internationalen Aktion des Proletariats mangelt.
Schacherl weist darauf hin, daß die Lage der österreichischen Sozialdemokratie während des Konflikts sehr schwierig war, denn sie befürchtete, durch ihre Aktion gegen die österreichische Kriegspartei die serbische aufmuntern zu können. Wie kritisch wir auch der Taktik der österreichischen Genossen gegenüberstehen, müssen wir jedoch das Vorhandensein dieser Gefahr rücksichtslos zugeben. Aber diese Gefahr eben könnte durch die Aktion der Internationale erheblich vermindert werden. Wir brauchen hier nicht wieder breit auseinanderzusetzen, daß die serbische Regierung nur darum an einen Krieg mit Österreich denken konnte, weil sie auf eine direkte Unterstützung seitens Rußlands und eine indirekte seitens Englands rechnete, denn das ist eine bekannte Tatsache. Eine energische Aktion des französischen Proletariats würde die französische Regierung zu einem gesteigerten beruhigenden Einfluß in Petersburg bewegen – Frankreich war schon von vornherein aus sehr wichtigen Gründen gegen einen Krieg – und eine ähnliche Aktion des englischen Proletariats würde die englische Regierung nötigen, etwas vorsichtiger, als sie es tat, mit dem Feuer am Balkan zu spielen. Andererseits würde eine Massenbewegung in Deutschland die Machthaber von der Wilhelmstraße – wie geringschätzig sie auch von der Politik der Hasenheide zu sprechen belieben – belehren, daß es gefährlich ist, die Wiener Draufgänger durch ein Säbelrasseln in Berlin zu ermutigen. Auf diese Weise würde die internationale Aktion der österreichischen Sozialdemokratie ermöglichen, eine klare Position während des Konfliktes einzunehmen und eine kräftige Aktion zu entfalten, was sie keineswegs getan bat.
Mehr aktiv sein in den Fragen der auswärtigen Politik, gemeinsames Vorgehen mit der Internationale, die Massen während ernster Konflikte aufpeitschen, sich nicht auf Parlamentsreden beschränken – das fordert die Zeit nicht nur von der deutschen Sozialdemokratie, sondern von der ganzen Internationale.
Ferner. Maurenbrecher wies in einem Aufsatz auf die Tatsache hin, daß z. B. während des Marokkokonfliktes die französische Sozialdemokratie, um die französische Regierung zu bekämpfen, die Richtigkeit der Forderungen der deutschen Regierung bewies, während umgekehrt die deutsche Sozialdemokratie zwecks Bekämpfung der deutschen Regierung die historisch begreiflich größere Interessiertheit der französischen Regierung unterstrich, wodurch sich beide Bruderparteien entgegenarbeiteten. Die Bemerkung Maurenbrechers ist sehr richtig, nur der Schluß, den er aus ihr zieht, ist von unserem Standpunkt aus verkehrt. Natürlich fordert Maurenbrecher, daß wir die »berechtigten Wünsche« der deutschen Regierung gegenüber dem Ausland würdigen und unterstützen lernen. Ebenso natürlich fordern wir, daß die Sozialdemokratie die Rolle einer politischen Partei nicht mit der des Historikers verwechselt. Historisch ist nicht nur die englische Kolonialpolitik, sondern auch die deutsche begreifbar und »berechtigt«, die eine mehr, die andere weniger. Aber wir bekämpfen die Kolonialpolitik grundsätzlich, wir verwerfen sie gleichmäßig im Interesse der deutschen, der französischen wie der englischen Arbeiterklasse. Wozu also das Hervorheben der Grade ihrer historischen Berechtigung? Der Parlamentarier ist geneigt, sie hervorzuheben, um die Politik der Regierung auch vom bürgerlichen Standpunkte aus zu bekämpfen. Er überzeugt mit seinen Argumenten die bürgerlichen Abgeordneten nicht, denn sie wollen nicht überzeugt werden. Aber er erreicht das, daß er erstens der Bourgeoisie des Konkurrenzstaates Argumente liefert und so der Arbeiterklasse in diesem Lande den Kampf erschwert, zweitens, daß er die Aufgabe der prinzipiellen Aufklärung seiner Wähler – und dies ist seine wichtigste Aufgabe – vernachlässigt. Also prinzipielle und immer nur prinzipielle Bekämpfung der Kolonialpolitik!
Punkt drei! Bei der Beurteilung einzelner Probleme der auswärtigen Politik, bei der taktischen Stellungnahme zu der Politik der Regierung, kann man ihre Schritte nicht nur darnach beurteilen, ob sie in der gegebenen Situation nicht anders vorgehen konnte. Der sozialdemokratische Abgeordnete muß daran denken, daß dieser Schritt ein Glied in der Kette ist, die wir vom ersten Moment unserer Politik an zu zerreißen bemüht sein müssen. Wenn wir überhaupt die Bündnispolitik der Regierungen bekämpfen, weil sie die Gefahr der Konflikte nur vergrößert, so können wir uns nicht mit einer Handlung der Regierung einverstanden erklären, die von ihrem Standpunkt aus vielleicht nötig war. Wir stehen doch auf dem Standpunkt, daß der Kapitalismus heute schon reif zum Untergange ist, daß heute schon eine andere Politik, als die der Kriegsvorbereitungen, möglich ist; diesen Gedanken wollen wir dem ganzen arbeitenden Volke beibringen, und darum muß unsere Partei bei der Stellungnahme zu den Fragen der auswärtigen Politik unsere ganze Position aufrollen, die Fragen in allen ihren Konsequenzen beleuchten.
Viertens. Aus der Zeit der russischen Gefahr blieb die Losung: Wir verteidigen unser Vaterland gegen die fremden Eingriffe. Die Losung ist abstrakt auch jetzt ganz richtig, denn jede Fremdherrschaft erschwert den Klassenkampf der Arbeiterklasse. Aber während diese Gefahr seitens Rußland ganz reell war, ist sie jetzt nur eingebildet. Es glaubt niemand an einen solchen Blödsinn, daß die englische Regierung an die Unterjochung der 65 Millionen Deutscher, oder die deutsche an die Unterjochung von 45 Millionen Engländern, an die Entfachung eines Krieges um die Unabhängigkeit großer Kulturnationen denken könnte. Die Wiederholung der Erklärung hat aber kein anderes Resultat, als daß es die nichtvorhandene Möglichkeit einer solchen Situation vor die Augen der Masse rückt und sie empfänglich für die Agitation der Kriegshetzer macht. Es existiert keine Gefahr der Unterjochung Englands oder Deutschlands, es existiert aber die Gefahr eines Krieges beider Staaten. Die Pflicht der Sozialdemokratie besteht also darin, nicht ihre Bereitschaft zum Kampfe um die Unabhängigkeit zu betonen, sondern die Masse zum Kampfe gegen die Kriegshetzer zu führen, durch ihre Aktion den herrschenden Klassen vor die Augen zu führen, daß es gefährlich werden kann, die Arbeiterklasse auf die Schlachtbank führen zu wollen, denn sie ist keine widerstandslose Hammelherde. Darin liegt die Aufgabe, nicht in »patriotischen Erklärungen«.
Wir kommen zum fünften und letzten Punkt. Die kapitalistischen Regierungen gehen nicht immer ganz offen auf den kolonialen Raub aus, sie lieben sehr, es im angeblichen Interesse verschiedener unterdrückter Völkerschaften zu tun, um diesen die Befreiung zu erleichtern. »Gelegentlich« suchen sie dann, als Lohn für ihre Mühen, ihre kolonialen Besitzungen zu erweitern. Gewiß finden die Leiden dieser Völker nirgends ein sympathischeres Echo, als in den Herzen der Arbeiterklasse, die unter der größten Unterdrückung leidet. Aber die Arbeiterklasse muß sich gegen alle diese »edlen« Vorsätze ihrer Regierungen auflehnen, sie darf sich durch ihre Gefühle nicht zur Aufstellung der Forderung der Einmischung in fremde Angelegenheiten verleiten lassen. Sie muß daran denken, daß sie selber ein Sklave ist, und daß ihre Beherrscher die Befreierrolle in fremden Ländern nur dazu benutzen werden, um das Joch der Arbeiterklasse noch schwerer zu machen. Darum muß jetzt die Losung der Arbeiterklasse heißen: Keine Einmischung in die türkischen, persischen usw. Angelegenheiten. Das wären die taktischen Grundlinien der auswärtigen Politik der deutschen Sozialdemokratie.
(Bremer Bürger-Zeitung, Juli 1909.)
Vor dem Parteitag.
Nach sechs Jahren!
Der diesjährige Parteitag versammelt sich in Jena, einem Orte, der einen Markstein in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie bedeutet. Hier wurde vor sechs Jahren die Resolution angenommen, die den Massenstreik in die Reihe der sozialdemokratischen Kampfesmittel einreiht. Sechs Jahre sind nach diesem historischen Moment verstrichen, die Partei kam noch nicht in die Lage, das in Jena akzeptierte Machtmittel anzuwenden und so wendet sich der Blick bei der Begrüßung des Jenaer Parteitages von selbst zum Jahre 1905, und von selbst wirft sich die Frage auf nach dem Wege, den wir seitdem zurückgelegt haben.
Der Jenaer Beschluß bedeutete, daß die Sozialdemokratie sich bewußt wurde, daß Zeiten beginnen, in denen es aufs Ganze gehen wird. Immer frecher erhob die Reaktion ihr Haupt, offener als zuvor sprach sie aus, daß sie eines Tages dem demokratischen Reichstagswahlrecht an den Kragen wolle. Die Arbeiterklasse, der erst der große Wahlsieg vom Jahre 1903 ihre wachsende Macht vordemonstriert hatte, erklärte in dem erwähnten Beschluß des Jenaer Parteitages den immer frecher werdenden Kräften der Reaktion: Probiert es nur, ich spiel euch auf! Die Bedeutung des Jenaer Beschlusses bestand darin, daß die Sozialdemokratie, die seit vierzig Jahren den historischen Umständen entsprechend ihren Kampf in erster Linie auf dem parlamentarischen Boden geführt hatte, sich jetzt bereit erklärte, wenn nötig, die Arbeitersache in die Hände der Arbeitermasse selbst zurückzulegen und den Kampf als direkten Massenkampf ausfechten zu wollen.
Der Jenaer Beschluß entstand als Produkt der Zuspitzung der Klassengegensätze in Deutschland; die Krimmitschauer Aussperrung von 1903, der große Bergarbeiterstreik von 1905 haben nicht minder zum Zustandekommen dieses Beschlusses beigetragen, als das Gefühl des Machtzuwachses, wie ihn der Wahlsieg von 1903 erzeugte, und das Bewußtsein, daß das Kapital dem Anschwellen der roten Welle nicht ruhig zusehen wird. Darum ist es eine Legende, wenn die Revisionisten den Jenaer Beschluß als bloße Rückwirkung der russischen Revolution darzustellen suchen, um ihn zu jener, die einstweilen begraben, ins Grab legen zu können. Mit Freuden gedenken wir jener frischen Brise, die von der Ostgrenze kam und die Wellen der deutschen Arbeiterbewegung zum Branden brachte. Aber es ist falsch, in dem russischen Einfluß die Ursache der stärkeren Belebung der deutschen Arbeiterbewegung zu sehen, wie sie im Jahre 1905 bemerkbar war. Sie entsprang, wie gesagt, der Entwicklung der inneren deutschen Verhältnisse, und der Einfluß der russischen Revolution äußerte sich nur darin, daß dank dem Beispiel der glorreichen Kämpfe der russischen Arbeiterschaft die Zuspitzung der Klassengegensätze in Deutschland schneller einen scharfen Ausdruck fand, als es sonst der Fall gewesen wäre. Daß aber die Jenaer Resolution dem Stande der deutschen Entwicklung entsprach, beweist schon die Tatsache, daß sie in der Form, in der sie die Massenstreikidee akzeptierte, weit vom russischen Beispiel entfernt bleibt, daß sie sich strikte an die von dem Stande der deutschen Klassenkämpfe geschaffenen geistigen Voraussetzungen hält. Die russischen Massenstreiks zeigten, wie eine geknechtete Klasse, fast noch gar nicht aufgeklärt und organisiert, sich dennoch zu heroischen Massenkämpfen aufschwingt, sobald die sie niederdrückenden Mächte abgewirtschaftet haben und sie selbst von ernsten Ereignissen aufgepeitscht wird. Die deutsche Resolution hält den möglichst hohen Stand gewerkschaftlicher und politischer Organisation für die Vorbedingung eines Massenstreiks und sieht in ihm ein Abwehrmittel für den Fall des Angriffs der Reaktion auf die wichtigsten Rechte des Proletariats. Darin äußert sich die Tatsache, daß, obwohl der Jenaer Beschluß unter Einwirkung der russischen Revolution entstanden ist, er in den deutschen Verhältnissen wurzelt, daß er den erreichten Grad der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung spiegelt. Nach vierzig Jahren ruhiger, allmählicher Entwicklung konnte sich die Idee von der Offensive der an Macht gewinnenden Arbeiterklasse nur in der Form der Defensive, der Abwehr von Anschlägen, den Weg bahnen, und vierzig Jahre des unermüdlichen Ausbaus der proletarischen Organisationen mußten zu der starken Betonung der großen Bedeutung der Organisation in revolutionären Massenkämpfen führen.
Der Jenaer Beschluß bedeutete einen mächtigen Schritt nach vorwärts. Indem er der Reaktion zurief: bis hierher und nicht weiter, sagte er der Arbeiterklasse: in deinen eigenen Händen ruhen deine Geschicke, bereite dich vor, denn es naht die Zeit, in der über sie zu entscheiden sein wird!
Indem die Sozialdemokratie in einem konkreten Falle an die Massen appellierte und ihnen sagte, was für eine wuchtige Waffe sie in ihren Händen haben, räumte sie für die weitere selbständige Arbeit des Gedankens den nötigen Platz. Warum sollte der Massenstreik nur anwendbar bei Verteidigung des Reichstagswahlrechts sein, warum nicht auch bei Eroberung des preußischen Wahlrechts, gilt doch diese Eroberung derselben Sache, wie jene Verteidigung. Und soll das Proletariat ruhig zusehen, wenn es auf die Schlachtbank geführt wird, soll es sich gegebenenfalls nicht zur Wehr setzen?
So wird der Massenstreik in den Augen immer breiterer Arbeitermassen zum schärfsten Kampfesmittel in allen ernstesten Situationen, dessen Anwendbarkeit diskutiert, durchdacht werden muß, weil seine Anwendung gewollt wird. Wer die Entwicklung der Partei in den letzten sechs Jahren aufmerksam verfolgt hat, und wem nicht die opportunistischen Scheuklappen den Ausblick einengen, der muß zugestehen, daß die in Jena vor sechs Jahren proklamierte Massenstreikidee in den Arbeitermassen mächtig Fuß gefaßt hat.
Daß dem so ist, hat seine Ursachen in erster Linie in der Entwicklung der deutschen Politik in den letzten sechs Jahren. Die Wahlniederlage im Jahre 1907 zeigte den Massen, daß es ein Wahn wäre, zu glauben, die Bourgeoisie würde dem Wachstum der parlamentarischen Macht der Sozialdemokraten in Ruhe zusehen. Sie zeigte ferner, daß auch ohne Wahlrechtsraub die Einigung der Bourgeoisie zu einem reaktionären Block den Weg zu Reformen verrammeln kann. Und der Kampf um das preußische Wahlrecht, der aus dem Gefühl geboren worden ist, es sei nötig, zur Offensive gegen die Reaktion überzugehen, zeigte er nicht, daß ohne den stärksten Druck von unten der preußische Olymp nicht nachgeben wird? Je mehr aber eine bürgerliche Schicht nach der anderen politisch abwirtschaftet, sich als Garde der Reaktion entpuppt – und was konnte in dieser Hinsicht lehrreicher sein als die Geschichte des konservativ-liberalen Blockes im Jahre 1907–08 und der imperialistische Koller aller bürgerlichen Parteien im laufenden Jahre – desto mehr gehen die Hoffnungen auf die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse durch allmählichen friedlichen Aufstieg zugrunde, desto mehr greift der Gedanke an eine Generalabrechnung um sich. Und arbeitet die Teuerung nicht in derselben Richtung: gibt es eine Hoffnung auf den Kampf gegen sie durch eine geänderte Wirtschaftspolitik vermittels parlamentarischer Schiebungen?
Aufs Ganze geht der Kurs der deutschen Politik, und darum können wir auf die sechs Jahre, die wir seit dem Jenaer Parteitag hinter uns haben, mit Zufriedenheit zurückschauen. Die Kräfte, deren Entwicklung den Anstoß zum Jenaer historisch so bedeutsamen Beschluß gegeben hat, sind an der Arbeit und verrichten ungestört ihr Werk weiter, obwohl gute Leute, aber schlechte Musikanten diesen Beschluß als nutzlos verpufftes Feuerwerk ansehen. –
Die politische Lage und die Sozialdemokratie.
Einer Austragung des großen Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit, einem Kampfe, in dem nur ein Hüben oder Drüben gilt, geht die Entwicklung der deutschen Verhältnisse entgegen. Die Arbeiterklasse fühlt es, und ihre Stimmung zeigt auf Sturm. Nichts entflammt ihre Begeisterung so sehr, als der Hinweis auf die großen kommenden Kämpfe, in welchen es sich nicht um kleinere Schiebereien, sondern um einen gewaltigen Ruck nach vorwärts handeln wird. Äußert sich die Tatsache nun im Leben der Gesamtpartei in genügender Weise?
Aus allem Tun und Denken der Partei tönt seit zwei Jahren ein Leitmotiv heraus: die Reichstagswahlen! Es tönt wie eine Verheißung auf Kampf und Sieg, aber es wird begleitet von einem zweiten Ton: nur vorsichtig, sonst verderbt ihr die schöne Situation! Als in Moabit die Polizeisoldateska vandalisch hauste, galt der erste Gedanke unserer leitenden Kreise nicht der Offensive, nicht dem Ruf: Proletarier, auf gegen die Herrschaft des Säbels! sondern vorsichtig: daß uns daraus kein Strick gedreht wird. Als die Regierung sich ins Marokkoabenteuer stürzte, waren Wochen nötig, bis die ganz unbegründete Furcht, der Marokkorummel könnte unsere Wahlchancen stören, dem Druck des sozialrevolutionären Flügels der Partei gewichen ist und die Partei zum Angriff gegen den Imperialismus überging. (Wie sehr das den reformistischen Kreisen wider den Strich ging, wird dadurch bewiesen, daß ein bedeutendes süddeutsches Parteiblatt den Aufruf des Parteivorstandes nicht einmal unverkürzt abdruckte. Es ließ den Passus, daß wir keine Kolonien wollen, einfach aus, was selbst dem isegrimmig reformerischen und ehemaligen »Jungen« Max Schippel über die Hutschnur zu gehen scheint.)
In den führenden Kreisen der Partei scheint die günstige Wahlsituation als ein Produkt des Streites zwischen den Liberalen und Konservativen, nicht aber als ein Resultat der Versippung aller besitzenden Klassen in Deutschland zu gelten. Denn handelt es sich darum, daß eine stark gewachsene Proletariermasse durch die Taten aller bürgerlichen Parteien von dem volksfeindlichen, erzreaktionären Kurs der deutschen Politik in das Lager der Sozialdemokratie gedrängt, von prinzipieller sozialdemokratischer Agitation um die rote Fahne geschart wird, dann kann es für die Sozialdemokratie nach der Arbeit des letzten Reichstages keine schlechte Wahlsituation geben. Je mehr sich das Bürgertum zusammenschweißt, desto klarer ist die Lage, desto aussichtsvoller unsere Agitationsarbeit. Anders wenn unser Sieg darin bestehen soll, daß verärgerte Philister, durch keine große prinzipielle, bevorstehende Schlacht in das Lager der Reaktion, dem sie angehören, gestoßen, heute für uns stimmen, um morgen mit der patriotischen Hurrakanaille zu gehen! Dann gilt es fein sachte auf den Socken schleichen, damit kein frischer Ton des realen Lebens das lustige Gespenst des junkerlich-bürgerlichen Gegensatzes verscheuche.
Die Grundlage der ersten Auffassung, die immer voll Angst vor der Versumpfung der günstigen Wahlsituation war, bildet eine Unterschätzung der Stufe, die die Entwicklung der Dinge in Deutschland erreicht hat. Wie den Verfechtern dieser Ansicht die günstige Wahlsituation nicht darin besteht, daß alle bürgerlichen Parteien in immer grellerer Weise ihre Volksfeindschaft zur Schau tragen und tragen müssen, so sehen sie noch merkliche Unterschiede in dem Grad der Volksfeindlichkeit verschiedener bürgerlicher Schichten, trotz des Schandwerks des Steuerraubes, an dem alle bürgerlichen Parteien schuldig sind, trotz des Knechtungswerks des Versicherungsgesetzes, für das selbst Naumann stimmte, und trotz der von ihnen allen genährten Kriegshetze. In dem Moment, da die Bourgeoisie in allen ihren Schattierungen immer stärker zusammenhält, trotz aller Scheingefechte, wird von den Führern der Partei, als des Marxismus erste politische Regel die Pflicht proklamiert, die Volksfeinde nicht über einen Kamm zu scheren. Da sie sich aber nur durch die Art der Demagogie unterscheiden, so folgt aus diesem Willen zur Unterscheidung die Notwendigkeit, sich Illusionen zu machen. So lasen wir in der »Neuen Zeit«, es gelte angesichts der Teuerung zwischen den Gegnern zu unterscheiden, wodurch nur die Meinung erweckt werden konnte, als seien die Nationalliberalen und Freisinnigen nicht mitschuldig an den Hungertarif von 1912, der so eminent zur Entstehung der Teuerung beigetragen hat. So lasen wir wieder in unserem wissenschaftlichen Organ zwei Monate vor dem Einsetzen des imperialistischen Fiebers, das jetzt das Bürgertum schüttelt, von der Friedensströmung in einem Teil des Bürgertums, die wir unterstützen müssen.
Diese illusionäre Politik der führenden Parteikreise ist ein Produkt der Übergangszeit, die wir jetzt durchleben. Entscheidende Kämpfe bereiten sich vor, sie werfen ihre Schatten voraus. Aber sie sind noch nicht da. Das Auge des Organisators, der vierzig Jahre hindurch nur die steigende Zahl der Organisierten und der abgegebenen Wahlstimmen nachzählte und nur sie für reell hielt, sieht sie noch nicht. Das, was kommen wird, ist noch Vermutung, kann sich als Trugbild des Theoretikers zeigen. Und dieser fühlt jetzt eine große Verantwortung, größer als je: Jahrzehntelang lehrte er von dem Mechanismus der kapitalistischen Gesellschaft, von den Grundlinien ihrer Entwicklung. Seine Lehre sollte der Arbeiterbewegung klarmachen, was sie von der ganzen Situation getrieben, im großen ganzen tun müsse. Wenn man die Geschichte der taktischen Wendungen der deutschen Arbeiterbewegung studiert, so findet man fast keine, die von der Theorie bestimmt worden wäre. Die marxistische Theorie erklärte mehr, behütete mehr vor Entgleisungen, als daß sie neue Wege zeigte. Das entsprach dem festen Bett der Bewegung, daß sie in gerader Linie vorwärts lief. Es gab keine jähen Wendungen, keine Wasserstürze. Nur breiter und tiefer wurde das Flußbett der deutschen Bewegung. Jetzt nähert sich die Zeit, da es fraglich ist, ob der Fluß angesichts der im Wege liegenden Hindernisse nur breiter wird, oder ob er die Hindernisse wegzuräumen imstande sein wird. Das Bild beiseite gelassen: Die deutsche Arbeiterbewegung und die Reaktion stehen sich gegenüber, beide fühlen mit jedem Tage mehr Kampfbereitschaft und Kampfeslust. Werden sie sich in nächster Zeit an die Gurgel springen, soll die Arbeiterklasse ihre jetzigen Kämpfe schon mit Rücksicht auf die kommenden großen Schlachten führen? Die leitenden Kreise der Partei fühlen in einer solchen Situation eine erdrückende Verantwortung für jeden Schritt, für jede Parole. Was reif ist – denken sie – wird vom Baume fallen, es fällt nicht zu spät; gefährlich ist nur, wenn die Frucht unreif vom Baume geschüttelt wird. Sie wollen die kommenden großen Schlachten der Initiative der Geschichte überlassen, und einstweilen die Tagesarbeit verrichten, als wäre sie von jenen unabhängig. Aber sie ist von ihnen sehr abhängig. Die entscheidenden Kämpfe kommen näher, weil die ganze Bourgeoisie abwirtschaftet, man kann also nicht einen Teil der Bourgeoisie gegen den andern ausspielen. Man kann nicht nur gegen den schwarz-blauen Block kämpfen, wo die Versicherungskampagne und der Marokkorummel uns einen reaktionären bürgerlichen Block gegenüber stellen. Darum müssen die Führer der Partei, nachdem sie gestern den Kampf gegen den schwarz-blauen Block proklamiert und im Bürgertum Friedensfreunde mit der Diogeneslaterne in der Hand gesucht haben, die Liberalen als Bundesgenossen der Junker brandmarken. Ihre Politik, die gestern opportunistisch war, wird also heute zaghaft, unstät.
Aber die deutsche Sozialdemokratie ist nicht im Kampfe gegen den Verrat der Bourgeoisie an der Demokratie aufgewachsen, um sich von solchen Phantomen bestimmen zu lassen. Nicht auf diplomatischen Schleichwegen, sondern auf offenem Schlachtfelde gegen die ganze bürgerliche Welt hat sie das Vertrauen der Masse gewonnen. Sie braucht sich nicht hinter die Stimmung der Philister zu verstecken, die die Faust in der Hosentasche die Junkerbastille – ihren eigenen Schutzwall! – zu erstürmen drohen. Gegen die Bourgeoisie als Ganzes geht der Kampf jetzt mehr als jemals, darum konnte die Parole: stille, die Reichstagswahlen nahen und die zweite, nicht anmutigere, gegen den schwarz-blauen Block! nicht lange hochgehalten werden. Es genügten wieder einige kritische Attacken der Gegner dieser Halbheiten, daß sie – wenn auch formell weiter aufrecht erhalten – in der Praxis doch nur noch wenig zur Geltung kamen.
Die Parole: gegen das kapitalistische System! ist als aktuelle Kampflosung so sehr einschneidend, sie erfordert solche Konsequenzen in der Stellungnahme zu allen aktuellen Fragen, daß sie bewußt, als Resultat der ganzen Auffassung der Situation ausgegeben werden muß. Es erzeugt nur ein Chaos, wenn die führenden Parteireise erst nach Auseinandersetzungen, von den Ereignissen gestoßen, diesen taktischen Kurs einschlagen. Auf dem Parteitag muß das klipp und klar ausgesprochen werden, aus den Polemiken über die Haltung der Reichstagsfraktion in der Abrüstungsfrage, des Parteivorstandes in der Marokkofrage, der »Neuen Zeit« zu der Wahlkampfparole muß es herausgeschält und als zentrales Problem aufgestellt werden.
Zum Parteitag. Durch Klärung.
Der Gegensatz zwischen der wachsenden revolutionären Stimmung in den Massen und der keinesfalls einheitlichen Leitung der Partei, die aus Vertretern der radikalen Parteimehrheit zusammengesetzt ist, kann natürlich nicht zur Erhöhung des Ansehens der radikalen Richtung der Partei beitragen. Der Teil der Radikalen, der in dieser Stimmung der Masse nur den Vorboten von Kämpfen sieht, die er auf Grund der Analyse der neuesten Entwicklungsphase der deutschen Politik für bevorstehend hält und der eine entsprechend klare Politik fordert, war genötigt, in einer Anzahl von Fragen gegen die leitenden Kreise der Partei vorzugehen: so in der Abrüstungsfrage, in der Frage der Elsaß-Lothringischen Verfassung, in der Frage der zu geringen Aktivität der Parteileitung beim Beginn der Marokkokrise, wie auch gegen die Haltung der Redaktion der »Neuen Zeit« in der Frage der Wahlparole. Die Auseinandersetzungen, bei denen die Gegenseite einer prinzipiellen, ausführlichen Aussprache aus Rücksicht auf die nahenden Reichstagswahlen und aus anderen Rücksichten aus dem Wege ging, lösten immer große Freude bei den Revisionisten aus. Diese glaubten, sich an die Rockschöße solcher Gegner, wie Kautsky hängen zu können. Der Parteivorstand und die führenden radikalen Genossen müssen jetzt häufiger nach links als nach rechts polemisieren! jubelten die Revisionisten. Wir könnten mit Stillschweigen darüber hinweggehen, wenn es nicht im Interesse wäre, das in den vorigen Artikeln Gesagte zu unterstreichen und die politische Bedeutung der Auseinandersetzungen im radikalen Lager festzustellen. Dies ist um so nötiger, da sie von unseren radikalen Genossen, mit denen wir die Klinge kreuzen zu müssen geglaubt haben, falsch gedeutet werden. In einem offenen Brief an den Genossen Thalheimer, den Redakteur unseres »Göppinger Parteiblattes«, verwahrte sich Kautsky gegen die Unterstellung der revisionistischen Presse, als hätte er die Genossen, die sich um die »Leipziger Volkszeitung« und »Bremer Bürger-Zeitung« gruppieren – um mit der »Schwäbischen Tagwacht« zu reden, obwohl unsere Kritik die Unterstützung einer größeren Anzahl von Parteiblättern fand – syndikalistischer Neigungen geziehen. Er habe nur vor der Gefahr des Verfallens in den Syndikalismus gewarnt – erklärt Kautsky. Die Warnung aber war nötig, wie er im Maiheft der »Neuen Zeit« aussprach, weil wir aus Widerwillen gegen die revisionistische Politik die praktische Kleinarbeit zu unterschätzen scheinen! Wir wissen nicht, was den Genossen Kautsky zu dieser Meinung veranlaßt haben könnte. Wir unterschätzen die Kleinarbeit auf allen Gebieten der Arbeiterbewegung keineswegs. Ohne sie ist die möglichst große geistige und organisatorische Vorbereitung der Arbeiterklassen zur Erfüllung ihrer Aufgabe unmöglich. Worum es sich bei unserem Gegensatz handelt, das ist die Durchdringung dieser Kleinarbeit mit dem Geist nicht nur der allgemeinen sozialdemokratischen Erkenntnis, die in jeder Situation nötig ist, sondern speziell mit dem Geiste der revolutionären Initiative, des energischen Zugreifens in den Momenten, in denen die Masse handeln muß, um die Erweiterung der Perspektiven der deutschen Arbeiterbewegung. Nicht uns droht die Gefahr der Hinneigung zu syndikalistischen Lehren, sondern die führenden Parteikreise haben, obwohl radikal, aus der Tatsache der ungeheuren Zuspitzung der Klassengegensätze in Deutschland nicht konsequent die Folgerungen gezogen. Nicht wir unterschätzen die Kleinarbeit, sondern die Mehrheit der radikalen Führerschaft der Partei unterschätzt die Möglichkeiten einer sozialrevolutionären Massenagitation und Massenaktion, wie sie sich der Partei eröffnen.
Aber diese zaghafte Politik ist nur ein Produkt der Übergangszeit. Wie sehr sie auch zu bekämpfen ist, wir sind sicher, daß es sich hier nicht um Gegensätze handelt, die tiefere Wurzel haben und länger andauern könnten. Zwar kennt die Geschichte der Internationale Fälle, wo eine theoretisch am Marxismus festhaltende Richtung in der Praxis der Revolution rein opportunistische Politik trieb: so die sogenannte Menschiwikische Richtung (in der russischen Sozialdemokratie) mit dem geistreichen marxistischen Theoretiker Plechanow an der Spitze. Aber diese Möglichkeit bestand nur dank den speziellen unentwickelten russischen Verhältnissen. In Deutschland erlaubt die scharfe Spaltung der Gesellschaft das Fehlen einer wichtigeren Schicht, deren Haltung die Illusion in der Arbeiterklasse wecken könnte, als habe sie Bundesgenossen, wenn Hart auf Hart stoßen würde, eine solche Schwenkung eines der Radikalen nicht. Je näher der Moment zur Austragung der großen sich sammelnden Gegensätze heranrückt, desto einiger wird das radikale Lager werden, wenn auch der eine oder andere, der sich aus alter Routine zu ihm zählt, zu den »Staatsmännern« übergehen wird. Wir möchten nur wünschen, daß dies bei den Auseinandersetzungen zwischen den beiden Teilen des radikalen Lagers, wie sie nicht noch einmal entstehen werden, in den Augen behalten wird. Aber noch mehr ist zu wünschen, daß diese Auseinandersetzungen ihrer sachlichen Wichtigkeit nach gewertet werden, daß man sich darüber Rechenschaft gibt, daß die Diskussion absolut notwendig ist, und daß man sie nicht in kleinliche persönliche Reibereien verwandelt. Noch nie stand eine so enorme Arbeiterarmee einem so mächtigen Gegner gegenüber, wie es jetzt in Deutschland der Fall ist, um vielleicht in naher Zeit mit ihm über Jahrzehnte der Ausbeutung und Knechtung abzurechnen. Kämpfe von einer Heftigkeit und Schärfe, wie die Geschichte nicht gesehen, stehen bevor, und da sollte nicht vieles sein, über das wir uns auseinandersetzen und verständigen müssen?
Auf dem Parteitag werden Teilprobleme dieses allgemeinen Problems: Wie erstürmen wir die deutsche Bastille? zur Diskussion kommen. Die Mehrheit der Parteitagsdelegierten würde vielleicht lieber Fanfaren als Diskussion anhören, aber es gilt Klarheit über alle die Fragen zu schaffen, die das Objekt unseres Kampfes bilden werden. Nie ist Klarheit so notwendig, als vor dem Kampfe, und Paraden überlassen wir gerne dem Zentrum, das nur von der Verschleierung seiner Natur lebt. Als Kriegsrat vor dem Kampfe begrüßen wir den Parteitag. Möge er in ernster Arbeit die Kampfparolen bestimmen, sie werden vom deutschen Proletariat auf die rote Standarte geschrieben werden.
Der Deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse.
Im Zeitalter der akuten Kriegsgefahr.
Von Waffengeklirr hallt die Welt. Vierzig Jahre sind vorüber, seitdem der Deutsch-Französische Krieg das Ende der kampfreichen Periode der Bildung nationaler Staaten in Westeuropa gebracht hat. Friede, hieß es, drückte der Zeit den Stempel auf, wenn auch ein bewaffneter Friede. Und diesen Zustand erklärend, verstiegen sich viele bürgerliche Politiker zu der Behauptung, der Krieg sei unter zivilisierten Völkern nicht mehr möglich. Zwar bedeuteten diese vier verflossenen Jahrzehnte eine Periode sprunghafter Ausbreitung des europäischen Kolonialbesitzes, der Unterjochung von ganzen Völkern in verschiedenen Erdteilen. »Vom Hundert der Fläche gehörten nämlich den europäischen Kolonialmächten, wozu wir auch die Vereinigten Staaten rechnen«, schreibt der Geograph A. Supan, »in
| Afrika | Polynesien | Asien |
|---|---|---|
| 1876: 10,8 | 1876: 56,8 | 1876: 51,5 |
| 1900: 90,4 | 1900: 98,9 | 1900: 56,6 |
| also + 79,6 | + 42,1 | + 5,1[Anmerkungen 2] |
«
Und diese Ausbreitung, die in erster Linie die Aufteilung Afrikas und Sprengung der Abgeschlossenheit Chinas bedeutet, schritt vor sich unter ununterbrochenen kolonialen Kriegen. Im Jahre 1873 ziehen die Russen nach Chiwa, die Engländer nehmen die Fidschiinseln ein, im Jahre 1874 folgt der Zug der Japaner nach Formosa, im Jahre 1876 wird Fergana russisch, Ketta englisch, im Jahre 1877 Transvaal britisch, im Jahre 1878 bricht der Krieg um Afghanistan aus, im Jahre 1879 wird Bosnien besetzt, im Jahre 1881 wird Transvaal unabhängig, Tunis französisch, die Italiener besetzen Massauah, im Jahre 1882 besetzen die Engländer Ägypten, im Jahre 1884 beginnt offiziell die deutsche Kolonialpolitik, die Franzosen kämpfen gegen China, im Jahre 1885 wird Oberbarma englisch, im Jahre 1887 wird Rhodesien gegründet usw. usw., um nur die wichtigsten Ereignisse zu nennen, die im Kriege Japans mit China im Jahre 1894 und dem Kriege Englands mit den Boeren im Jahre 1899, sowie dem Russisch-Japanischen Kriege von 1905 ihren markantesten Ausdruck fanden. Aber das hochmütige kapitalistische Europa, für das alle noch nicht kapitalistischen Völker nur Objekt der Politik sind, als welches sich der freche Junker Jordan v. Kröcher einmal die deutsche Arbeiterklasse wünschte, wurde durch diese blutigen Kriege, diese tiefgreifenden Umwälzungen, nicht in seiner Meinung gestört, es handle sich hier nicht um Kriege, die europäische Völker gegeneinander auf das Schlachtfeld bringen könnten. Diese Legende vom friedlichen Kapitalismus wurde nicht einmal durch die Tatsache zerstört, daß die koloniale Ausbreitung der kapitalistischen Staaten in Afrika und Asien Gegensätze zwischen europäischen Mächten hervorrief, wie den englisch-russischen, den französisch-englischen, die zeitweise mit einem Kriege enden konnten. Dieser Glaube an den unzerstörbaren europäischen Frieden, der nur vom französisch-deutschen Gegensatz bedroht zu sein schien, wich dem Bewußtsein, daß Europa in ein Zeitalter akuter Kriegsgefahr eingetreten ist, als das Einschwenken Deutschlands ins Fahrwasser des Imperialismus sich im Bau einer Kriegsflotte äußerte, als England, die älteste Kolonialmacht, vor der ihr seitens Deutschland drohenden Gefahr zu zittern begann. Der deutsch-englische Gegensatz, der Gegensatz zwischen dem alten, satten kapitalistischen Räuber und dem jungen, wolfshungerigen, zerstörte in einem Augenblick die unsinnige Mär vom kapitalistischen Lämmlein. Als die Niederlage Rußlands im Kriege mit Japan den englisch-russischen Gegensatz in Asien schwächte, weil sie die Vorstoßkraft Rußlands gelähmt hat, kam der deutsch-englische Gegensatz mit einem Ruck in die vordere Linie. Und seit diesem Moment weicht die Kriegsgefahr auf keinen Augenblick. Wo nur eine Feuersbrunst entsteht oder auszubrechen droht, sei es in Marokko, oder in der Türkei, da zeigen sich auf der Vorderszene die zwei zivilisierten Mächte, Deutschland und England, bis auf die Zähne gerüstet, und man weiß nicht, ob der Kampf wilder Berberstämme gegen ihren Sultan, der sie ans Ausland wie alte Hosen verhandelt, oder der Kampf der türkischen Truppen gegen die Araber, denen die Höhe der jungtürkischen Kultur durch die Vortrefflichkeit der Kruppschen Kanonen vordemonstriert werden soll, nicht mit dem englisch-deutschen Kriege endet. Durch ein weitverzweigtes System von Bündnissen sorgen Deutschland und England dafür, daß ihre Auseinandersetzung sich in einen Weltkrieg auswächst. Der deutsch-österreichisch-italienische Dreibund und der englisch-französisch-russische Dreiverband, das sind die Lager, in die die kapitalistische Welt geteilt ist, und die sich tagtäglich in Kriegslager verwandeln können. Einmal zerstreut, kehren die Kriegswolken wieder zurück, und von Zeit zu Zeit beweist ein Wetterleuchten, daß verwüstende Stürme im Anzuge sind. Zweimal hielt der Marokkostreit Europa in Atem, das zweite Mal schon drohte ein Weltbrand aus den Wirren in der Türkei zu entstehen, und viele andere Kriegsherde gibt es noch.
Mit unverhüllbarer Angst sieht die kapitalistische Welt den Gefahren entgegen, die sie heraufbeschworen hat; aber sie ist nicht imstande, sie zu bannen. Wie blind wandelt sie an den Abgründen. Mit lodernder, wachsender Entrüstung blickt das Proletariat auf das verruchte Treiben, das seine Not noch vergrößern, seine Leiden ins Unermeßliche steigern soll. Aber es will nicht, wie die Bourgeoisie, den Dingen freien Lauf gewähren. Im Kampfe gegen den Kapitalismus lernte es, sein eigenes Los zu schmieden, und es sucht auch der Kriegsgefahr Herr zu werden. Aus seinem Kampfe gegen den Kapitalismus weiß es, daß man nur die Elemente zu überwältigen und zu beherrschen imstande ist, deren Quellen und Triebkräfte man kennt. Darum sucht es zuerst den Grund der nichtnachlassenden Kriegsgefahr kennen zu lernen. Auch der oberflächlichste Blick auf die Geschichte der letzten Jahrzehnte sagt ihm, daß der Gegenstand der Konflikte, die den Frieden bedrohten, das Streben nach Besetzung von unentwickelten Ländern (Kolonien) war, die fern von Europa, von ganz fremden Völkern bewohnt, den Appetit der kapitalistischen Regierungen reizten. Nicht um eine Angliederung eigener Volksteile, die sich unter fremder Herrschaft befinden, ging es den Staaten, sondern um Unterjochung fremder Völker, um Verwandlung ihres freien Bodens in ein Gebiet, auf dem der europäische Kapitalismus schalten und walten konnte. Was erklärt diesen Drang, diesen Kampf um unentwickelte fremde Länder, diese Sucht, sie in kapitalistische Kolonien zu verwandeln? Die Antwort auf diese Frage wird auch zeigen, warum das Proletariat fremd, ja feindlich diesem Bestreben gegenüber stehen muß.
Das Wesen des Imperialismus.
1. Kapitalistische Verdunkelungsversuche.
Es ist klar, daß dieser allgemeine Kampf um kolonialen Besitz, der ohne Rast geführt wird unter steter Bedrohung des Friedens, allgemeine Ursachen haben muß. Das Kapital und seine Verfechter nennen eine Reihe solcher Ursachen: sie sprechen von der Übervölkerung der alten kapitalistischen Länder, von der Notwendigkeit der Zufuhr von Rohstoffen, ohne die die Industrie nicht existieren könne. Und wo diese Gründe nicht verfangen, dort greifen sie zu hochklingenderen Redensarten. Sie sprechen von dem Recht, ja von der Pflicht der höheren Zivilisation, sie den unentwickelten Ländern beizubringen.
Es genügt, die Stichhaltigkeit dieser Argumente kurz zu prüfen, um einzusehen, daß es sich hier um Scheinargumente handelt, die die wahren Ursachen des kapitalistischen Ausbeutungsdranges verschleiern sollen. Wenn sich die Verfechter der kapitalistischen Kolonialpolitik auf die immer wachsende Zahl der Bevölkerung berufen, die auswandern müsse, so fragen wir sie: ja, warum kolonisiert denn Frankreich, dessen Bevölkerungszuwachs sehr klein ist, und dessen Kolonien größtenteils von Untertanen anderer europäischer Staaten besiedelt werden? In Algerien[1] hat Frankreich 7 Milliarden Francs verpulvert, und es gelang ihm dort insgesamt 364 Tausend Franzosen unterzubringen. Diese Zahl kann aber erst in ihrer wahren Bedeutung erfaßt werden, wenn man sich erinnert, daß sie nach 70 Jahren algerischer Politik Frankreichs erreicht worden ist, und daß sie eine große Anzahl naturalisierter Spanier, Italiener und Eingeborener enthält. Noch ärger ist es um Tunis bestellt: dort beträgt die Zahl der Franzosen nach dreißig Jahren französischer Herrschaft nur 24 000, während die der Italiener 83 000, der Maltaneser 12 000 beträgt.[1] Dabei liegen beide Länder dicht vor Frankreich. Diese Zahlen beweisen, daß Frankreich kolonisiert, obwohl es über keine genügende Zahl von Kolonisten verfügt, wozu noch in Betracht gezogen werden muß, daß die französischen Militärkreise jeden französischen Auswanderer als eine militärische Schwächung Frankreichs betrachten, weil Frankreichs Bevölkerung sich fast gar nicht vergrößert, während die deutsche stark zunimmt.
Schon dies würde beweisen, daß die Ursache der Kolonialpolitik nicht in zu großem Wachstum der Bevölkerung besteht. Würden aber auch alle Länder, die kolonisieren, einen starken Bevölkerungszuwachs, ja sogar eine starke Auswanderung besitzen, so könnte das nicht als Triebkraft der modernen Kolonialpolitik angesehen werden. Denn erstens hängt es ganz von den Umständen ab, ob ein starker Bevölkerungszuwachs eine Auswanderung notwendig macht. Als Deutschland noch ein Agrarland war, mußten jahraus jahrein Zehntausende proletarisierter deutscher Bauern, die in Deutschland keine Arbeit finden konnten, übers Meer wandern, obwohl Deutschland damals eine viel kleinere Bevölkerung hatte, als jetzt. Die deutsche Auswanderung betrug in den Jahren 1831 bis 1840 177 000, von 1841–1850 485 000, von 1851–1860 1 130 000, von 1861–1870 970 000, von 1871–1880 595 000.[2] Obwohl seit dieser Zeit die deutsche Bevölkerung stark zugenommen hat – im Jahre 1871 betrug sie nur 41 Millionen, im Jahre 1880 45 Millionen, im Jahre 1890 49 Millionen, im Jahre 1900 56 Millionen und im Jahre 1910 64 Millionen, – sinkt die Auswanderungszahl in den nächsten Jahrzehnten: in der Zeit vom Jahre 1891 bis 1900 beträgt sie noch 529 869, und in dem letzten Jahrzehnt nur 269 4418.[3] Die deutsche Kolonialpolitik beginnt also just in einer Epoche, wo trotz der starken Bevölkerungszunahme, die in der rapid wachsenden Industrie Beschäftigung findet, die Auswanderung abnimmt. Schon dies beweist, daß zwischen dem Drang des deutschen Kapitals nach kolonialer Ausbreitung und dem deutschen Bevölkerungszuwachs kein Zusammenhang besteht. Daß die deutschen Kolonien für die noch existierende deutsche Auswanderung überhaupt nicht in Betracht kommen, beweisen die folgenden Zahlen.[3]
Es wanderten aus, nach:
| Jahr | Großbritannien | Übriges Europa | Ver. St. v. Amerika | Brasilien | Übriges Amerika | Australien | Afrika | Asien |
|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
| 1901 | 1168 | 31 | 19912 | 402 | 282 | 217 | 55 | 6 |
| 1902 | 1181 | 2 | 29211 | 807 | 546 | 235 | 114 | 2 |
| 1903 | 856 | 1 | 33694 | 693 | 732 | 153 | 226 | - |
| 1904 | 719 | - | 26085 | 355 | 648 | 97 | 78 | 2 |
| 1905 | 672 | - | 26005 | 333 | 924 | 84 | 57 | - |
| 1906 | 310 | - | 29226 | 182 | 1237 | 86 | 33 | - |
| 1907 | 153 | - | 30431 | 167 | 745 | 163 | 37 | - |
| 1908 | 157 | - | 17951 | 326 | 1240 | 175 | 33 | 1 |
| 1909 | 164 | - | 19930 | 367 | 4256 | 178 | 26 | - |
| 1910 | 77 | - | 22773 | 353 | 2184 | 128 | 16 | - |
Von 269 441, die in dem letzten Jahrzehnt aus Deutschland ausgewandert sind, begab sich in die jetzigen Kolonialländer (Asien und Afrika) die »stattliche« Zahl von 596 Auswanderern. Und das ist natürlich: die deutschen Auswanderer, Arbeiter, Kleinbürger, wandern in Länder aus, wo sie guten Lohn finden, und das ist in erster Linie Amerika. Die deutschen Kolonien aber eignen sich nicht für die Entwicklung der Industrie; sie haben weder Kohle, noch Eisen, und in der überwiegenden Mehrheit sind sie schon aus klimatischen Gründen für den dauernden Aufenthalt von Europäern nicht geeignet. In die deutschen Kolonien wandern also nur mehr oder weniger kapitalkräftige Elemente aus, die dort als Plantagenbesitzer, Farmer und Händler Profit zu ergattern suchen. Was von dem Argument der Kolonialpatrioten überhaupt zu halten ist, beweist die Tatsache, daß das deutsche Kapital jährlich ungefähr 1½ Millionen ausländischer Arbeiter heranzieht, um die vom deutschen Proletariat erreichte Lohnhöhe niederzudrücken. Dabei soll dieses aber geneigt sein, Kolonien zu gründen und um ihretwillen die Gefahr von Kriegen auf sich zu nehmen, nur um die jetzige, oder zukünftige Arbeiterschaft von den Entbehrungen der Auswanderung in fremde Länder zu retten! Glaube das, wer selig sein will! Aber selbst unter den bürgerlichen Professoren, die sich das größte Verdienst um die Verbreitung dieses Märchens über die Triebkräfte der deutschen Kolonialpolitik erworben haben, findet man Leute, die den Schwindel offen entlarven. So schrieb der Kieler Professor Bernhard Harms, der sich speziell mit den Fragen der Weltwirtschaft befaßt, aus Anlaß der Marokkokrise, in der der abgerittene Gaul des Bevölkerungszuwachses wieder mal abgehetzt wurde: »Es ist meines Erachtens ganz überflüssig, davon überhaupt zu reden, denn im Interesse Deutschlands liegt es, die Masse seiner Bevölkerung im Lande zu behalten, um vermöge seiner größeren Zahl von hier aus seine Macht spielen zu lassen. Unsere künftige Stellung unter den Weltvölkern wird sehr erheblich durch die Zahl der Menschen bedingt, die wir im gegebenen Augenblick aufraffen können. Hätten wir heute schon achtzig bis neunzig Millionen Einwohner in Deutschland, so gäbe es vermutlich gar keine Marokkofrage. Die wirtschaftlich mit so großen Vorteilen verbundene exponierte Lage Deutschlands ist für uns solange ein Glück, als wir durch unsere militärische Macht im Herzen Europas ein unbedingtes Übergewicht haben«.[4]
Durch das Bevölkerungsargument versuchen sich die Verfechter der deutschen Kolonialpolitik als die größten Volksfreunde aufzuspielen. Demselben Ziel dient das zweite Argument, durch das sie die Notwendigkeit der Kolonialpolitik nachzuweisen suchen. Die deutsche Industrie könne nicht ohne Zufuhr überseeischer Rohstoffe bestehen. In der deutschen Einfuhr machten die Rohstoffe und Lebensmittel im Jahre 1898 80, im Jahre 1908 83 Prozent aus. Diese kolonialen Rohstoffe könnten »wir« selber in Kolonien erzeugen, wenn wir solche in genügender Zahl hätten; dadurch wäre nicht nur die deutsche Industrie von einem Tribut an das Ausland befreit, nicht nur würde die Gefahr, daß uns diese Zufuhr eines Tages gesperrt, wie auch, daß uns die Preise willkürlich diktiert würden, verschwinden, es würde auch eine Verbilligung der Lebensmittel und aller Waren eintreten, zu deren Produktion die teuren ausländischen Rohstoffe nötig sind. Rührend, wenn es wahr wäre! Aber die Statistik und die Nationalökonomie sagten etwas anderes, als das Märchen der Kolonialpatrioten.
Erstens, wie steht es mit unserem Bezug von Rohstoffen? Kommen sie größtenteils aus fremden Kolonien? Nur zu einem sehr kleinen Teile! Ein Blick in die Statistik zeigt, daß es nicht Kolonien sind, aus denen die deutsche Industrie ihre Rohstoffe bezieht. Die deutsche Einfuhr betrug im Jahre 1910 8934,1 Millionen, wovon auf Europa, Amerika, den australischen Bund und Neuseeland (auch diese Länder darf man nicht als Kolonien betrachten, da sie fast selbständig sind und nach eigenen Interessen regiert werden) 7661,5 Millionen entfallen. Von den übrigen 1272,6 Millionen, die sich auf die Einfuhr aus Afrika, Asien und Polynesien verteilen, muß man wenigstens die 36 Millionen der japanischen Einfuhr abziehen, da Japan doch ein selbständiger kapitalistischer Staat ist. Es bleibt also von den ca. 9 Milliarden deutscher Einfuhr, in der die Rohstoffe und Lebensmittel 80 Prozent ausmachen, nur 1 Milliarde 236 Millionen übrig, die aus dem Handel mit allen Kolonialländern Asiens und Afrikas gewonnen werden. In dieser Ziffer ist schon die deutsche Einfuhr aus China (über 94 Millionen) enthalten, und wir wollen ihr auch die aus der Türkei zurechnen, da ja nicht ausgeschlossen ist, daß die beiden Länder, obwohl jetzt unabhängig, noch Objekt der Kolonialpolitik bilden können. Wenn wir also zu den schon gewonnenen 1236 Millionen noch 67 Millionen der Einfuhr aus der europäischen, asiatischen und afrikanischen Türkei zurechnen, erlangen wir die Summe von 1303 Millionen, also keine anderthalb Milliarden und nicht einmal den sechsten Teil der deutschen Einfuhr.
Das wichtigste dabei ist, daß die der deutschen Industrie notwendigsten Lebensmittel und Rohstoffe, Weizen und Baumwolle, nur zu einem winzigen Teil aus den Kolonialländern bezogen werden. So wird die Baumwolle[5] nur für 73 Millionen von Ägypten, ca. 46 von Britisch Indien, aber für 406 Millionen von den Vereinigten Staaten Nordamerikas, also von einem kapitalistischen Lande, bezogen. Diese Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, die auf dem Baumwollmarkt fast ein Monopol besitzen – macht das europäische Kapital sehr oft zum Opfer der willkürlichsten Preisspekulationen.
Aber die Kolonien können dagegen nicht helfen. Das deutsche Kapital versucht zwar in Togo, Kamerun und Ostafrika den Baumwollbau einzuführen, es trifft aber dabei auf schier unüberwindliche Schwierigkeiten. Es ist bisher nicht gewiß, ob nicht die klimatischen Verhältnisse alle Versuche des Anbaues von Baumwolle in den deutschen Kolonien aussichtslos machen, es ist aber sicher, daß sich ihnen die sozialen Verhältnisse der deutschen Kolonien entgegenstemmen. Bei den Negern selbst ist die Arbeitsteilung so wenig entwickelt, daß es undenkbar ist, sie ihrer Arbeit an der Hervorbringung der Lebensmittel zu entreißen und sie zu bewegen, sich gänzlich der Baumwollkultur zu widmen. Würde das aber gelingen, so würde die Notwendigkeit, für sie Lebensmittel in die Kolonien einzuführen, den Preis der kolonialen Baumwolle so erhöhen, daß der Baumwollbau sich unrentabel zeigen würde. Und es ist fraglich, ob er sich selbst bei der Unterstützung der Regierung entwickeln würde, denn er erfordert nicht nur eine viel höhere Kulturstufe, als die, auf der sich die Neger trotz 25 jähriger deutscher Herrschaft befinden, sondern jede größere Preisschwankung auf dem Baumwollmarkte entmutigt die Neger so, »daß – wie die Denkschrift über die Entwicklung der deutschen Kolonien im Jahre 1909 hervorhebt – alle diese Zusicherungen und Bemühungen (Geldbelohnung für Fleiß, Versicherung der Mindestpreise) indessen nicht imstande waren, die Bedenken der Eingeborenen ganz zu beseitigen«. Noch schlechter steht es um den Plantagenbetrieb. Die Neger sind in Ostafrika noch Grundbesitzer und haben ihre Verwandtschaftsorganisation noch beibehalten. Es ist sehr schwierig, sie zu überreden, sich auf den Baumwollplantagen schinden zu lassen. Dabei wohnen sie großenteils in dem nordwestlichen Teil Ostafrikas, während die Küstengebiete am meisten für den Plantagenbau geeignet sind. Der Arbeitermangel besteht also schon jetzt, was würde erst sein, wenn die Baumwollernte den Umfang des deutschen Bedarfs – 2 Millionen Ballen – hätte, also 200 000 Leute erfordern müßte. Die zwangsweise Abordnung der Neger zur Arbeit, für die die Kolonialschriftsteller in den verschiedensten Formen eintreten, würde den Baumwollbau nicht weiter bringen, sondern Aufstände hervorrufen. Die deutschen Kolonialkreise sind sich auch dieser Aussichtslosigkeit gut bewußt: das geht schon aus der Tatsache hervor, daß die Regierungsdenkschrift über die Baumwollnot keine Abhilfemittel vorzuschlagen weiß; und welche Stimmung in den kolonialen kapitalistischen Kreisen herrscht, malt ein bekannter Kolonialschriftsteller mit folgenden Worten aus: »Es läßt sich nicht leugnen, daß das vor drei und zwei Jahren, ja im vorigen Jahre sehr große Interesse für den Baumwollbau in den deutschen Kolonien bedeutend nachgelassen hat. Die Gründe dafür sind darin zu suchen, daß der auf Eingeborenen-Kultur in Togo gegründete Baumwollenbau sich als Fehlschlag erwiesen hat, auch die mit großen Hoffnungen ins Werk gesetzten Plantagengründungen die hoch gespannten Erwartungen nicht erfüllt haben, die vor drei und zwei Jahren gehegt wurden.« (Emil Zimmermann im »Reichsboten« vom 7. Januar 1911.) Wenn trotzdem die Baumwollfrage immer wieder angeschnitten wird, ja selbst die deutschen Arbeiter aufgefordert werden, auch ihre Groschen beizutragen, damit sie bei zwecklosen Versuchen verpulvert werden, so hat dieses zwei Gründe: erstens hilft das Baumwollgeschrei den Anschein erwecken, als treibe man Kolonialpolitik im allgemein-wirtschaftlichen und nicht im rein kapitalistischen Interesse, zweitens erzeugt man dadurch Stimmung für den Eisenbahnbau in den Wüsteneien Afrikas, ohne welchen diese zwecklosen Versuche mit den Baumwollkulturen nicht durchführbar sind. Aus dem Eisenbahnbau aber, der aus den Steuern des deutschen Volkes in Afrika gefördert wird, fließen dem Kapital gesalzene Profite zu!
Besser noch als dieses Beispiel zeigt das Verhalten des deutschen Kapitals in dieser Frage die Schwindelhaftigkeit des Rohstoffarguments. Während die Kolonialschriftsteller Wagen von Papier zur Darlegung der Bedeutung deutscher Kolonien für die Versorgung Deutschlands mit Rohstoffen verbrauchen, fällt es dem deutschen Kapital nicht im Traume ein, sich für die koloniale Rohstoffproduktion besonders zu erwärmen. »Zwar hatte schon Bismarck im Jahre 1889 den Plan eines kolonialen Baumwollbaues erwogen – schreibt der Handelsredakteur des »Berliner Tageblattes« O. Jöhlinger[6] – es gelang indes damals noch nicht, die beteiligten Kreise von der Notwendigkeit zu überzeugen, und die bereits unternommenen Schritte der Regierung mußten ohne tatkräftige Beteiligung der nächsten Interessenten zunächst ergebnislos bleiben.« Und später? Bis zum Jahre 1907 kümmerte sich das deutsche Kapital, mit Ausnahme einiger Lieferanten, um die Kolonien sehr wenig. Für die Baumwollkulturversuche brachte es nach der Regierungsdenkschrift über die Baumwollfrage bis Ende 1909 insgesamt 1.7 Millionen Mark auf. Und dabei hausiert man mit der Behauptung, von der Lösung dieser Frage hänge das Los der deutschen Textilindustrie ab!
Und es kann auch nicht anders sein. Erstens könnten die deutschen Kolonien nach Berechnungen kolonialfreundlicher Schriftsteller[7] vielleicht erst nach hundert Jahren den Rohstoffbedarf Deutschlands decken. Auf einen solchen Zeitraum geben aber die Kapitalisten aus eigener Tasche sehr wenig, sie wollen den Profit sofort haben; zweitens sind sie zu gute Geschäftsleute, um nicht zu wissen, daß der Preis der Rohstoffe nicht in Windhuk oder Dar-es-Salam, sondern auf dem Weltmarkte bestimmt wird, daß also die Rohstoffe aus deutschen Kolonien ihnen ebenso teuer oder billig zugestellt werden, wie die ausländischen Rohstoffe. Das deutsche Kohlen- und Roheisen-Syndikat beweisen durch ihre Praxis genügend, daß sie sich ebenso gut auf die Verteuerung der Rohstoffe verstehen, wie die New Yorker Baumwollbörse.
Wenn aber die Kolonialfexe von der Verbilligung der Lebensmittel durch billige Zufuhr aus den Kolonien sprechen, so sollten sie damit nicht einmal den einfältigsten Deutschen zu ködern versuchen; als ob es keine deutschen Junker gäbe mit ihrem Brotwucher. Und daß die deutschen Junker gar nicht gewillt sind, sich den aus deutschen Kolonien bezogenen Lebensmitteln gegenüber anders zu verhalten, als den aus Amerika und Rußland eingeführten, bewiesen sie vollends durch ihre Stellungnahme zu den Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung Südwestafrikas. Die »Deutsche Tageszeitung« wandte sich in schärfster Form gegen alle, die Deutsch-Südwestafrika zur Viehausfuhr entwickeln wollten.
Wenn die beiden »Begründungen« der Kolonialpolitik auch nichts als Irreführung waren, so erforderte doch ihre Widerlegung ein Eingehen auf die ihnen zugrunde liegenden Tatsachen. Das dritte Argument der Verfechter der Kolonialpolitik, das in besonders feierlichen Momenten herbeigeholt wird, die Berufung auf das Recht der höheren Zivilisation, kann sehr kurz abgetan werden. Kapitalistische Staaten stellen Organisationen dar zur Niederhaltung des Volksaufstieges zu höherer Kultur. Niemand weiß das besser als die deutsche Arbeiterklasse, die jedes Atom Kultur im Kampfe gegen die kapitalistischen Kulturträger hat erringen müssen, und sie weiß auch, daß die Kultur, die das deutsche Kapital den wilden Völkern bringen will, Ausbeutung und Unterdrückung bedeutet. Peters, Arenberg, General Trotha, das sind die Träger der deutschen Kultur in den Kolonien. Angesichts dessen klingt die Berufung der Kolonialpolitiker auf das Recht der höheren Zivilisation wie Hohn in den Ohren der Arbeiter. Man kann mit dieser Behauptung Backfische irreführen, aber nicht die deutsche Arbeiterklasse, der Jahrzehnte ernsten, mühevollen Kampfes um die Kultur schon soviel Einsicht in den Charakter des Kapitalismus beigebracht haben, daß sie weiß: wenn das Kapital von Kultur zu sprechen beginnt, so dient das gewiß zur Verdeckung eines besonders guten Geschäftes.
Die kapitalistischen Kolonialfreunde verdunkeln nur den Charakter der Kolonialpolitik. Die kurze Prüfung der Argumente der Kolonialpolitik überhaupt, und der deutschen im besonderen, wie sie von bürgerlichen Schriftstellern gegeben wird, zeigt, daß man die Wurzel der Kolonialpolitik nicht in den allgemeinen Interessen der Gesellschaft und noch weniger in denen der Volksmassen finden kann. Das ist schon durch die Tatsache ausgeschlossen, daß die Träger der Kolonialpolitik eben die schlimmsten Gegner der Arbeiterklasse sind. Lockoutfabrikanten und Brotwucherer, Bureaukraten, die das Volk auf Schritt und Tritt schurigeln, Militärs, die immer wieder nach dem Niederwerfen der »revolutionären Kanaille« schreien, kurz die Spitzen der kapitalistischen Gesellschaft sind es, die sich für Kolonialpolitik am heißesten ins Zeug legen. Werden also nicht ihre Wurzeln in den Interessen dieser Klassen zu finden sein? Darauf bekommen wir am leichtesten eine Antwort, wenn wir uns die Entwicklungstendenzen des Kapitalismus, wie er heute schaltet und waltet, vor Augen führen.
2. Die Triebkräfte des Imperialismus.
Die ungeahnte Entwicklung des Kapitalismus, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Europa ein Land nach dem anderen erobert, Nordamerika allmählich aus einem Agrar- in ein Industrieland verwandelt, beruht auf einer Entfaltung von Produktivkräften, deren Grenzen überhaupt nicht vorauszusehen sind. Eine technische Erfindung nach der andern hilft die Naturkräfte in den Dienst der Produktion stellen, und mit allen ihren Mitteln ausgerüstet, besiegt die kapitalistische Industrie das Handwerk, die bäuerliche Hausarbeit. Sie reiht den proletarisierten Handwerker in die Armee ihrer Sklaven ein, gesellt ihm den proletarisierten Bauer zu, rottet die Reste der Naturalwirtschaft aus und schafft sich einen inneren Markt. Das Kapital triumphiert. Es gibt außer ihm keinen Gott mehr auf Erden, und alle alten Mächte paktieren mit ihm und dienen ihm. Aber bald zeigt es sich, daß der Altar des kapitalistischen Baal auf einem Vulkan steht, und daß seine Priester leicht in die Luft fliegen können. Die Produktionskräfte wachsen schneller, als der Markt, der die Produkte der kapitalistischen Industrie verschlingen soll, damit der von der Arbeiterklasse erzeugte Mehrwert als blankes Gold – und nur dieses ist Gegenstand der kapitalistischen Sehnsucht – in die Schränke der Hohepriester des Kapitals zurückkehren kann. Die Kaufkraft der Arbeiter, die sich für kargen Lohn abmühen, wächst sehr wenig, da ungeachtet aller kapitalistischen Faseleien die Lage des Arbeiters immer eine schlechte, wenn nicht trostlose bleibt; einen je größeren Teil der Gesellschaft die Arbeiterklasse ausmacht, desto enger werden die Schranken der Markterweiterung, solange der Kapitalismus besteht. Die Entwicklung der Technik aber nimmt auf diese Sorgen des Kapitals keine Rücksicht. Bevor eine neue Erfindung gehörig ausgenützt ist, erscheint eine zweite auf der Oberfläche – und wehe dem Kapitalisten, der sich der alten bedient: er produziert zu teuer, verkauft mit Verlust. Die riesig gewachsenen Produktionskräfte überschwemmen den Markt mit Waren, die keinen Käufer finden. Es ist aber unmöglich vorauszusehen, welche Masse von Waren der Markt fassen kann, wieviel produziert wird, weil es keine Organisation der Produktion gibt, und man immer aufs Geratewohl produziert, je mehr, desto besser, weil angesichts der wachsenden Konkurrenz nur bei vergrößerter Stufe der Produktion Erniedrigung der Produktionskosten eintritt. Das Resultat dieser Entwicklung sind die Krisen. Es wird anarchisch produziert, mehr produziert, als der Markt fassen kann, es muß also ein Moment eintreten, wo die Stockung beginnt. Die Waren finden keinen Absatz; ihr Preis stürzt, der Kredit wird verteuert. Die Vernichtung ungeheurer Massen von Werten ebnet den Weg für die weitere Entwicklung der Produktion. Zertrümmerte kleinere Unternehmungen, die die Krise nicht überstehen konnten, eine Unmenge von Leiden der Arbeiter, die keine Arbeit fanden und darbten, während die Industrie keinen Absatz für ihre Waren fand, dies alles bezeugt, daß in der kapitalistischen Gesellschaft nicht Menschen über die ökonomische Entwicklung walten, sondern daß sie blinden Kräften unterliegen. Die Leiden der Arbeiterschaft bilden die geringste Sorge des Kapitals. Die Arbeiterklasse ist doch noch schwach, unaufgeklärt, unorganisiert und sieht in ihren Leiden Naturereignisse, Fügungen Gottes. Aber die anderen Folgen der Krisen, die sich den Taschen der Kapitalistenklasse fühlbar machen, reizen zur Abwehr. Das Kapital sucht eine Organisation der Produktion durchzuführen, um die Überproduktion zu verhüten, und wenn das nicht geht, die hohen Preise trotz der Überproduktion aufrechtzuerhalten. Es schafft Vereinigungen, die den Markt unter den einzelnen Mitgliedern verteilen, die die Höhe der Preise bestimmen und mit hohen Strafen jene Fabrikanten belegen, die sich erfrechen, billiger abzusetzen, als die andern. Aber die Kapitalistenklasse stößt hier auf ein ernstes Hindernis. Was würde ihm die Gründung von Trusts und Kartellen helfen, wenn fremdes Kapital dank den immer billigeren Transportkosten in ihre Domäne eindringen könnte. Ist das ausländische Kapital in der Lage, in den einheimischen Markt einzudringen, dann würde die Gründung der Kartelle und Trusts nur ein Mittel sein, den Markt für die fremde Wareneinfuhr freizuhalten. Darum schreit das Kapital nach Schutzzöllen, die sein Ausbeutungsgebiet – es nennt es gefühlvoll nach alter Sitte Vaterland – mit einem Wall vor dem Eindringen fremder Waren schützen. Wo schon Schutzzölle aus der Zeit bestehen, in der sie die wenig entwickelte Industrie vor der Konkurrenz der stärkeren, ausländischen schützen sollten, dort fordert man ihre Beibehaltung und Erhöhung, obwohl man der fremden Konkurrenz vollkommen gerüstet gegenübersteht. Der Schutzzoll hat jetzt eine Aufgabe: er soll dem Kapital die Möglichkeit geben, nach freiem Ermessen die Preise zu steigern. So bilden die Trusts und Kartelle eine Macht, die zur Einführung der Schutzzölle, zu ihrer Erhöhung führt, und diese wieder sind die Fittiche, unter welchen diese Ausbeutungsinstitutionen ihr Unwesen treiben können. Aber auch das hilft nur eine Zeitlang. Die technische Entwicklung, die Aufspeicherung immer größerer Kapitale treibt zur Ausbreitung, zur Erweiterung der Produktion. Was aber mit ihren Erzeugnissen tun? Das Kapital wirft sie zu billigen Preisen, manchmal ohne Profit, auf fremde Märkte. So kommt es in die Lage, die Produktionskosten niederzudrücken, und die hohen Preise im Inlande entschädigen es für die profitlose Verschleuderung eines Teils der Erzeugnisse auf den ausländischen Märkten. Aber auch diese Politik der Kartelle kann nicht für immer Abhilfe schaffen. Die Kapitalistenklasse des Auslandes kann sich durch dieselben Maßregeln ihrer Haut wehren, auch sie versteht es, sich mit einer Schutzzollmauer zu umgeben, die Erzeugnisse des Arbeiterschweißes auf fremden Märkten zu verschleudern. Es gilt, auf anderen Wegen dem immer wachsenden Kapital großen Profit zuzuführen. Im Kapitalexport findet man die Lösung der Frage. Die Kapitalkönige borgen den Regierungen der weniger entwickelten, kapitalarmen Länder Geld, damit sie nach dem Muster der großen Staaten Armeen schaffen, Bahnen bauen, eine moderne Verwaltung ausbilden können. Rußland, die Balkanstaaten, die südamerikanischen Staaten, die Türkei, China, sie alle greifen mit vollen Händen in die Taschen des westeuropäischen Kapitals, sie lassen sich Bedingungen vorschreiben, bei denen dem Kapital ungeheure Zinsen zufließen, sie verpflichten sich, die ihnen zur Ausrüstung ihrer Armeen, zum Eisenbahnbau nötigen Waren nur bei ihren Gläubigern zu bestellen. So kehrt das ausgeführte Kapital als Zinsen, als Warenbestellungen in die Taschen des europäischen Kapitals zurück, seine Macht ungeheuer erweiternd. Zur Vertretung seiner so entstandenen Auslandinteressen wendet sich das Kapital an den Staat. Es kann auf seine Hilfe sicher rechnen.
Die Staaten Westeuropas, deren Wirtschaftsleben diese Entwicklung durchgemacht hat, blieben inzwischen nicht die alten. Sie haben sich zusammen mit dem Kapital gewandelt. Wurden sie früher von dem Großgrundbesitz, von den Dynastien, die selbst die größten Großgrundbesitzer des Landes waren, beherrscht, bedienten sie sich des Kapitals zu ihren Zwecken, so sind sie jetzt nur Diener des großen Kapitals. Denn ihm unterliegt jetzt das Land. Die überwiegende Masse der Bevölkerung ist jetzt nicht vom Grundbesitz abhängig, sondern vom Kapital. In seinen Fabriken arbeitet die Mehrzahl der Bevölkerung. Von ihm ist der Staat abhängig, denn ohne seine Hilfe kann er die Staatsmaschine nicht in Bewegung erhalten. Die technische Entwicklung, die jahraus, jahrein die Produktionsmittel umwälzt, beherrscht auch die Entwicklung des Heeres, des wichtigsten Machtorgans des Staates. Die alten Mordmaschinen müssen ebenso rasch neuen, besseren, teueren Platz machen, wie die anderen Maschinen, und die Konkurrenz der Großmächte auf diesem Gebiete ist noch größer, als die der Fabrikanten. Immer größer werden die Kosten, die die moderne Ausrüstung des Heeres erfordert. Und das Heer selbst wächst in demselben Tempo, wie die Bevölkerung, denn seitdem die französische Revolution zur Abwehr ihrer Errungenschaften vor dem Feudalismus Massenheere auf die Schlachtfelder geworfen hat, geht ein Staat nach dem andern von dem System der Söldnerheere zu dem mehr oder minder konsequent durchgeführten System der allgemeinen Wehrpflicht über. Und dieser Wandlung im Charakter der Heere gesellt sich die Wandlung in dem zweiten Machtmittel der kapitalistischen. Staaten zu: in der Bureaukratie. Der Staat greift jetzt in alle Winkel des gesellschaftlichen Lebens hinein. Er ist rege, mannigfaltig geworden, alle seine Teile greifen ineinander, fordern eine Regelung. Die Aufgaben der Bureaukratie wachsen gewaltig. Entspricht sie ihnen nicht, beherrscht sie nicht das ganze soziale Leben, so verliert sie die Macht. Und so treibt sie die Gesellschaft zu immer schnellerem Wachstum: das Heer der Bureaukratie schwillt fortwährend an.
Die Erhaltungskosten der Armee, der Bureaukratie werden immer größer, immer unerschwinglicher. Obwohl der moderne Staat alles zu besteuern sucht, obwohl er die Steuerlast immer mehr vergrößert, muß er zu Anleihen greifen. Die Staatsschuld wächst und mit ihr die Abhängigkeit der Regierungen vom Kapital, das die Anleihen deckt. Denn wie gewinnbringend auch diese Anleihen für das Kapital sind, es schlägt aus ihnen mehr heraus, als bloß den Profit: es gewinnt Macht im Staate. Mag die Regierung noch so feudal sein, mögen die Spitzen der Bureaukratie eine noch so große Verachtung für die bürgerlichen Emporkömmlinge empfinden, sie können ohne sie nicht auskommen, müssen ihnen dienstbar werden. Und das Kapital geniert sich nicht im Gebrauch der Regierungsgewalt: sie dient ihm zur Niederhaltung der Arbeiterklasse und muß es als ihre wichtigste Aufgabe betrachten, seine Interessen den zahlreicheren, wenn auch schwächeren bürgerlichen Schichten gegenüber zu bewachen. Der Willensvollstrecker des Kapitals im Innern, wird der kapitalistische Staat zum Hüter der kapitalistischen Interessen nach außen hin. Wie diese Interessen aussehen, haben wir schon geschildert. Welche Aufgaben übernehmen ihnen gegenüber die westeuropäischen kapitalistischen Staaten? Diese Aufgaben hängen ab von der Eigenart des borgenden Staates und den Bedingungen, unter denen seine Unterjochung durch das fremde Kapital stattfindet. Erstens muß es der unentwickelte Staat, der die Anleihe aufnimmt, als seine heiligste Pflicht betrachten, dem fremden Kapital pünktlich die Zinsen zu zahlen, selbst wenn er alle Pflichten, die er seinen eigenen Untertanen gegenüber hat, unerfüllt lassen müßte. Er muß dem fremden Kapital nicht nur die Zinsen pünktlich zahlen, sondern auch seinen Warenbedarf bei ihm decken. Und will er das fremde Kapital bei gutem Humor erhalten, so ist es notwendig, ihm die Landesreichtümer zu Spottpreisen zu verschleudern. Aber nicht immer kann die Regierung eines halbentwickelten Staates die übernommenen Pflichten erfüllen: der wachsende Steuerdruck, die Ausbeutung durch die Fremden, die wie Ungeziefer im ganzen Lande herumkriechen und an seinen Säften saugen, bringt in die bisher ruhig dahinlebenden Massen der eingeborenen Bevölkerung Bewegung hinein; sie leistet der eigenen Regierung Widerstand, zahlt die Steuern nicht, erhebt sich schließlich mit den Waffen in der Hand. In diesem Augenblick schlägt das europäische Kapital Alarm; es fordert von seiner Regierung Schutz seiner ökonomischen Interessen im fremden Lande und die Besetzung des letzteren.
Oder eine andere Möglichkeit. Das Kapital hat sich in einem wenig entwickelten Lande eingenistet. Es hat der Regierung desselben zu Wucherbedingungen Geld geborgt und fühlt sich jetzt dort wie zu Hause. Mit dem Geld gelang es dieser Regierung, ihre Machtmittel zu vergrößern, ihre Lage der Bevölkerung gegenüber zu befestigen. Sie will das ausnützen. Sie hat sich in der Welt umgesehen und weiß, was für Wucherzinsen sie dem fremden Kapital zahlt. Um ihre Last etwas zu erleichtern, beginnt sie dem fremden Kapital Schwierigkeiten zu machen, macht sie Miene nach der Art des Kapitals durch eine Pleite bessere Bedingungen erlangen zu wollen. Da kocht wieder die Seele des fremden Kapitals vor Entrüstung, es fordert von seiner Regierung, einen Druck auf die betrügerischen Barbaren auszuüben und ihnen beizubringen, daß die Zivilisation in erster Linie in dem Einhalten der übernommenen Verpflichtungen dem fremden Kapital gegenüber besteht. Oder noch ein anderer Fall. Das fremde Kapital ist ein allgemeiner Begriff. In Wirklichkeit werden die Geschäfte mit den Regierungen unentwickelter Länder von nationalen Gruppen des westeuropäischen Kapitals gemacht. Deutsche, englische, französische Kapitalisten versuchen in einem nach Kapital lechzenden Lande ihr Geld unterzubringen. Sie machen einander Konkurrenz, versuchen sich gegenseitig zu verdrängen. Jede nationale Kapitalistengruppe fordert von ihrer Regierung, daß sie mit ihrer ganzen Macht zur Unterstützung ihres Angebotes eintrete. Sie solle doch der borgenden Regierung zu verstehen geben, wie unangenehm sie ihr werden könne, wenn das Angebot der betreffenden Kapitalistengruppe nicht angenommen würde. So solle sie aufmerksam machen auf ihre militärischen Kräfte, auf die Dienste, die sie ihr anderen Mächten gegenüber erweisen könne.
In allen diesen Fällen muß die Regierung eines kapitalistischen Landes die Interessen ihres Kapitals dem borgenden Staate gegenüber vertreten. Einmal endet die Sache mit einem diplomatischen Druck, das zweite Mal mit einer militärischen Demonstration, das dritte Mal mit der Besetzung des Landes, mit seiner Angliederung an das Gläubigerland. So führt der Export des Kapitals in fremde, wenig entwickelte Länder, zu der sogenannten friedlichen Expansion, sehr oft zu ihrer Besetzung. An der goldenen Schlinge werden sie dem Gläubigerstaat näher gebracht, von ihm ausgebeutet, verlieren schließlich, wenn sie sich gegen die sie erdrückende Last erheben und besiegt werden, ihre Unabhängigkeit und verwandeln sich in eine Kolonie. Der Kapitalist weist seiner eigenen Regierung die Rolle zu, die die fremde nicht ausführen konnte oder wollte.
Aber das ist nicht der einzige Weg, auf dem die Kolonien entstehen. Oft muß das Kapital die Regierung seines Landes anfangs zur Besetzung eines Fleckens freier Erde bringen, bevor es an seine Ausbreitung schreiten kann. Kapital exportieren bedeutet: Häfen, Städte, Eisenbahnen in einem unentwickelten Lande bauen. Wenn aber das Land auf einer so niedrigen Stufe der Entwicklung steht, daß es überhaupt keine Staatsorganisation, oder eine so schwache besitzt, daß man ihr den Schutz des geborgten Kapitals überhaupt nicht anvertrauen kann, so muß das Kapital zuerst eine eigene Staatsorganisation dorthin übertragen, d. h. die Bevölkerung unterjochen und sich ihr Land aneignen. So sind z. B. alle deutschen Kolonien entstanden.[Anmerkungen 3] Wir sehen nun, welche Kräfte zur Eroberung der Kolonien, d. h. zur imperialistischen Politik treiben. Um ihr Wesen aber besser zu erfassen, ist es nötig, genauer zu untersuchen, welche Interessen hinter dieser Politik stehen, und welche Schichten sie unterstützen.
3. Der Imperialismus und das Bürgertum.
Wir haben gezeigt, daß es die Interessen des kartellierten, vertrusteten Kapitals sind, die zur Gründung der Kolonien treiben, und die der Banken, die das Kapital in fremde Lander exportieren. Näher betrachtet sind das in erster Linie die Interessen der Eisenmagnaten und Großbanken. Das den Regierungen der unentwickelten Länder geliehene Kapital wird in erster Linie zum Ankauf von Kanonen, Gewehren, zum Bau von Festungen, Eisenbahnen verbraucht, es liefert also Bestellungen an die Magnaten der Hüttenwerke, Kanonenfabriken usw. Da der kapitalistische Staat, dessen Bourgeoisie Kapital exportiert, jederzeit bereit sein muß, ihr beizustehen, so muß er eine starke Flotte besitzen. Das gibt wieder denselben Zweigen der Industrie Beschäftigung, schafft ihnen einen immer wachsenden Warenmarkt, der desto lohnender ist, weil sie ihm die Preise diktieren können. Wie die Regierungen der vom fremden Kapital unterjochten Länder die Preise der Bestellungen annehmen müssen, wie sie von den Fabriken bestimmt werden, weil sie sonst die Anleihe nicht bekommen, so zahlt auch die heimische Regierung für ihre Schiffe und Kanonen, was man von ihr verlangt. Denn würde sie sich an fremde Fabriken wenden, so würde das Kapital Alarm schlagen, sie gefährde die Sicherheit des Landes; Konkurrenzunternehmungen gründen zu lassen, ist angesichts des ungeheuren Kapitals, das dazu nötig ist, nicht leicht, und alle für den Militarismus und Marinismus nötigen Sachen in eigener Regie fertigzustellen, ist schon darum nicht leicht möglich, weil der bureaukratische Betrieb noch teuerer ausfällt, als die gesalzenen Preise der Krupp. So sehen wir in der schweren Industrie, den Eisenproduzenten, den Waffenfabrikanten, den Reedereibesitzern die stärkste Gruppe der Nutznießer der imperialistischen Politik. Milliarden Mark stecken in ihren Riesenbetrieben. Aber nicht nur das macht ihre Kraft aus, da sie doch trotz ihrer Größe nur einen Teil des deutschen Kapitals darstellen: sie sind zusammengeschlossen, sie stehen in einem lang andauernden Verhältnis zur Regierung, wie es sich durch die Versorgung der Armee herausgebildet hat. Dazu kommt noch die Tatsache, daß hinter ihnen das Finanzkapital steht, bei dem die Regierung mit ihrer Staatsschulden-Politik tief in der Kreide sitzt. Das Finanzkapital steht aber hinter ihnen, weil es selbst zum guten Teil die schwere Industrie dirigiert. Ihr Umfang ist zu groß, als daß sie das Eigentum einzelner bilden könnte. Ihr Kapitalbedarf wächst zu schnell, zu enorm, als daß es aus dem von ihren Arbeitern erzeugten Mehrwert gedeckt werden könnte. Sie muß immer wachsenden Kapitalzufluß haben, und den besorgen die Großbanken. Sie sind also an der Entwicklung der schweren Industrie interessiert. Auch sein ureigenstes Interesse macht das Finanzkapital zum eifrigsten Anhänger des Imperialismus. Erstens nötigt die imperialistische Politik den kapitalistischen Staat zu immer stärkerer Schuldenmacherei, was den großen Banken sehr willkommen ist. Zweitens sind sie es doch, die den Export des Kapitals in fremde Länder vermitteln. Was daraus aber für sie herausspringt, mögen nur einige Beispiele beweisen. Wie die Anleihen des letzten ägyptischen Khediven aussahen, die später zur Besetzung Ägyptens durch England geführt haben, zeigt Th. Rothstein[8] an folgendem Beispiel. Die Anleihe von 1873 wurde angeblich für 32 Millionen Pfund Sterling (640 Millionen Mark) zu 7 Prozent Zinsen und 1 Prozent Amortisation geschlossen. Die Banken, die diese Anleihe unterbrachten, gaben dem Khediven nur 20,7 Millionen Pfund und behielten die übrigen etwa 12 Millionen als Sicherstellung gegen Risiko. Damit nicht genug, zwangen sie ihn, 9 Millionen in Scheinen seiner eigenen schwebenden Schuld zum Kurse von 93 in Zahlung zu nehmen, obwohl die Anleihe eben zur Tilgung dieser Schuld bestimmt war und die Banken die Scheine zum Kurse von 65 erworben hatten. Um ein Beispiel aus jüngerer Zeit zu nennen, so haben die Banken, die den Bagdadbahnbau finanzieren, 100 Millionen Frank für die Vermittlung verdient und 180 Millionen Frank an den Baukosten gespart, die sie der Türkei übermäßig hoch angerechnet haben. So soll das Geschäft nach englischen Berechnungen aussehen; nach den Angaben des Direktors der Deutschen Bank sollen zwar die »Ersparnisse« an den Baukosten kleiner sein, aber der Vermittlerprofit wird auf 138 Millionen Frank angegeben.[9] Bei der Anleihe, die der Sultan von Marokko im Jahre 1909 in der Höhe von 62 Millionen Frank abschloß, sackten die Banken 14 Millionen ein, bei der 110 Millionen Frank-Anleihe, die sie im vorigen Jahre untergebracht haben, »verdienten« sie für Vermittlung bei jeder 500 Frank-Obligation 71 Frank.
Wenn man bedenkt, wie groß die Macht der Großbanken ist, wie sehr die bürgerliche Presse, die bürgerlichen Parteien von ihnen abhängig sind, so kann man sich ein Bild machen von der Kraft, mit der sie ihre imperialistischen Interessen verfechten, sie zu allgemeinen Interessen des Kapitalismus, ja der Nation auszudehnen suchen. Aber hinter der imperialistischen Politik stehen noch ausgedehntere Interessen, als die der schweren Industrie und des Finanzkapitals. Wenn das Finanzkapital Armeen barbarischer Staaten ausrüstet, wenn es Bahnen in Anatolien oder China baut, so flicht es um diese Unternehmungen, die in erster Linie der schweren Industrie zugute kommen, einen Kranz von Unternehmungen, an denen verschiedene Zweige der verarbeitenden Industrie profitieren. Es reißt einen Teil der Eingeborenen-Bevölkerung von der Arbeit an der heimatlichen Scholle und läßt sie Landstraßen anlegen; es gibt ihr zwar kargen Lohn, aber für das Geld kauft die Bevölkerung europäische Waren. Der Bahn folgen Händler und kaufen den Bauern ihre Erzeugnisse ab, ziehen sie in die Wirrnisse des Warenverkehrs hinein. So erweitert sich der Kreis der industriellen Interessenten des Imperialismus.
Aber die imperialistische Politik findet Anhänger in noch weiteren Kreisen. Ihre eifrigsten Verteidiger findet sie in den Militärkreisen, denen sie ein Feld weiterer Betätigung öffnet. Das nähert ihr die Schicht des Kleinadels, der ursprünglich nicht kolonialfreundlich ist, weil doch die Kolonialpolitik in erster Linie im Interesse des Großkapitals geführt wird. Aber Adelssöhne sind es, die als Offiziere an der imperialistischen Politik interessiert sind, denn den jüngeren Söhnen des kleineren Adels winkt die Hoffnung, in den Kolonien, in die der Staat Millionen hineinsteckt, selbst mit einem kleinen Kapital sich emporzuarbeiten; zu Hause aber würden sie nur den Familienbesitz zersplittern und auf der väterlichen Klitsche nichts ausrichten können.
Damit ist der Kreis der direkten Kolonialinteressenten erschöpft. Kein Interesse haben an ihr die breiten Kreise der verarbeitenden Industrie und des Handels, die für den inneren Markt arbeiten oder aus dem Verkehr mit dem kapitalistischen Ausland ihren Profit ziehen. Sie sind der Zahl nach viel größer, als die für die Kolonien und die unzivilisierten Lander arbeitenden Teile der Industrie. Die imperialistische Politik erschwert ihre Entwicklung, weil sie den Schutzzoll verewigt, die Militärlasten vermehrt und den Weltmarkt immer wieder durch Kriegsgefahr beunruhigt. Aber sie sind nicht imstande, ihr Widerstand zu leisten, denn sie scheint ihnen die Politik zu sein, die auch ihren Interessen in der Zukunft entsprechen wird. Heute geht ? der deutschen Ausfuhr in kapitalistisch entwickelte Länder. Aber was wird der nächste Tag bringen, fragen alle Schichten der Bourgeoisie. Alle Länder entwickeln ihre eigene Industrie; werden sie nicht als Märkte in immer geringerem Maße für sie in Betracht kommen? Mögen die Kolonialländer heute noch so wenig entwickelt sein, gilt es nicht, sie zu entwickeln, damit sie später einen aufnahmefähigen Markt für die heimische Industrie bilden? Natürlich wird sich die Bourgeoisie aus Rücksicht auf ihre zukünftigen Interessen jetzt keine Unkosten machen, aber ihre Berücksichtigung genügt, um sie mit kolonialfreundlichem Geiste zu erfüllen, und das um so mehr, als die Koloniallasten zum größten Teil nicht ihr aufgebürdet werden. Den größten Teil des Budgets der kapitalistischen Staaten decken die Volksmassen durch indirekte Steuern. Und schließlich, wie kann das Bürgertum ohne den kolonialen Traum auskommen, was soll es dem aus den Volksmassen immer lauter erschallenden Ruf nach dem Sozialismus gegenüberstellen? Vor Jahrzehnten konnte es den Sozialismus unbeachtet lassen, als Utopie verlachen. Jetzt, wo die Vergesellschaftung der Arbeit durch die fortschreitende Beherrschung der Industrie durch das Finanzkapital, wo die Ausschaltung der Einzelunternehmer, ihre Verdrängung durch unpersönliche Aktiengesellschaften auf die Entwicklung der Produktion zur gesellschaftlichen Leitung, d. h. zum Sozialismus, hinweist, wo die immer wachsende Macht der Arbeiterklasse beweist, daß auch die Kräfte reifen, die diese Aufgabe aufnehmen können – was kann die Bourgeoisie dem Proletariat gegenüberstellen? Gibt es für sie noch eine andere Ausflucht als die, daß ihrer noch die große historische Aufgabe harrt, in die unzivilisierten Länder den Kapitalismus mit seinen Wundern der Technik hinein zu tragen? Was kann die Bourgeoisie dem Proletariat entgegnen, wenn es darauf hinweist, daß die Einengung der Absatzmärkte die alten kapitalistischen Länder vor Krisen und Erschütterungen stellen wird, in denen das vom Elend gepeinigte Proletariat zu einer anderen Organisation der Produktion greifen wird? Sie hat keine andere Zuflucht, als den Glauben an die Entwicklungsfähigkeit der Kolonien. Darum, mögen auch die breiten Kreise des Bürgertums keinen direkten Nutzen von den Kolonien haben, ja, mögen ihnen aus der imperialistischen Politik Schwierigkeiten erwachsen, sie werden sich doch im Schlepptau dieser Politik bewegen.
Auch für die gebildeten Schichten, die an der Produktion keinen Anteil haben und nur davon leben, was von den Tischen der Bourgeoisie abfällt, bildet der Imperialismus die einzige mögliche Ideologie, wenn sie, aus den Schlupfwinkeln ihrer Interesselosigkeit durch wichtige politische Ereignisse hervorgescheucht, sich in die Politik einmischen. Die Anbetung der starken rücksichtslosen Persönlichkeit, das ist die am stärksten verbreitete Weltanschauung dieser Kreise, die sich nur durch persönliche Tüchtigkeit hervortun können. Wo anders aber lebt sich jetzt die bürgerliche »Persönlichkeit« am rücksichtslosesten aus, wenn nicht in den Kolonien? Und wenn das graue, bürgerliche Leben den Intelligenzler anekelt, wo sieht er die Leute, die vor Abenteuern nicht zurückschrecken, die sich »ganz« ausleben, ohne Rücksicht auf die Sitten und Gesetze und die Heuchelei der Heimat? In den Kolonien! So nimmt der Imperialismus eine bürgerliche Schicht nach der anderen gefangen, er spannt sie vor seinen Wagen und feiert seinen Triumphzug durch die Welt.
Aus den Ländern des entwickelten Kapitalismus, aus England, Frankreich, Deutschland, dringt er in die Länder, in denen das Kapital noch schwach ist, in denen noch Raum ist für seine weitere Entwicklung, und erobert auch hier die Geister. Italien, Österreich, selbst das sieche Spanien sehen, wie die alten kapitalistischen Länder ein Stück Asiens und Afrikas nach dem anderen besetzen. Bald wird nichts mehr zu rauben sein. Sollen sie sich damit vertrösten, daß sie noch für Jahrzehnte mit sich selbst zu tun haben, werden nicht später dieselben Schwierigkeiten vor ihnen auftauchen, die den alten kapitalistischen Ländern heute schon drohend in den Weg zu treten beginnen? Das imperialistische Fieber ergreift auch sie und läßt sie eine Last auf sich nehmen, unter der sie schier zusammenbrechen.
So sehen wir den Imperialismus als die Politik, die den Interessen der schweren Industrie und eines Teiles der verarbeitenden, den Interessen des Finanzkapitals schon heute entspricht; die dem Kapital als die einzige Rettung vor den Schwierigkeiten erscheint, mit denen die weitere Entwicklung es bedroht; die die gebildeten Schichten der Bourgeoisie als einzige »ganze« Weltanschauung anzieht. Nicht mit den Interessen des Volkes, sondern mit denen des Kapitals in seiner letzten Entwicklungsphase ist die imperialistische Politik verknüpft. Sehen wir uns nun den Weg an, den sie in Deutschland zurückgelegt hat, um ihre Wirkungen und die von ihr heraufbeschworenen Gefahren würdigen zu können.
Die Anfänge der deutschen Kolonialpolitik.
Als in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die kolonialpolitische Welle sich in Frankreich und England zu heben begann, stand Deutschland ohne jeden kolonialen Besitz da. Das Fehlen eines einheitlichen wirtschaftlichen Gebietes und einer zentralisierten Gewalt hatte es ihm im 16. und 17. Jahrhundert unmöglich gemacht, gleich Frankreich, England und Holland eine koloniale Tätigkeit zu entfalten, an die bei Beginn des Zeitalters der kapitalistischen Kolonialpolitik angeknüpft werden konnte. Als Deutschland schließlich durch die wirtschaftliche Entwicklung, sowie durch Blut und Eisen geeinigt wurde, hatten die besitzenden Klassen anfangs Wichtigeres zu tun, als auf kolonialen Raub auszugehen. Die Bourgeoisie begann sich in dem neuerbauten Reiche häuslich einzurichten, die Junker und die Regierung sorgten dafür, daß sie bei dem Umbau keine zu enge Unterkunft bekamen. Für das deutsche Kapital war die Eroberung von Kolonien damals eine fernliegende Sache. Es hatte noch in Deutschland viel Raum für seine Entwicklung, einen Boden, der vom französischen Milliardensegen befruchtet, von gierigen Händen aufgerissen, so umgerüttelt wurde, daß die giftigen Profitpflanzen nur so in die Höhe schossen. Und obwohl dieser wilden Spekulation bald eine Krise auf dem Fuße folgte, hatte die industrielle Entwicklung Deutschlands noch einen weiten Spielraum im Innern. Nach der wirtschaftlichen Krise vom Jahre 1874 wandten sich die Spitzen der kapitalistischen Welt zuerst dem Schutzzoll zu, dem ersten Heilmittel, das ihnen die Möglichkeit geben sollte, auf Kosten der Konsumenten und der verarbeitenden Industrie Extraprofite einzuheimsen. Weite Kreise der verarbeitenden Industrie hielten selbst angesichts der überstandenen Krise den Schutzzoll für unnötig: sie hatten noch Vertrauen in die heilenden Kräfte des Kapitalismus. Da sie keine Interessen in den kapitalistisch unentwickelten Ländern hatten, und ihr Handelsverkehr mit England und Amerika sich in stetem Aufstieg befand, hatte die Frage der Gewinnung von Kolonien selbst für diesen Teil des deutschen Kapitals, der für den Export produzierte, kein Interesse. Noch 1885 schrieb Robert Janasch, einer der ersten Befürworter der kolonialen Ausbreitung Deutschlands:[10] »Unter unseren Kaufleuten sind es kaum wenige Hunderte, welche durch ihren Unternehmergeist, sowie durch die Art ihres Geschäftsbetriebes veranlaßt worden sind, sich eingehender über die Vorgänge auf den Gebieten der extensiven Kultur zu unterrichten, und welche das Bedürfnis fühlen, an denselben aktiv und zweckbewußt teilzunehmen. Der Einwand, daß der deutsche Kaufmann und Industrielle durch seine Beteiligung an dem so bedeutenden Export Deutschlands tatsächlich sein Interesse an dem internationalen Kulturleben bekunde, ist hinfällig, sobald man gewahrt, daß diese Beteiligung über die Grenzen der alltäglichen Routine spekulativ-merkantiler Tätigkeit nicht hinausreicht. Wo hat sich der Unternehmungsgeist und das Kapital der Börse, unserer großen Banken, das große Privatkapital Einzelner durch Erschließung überseeischer Märkte, durch koloniale Unternehmungen, durch Ausführung großer technischer Kulturwerke ersten Ranges, wie wir deren oben gedachten, betätigt? Und soweit dies ausnahmsweise der Fall gewesen, ist es in Verbindung mit ausländischen Unternehmern, im Dienste ausländischer Interessen geschehen. Während die englischen, ja sogar die französischen und belgischen Banken mit den großen überseeischen Märkten in unmittelbarer Verbindung durch ihre Filialen und Kartellbanken stehen, ist es uns bis jetzt noch nicht gelungen, für australische und viele der südamerikanischen Hauptplätze direkte Bankbeziehungen herzustellen, und die englische Vermittlung ist zurzeit noch unentbehrlich. Es ist eine wenig erfreuliche Tatsache, daß die 1870/71 von den deutschen Kriegsschiffen in den chinesischen Häfen entnommenen Kredite durch Vermittlung dortiger französischer Geldinstitute realisiert werden mußten! Daß unter solchen Verhältnissen der auf die Erwerbung überseeischer Absatzgebiete bedachte Unternehmungsgeist der deutschen Industriellen niedergehalten wird, bedarf keines weiteren Kommentars.«
Für die koloniale Ausbreitung traten nur einige Hamburger und Bremer Firmen ein, die Niederlassungen an der Westküste Afrikas und in der Südsee besaßen. Sie suchten die Regierung dafür zu gewinnen, ihren Handel zu unterstützen; denn sie wußten, daß die Regierung, einmal in ihre Händel hineingezogen, nicht mehr imstande sein würde, die Finger von ihnen zu lassen.
Bismarck[11] stand den Fragen der kapitalistischen Kolonialpolitik keinesfalls so fremd gegenüber, wie das oft behauptet wird. Schon sein durch den Sieg über Frankreich stark gehobenes Machtgefühl spornte ihn an, den anderen kapitalistischen Staaten auf diesem Gebiete nachzuahmen. Natürlich konnte mangels einer kolonialen Tradition in Deutschland, angesichts der Gleichgültigkeit des größten Teils des Bürgertums gegenüber den Kolonialunternehmungen und der noch größeren Verständnislosigkeit des Junkertums für eine so ausgesprochene kapitalistische Politik, wie die Kolonialpolitik, keine Rede sein von einem zielbewußten, weitblickenden Eintreten Deutschlands in die Bahnen der Kolonialpolitik. In der ersten Zeit nach der Reichsgründung konnte auch schon deshalb keine Rede davon sein, weil die auswärtige Politik[12] die Aufmerksamkeit Bismarcks in Europa festhielt. Die Verschiebungen in den Mächteverhältnissen, die der Gründung des Deutschen Reiches auf dem Fuße folgten, waren so groß, daß der Wunsch, Deutschlands internationale Lage zu stärken und sich die Errungenschaften des Sieges vom Jahre 1871 zu sichern, den ersten Platz in der Politik Bismarcks einnahm. Nach dem Frankfurter Frieden erblickte Rußland auf einmal an seiner Westgrenze an Stelle des schwachen zerklüfteten Deutschland das durch Blut und Eisen geeinigte starke Reich; Frankreich aber war schwächer, als es den Interessen des Moskowitenreiches entsprach. Als Deutschland auf dem Berliner Kongreß dem Zarismus nicht ohne jeden Vorbehalt die Stange halten wollte – Bismarck forderte zwar nur, daß Rußland ihm offen seine Wünsche klarlege, damit er sie ihm nicht von den Augen abzulesen brauche –, da verbarg die russische Regierung ihren Groll nicht. Sie verstieg sich zu direkten Drohungen an die Adresse ihrer bisherigen Berliner Mameluken: wenn Deutschland nicht ohne Widerrede die russischen Forderungen in der Orientfrage unterstützte, drohte sie Feindschaft an auf Leben und Tod. Das erklärte der Zar brüsk in einem Briefe an den Kaiser. Bismarck fürchtete, es könnte zu einem Bündnis zwischen Rußland und Frankreich kommen, das bei der noch blutenden elsaß-lothringischen Wunde zu einem Revanchekrieg führen könnte. Auch Österreichs Haltung bereitete ihm Sorge. Das vor Deutschland geheimgehaltene Reichsstädter Abkommen, in dem Rußland noch vor dem Türkisch-Russischen Kriege seine Zustimmung zur Einverleibung Bosniens und Herzegowinas durch Österreich, als Preis für die österreichische Neutralität während des bevorstehenden Krieges gab, weckte in Bismarck die Furcht, es könnte auch zu einem Einverständnis zwischen Österreich und Rußland über die Balkanfrage kommen, durch das Österreich im Bunde mit Rußland und Frankreich die Scharte von Königgrätz auszuwetzen in der Lage sein würde. Von bösen Träumen, Koalitionsträumen, geplagt, um das Wort Schuwalows zu gebrauchen, entschied sich Bismarck gegen das Bündnis mit Rußland, das Deutschland mit der ganzen Welt verfeinden und es Rußland auf Gnade und Ungnade ausliefern würde. Nachdem er über die Bündnisfrage bald nach dem Frankfurter Frieden in Wien sondiert hatte und der Einwilligung Österreichs gewiß war, mußte er noch den starken Widerstand niederringen, den der »Heldengreis« einer Abkehr von Rußland entgegenstellte. Die Familieninteressen – Kaiser Wilhelm war Oheim des Zaren –, der felsenfeste Glaube, daß nur die russische Knute für das Hohenzollernsche Gottesgnadentum in schlechten Zeiten Hilfe gewähren könnte, die höllische Angst vor der Macht des Zarismus, machten den Kaiser so widerspenstig, daß er sich seine Zustimmung nur durch die Rücktrittsdrohung des ganzen Kabinetts abringen ließ. Nachdem der Widerstand des Kaisers gebrochen war, stand nichts mehr dem Bündnis im Wege. Die bürgerlichen Parteien in Deutschland, obwohl überhaupt nicht befragt, äußerten lärmend ihr Einverständnis; in Österreich regte sich nur ein schwacher Unwille bei den slawischen Parteien; die Furcht vor den Machinationen Rußlands in Ostgalizien, vor einem Zusammenstoß mit ihm auf dem Balkan, war für die österreichische Regierung ausschlaggebend.
So entstand der österreichisch-deutsche Bund als Abwehrvertrag gegen Rußland. Die beiden Mächte gelobten sich Hilfe für den Fall, daß eine von ihnen durch Rußland angegriffen, oder daß Rußland einem dritten, sie angreifenden Staate seine Hilfe leihen würde. Deutschland wollte die Unterstützungspflicht auch auf den Fall eines französischen Angriffs ausdehnen, aber dafür war Österreich nicht zu haben.
Diesem Bündnis schloß sich nach langen Vorberatungen auch Italien an, obwohl bei ihm der Gegensatz zu Österreich wegen Welschtirol und Triest vorhanden war. Aber andere wichtige Momente bewirkten, daß das soeben erst geeinigte, mit Frankreich verfeindete Italien sich dem Bunde anschloß: es war die römische und die tunesische Frage.
Unter dem Einfluß der Klerikalen war Napoleon III. als Verteidiger der weltlichen Macht des Papstes aufgetreten. Als nach der Niederwerfung der Kommune in Frankreich die schwärzeste Reaktion ans Ruder kam, schien sie einen Kreuzzug gegen Italien wegen der Einverleibung Roms in das italienische Reich vorzubereiten. Dies verursachte noch vor dem Berliner Kongreß eine Annäherung Italiens an Österreich und Deutschland. Victor Emanuel reiste 1873 nach Wien und Berlin. Obwohl die auf dem Berliner Kongreß beschlossene Angliederung Bosniens und Herzegowinas an Österreich, bei der Italien keine »Entschädigung« bekam, Italiens Beitritt zum Dreibund im Jahre 1879 noch nicht perfekt werden ließ, so sorgte die damals neueinsetzende koloniale Betätigung Frankreichs dafür, daß der Beitritt Italiens nicht lange mehr auf sich warten ließ. Im geheimen Einvernehmen mit England – es war die Entschädigung für die Einnahme Cyperns durch England – und mit Deutschland – Bismarck sah gerne zu, daß Frankreich seine Kräfte außerhalb Europas beschäftigte, weil ihm dann keine für den Revanchekrieg übrig blieben – riß Frankreich Tunis an sich, auf das Italien schon lange Hoffnungen gesetzt hatte. Die außerordentliche Entrüstung der italienischen Bourgeoisie und der Militärkreise führte Italien endgültig dem Bunde zu. Sein Beitritt sicherte das Land vor Österreich und gab ihm die Unterstützung Deutschlands gegen Frankreich. So entstand der Dreibund.
Obwohl er die größten Befürchtungen Bismarcks bannte, blieb jedoch auch ferner das Hauptinteresse der auswärtigen Politik des Deutschen Reiches an den Mächteverhältnissen in Europa haften. Jedenfalls hatte Bismarck in größerem Maße als früher freie Hand auch für die koloniale Ausbreitung. Er wußte jedoch gut, daß Kolonialpolitik in erster Linie Geschäft ist, und daß sich kapitalistische Geschäfte ohne den Willen der Bourgeoisie überhaupt nicht machen lassen. »Um eine überseeische Politik mit Erfolg treiben zu können, muß jede Regierung in ihrem Parlament, soweit sie von ihm abhängig ist, soweit sie eine konstitutionelle Regierung ist, eine im nationalen Sinne geschlossene Majorität, eine Majorität, die nicht von der augenblicklichen Verstimmung einzelner Parteien abhängt, hinter sich haben. Ohne eine solche Reserve im Hintergrunde können wir keine Kolonialpolitik und keine überseeische Politik treiben,« so führte er im Jahre 1884 bei der Einbringung der Dampfer-Subventionsvorlage im Reichstage aus. Daß aber die Mehrheit der deutschen Bourgeoisie in ihrem Herzen noch keine Kolonialfreundlichkeit gefunden hatte, zeigte ihm die Haltung des Reichstags in der Samoafrage. Als im Jahre 1880 das Hamburger Handelshaus Godeffroy, das in der Südsee Handel und Plantagenbau trieb, in Bedrängnis geraten war und eine Aktiengesellschaft seine Interessen nur unter der Bedingung übernehmen wollte, daß die Regierung die Zinsgarantie gewährte, war Bismarck bereit, das zu tun, damit »der deutsche Name« durch den Untergang des Geschäftes nicht in schlechten Ruf gerate. Gegen die Stimmen der Junker, die immer dafür zu haben waren, wenn aus den Taschen des Volkes Parasiten gemästet werden sollten, und gegen einen Teil der Nationalliberalen, lehnte die Mehrheit des Reichstages, bestehend aus Freisinnigen, Zentrum, einem Teil der Nationalliberalen und den Sozialdemokraten, die Vorlage der Regierung ab, die der Aktiengesellschaft eine 3–4½-prozentige Zinsgarantie geben wollte. Noch vier Jahre später hat Bismarck erklärt: »Ich bin durch die Niederlage der Regierung in der Samoafrage lange Zeit abgehalten worden, etwas Ähnliches wieder vorzubringen.« Das entsprach aber nicht den Tatsachen: als er diese Worte sprach, befand sich sein kleiner Finger schon in den Krallen des kolonialen Teufels, der bald auch seine Hand umklammern sollte, obwohl die damaligen Interessen des deutschen Kapitals der Kolonien nicht benötigten und die auswärtige Lage des Reiches noch nicht ganz gefestigt war.
Wie schon erwähnt, standen Bremer und Hamburger Firmen in Handelsbeziehungen zu Westafrika. Deutsche Missionare hatten in Südwestafrika seit den sechziger Jahren gewirkt und den Boden für das deutsche Handelskapital vorbereitet. Das nützte die Bremer Firma Lüderitz aus, um dort eine Handelsfaktorei zu gründen. Sie kaufte von einem Eingeborenenhäuptling einen Landstrich an der Küste von Angra Pequena im Umfange von 900 deutschen Quadratmeilen. Die Regierung gewährte Lüderitz unter der Bedingung Schutz, daß seine Kaufrechte weder gegen die Eingeborenenrechte noch gegen die begründeten Ansprüche irgend einer Macht verstießen. Zu gleicher Zeit wandte sie sich an die englische Regierung mit der Anfrage, ob diese Anspruch auf die von Lüderitz gekauften Gebiete erhebe. Die englische Regierung antwortete, sie habe zwar keine Herrschaftsrechte in diesen Gebieten, aber sie erhebe auf die Küste zwischen der Kapkolonie und der portugiesischen Kolonie Angola Anspruch. Da Bismarck diese Antwort als völkerrechtlich unbegründet und als Beweis ansah, daß England auch in der Zukunft der kolonialen Ausbreitung Deutschlands Schwierigkeiten bereiten wollte, hielt er es für nicht vereinbar mit der Machtposition, die das Deutsche Reich seit dem Deutsch-Französischen Kriege eingenommen hatte, und telegraphierte am 24. April des Jahres 1884 – welcher Tag also als Tag der Gründung der deutschen Kolonialpolitik gelten kann – an den deutschen Konsul in Kapstadt, daß die Erwerbungen von Lüderitz unter deutschem Schutz standen, worauf die deutsche Flagge in Südwestafrika gehißt wurde. England gab nach und ermutigte dadurch Bismarck zum weiteren Zugreifen. Dies schien ihm um so angezeigter, als der russisch-englische Gegensatz in Mittelasien Englands Widerstandskraft gegenüber den kolonialen Gelüsten Deutschlands schwächte, während bei der weiteren Verzögerung der Kolonialerwerbungen damit zu rechnen war, daß in der nächsten Zukunft nichts mehr zu besetzen sein würde. Bismarck begnügte sich nicht mit Südwestafrika. Er nützte die Tatsache aus, daß sich in Kamerun und Togo einige deutsche Handelsniederlassungen befanden und daß deutsche Missionare dort die schwarzen Seelen für Gott und das Kapital bearbeiteten. Er wartete nicht mehr, bis sich die Firmen an die Regierung wandten, sondern spornte die Firmen Woermann, Jantzen, Thorwaldten zum Abschluß von Verträgen mit den Häuptlingen an der Küste Togos und Kameruns an. Nachdem dies geschehen war, wurde auch hier die deutsche Flagge gehißt Das Vorgehen Bismarcks ermutigte schneidige Abenteurernaturen, und so gründete Karl Peters, der in London die englische Kolonialpolitik studiert hatte, eine Deutschostafrikanische Gesellschaft, die an der Küste Ostafrikas von den Häuptlingen 2500 deutsche Quadratmeilen Land kaufte und erschacherte. Ähnlich ging es in Neuguinea zu, wo die »Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft« und die Hamburger Firma Hernsheim Fuß gefaßt hatten. Einmal im Sattel, ritt Bismarck auch hier einen scharfen Trab. Der Widerstand Englands reizte ihn, und er gewährte auch diesen Privatunternehmungen Schutz für ihre territorialen Erwerbungen.
Die hier kurz skizzierte Geschichte der Erwerbung der deutschen Kolonien[13] zeigt, daß sie von keinen größeren ökonomischen Interessen getrieben worden ist. Eine kleine Schicht von Kapitalisten ging dem ihr winkenden Profit in weiten Ländern nach. Sie dachte nicht an die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands, nicht an alle die schönen Argumente, die jetzt von den Verfechtern der Kolonialpolitik ins Feld geführt werden. Da in dieser Zeit Frankreich und England in größerem Umfange Kolonialpolitik zu treiben begannen, fürchtete die deutsche Regierung, das deutsche Kapital würde, wenn es einmal Lust an Kolonialpolitik gewinnen sollte, keinen Happen mehr abbekommen. Sie griff also zu, planlos, ziellos, wo auch nur die kleinsten wirtschaftlichen Interessen des deutschen Kapitals ihrem Vorgehen einen Schein der Berechtigung lieferten. Und das Bürgertum, das anfangs keine Lust verspürte, sich in koloniale Nesseln zu setzen, stimmte in seiner Mehrheit dieser Politik zu. Den Vertretern des Großkapitals, den Nationalliberalen, leuchtete es ein, daß gewisse Elemente unter ihnen aus dieser Politik große Profite herausschlagen würden; das Zentrum sah in den Kolonien ein neues Gebiet für die Betätigung der Klerisei; den Konservativen winkten Beamtenstellen für ihre Söhne. Weitere Kreise der Bourgeoisie, die damals absolut kein Interesse an den Kolonien hatten, wurden für diese Einschwenkung in das Fahrwasser der Kolonialpolitik eingefangen durch eine rührige Propaganda, die seit einigen Jahren von einer Schar Ideologen, wie Fabri, Janasch, Hübde-Schleiden, getrieben wurde; das Bild der Reichtümer, die England aus seinen Kolonien herausholte, das Bild der Verluste an Menschen und Kapital, welches von der damals so massenhaften deutschen Auswanderung verursacht wurde, verfehlten ihre Wirkung nicht, um so mehr, als der nationale Katzenjammer, der angesichts der Fruchtlosigkeit des Sozialistengesetzes und des Kulturkampfes die Bourgeoisie ergriffen hatte, eine »nationale« Anspornung erforderte, wie sie von dem Trugbild der kolonialen Ausbreitung geliefert wurde. Wie unvorbereitet aber die Regierung für die übernommenen Aufgaben war, geht aus dem Standpunkt hervor, den Bismarck am 26. Juni 1884 im Reichstag vertrat: »Den Interessenten der Kolonie soll das Regieren derselben überlassen und ihnen, nur für Europäer, die Möglichkeit europäischer Jurisdiktion und desjenigen Schutzes gewährt werden, den wir ohne stehende Garnison leisten können. Ein Vertreter des Reiches, ein Konsul, wird die Autorität des Reiches wahren und Beschwerden entgegennehmen; Handelsgerichte werden weitere Streitigkeiten entscheiden. Nicht Provinzen sollen gegründet werden, sondern Unternehmungen mit einer Souveränität, welche dem Reiche lehnbar bleibt; ihre Fortbildung bleibt im wesentlichen den Unternehmern überlassen.«
Aber schon die nächsten Jahre zeigten, daß die Logik der Ereignisse größer war, als die Voraussicht der deutschen Regierung. In Südwestafrika sollten die Hoheitsrechte auf die »Deutsche Gesellschaft für Südwestafrika« übergehen, die aus eigenen Mitteln eine Truppe zu unterhalten die Pflicht hatte. Aber die Gesellschaft wollte die entsprechenden Kosten nicht tragen, und so wurde die Verwaltung vom Reiche übernommen. In Ostafrika brach im Jahre 1888 ein Aufstand der Eingeborenen aus, die durch die Erhebung der Zölle gereizt waren, und das Reich mußte alsbald mit Marine und Landtruppen eingreifen. Es verausgabte bis zum Jahre 1891 8½ Millionen Mark für die Niederwerfung des Aufstandes, worauf es auch diese Kolonie in eigene Verwaltung übernahm. Ähnlich ging es in Kamerun zu; und auch in den Kolonien, wo es zunächst zu keinen Aufständen kam, zeigte es sich, daß die privaten Gesellschaften weder die Lust noch die Möglichkeit hatten, die großen Kosten der Aufpfropfung eines staatlichen Mechanismus auf die primitiven Verhältnisse der unterjochten Völker zu tragen. Im Jahre 1895 gestand auch der Direktor der Kolonialverwaltung, Kayser, dem Reichstag, daß der bismarcksche Plan der Kolonialpolitik Bankrott erlitten habe. »Wir haben die Erfahrung gemacht«, führte er am 28. März 1895 aus, »daß die Zeit der privilegierten Kompagnien vorüber ist, und wir dürfen es heute wohl auch aussprachen, daß wir uns beim Beginn unserer Kolonialpolitik in einem großen Irrtum befunden haben, wenn wir annahmen, daß die Kompagnie, eine Privatgesellschaft, in der Lage sein könnte, staatliche Hoheitsrechte auszuüben. Heutzutage verlangen wir ja auch in den unzivilisierten Ländern und auch in unseren Schutzgebieten schon eine Art staatlicher Organisation mit einem gewissen Rechtsschutz, der unmöglich von einer Privatgesellschaft im vollen Umfange gewährt werden kann.«
Der Art, wie Deutschland zu seinen Kolonien kam, entsprach naturgemäß ihre Entwicklung. Nur da, wo das Kapital stürmisch Anlagesphären, Absatzgebiete heischt, nur da, wo es durch die Arbeit langer Jahre den Boden für seine zukünftige Kolonie vorbereitet, besteht die Möglichkeit des kolonialen Aufschwungs, natürlich, sofern die natürlichen Verhältnisse es erlauben. In den deutschen Kolonien fehlten alle diese Entwicklungsfaktoren. Mit Ausnahme Südwestafrikas handelte es sich um tropische Kolonien, in denen der dauernde Aufenthalt für Europäer nur auf einzelnen Hochebenen möglich war. Das Fehlen von schiffbaren. Flüssen fast in allen Kolonien erschwerte ihr Durchdringen. Der sehr niedrige Entwicklungsgrad ihrer Einwohner eröffnete nur geringe Aussichten für den Handelsverkehr. Wollte die Regierung bei diesen Verhältnissen noch andere Ansiedler als Beamte und Schutztruppen in die Kolonien bringen, so mußte sie dem Kapital Vorrechte[14] geben, die ihm die Kolonien direkt auslieferten. Der Neu-Guinea-Kompagnie wurde im Jahre 1885 das ausschließliche Recht verliehen, in dem Schutzgebiete »herrenloses« Land in Besitz zu nehmen und darüber zu verfügen, sowie Verträge mit den Eingeborenen über Land und Grundberechtigungen abzuschließen. Dasselbe Monopolrecht bekam die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft. Selbst als die Hoheitsrechte dieser Gesellschaft im Jahre 1890 auf die Regierung übergingen, wurde ihr ein weitgehendes Bodenmonopol verliehen. Erst im Jahre 1902 entäußerte sie sich dieser Vorrechte, die selbst nach amtlichem Urteil die Entwicklung des Schutzgebietes verhinderten. Ähnlich verhielt es sich mit dem Bergbau-Monopol in Südwestafrika. An fünf Gesellschaften wurden in Südwestafrika 32 Prozent des Gesamtflächeninhalts dieser Kolonie abgetreten. Selbst angenommen, daß dieser Boden wirklich unbewohnt war, was für einen großen Teil gar nicht zutrifft, selbst davon abgesehen, daß der Boden der Schwarzen verschenkt wurde von den offiziellen Verfechtern des Eigentums, so genügt nur daran zu erinnern, daß Südwestafrika das einzige Land ist, das sich für die Ansiedlung einer größeren Masse von Kolonisten irgendwie eignet. (Der bekannte blutige Kolonialpolitiker Peters[15] schätzt die Aufnahmefähigkeit dieser Kolonie auf 100 000 Kolonisten.) Angesichts dessen bedeutete diese Politik eine Besteuerung aller Ansiedler, die in Südwestafrika Farmen anlegen wollen, zugunsten der hinter der Kolonialgesellschaft stehenden Berliner Banken. Die Kolonialgesellschaften nahmen die ihnen gemachten Millionengeschenke an, aber es fiel ihnen nicht ein, das Land zu erschließen. Sie forderten, daß ihnen der Staat mit dem Bahnbau vorangehe, ohne den in den Kolonien überhaupt nichts zu erreichen sei. So blieben denn die Kolonien in einem Zustande der Stagnation und waren weder als Rohstoffland noch als Absatzgebiet von irgend welchem Wert für die deutsche Industrie. Eine spärliche Anzahl von Farmern, die in ihnen Glück suchten, einige Handelsfaktoreien, die die Eingeborenen mit Schnaps und Waffen versorgten, aus Deutschland eingeführte Assessoren, die die preußische Kunst der Bevormundung aller hier einzuführen suchten, eine Handvoll Offiziere und Missionäre – das waren die glorreichen Pioniere der deutschen Kolonialpolitik. Die Frucht eines vom Baume des deutschen Kapitalismus zu früh abgebrochenen Zweiges, der, auf einen unfruchtbaren Boden verpflanzt, seine Kräfte nicht entfalten konnte, waren die deutschen Kolonien vom ersten Tage ihrer Gründung an wurmstichig. Nur eine Pflanze schoß üppig in den deutschen Kolonien hervor: die Pflanze der Verrohung. Jener Beamte Leist, der im Jahre 1894 in Kamerun durch seine Barbareien Aufstände der Eingeborenen provozierte, sein Nachfolger, der Assessor Wehlau, der Leute für Diebstahl mit dem Tode bestrafte, Peters, der seine schwarze Geliebte aufknüpfen ließ – diese in kurzer Zeit aufeinander folgenden Kolonialskandale zeigten deutlicher als der gänzliche Stillstand der Kolonien, daß die deutsche Kolonialpolitik nur die Ausbeutung und Unterdrückung verstärkt hat. Von einer Entfaltung der Produktivkräfte in den Kolonien war keine Rede. Was Wunder also, wenn selbst in den kapitalistischen Kreisen, die an der Mißwirtschaft in den Kolonien nicht direkt interessiert waren, in dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts keine Kolonialfreundlichkeit herrschte?
Im Fahrwasser des Imperialismus.
1. Von der Kontinentalpolitik zur Weltpolitik.
Die ersten Erfahrungen, die Deutschland mit seinen Kolonien gemacht hatte, waren nicht geeignet, den Kolonialenthusiasmus der Regierung zu wecken. Sie sah in England eine Verstimmung wegen der deutschen Kolonialpolitik entstehen; schon die ersten Schritte Deutschlands entlockten dem englischen Minister des Auswärtigen, Lord Granville, die Behauptung, Deutschland wolle England nötigen, auf die Aktionsfreiheit in kolonialen Angelegenheiten zu verzichten. Gleichzeitig trat es immer klarer zutage, daß die Gründung des Dreibundes Gegenbemühungen geschaffen hatte, die auf eine Annäherung der französischen Republik an den russischen Zarismus hinarbeiteten. Zwar gelang es Bismarck im Jahre 1887 diesen Bestrebungen die Spitze abzubrechen, indem er einen Vertrag mit Rußland abschloß, nach dem Deutschland und Rußland, falls eines von beiden von irgend einer Seite angegriffen würde, einander wohlwollende Unparteilichkeit zusicherten. Aber das Streben Rußlands, sich in Ostasien auszubreiten, eine Folge des Zurückweichens des russischen Einflusses im nahen Osten, und die Notwendigkeit, seine Rüstungen zu modernisieren und aus strategischen Gründen neue Bahnen zu bauen, trieb es in die Arme Frankreichs, dessen Geldmarkt eine stärkere Anziehungskraft auf Rußland ausübte, als der viel ärmere deutsche Markt. Die offensichtliche Annäherung Rußlands an Frankreich, wie verschiedene militärische Maßnahmen an der russisch-österreichischen Grenze kühlten das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland ab. Wilhelm II., der kurz vorher den Thron bestiegen hatte, suchte durch die Stärkung des Dreibundes, den er in seiner Antrittsrede im Reichstag ein »heiliges« Vermächtnis nannte, und durch eine Annäherung an England die europäische Position Deutschlands zu stärken. Diese Bemühungen führten zu zweierlei Ergebnissen: im Jahre 1890 wurde der sogenannte Sansibarvertrag mit England geschlossen, und im nächsten Jahre war das französisch-russische Bündnis fertig.
Im Sansibarvertrag wurde das Werk, das die kühnen imperialistischen Draufgänger unter der Leitung Karl Peters begonnen hatten, zerstört. Peters war es durch Geld und Drohungen gelungen, die von ihm im Jahre 1885 erworbenen Gebiete weit nach Norden auszudehnen, so daß sie von Sansibar bis zu den Quellen des Nils Deutschland gehörten. Diese neuen Erwerbungen, das Sultanat Witu, Uganda (das doppelt so groß ist wie Bayern) fiel jetzt England zu. Als Entschädigung bekam Deutschland die Insel Helgoland, von der aus die Engländer bisher die Mündungen der Elbe und der Weser beherrschen konnten. Heute besitzt Helgoland für den deutschen Imperialismus die Bedeutung eines stark befestigten Stützpunktes gegen die eventuellen Versuche Englands, die deutschen Küsten während eines Krieges zu blockieren. Die Entwicklung der Unterseeboote, der Funkentelegraphie und der Seeminen haben Helgoland diese Bedeutung gegeben. Zurzeit des Abschlusses des Vertrages mit England bedeutete das Geschäft den Eintausch eines Hosenknopfes gegen eine Hose – wie sich der imperialistische Geschichtsschreiber A. Wirth[16] drastisch ausdrückt. Denn Helgoland besaß für England keine große Bedeutung, was schon aus der Bemerkung des englischen Premiers hervorging, im Kriegsfalle könne Deutschland eine Streitmacht auf die Insel schicken vor Ankunft einer englischen Ersatzflotte. Daß auch die deutsche Regierung bei diesem Austauschhandel sich nicht so sehr von der hohen Einschätzung Helgolands, als von dem Wunsche nach guten Beziehungen zu England hat leiten lassen, ging ganz ausdrücklich aus der Denkschrift hervor, in der Caprivi, der Nachfolger Bismarcks, den stark angefeindeten Vertrag verteidigte. »Allem voran stand das Bestreben, unsere durch Stammesverwandtschaft und durch die geschichtliche Entwicklung beider Staaten gegebenen guten Beziehungen zu England weiter zu erhalten und zu befestigen und dadurch dem eigenen Interesse, wie dem des Weltfriedens zu dienen.« Diese guten Beziehungen, führte die Denkschrift weiter aus, seien insbesondere darum notwendig, weil die kolonialen Bestrebungen Deutschlands Reibungen zwischen den beiden Staaten hervorgerufen hätten, die der allgemeinen Politik Deutschlands nicht bekömmlich wären. Deutschlands kolonialer Besitz sei nicht wertvoll genug, daß seinetwegen ein Hader zwischen England und Deutschland entstehen sollte. Die Abtretung großer Kolonialgebiete an England wurde zum Schluß mit folgendem Bekenntnis erklärt: »Die Periode des Flaggenhissens und des Vertragschließens muß beendet werden, um das Erworbene nutzbar zu machen. Es beginnt jetzt die Zeit ernster, unscheinbarer Arbeit, für welche voraussichtlich auf ein halbes Jahrhundert ausreichender Stoff vorhanden sein wird«.[Anmerkungen 4]
Das deutsch-englische Abkommen war ein Ausdruck der Tatsache, daß die deutschen Kolonien in den Augen der deutschen Regierung noch keine größere Bedeutung hatten, daß sie jahrzehntelang an keine neuen Kolonialerwerbungen denken wollte, daß sie die Fragen der Weltpolitik den Schwierigkeiten ihrer europäischen Lage unterordnete. In diesem seinem Charakter gab das deutsch-englische Bündnis einen Ansporn zur Ausbreitung der imperialistischen Bewegung in Deutschland. Aus der Empörung über die Abtretung des kolonialpolitisch als sehr aussichtsreich geltenden Uganda an England entstand der Alldeutsche Verband, die Kampforganisation des deutschen imperialistischen Gedankens, die eine rührige Agitation für die imperialistische Machtpolitik entfaltete, der sie im krassen Nationalismus eine ideologische Ausstattung gab. Durch die Agitation des Alldeutschen Verbandes suchten die Nutznießer des Imperialismus Anklang in weiteren Schichten des Bürgertums zu finden und die Regierung auf die Bahnen des Imperialismus zu drängen.
Ein ähnliches, wenn auch unvorhergesehenes Ergebnis hatte das deutsch-russische Verhältnis im Gefolge. Dieses Verhältnis war schon seit der Gründung des Deutschen Reiches ins Wanken geraten. Einerseits sah die deutsche Regierung seit jeher im Zarenreich dem ihrem Charakter am meisten entsprechenden Verbündeten, andererseits aber konnte sie sich dem Zaren nicht so bedingungslos ausliefern, wie das vor der Einigung Deutschlands der Fall gewesen war. Als nun das französisch-russische Bündnis zustande kam, suchte die deutsche Regierung nach einer Gelegenheit, um sich Rußland wieder zu nähern. Neben einem »Erbfeind« an der Westgrenze konnte es einen Feind an der Ostgrenze nicht ertragen, obwohl es ununterbrochen seine Militärausgaben steigerte. Diese betrugen im Jahre 1872 553, im Jahre 1875 584, im Jahre 1887/88 632, im Jahre 1890/91 854 Millionen Mark.[17]
Die Gelegenheit zu einer Annäherung an Rußland, die den Übergang Deutschlands zur Weltpolitik einleiten sollte, gaben die ostasiatischen Wirren. Trotz der Siege Englands und Frankreichs über China, die die erste Bresche in die chinesische Mauer legten, galt das Riesenreich in den Augen der europäischen Mächte als ein Koloß, mit dem anzubändeln sehr gefährlich sei. Der Sieg Japans über China im Kriege von 1895, der um Korea entbrannt war, zeigte die Verlotterung des chinesischen Militärs, die Fäulnis der Verwaltung Chinas und rollte die Frage von der Herrschaft über den Stillen Ozean auf.[18] Rußland, das sich seit den neunziger Jahren immer mehr daran erinnerte, daß es eine asiatische Macht sei und nach einem eisfreien Hafen im Stillen Ozean strebte, sah sich durch die Vormachtstellung Japans bedroht. Die russische Haltung wurde durch Frankreich unterstützt, das in den Flitterwochen seines Bündnisses mit dem Zarenreiche durch dick und dünn mit ihm ging. Deutschland nahm die Gelegenheit wahr, um durch einen »ostasiatischen Dreibund«, d. h. durch ein gemeinsames Vorgehen mit Rußland und Frankreich die Gefährlichkeit des französisch-russischen Bündnisses für die Machtstellung Deutschlands abzuschwächen. Es schloß sich also der Flottendemonstration Frankreichs und Rußlands gegen Japan an und übte zusammen mit diesen Mächten einen Druck auf Japan aus. Die Folge dieser Aktion war, daß Japan die wertvollere Hälfte seiner Beute, Port Arthur, die Halbinsel Liaotung, an China zurückgab und sich mit der Insel Formosa und einer Kriegsentschädigung von 600 Millionen Mark begnügte. Natürlich wollte Deutschland aus seiner Einmischung in die ostasiatischen Wirren mehr als die Verbesserung seines Verhältnisses zu Rußland herausschlagen. Wie die Diplomatie anderer Staaten, nahm auch die deutsche an, daß die Niederlage Chinas im Kriege mit Japan den Anfang vom Ende der chinesischen Unabhängigkeit bedeute. In diesem Glauben wurde sie durch die inneren Wirren bestärkt, die in China nach dem Kriege entstanden. Daß sie das Erwachen von Elementen bedeuteten, die Chinas Entwicklung beschleunigen könnten, war ein zu tief eindringender Gedanke, als daß die deutsche Diplomatie ihn hätte fassen können. Die deutsche Regierung begann sich mit dem Gedanken an eine Festsetzung in China vertraut zu machen. Ein Teil des mit allen Schätzen der Natur ausgestatteten Reiches, mit seiner arbeitsamen Bevölkerung hatte auch in den Augen der Bourgeoisie eine Anziehungskraft, wie sie keine tropische Kolonie haben konnte. Zwar konnte man sich bei diesem Unternehmen nicht auf die Übervölkerung Deutschlands berufen, weil China selbst dicht bevölkert ist. Aber die Aussichten, die der chinesische Markt der deutschen Industrie zu eröffnen schien, hatten in den Augen der Bourgeoisie eine um so größere Bedeutung. Betrug doch die deutsche Ausfuhr nach China, die in den Jahren 1881 bis 1885 erst 11 Millionen Mark betragen hatte, in den Jahren 1886 bis 1890 auf 19 Millionen Mark gestiegen war, im Jahre 1895 schon 31 Millionen Mark; die Einfuhr aus China war in derselben Zeit von 11 auf 50 Millionen Mark gestiegen.[19] Und welche Aussichten eröffneten sich den Banken, wenn Deutschland in China Fuß fassen würde: der Eisenbahnbau, der Hafenbau würde in diesem kultivierten Reiche in einem ganz anderen Tempo fortschreiten, als in den Sandbüchsen und Sümpfen Afrikas. Als nun die Nachricht kam, daß in der Provinz Schantung zwei deutsche Missionäre getötet waren, besetzte die deutsche Regierung, die jahraus jahrein duldete, daß deutsche Bürger an der russischen Grenze niedergeknallt wurden, »zur Sühne« der Verbrechen am 14. November 1897 den Hafen Kiautschau. Sie nützte » den gewünschten Anlaß« aus, wie der nationalliberale Geschichtsschreiber Egelhaaf[20] sich offenherzig ausdrückt. Mit der Pachtung des chinesischen Hafens trat Deutschland endgültig in die Bahnen der Weltpolitik ein.
Dasselbe Einschwenken ins Fahrwasser des Imperialismus vollzog sich auch in einem anderen Brennpunkte der Weltpolitik: im nahen Osten. Die neuzeitlichen deutsch-türkischen Handelsbeziehungen,[21] die kurz nach der Kontinentalsperre angefangen hatten und über Wien gegangen waren, verminderten sich seit den dreißiger Jahren. Die Dampfschiffahrt, die damals aufkam und viel billiger als der Landverkehr war, lag zuerst ganz in englischen Händen, was den alten Vorsprung Englands im Levantehandel noch vergrößerte. Als später deutsche Schiffe von der Nordsee her durch das Mittelmeer nach Konstantinopel zu gehen begannen, waren sie angesichts der politischen und maritimen Schwäche Deutschlands bis in die sechziger Jahre viel mehr als die französischen und englischen der Gefahr ausgesetzt, durch die marokkanischen, algerischen und tunesischen Piraten beraubt zu werden. Die Tatsache, daß Deutschland gar keine Rolle in den großen Entscheidungen über die Geschichte des Orients, im Krimkrieg und bei der Auseinandersetzung von 1877 gespielt hatte, verminderte auch die Chancen der deutschen Konkurrenz. Erst nach dem Berliner Kongreß beginnt die deutsche Industrie ihren Platz in der Türkei zu erobern. Von Einfluß war hier nicht nur das Wachsen des Ansehens des deutschen Kapitals nach der Einigung des Reiches, nicht nur sein allgemeiner rapider Aufschwung, sondern in erster Linie der Bau der vom Baron Hirsch begründeten Bahnlinien in der europäischen Türkei (1874 bis 1888) und der Bau der anatolischen Bahnen durch deutsche Banken, der den Orient mit den Erzeugnissen der deutschen Industrie bekannt machte. Das Aufkommen verschiedener Gesellschaften, die sich die Pflege des Orientexportes zur speziellen Aufgabe machten, wandte die Aufmerksamkeit des deutschen Kapitals dem Orient zu. Nicht ohne Einfluß war dabei die Bestechung der Presse, die die Bahnkonzessionäre, wie Baron Hirsch, in großem Maße betrieben (Hirsch gab 101,8 Millionen Franken von 356,4 für die Preßreklame seiner Türkenlose aus[22]). Die beiden Kaiserreisen nach der Türkei vom Jahre 1888 und 1898 waren also schon ein Ausfluß dieses gestärkten Interesses des deutschen Kapitals für die Türkei und ebneten ihm ihrerseits die Wege durch Anknüpfung neuer politischer Beziehungen zum Orient. Der neue Kurs unterstützte diese sich anbahnende Änderung des Verhältnisses des deutschen Kapitals zu der Türkei, indem er sich zum Schutzherrn des absolutistischen Hamidschen Regiments aufwarf und ihm seine aktive diplomatische Beihilfe während der armenischen Greuel und des Griechisch-Türkischen Krieges gegen England gewährte. Der Erfolg dieser Politik war die Erteilung der Bagdadbahnkonzession durch den Sultan (in provisorischer Form im Jahre 1899) an ein deutsches Kapitalisten-Konsortium, das sich um die Deutsche Bank gruppiert. Diese Bahn mußte zusammen mit den anatolischen Bahnen ein gewaltiges Instrument des deutschen wirtschaftlichen Einflusses in der Türkei und dadurch des politischen Anrechtes auf das türkische Erbe werden, sobald es zur Aufteilung der Türkei kommen sollte. Daß aber diese zu den nahen Möglichkeiten gehörte, glaubte man vor zwölf Jahren allenthalben. Der Plan der Ausführung der Bagdadbahn stieß daher auf um so größere Hindernisse, als diese Bahn eine momentane Stärkung des türkischen Staates herbeiführen mußte. Denn sie ermöglichte rasche Truppentransporte, die zwar nach der damaligen Meinung nicht imstande sein konnten, die Auflösung der osmanischen Macht zu verhüten, doch aber den Aufteilungsprozeß erschweren und verlangsamen mußten. Gerade das entsprach aber eben den Interessen des jungen deutschen Imperialismus, der bei der Aufschiebung der Aufteilung inzwischen an Kräften zu gewinnen hoffte.
Der deutsche Ausbreitungsdrang hatte jetzt Ziele vor sich, für die sich weite Kreise der Bourgeoisie begeistern konnten. Und die Begeisterung für Weltpolitik wurde durch den Anblick des Zusammenbruchs alter Kolonialländer, und des Aufkommens neuer angespornt. Im Jahre 1898 verschwindet das alte Spanien aus der Zahl der Kolonialmächte, und das junge Amerika, einst selbst eine Kolonie, streckt seine Tatzen nach dem Stillen Ozean aus. In Südafrika scheute England vor keinem Opfer zurück, um den Burenaufstand niederzuwerfen. Und wie die asiatischen Schwierigkeiten Englands Anfang der neunziger Jahre als Ansporn gedient hatten zur Eröffnung der deutschen Kolonialpolitik, so erwuchsen aus dem Kriege mit den Buren neue Hoffnungen für den jungen deutschen Imperialismus. »Vor vier Jahren – so führte Bülow am 11. Dezember 1899 im Reichstage aus – hat der Chinesisch-Japanische Krieg, vor kaum einem Jahre der Spanisch-Amerikanische Krieg die Dinge weiter ins Rollen gebracht, große tiefeinschneidende, weitreichende Entscheidungen herbeigeführt, alte Reiche erschüttert, neue ernste Fermente der Gärung in die Entwicklung getragen. Niemand kann übersehen, welche Konsequenzen der Krieg haben wird, der seit einigen Wochen Südafrika in Flammen setzt. Der englische Premierminister hatte schon vor längerer Zeit gesagt, daß die starken Staaten immer stärker und die schwachen immer schwächer werden würden. Alles, was seitdem geschehen ist, beweist die Richtigkeit dieses Wortes. Stehen wir wieder vor einer neuen Teilung der Erde, wie sie vor gerade hundert Jahren dem Dichter vorschwebte? Ich glaube das nicht, ich möchte es namentlich noch nicht glauben. Aber jedenfalls können wir nicht dulden, daß irgend ein fremder Jupiter zu uns sagt: Was tun? Die Welt ist weggegeben. Wir wollen keiner fremden Macht zu nahe treten, wir wollen uns aber auch von keiner fremden Macht auf die Füße treten lassen, und wir wollen uns von keiner fremden Macht beiseite schieben lassen, weder in politischer noch in wirtschaftlicher Beziehung.«
Das Ziel des deutschen Imperialismus war gesetzt. Himmelhochjauchzend stürzte er sich an die Arbeit, um den Kämpfen gerüstet entgegenzueilen.
2. Die deutsche Flotte.
Der deutsche Imperialismus hat sich seine Seewaffen erst schaffen müssen. Die kontinentale Macht, das stärkste Landheer Europas, konnte für seine Zwecke nicht genügen, da es ihm um die Durchsetzung seines Willens in Gebieten ging, denen er mit seiner Landmacht näher zu rücken nicht imstande war. Diese Aufgabe der Flotte ergibt sich direkt aus dem Wesen der imperialistischen Politik, wie im besonderen aus der Lage des deutschen Imperialismus. Als er nur einige Kolonien besaß, genügten ihm die Kreuzer, die die kleine deutsche aus der preußischen Flotte hervorgegangene Küstenschutz-Flotte besaß. Sie dienten zu Flottendemonstrationen, die den jungen kolonialen Erwerbungen die Macht des Deutschen Reiches vorführen sollten oder zur Ausübung eines Drucks auf die kleinen »Mächte«, die oft etwas respektlos mit deutschen Bürgern umzuspringen wagten. Seit dem Aufkommen des Torpedos hielten die deutschen Marinekreise große Schlachtschiffe überhaupt für einen Luxus fehlgeschlagener Experimente. Das änderte sich gründlich, als bei der deutschen Regierung und der Bourgeoisie der Glaube aufkam, die Welt stehe vor einer neuen Teilung. Mit Küstenschutz und Kreuzern konnten sie nunmehr nicht auskommen. Sollte der deutsche Imperialismus bei einer eventuellen Teilung Chinas oder der Türkei auf seine Rechnung kommen, so mußte er die Mittel besitzen, den anderen Mächten zu zeigen, daß man ohne ihn das Erbe nicht teilen durfte. Das Bestehen einer deutschen Schlachtflotte, die auch in weiten Meeren den Willen des deutschen Kapitals mit Nachdruck vertreten konnte, sollte also in erster Linie dazu dienen, dem deutschen Imperialismus eine Stimme zu geben im Rate der alten imperialistischen Mächte: im friedlichen Rate – wenn es sich um das Verschachern von Völkern und Ländern handelte, im Kriegsrate – wenn es galt, gemeinsam mit anderen imperialistischen Mächten auf Raub auszugehen, und endlich auf offener See, – wenn die älteren imperialistischen Staaten dem Ausbeutungsdrang des deutschen Imperialismus brüsk in den Weg treten würden. Diese letzte Aufgabe drückte die Flottenvorlage von 1899 in folgenden knappen Worten aus: »Deutschlands Schlachtflotte müsse so stark sein, daß ein Krieg auch für den seemächtigsten Gegner mit derartigen Gefahren verbunden sei, daß seine eigene Machtstellung in Frage gestellt werde.«
Aus diesen Aufgaben der deutschen Flotte ergab sich der Plan,[Anmerkungen 5] wie auch, daß sie Gefahren mit sich brachte, denen aus dem Wege zu gehen nicht mehr in den Kräften des deutschen Imperialismus lag, nachdem er den Weg des Flottenbaues betreten hatte. An der Spitze des Flottenplanes stand der Bau von großen Schlachtschiffen, die den Feind in offener See angreifen oder abwehren konnten. Kreuzer sollten den Aufklärungsdienst leisten, während große Kreuzer die Aufgabe hatten, auch gewaltsam, selbst auf die Gefahr des Kampfes hin, Fühlung mit der feindlichen Flotte zu erhalten, und selbständige Unternehmungen kleineren Staaten gegenüber zu übernehmen. Daraus folgte, daß der Flottenbau sich jeder wichtigeren technischen Erfindung, jeder größeren politischen Verschiebung anpassen mußte. Denn während die technischen Erfindungen die älteren Schiffskonstruktionen in bezug auf Geschwindigkeit und Widerstandskraft entwerteten, wies jede größere Verschiebung in den Mächteverhältnissen der Flotte neue Aufgaben an. So setzte der deutsche Imperialismus mit seiner ersten Flottenvorlage eine Schraube ohne Ende in Bewegung. Alle seine Versicherungen, der auf Jahre hinaus angelegte Flottenplan sei für die Regierung bindend, waren bewußte Unwahrheiten. Denn wäre die Regierung, aus Rücksicht auf den Flottenplan, bei den alten Kriegsschiffen geblieben, während in England seit 1905 die Riesendreadnoughts gebaut wurden, so hätte sie dem Bestehen der Flotte jeden Sinn genommen, was vom Standpunkt der imperialistischen Politik natürlich unmöglich war. Die Schnelligkeit, mit der die deutsche Regierung der britischen im Bau der Dreadnoughts nachkam, obwohl »im Rahmen des Flottenplanes« jedes Kriegsschiff von nun an fast doppelt so viel kosten sollte, zeigte dies mit genügender Klarheit. Dasselbe war der Fall bei der Vermehrung der Schiffszahl, je nachdem, ob die Regierung und die Bourgeoisie annahmen, daß sich Zeiten der imperialistischen Ernte näherten oder nicht. Der Amerikanisch-Spanische Krieg und die chinesischen Wirren beschleunigten die Annahme des zweiten Flottengesetzes.
Das Gesagte genügt zur Bewertung des Charakters der deutschen Flotte: sie ist eine Angriffswaffe des deutschen Imperialismus, ein Mittel zur Durchsetzung seiner Ziele, und gegen wen sie angewendet werden soll, wird von den Verhältnissen abhängen. Heute kann sie zur Unterstützung der Türkei gegen England, morgen zusammen mit anderen Flotten gegen die Türkei angewendet werden. Der deutsche Imperialismus ist es nicht, der die akute Kriegsgefahr geboren hat, aber sein Bestehen, wie das Bestehen der deutschen Flotte, beschwören die Gefahr herauf, daß Deutschland an allen Händeln teilnehmen wird, aus denen der Weltbrand entstehen kann.
Die Verfechter des deutschen Imperialismus, die oft mit einer herzerquickenden Klarheit sein Wesen offenlegen, halten es manchmal für nötig, mit der Miene eines Lämmchens den Charakter der deutschen Flottenpolitik zu verdunkeln. Sie tun es nicht so sehr, um dem Ausland Sand in die Augen zu streuen – dies wäre doch ein verlorenes Unternehmen, weil die französische und englische imperialistische Sippschaft aus eigenem Tun die Wege des Imperialismus kennt –, sondern aus Rücksicht auf das deutsche Kleinbürgertum, die Handelsbourgeoisie und alle jene Elemente, die kein direktes Interesse am Imperialismus haben, aber betrogen werden wollen, um imperialistische Politik zu treiben. So erzählen die Imperialisten, die deutsche Flotte sei gebaut worden, um den Handel Deutschlands zu schützen, um die Blockade der deutschen Küsten, ja die Landung fremder Flotten für den Fall des Krieges zu verhindern, – daß sie also ein reines Abwehrmittel sei. Wir übergehen gänzlich die Frage, was denn die Ursache eines Krieges Deutschlands mit den imperialistischen Mächten sein könnte, wenn nicht die Tatsache, daß Deutschland an der imperialistischen Raubpolitik teilnehmen, also andere Staaten oder Völker angreifen will, ein Beweis, daß es in Wirklichkeit selbst Angreifer sein muß, um vor Angriffen Furcht zu haben. Wir übergehen das alles, denn es ist leicht nachzuweisen, daß selbst dann, wenn Deutschland in die Lage der gekränkten Unschuld kommen könnte, die Flotte gar nicht imstande wäre, seinen Handel zu schützen. Deutschland besitzt 4675 Handelsschiffe, die den Handel mit allen Weltteilen unterhalten und nur 56 kleine und große Kreuzer; dabei besitzt es auf den Meeresstraßen, mit Ausnahme von Kiautschau, keine Kohlenstationen und keine marinistischen Stützpunkte. Was kann also den deutschen Handelsschiffen die Flotte nützen? Die deutschen Flottenpolitiker sind zu gute Fachleute, um dieses Argument ernst zu nehmen, und der Admiral Plüdemann erklärte ausdrücklich: »Man darf für den Handelsschutz nicht ein einziges Schiff, nicht einen Mann, nicht ein Geschütz verwenden, die für die Bekämpfung der feindlichen Flotte nutzbringend gemacht werden können. Man wird es den Kolonien und den Handelsschiffen überlassen, sich selbst durchzuhelfen«.[23]
Was nun die Absperrung der deutschen Küsten zum Zweck der Abschneidung der Zufuhr betrifft, so würde sich im Kriegsfall für die gegnerischen Mächte – hier kommt in erster Linie England in Betracht – die Notwendigkeit der Blockade schon dadurch erübrigen, daß sie die deutschen Handelsschiffe auf der See auffangen können. Wenn aber auch die Blockade für ihre Ziele notwendig wäre, so wäre doch ihre Durchführung sehr schwierig: sie würde, um wirksam zu sein, eine sehr große Anzahl von Schiffen erfordern. Ihre Durchführung würde auch die Interessen der Neutralen treffen und den eigenen Handel der blockierenden Macht in einem solchen Maße schädigen, daß es mehr als unwahrscheinlich ist, daß ihr die Bedeutung zugeschrieben werden kann, die ihr die offiziellen Flottenpolitiker beilegen, und das um so mehr, als schon der Ausbruch des Krieges die Industrie in großem Maße lahmlegt und der Verkehr auch ohne Blockade ruht. Was aber die Lebensmittel betrifft, die Deutschland meist vom Auslande bezieht, so ließen sie sich durch neutrale, an Deutschland angrenzende Staaten weiterbeziehen. Mit dem dritten Scheinargument, der Landungsgefahr, betreiben die Imperialisten einen direkten Schwindel. Erstens bieten die deutschen Küsten eine sehr schlechte Landungsgelegenheit für fremde Truppen, zweitens kennt die moderne Kriegsführung in den See-Minen, Unterseebooten viel billigere Küstenschutzmittel, als es die Flotte ist.
Die deutsche Flotte würde natürlich in einem Kriege auch als Abwehrmittel dienen, sie ist aber nicht zu diesem Zwecke gebaut worden. Der Geist der Offensive beherrscht jedes Machtmittel großer Staaten. Wie könnte es also anders bestellt sein bei einem Staate, der zu spät in die Reihe der imperialistischen Mächte eingetreten ist und mit Volldampf das Versäumte nachzuholen sucht? In drei Jahren hat die deutsche Bourgeoisie durchgesetzt, daß Deutschland, die stärkste Landmacht Europas, mit einem Ruck in die ersten Reihen der Seemächte getreten ist.
Am 17. März 1898 setzte der Reichstag, gegen die Opposition der Vertreter der Arbeiterklasse und eines Teiles des Kleinbürgertums, den Schiffsbestand der deutschen Flotte, abgesehen von den Torpedofahrzeugen, Schulschiffen, Spezialschiffen und Kanonenbooten, fest auf a) Verwendungsbereit: 1 Flottenflaggschiff, 2 Geschwader zu je 8 Linienschiffen, 2 Divisionen zu je 4 Küstenpanzerschiffen, 6 große Kreuzer, 16 kleine Kreuzer als Aufklärungsschiffe der heimischen Schlachtflotte, 3 große und 10 kleine Kreuzer für den Auslandsdienst; b) Materialreserve: 2 Linienschiffe, 3 große Kreuzer, 4 kleine Kreuzer. Aber schon am 14. Juni 1900 wurde der Schiffsbestand in folgender sprunghaften Weise erhöht: er sollte betragen 2 Flottenflaggschiffe, 4 Geschwader zu 8 Linienschiffen, 8 große Kreuzer, 24 kleine Kreuzer als Aufklärungsschiffe. Die Auslandsflotte sollte aus 3 großen und 10 kleinen Kreuzern bestehen; die Materialreserve aus 4 Linienschiffen, 3 großen und 4 kleinen Kreuzern.
Mit Hilfe einer bisher unerhörten Agitation der ganzen bürgerlichen Presse wurden die Waffen des deutschen Imperialismus geschaffen. Der Flottenverein, der zur Entfaltung einer Agitation für die Flotte ins Leben gerufen war, hatte in kurzer Zeit eine Viertel Million Mitglieder. Die deutschen Professoren, das unpolitischste Volk der Welt, zogen als Flottenagitatoren im Lande herum und lieferten dem Imperialismus »wissenschaftliche« Waffen. Unter dem Jubel des ganzen Bürgertums ging die deutsche Flotte vom Stapel. Zehn Jahre sind seit diesem Augenblick verflossen, fünf Milliarden hat der Bau der Flotte schon verschlungen. Wie sehen nun die Erfolge des deutschen Imperialismus aus?
10 Jahre deutscher imperialistischer Politik.
1. Die Weltlage und der deutsch-englische Gegensatz.
Das Einschwenken Deutschlands in das Fahrwasser der Weltpolitik, der Bau einer Flotte, die nicht zum Küstenschutz, sondern zur Teilnahme an den Entscheidungen in fernen Meeren bestimmt war, mußte selbstverständlich die internationale Lage von Grund aus ändern. Zwar war der Übergang Deutschlands von der kontinentalen zur Weltpolitik nur als eine von vielen ähnlichen Wandlungen in der kapitalistischen Welt vor sich gegangen, deren Ausdruck das Eingreifen der Vereinigten Staaten Nordamerikas in die Entwicklung Ostasiens, das Aufkommen der japanischen Macht usw. bildete. Aber die Tatsache, daß Deutschland die militärisch-stärkste Landmacht Europas ist – und Europa ist noch immer die Grundlage der Politik der imperialistischen Staaten geblieben – die Tatsache, daß es der stärkste und sich am schnellsten entwickelnde Industriestaat des Festlandes ist, hat seinem Eintreten in die Weltpolitik, seinem Streben, daß nichts in der Welt ohne sein Zutun geschehe, eine besondere Bedeutung verleihen müssen.
Zuerst beeinflußte das Eintreten Deutschlands in die Reihe der imperialistischen Staaten seine Stellung in Europa. Während Deutschland bisher den Ausbreitungsbestrebungen Rußlands auf dem Balkan, die sich mit den ähnlichen Bestrebungen Österreichs kreuzten, selbst uninteressiert gegenüberstand und sie ausnützen konnte zur Stärkung seiner diplomatischen Position, bekam es jetzt durch seine türkische Politik selbständiges Interesse an der Lösung der Orientfrage. Es konnte sich nicht mehr damit begnügen, den Appetit Rußlands und Österreichs auf den Balkan dazu zu verwenden, um in Österreich die Furcht vor einem Zusammenstoß mit Rußland zu stärken und das Bündnis mit Deutschland für die Donaumonarchie zur Notwendigkeit zu machen. Es mußte danach trachten, daß die Türkei weder von Rußland, noch von einer anderen Macht in ihren Lebensinteressen getroffen würde, weil sonst leicht die türkische Frage aufgerollt und entschieden werden konnte, bevor der wirtschaftliche Einfluß Deutschlands so stark war, daß bei einer eventuellen Teilung des türkischen Erbes auch Deutschland einen gehörigen Machtzuwachs bekommen könne. So verwandelte sich die Orientfrage, die Bismarck nicht einmal des Knochens eines pommerschen Grenadiers wert erschien, in eine der wichtigsten Fragen der deutschen Weltpolitik. Während Deutschlands auswärtige Politik seit dem Deutsch-Französischen Krieg vom Verhältnis zu Frankreich und Rußland beherrscht war, wird sie jetzt in entscheidendem Maße vom Verhältnis zur Türkei bestimmt.
Aber nicht nur die türkische Frage beginnt eine Rolle in der auswärtigen Politik Deutschlands zu spielen. Während es früher die kolonialen Ausbeutungsbestrebungen Frankreichs begrüßt hatte, um Frankreichs Aufmerksamkeit von seinem Gegensatz zu Deutschland, der unglückseligen Folge des Deutsch-Französischen Krieges abzulenken, bekam es jetzt ein selbständiges Interesse an allen Fragen der überseeischen Politik. Es mischte sich in die nordafrikanischen, südamerikanischen, ostasiatischen Angelegenheiten nicht nur dort, wo schon größere Interessen des deutschen Kapitals vorhanden waren, sondern überall da, wo nur das deutsche Kapital in der Zukunft ein Ausbreitungsfeld gewinnen konnte. Obwohl das deutsche Kapital selbst nach einer Monopolstellung strebt, wo eine solche winkt, trat die deutsche Regierung, wo keine Aussichten auf eine territoriale Fußfassung bestanden, für die »Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung« ein, und wo schon starke historisch entstandene Interessen anderer imperialistischer Staaten vorhanden waren, suchte sie durch Einmischung Entschädigungen auf anderen Gebieten zu erringen oder durch Verzicht auf sie die Hindernisse fortzuräumen, die von anderen Mächten einer aktiven deutschen Politik bereitet werden oder in ihren wichtigsten Ansatzpunkten bereitet werden konnten: in China und in der Türkei. Diese Politik der Einmischung in alle Welthändel brachte zwar dem deutschen Imperialismus immer neue Konflikte ein, aber gleichzeitig gab sie ihm Trümpfe in die Hand, die er zur Stärkung seiner europäischen Position oder zur Unterstützung seiner weltpolitischen Hauptziele ausnützen konnte. Daß dabei manchmal der Faden dieser komplizierten Politik zu reißen drohte, und daß Deutschland in Situationen kam, wo es wegen Fragen, die selbst vom imperialistischen, geschweige denn vom nationalen Standpunkte keine Lebensfragen waren, vor einem Kriege stand, wird noch weiter gezeigt werden.
Aber außer den mannigfachen Konflikten mit Frankreich, Rußland, Amerika usw., in die Deutschland in den 10 Jahren seiner imperialistischen Politik verwickelt worden ist, führte diese Politik den deutsch-englischen Gegensatz herbei, der immer größeren Umfang annahm, dem deutschen Imperialismus schwer überwindbare Hindernisse in den Weg legte und schließlich in eine akute Kriegsgefahr ausmündete.[Anmerkungen 6]
Englands Interessen leiden unter dem Wachstum der allgemeinen imperialistischen Tendenz. Bis in die achtziger Jahre hinein beherrschte Englands Industrie den Weltmarkt und Englands Flotte die Bahnen des Weltverkehrs, das Meer. Zwar drohte ihm die feudale Ausbreitung Rußlands in Asien und die imperialistische Frankreichs in Nordafrika, aber keiner dieser Gegner konnte England gefährlich werden. An den Grundlagen der russischen Ausbreitung, an der Herrschaft der feudalen russischen Bureaukratie, deren Interessen die Triebkraft dieser Bestrebungen bildeten, nagte der Wurm der sozialen Entwicklung: der Kapitalismus zersetzte die soziale Ruhe des Zarenreichs, die Grundlage der Ausbreitungspolitik des Zarismus. Wenn er auch manchmal, um die inneren Unruhen zu beschwichtigen, sich aktiver auf auswärtige Abenteuer warf, so mußte ihm dabei auf die Dauer der Atem ausgehen. Das Fehlen einer russischen Flotte verminderte noch dazu die Gefahr, und als Rußland zum Bau einer großen Flotte überging, entstand gleichzeitig die Macht, die England die Austragung des englisch-russischen Gegensatzes ersparen sollte: das moderne Japan. Der koloniale Gegensatz zu Frankreich war angesichts der schwachen Volksvermehrung und des langsamen Tempos der ökonomischen Entwicklung dieses Landes für England nicht gefährlich, obwohl er in seinem Verlauf manche ernste Situationen schuf. Im deutschen Imperialismus jedoch fand England einen Gegner vor, mit dem man ernstlich rechnen mußte. Die deutsche industrielle Ausbreitung bedrohte das englische Kapital selbst in seinem eigenen Hause, was ihm um so gefährlicher werden konnte, als es den Höhepunkt seiner Entwicklung schon überschritten hatte und in der Anwendung der wissenschaftlichen industriellen Methoden nicht mehr auf der Höhe der Zeit stand.[24] Dazu kam der Gärungsprozeß im britischen Weltreiche, dessen einzelne Teile, wie Südafrika, Australien, Kanada eine selbständige ökonomische Entwicklung begannen, deren Ergebnis leicht für das englische Kapital gefährlich werden kann.[Anmerkungen 7] Geographisch zerstreut, konnten sie nur durch starke ökonomische und politische Interessenbande an das Mutterreich geknüpft werden. Werden aber diese Bande nicht durch das Aufkommen einer selbständigen Industrie in den Kolonien gelockert? Die englische Bourgeoisie ist sich dieser Tendenzen, die auf die Auflösung des britischen Weltreiches hinarbeiten, bewußt, und sie sucht neue Formen des Verhältnisses zu ihren Kolonien zu finden, die die Gefahr aus der Welt schaffen könnten. Der Gedanke an eine zollpolitische Zusammenfassung des britischen Weltreiches, an seine strammere Bindung durch gemeinsame parlamentarische Institutionen, eine gemeinsam zu erhaltende Flotte, bahnt sich den Weg, aber er trifft auf große Widerstände in der englischen Handelsbourgeoisie, die von der Parole: die ganze Welt ist meine Werkstatt, nicht lassen will, auf Widerstände in den Kolonien selbst. Jahre sind nötig, voll Krisen und Reibungen, bis der imperialistische englische Gedanke in irgend einer Form realisiert werden könnte, wenn er überhaupt jemals verwirklicht werden soll, was angesichts der großen sozialen und geographischen Unterschiede zwischen England und seinen Kolonien überhaupt zweifelhaft ist. Da taucht die Frage auf: wird die hungrige imperialistische Macht, wird Deutschland diese gefahrvolle Übergangszeit nicht ausnützen, um sich auf Kosten der englischen Weltmacht, oder anderer schwächerer Mächte eine Position in der Welt zu erobern, die der englischen gefährlich werden könnte? Ein Angriff auf die am meisten entwickelten, von Weißen bewohnten englischen Kolonien ist nicht zu befürchten, denn weder Kanada noch Australien würden eine Fremdherrschaft dulden, aber eine Ausbreitungsmöglichkeit auf Kosten der afrikanischen und asiatischen Besitzungen Englands und anderer schwächerer Kolonialmächte, wie Holland, Belgien, Portugal, war nicht von der Hand zu weisen. Aber schon die Ausnützung von Verwicklungen im britischen Kolonialreich zur Erringung maritimer Stützpunkte an den bisher von England beherrschten Seewegen, bedroht die Weltmacht Englands. Während des Burenkrieges blieb Deutschland neutral; es ließ sich abspeisen mit einem Wechsel auf die afrikanischen Kolonien Portugals und mit der Gewährung der Ellenbogenfreiheit für seinen chinesischen Vorstoß. Aber in dieser Zeit befand sich der Ausbau der deutschen Flotte erst in seinen Anfängen. In der Zukunft konnte der deutsche Imperialismus dem englischen noch gefährlicher werden.
Diese Erwägungen riefen in England große Beunruhigungen hervor. Die »deutsche Gefahr« muß überwunden werden, erklärten die imperialistischen Kreise. Sie begannen, dem deutschen Imperialismus Steine in den Weg zu legen und ihn die Macht Englands fühlen zu lassen, und zu gleicher Zeit versuchten sie, eine Verständigung mit ihm anzubahnen. Diese von Chamberlain, dem Haupte des englischen Imperialismus am Anfang dieses Jahrhunderts gemachten Annäherungsversuche konnten aber aus leicht faßbaren Gründen zu keinem positiven Ergebnis führen.
Die Annäherung an England mußte das deutsch-russische Verhältnis stören, das angesichts des nahenden ostasiatischen Abenteuers und der schmachvollen Dienste, die die deutsche Junkerregierung dem Zarismus im Kampfe gegen die russische revolutionäre Bewegung geleistet hatte, sehr »herzlich« geworden war. Der deutschen Regierung war an diesem Verhältnis sehr gelegen, da sie in dem Zarismus die Vormacht der europäischen Reaktion sah, da sie in ihrer Anbetung der brutalen Kraft an Rußlands Sieg in der ostasiatischen Krise glaubte, und durch ein gutes Verhältnis zu Rußland dem französischen Gegner die Hoffnung auf eine Unterstützung seitens des Zarismus nehmen wollte. Aber nicht nur diese Erwägungen hielten den deutschen Imperialismus von einer Annäherung an England zurück. Er wußte wohl, daß er bei einer solchen Annäherung nur mit einem Trinkgeld abgespeist werden würde. Er war noch schwach, und nur der Vollbesitz von Kraft konnte ihm in den kapitalistischen Machtkämpfen Gehör verschaffen und die verbündeten wie die verfeindeten Staaten nötigen, den Interessen des deutschen Imperialismus Rechnung zu tragen.
Der deutsch-englische Gegensatz blieb also chronisch. Der deutsche Imperialismus begann ihn zuerst in der Türkei zu spüren, worauf wir noch weiter ausführlich zurückkommen; aber bald überzeugte er sich, daß er ihm auch in Europa gefährlich werden konnte. Im Jahre 1904 einigte sich der englische Imperialismus mit dem französischen über die nordafrikanischen Fragen, nachdem es sich gezeigt hatte, daß von einem Übereinkommen mit Deutschland keine Rede sein konnte. Frankreich erkannte die Stellung Englands in Ägypten an, und England gab seine Zustimmung zu den marokkanischen Plänen Frankreichs. Dieses Übereinkommen leitete eine Verständigung der beiden Staaten ein, die die Schwächung des deutschen Imperialismus bezweckte. Die Verständigung war für den englischen und französischen Imperialismus um so nötiger gewesen, als die Niederlage Rußlands im Kriege mit Japan Deutschland von dem Druck an seiner östlichen Grenze befreit und seine Aktionskraft nach außen hin verstärkt hatte. Um sie im Zaume zu halten, begann England, das durch das Bündnis mit Japan vom Jahre 1912 von seinen ostasiatischen Sorgen befreit worden war und seine Kräfte gänzlich auf die Austragung des Gegensatzes zu Deutschland konzentrieren konnte, die Politik der Einkreisung Deutschlands. Zu diesem Zwecke schloß es auch mit Rußland, das nach der Niederlage in der Mandschurei und auf den Schlachtfeldern der Revolution England in Asien nicht mehr gefährlich war, ein Abkommen, in dem es Nordpersien als russische Einflußsphäre anerkennt. Dieses Trinkgeld verhütete die Annäherung des geschwächten Rußlands an Deutschland und führte den Zarismus in die Arme Englands. So entstand die Tripelentente, als Gegengewicht zum Dreibund. Nun konnte sich England an die Arbeit machen. Es versuchte einerseits Rußland wegen der Balkanfrage in einen Konflikt mit Österreich zu verwickeln und andererseits den Gegensatz Frankreichs zu Deutschland zu vertiefen. Im ersten Falle konnte es zu einem Kriege zwischen Rußland und Österreich kommen, der Deutschland und Frankreich als Verbündete der beiden Staaten in Mitleidenschaft ziehen mußte. Das Resultat hätte, gleichviel auf wessen Seite der Sieg ausgefallen wäre, die Kräfte Deutschlands wenn nicht aufgerieben, so doch auf Jahre hinaus in Europa festgehalten. Der deutsche Imperialismus hätte dann dem englischen lange Zeit keine Schwierigkeiten bereiten können. Im zweiten Falle hätte vielleicht auch England in die kriegerische Auseinandersetzung Deutschlands mit Frankreich eingreifen müssen, es hätte aber eine leichte Arbeit gehabt: während die Landkräfte Deutschlands sich mit denen Frankreichs hätte messen müssen, konnte England seine Überlegenheit zur See zur Vernichtung der deutschen Flotte ausnützen.
Dreimal stand Europa am Rande des Krieges: Während des russisch-österreichischen Konfliktes im Jahre 1909 und während der Marokkokrisen im Jahre 1906 und 1911. Beide Male zeigte sich jedoch, daß weder Rußland noch Frankreich gewillt waren, den Gegensatz zu Deutschland bis zum Kriege zu treiben, um dem englischen Imperialismus die Sorgen zu verscheuchen. Rußland gedachte seiner Schwäche, ging einem Konflikt mit Österreich aus dem Wege und verpflichtete sich im November 1910 in Potsdam, an keinen Machinationen gegen Deutschland teilzunehmen. Frankreich verständigte sich ein Jahr später mit Deutschland über die Marokkofrage, wodurch auf eine Zeitlang jedes konkrete Streitobjekt zwischen dem deutschen und französischen Imperialismus verschwindet.
Der deutsche Imperialismus ließ sich nicht kleinkriegen. Er hat jahrelang gerüstet und steht nun dem englischen zwar nicht gleich stark gegenüber, jedenfalls aber in solcher Stärke, daß die Austragung des deutsch-englischen Gegensatzes auch für England nicht ohne sehr ernste Gefahren möglich wäre. Der deutsche und der englische Imperialismus stehen fortgesetzt vor der Gefahr des Zusammenstoßes. Und weil sie beide fühlen, welche furchtbare Verantwortung sie bei der Entscheidung dieser Frage auf sich nehmen, versuchen sie diesseits und jenseits des Kanals dem Volke einzureden, daß seine Lebensinteressen in Gefahr stehen, um auf diese Weise die Verantwortung für ihre Katastrophenpolitik dem Volke aufzubürden.
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, welche Interessen den deutsch-englischen Gegensatz geschaffen haben. Es sei hier noch gestattet, diese Ausführungen durch eine knappe sachliche Zusammenfassung der in Betracht kommenden Momente zu ergänzen, die Karl Kautsky im Jahre 1910 in der Mai-Nummer des englischen Parteiblattes » Justice« den Kriegshetzern ins Stammbuch schrieb:
»Die Verfechter der Seerüstungen in Deutschland begründen sie damit, daß Deutschland zur See stark sein müsse, um seinen auswärtigen Handel zu schützen, ohne den seine Industrie nicht existieren könne. Andererseits behaupten die Verteidiger der Seerüstungen Englands, ihr Land müßte zur See übermächtig sein, weil ihm sonst im Falle eines Krieges die Lebensmittelzufuhr abgeschnitten werde. Außerdem sei Deutschland ein Land politischer Unfreiheit, und England laufe Gefahr, wenn es nicht zur See Sieger bleibe, von einer Invasion Deutschlands betroffen und seiner Freiheiten beraubt zu werden.
Die Deutschen wie die Engländer, die so sprechen, sind beide gleich im Unrecht. Natürlich schädigt jeder Krieg Handel und Industrie, aber Englands Seemacht wäre nie imstande, die Grundlagen der Handelsblüte Deutschlands zu zerstören. Sie könnte höchstens die deutsche Reederei schädigen, aber nicht einmal während des Krieges den Handel Deutschlands unterbinden, da Deutschland zu viele Grenzen besitzt, die für Englands Seemacht unzugänglich sind. Die Grundlage der Handelsblüte Deutschlands bildet aber die Überlegenheit seiner Industrie, und diese wieder hängt ab teils von den natürlichen Hilfsmitteln Deutschlands und seiner geographischen Lage, namentlich aber von der Bildung und Arbeitsfähigkeit seiner Arbeiterschaft. Nur durch Deutschlands eigene verderbliche innere Politik könnte seine Industrie und sein Handel untergraben werden, nie durch die äußere Politik Englands, wie gewaltsam diese auch werden mag.
Ebensowenig wie Deutschland von England hat aber England von Deutschland zu fürchten. Um seine Lebensmittelversorgung zu sichern, braucht Großbritannien keine Übermacht zur See. Eine Änderung des geltenden Seerechts würde genügen, in der die Bestimmungen über Seeleute und Konterbande eine Feststellung erfahren, die Lebensmitteltransporte von der Beschlagnahme durch die Kriegführenden ausschließt. Wenn England nur will, kann es eine derartige Gestaltung des Völkerrechts erreichen.
Davon aber, daß Deutschland ein Stück Englands an sich reißt, oder Englands Freiheiten bedroht, davon könnte selbst im Falle einer deutschen Invasion keine Rede sein. Deutschland wird nicht einmal mit seinen Polen fertig und empfindet diese als Pfahl in seinem Fleische. Die deutsche Regierung hat kein Bedürfnis nach anderen fremden Untertanen, die nur eine Quelle der Schwäche, nicht der Kraft für sie würden. Andererseits gibt es kein Land, das dank seiner insularen Lage so sehr ein unzerreißbares Ganze bildet, wie England. Seit den Tagen der römischen Cäsaren ist bei allen Wechselfällen des Krieges nie ein Stück Englands in fremdem Besitz gewesen, Großbritannien kann man nur ganz oder gar nicht besitzen.
Die Freiheiten eines selbständigen Volkes durch äußere Gewalt anzutasten, ist aber im 20. Jahrhundert nicht mehr möglich. Es ging schon vor 40 Jahren nicht mehr. Frankreich wurde von Deutschland völlig niedergeworfen, trotzdem vermochten Bismarck und Wilhelm nicht, Frankreich die Monarchie aufzuzwingen. Gerade der unglückliche Krieg brachte Frankreich die Freiheit, die Republik. Und heute ist die deutsche Regierung kaum noch imstande, das eigene Volk im Zaume zu halten, das nach mehr Freiheit verlangt. Von ihr hat das englische Volk für seine Freiheit nichts zu fürchten.«
Nicht um die Interessen des Volkes, sondern um die des ausbreitungslustigen Kapitals handelt es sich bei dem englisch-deutschen Gegensatz, wie bei allen anderen Konflikten, die der deutsche Imperialismus in den 10 Jahren seines Bestehens auszufechten gehabt hat. Eine Übersicht dieser Kämpfe an der Hand konkreter Tatsachen wird nicht nur diese Tatsache bestätigen, sondern in Ergänzung an diesen allgemeinen Ausführungen die Kraft des deutschen Imperialismus, die Größe seiner Erfolge zu prüfen erlauben, und erst nach Erledigung dieser Fragen wird die Feststellung der weiteren Entwicklungstendenzen möglich sein.
2. Das deutsche Kapital in China.
In China[25] schien zu Ende des vorigen Jahrhunderts dem deutschen Imperialismus die Geschichte tüchtig in die Hände zu arbeiten. Der Japanisch-Chinesische Krieg erschütterte das Reich der Mitte in seinen Grundlagen. Die chinesische Bureaukratie und die Kreise, aus denen sie sich rekrutierte, verloren ihre bisherige Geistesruhe: es wurde ihnen klar, daß eine ernste Gefahr im Anzuge war. Jüngere Kräfte, die auf den Kaiser Einfluß hatten, forderten sofortige weitgehende Reformen auf sozialem und politischem Gebiete; die Zentralisierung des Staates und die allmähliche Einführung des Parlamentarismus wurde von ihnen auf die Tagesordnung gestellt. Natürlich stemmten sich die Nutznießer des alten Systems, die höchsten bureaukratischen Kreise in Peking, wie die fast unabhängigen Provinzmachthaber aus allen Kräften diesen Forderungen entgegen, und die alte Kaiserin-Witwe stand an der Spitze der reaktionären Cliquen. Aber auch sie fühlten, daß man in alter Weise nicht weiter regieren konnte. Li Hung Tschang, der Leiter der chinesischen Politik, wandte sich bei seinem Besuch in Deutschland im Jahre 1896 an Bismarck mit der Frage: was China tun müsse, um kräftig auf den Beinen zu stehen? »Eine Armee bilden und damit die Staatsgewalt herstellen, ein anderes Mittel außer diesem gibt es nicht … Nur muß man vorher auf Straßen bedacht sein, auf denen Truppen fortbewegt werden können,« lautete die Antwort.[26] Aber wie niemand über seinen eigenen Schatten springen kann, so konnte die chinesische Bureaukratie nicht gegen ihr eigenes Interesse die zentrale Staatsgewalt stärken, und noch viel weniger China wirklich auf ein modernes Geleise bringen. Statt schleunigst ans Werk zu gehen, nahm sie den Kampf gegen die Reformpartei auf, der so mit der Niederlage der letzteren endete. Die Kaiserin-Witwe riß die Zügel der Regierung an sich und sperrte den reformfreundlichen Kaiser in einen Harem ein. Zu gleicher Zeit brachen Volksunruhen aus. Die Besetzung Kiautschaus durch Deutschland, Port Arthurs durch Rußland, Wei-hei-weis durch England, der Beginn von Eisenbahnbauten, das immer frechere Hervortreten christlicher Missionare brachte die chinesischen Massen in Erregung. In der Hauptstadt Chinas kam es zu Unruhen, die mit der Ermordung des deutschen Gesandten und der Belagerung der Europäer endeten. Die Großmächte ließen sofort ihre Truppen einmarschieren; die fast gänzlich desorganisierte und veraltete Armee wurde aufs Haupt geschlagen, der Hof mußte aus Peking flüchten. Aber der Wunsch des deutschen Imperialismus, der von einer Besetzung des Hinterlandes von Kiautschau, der Provinz Schantung träumte, ging nicht in Erfüllung, da die Mächte die chinesische Frucht noch nicht für reif zum Aufteilen hielten. Ein Resultat aber hat der Feldzug doch gezeitigt. Die deutschen Truppen erfüllten das Geleitwort Wilhelms II.: »Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht«, und eroberten für den deutschen Imperialismus die Gleichberechtigung im Plündern, Sengen und Morden.
Die Entwicklung der ostasiatischen Verhältnisse erlaubte keine weitere Einmischung zum Zweck territorialer Erwerbungen. Vier Jahre nach der China-Expedition brach der Russisch-Japanische Krieg aus. Die Gefahr, vor die die alten kapitalistischen Staaten und das mit ihnen marschierende Rußland China gestellt hatten, bedrohte auch die Zukunftspläne Japans.[27] In dem jungen ostasiatischen Reiche wirkten zwar noch keine modernen kapitalistischen Ausbreitungstriebe. Es hatte eine junge kapitalarme Industrie, der es noch nicht gelungen war, den tief in der Naturalwirtschaft steckenden Bauernmarkt zu erschließen. Aber die von der Regierung durch hohe Zölle und Zuwendungen treibhausmäßig gezüchtete japanische Industrie suchte eben infolge der nur langsam sich entwickelnden Aufnahmefähigkeit des inneren Marktes nun auswärtige Märkte an sich zu reißen. Dazu kam noch die Furcht der leitenden japanischen Kreise, daß sie in der Zukunft vor die Tatsache gestellt werden könnten, sich bloß auf ihre kleinen Inseln, die schon jetzt 50 Millionen Menschen ernähren, beschränken zu müssen, und daß das japanische Kapital keinen genügenden Raum in der eigenen Heimat vorfinden würde. Darum tauchte in Japan schon seit den ersten Tagen der Europäisierung der Gedanke auf, an der entgegengesetzten Küste des Japanischen und Gelben Meeres festen Fuß zu fassen. Das Anrücken Rußlands von Norden her, die Absichten Deutschlands auf die Provinz Schantung, der englische Appetit nach dem Jangtsetal, der amerikanische Stützpunkt auf den Philippinen, – das alles war eine Mahnung für Japan, vorzugehen, solange es noch Zeit war. So kam es zum Russisch-Japanischen Kriege, der mit dem gänzlichen Zusammenbruch Rußlands, mit der Festsetzung Japans auf dem ostasiatischen Festlande endete. Der Russisch-Japanische Krieg hat das Aufkommen des neuen China[28] beschleunigt, aber es wäre ein Fehler, anzunehmen, daß er es verursacht hat. Unter seiner erschütternden Einwirkung kristallisierte sich alles das, was von der sozialen Entwicklung Chinas seit dem Chinesisch-Japanischen Kriege geschaffen worden ist. Die Einfuhr Chinas, die im Jahre 1890 640 Millionen Mark betrug, belief sich im Jahre 1909 auf 1 Milliarde Mark, die Ausfuhr wuchs von 400 Millionen im Jahre 1890 auf 800 Millionen im Jahre 1909. Wichtiger als dies ist die Tatsache, daß die chinesische Ausfuhr nicht mehr aus bloßen Rohstoffen besteht, sondern auch schon aus Produkten der jungen chinesischen Industrie, die auch einen immer mehr wachsenden Teil des chinesischen Konsums deckt. China besitzt schon eine Bourgeoisie, deren Spitzen bei ihren Reisen durch Europa, Amerika und Japan die Formen der Kapitalherrschaft kennen gelernt haben. Sie begnügt sich jetzt nicht mehr mit dem Streben, die Eroberungspläne des europäischen Kapitals zu durchkreuzen, sie will jetzt die Regierung in ihre Hände bekommen. Sie entwickelt eine eifrige Propaganda, um die nach altem Brauch ohne Nutzen im Versteck gehaltenen Schätze in den Verkehr zu bringen. Sie fordert im Namen der nationalen Industrie die Auslieferung des Bahnbaues in ihre Hände, sie verlangt von der Regierung bei der Verteilung der Konzessionen an Ausländer, daß sie chinesische Ingenieure beschäftigen, sie sendet ihre Söhne zwecks technischer Studien nach Europa, Amerika und Japan. Und es gibt keinen einzigen Forscher, der, aus China zurückgekehrt, nicht erklären würde, daß die ökonomische Selbständigkeit der chinesischen Bourgeoisie mit jedem Monat zunimmt. Zum Kampfe gegen die Bureaukratie hat sie im Handumdrehen eine große Presse geschaffen, die den Haß gegen die Mandschuherrschaft, mit ihrer Vettern- und Lotterwirtschaft predigt. Um die Bourgeoisie sammelt sich nicht nur die junge chinesische Intelligenz, die ihren linken Flügel bildet, sondern auch das Stadtvolk, das in ihr, wie es in den europäischen Revolutionen des vorigen Jahrhunderts der Fall gewesen ist, die Vertreterin der Nationalinteressen sieht und nicht eine um ihre Herrschaft kämpfende Klasse. Während ihr linker Flügel, die Intelligenz, geheime terroristische Gesellschaften bildet und den Volksaufstand predigt, sucht die Bourgeoisie auf legalem Wege zur Herrschaft zu kommen. Die oppositionelle Bewegung der Bourgeoisie nötigte die Regierung zu Zugeständnissen. Nach der schrecklichen Erniedrigung Chinas durch die Mächte im Jahre 1900 begann sie schon Reformen einzuführen. Der Gouverneur von Tschili, Juanschikai, der chinesische Bismarck, organisierte in seiner Provinz ein Heer nach europäischem Muster und unternahm später an der Spitze der Regierung die ersten Versuche in der Richtung der Zentralisierung der Finanzen und Heeresverwaltung, obwohl er auf jedem Schritt den Widerstand der 19 Gouverneure bewältigen mußte, die bisher wie selbständige Fürsten auf eigene Faust geschaltet und gewaltet haben. Aber selbst die Gefahr der Aufteilung Chinas kann die Bureaukratie nicht bewegen, sich freiwillig einer Quelle ihrer Einkünfte zu entäußern, wie sie die feudale Unabhängigkeit der Provinzen darstellte. Im Augenblick aber, da die von den Cliquen zerrissene Bureaukratie nicht imstande war, das Werk der Erneuerung Chinas zu vollbringen, begann der Druck von unten. Wie stark er war, beweist die Tatsache, daß die Regierung, die zuerst die Einberufung des Parlaments für das Jahr 1915 angekündigt hatte, den Termin verkürzen und vorbereitende Schritte zur Eröffnung tun mußte. Sie berief die Provinzlandtage und den Vorbereitungs-Reichstag ein, die die Vorstufen des chinesischen Parlamentarismus bilden sollen. Zwar bestehen sie teilweise aus Beamten und nur zu einem Teile aus Deputierten, die auf Grund eines Steuerzensus gewählt sind; trotzdem aber werden sie zum Sprachrohr der oppositionellen Bewegung und fordern energisch die Einberufung des Parlaments. Dreimal nach Peking gesandte Deputationen, die diese Forderung dem Throne überbringen sollten, bildeten eine stets in Peking wirkende Liga der Kammer um die Einberufung des Parlamentes.
Aber die Beschleunigung der Arbeiten zur Einberufung des Parlamentes konnte das Wachstum der revolutionären Bewegung nicht aufhalten. Diese schöpfte immer wieder neue Kräfte aus dem Zersetzungsprozeß des alten China, der sich in Hungersnöten äußerte, aus der Gier der chinesischen Bourgeoisie, den jetzigen Zuständen, die dem ausländischen Kapital die Vorherrschaft einräumen, möglichst schnell ein Ende zu bereiten, aus dem Bestreben der jungen Militärs, den dem Reiche drohenden Gefahren durch schnelle Maßregeln ein Ende zu bereiten. Nach einer Reihe von kleineren Aufständen bricht im Oktober 1911 in Südchina die Revolution aus; sie bereitet den Regierungstruppen eine Niederlage nach der anderen, verbreitet sich immer weiter, macht der Herrschaft der Mandschus ein Ende und rollt wieder die chinesische Frage in ihrem ganzen Umfange auf.
Diese seit dem Jahre 1900 andauernde Entwicklung erlaubte den Großmächten keine Einmischung in die chinesischen Angelegenheiten, wie sie am Ende des vorigen Jahrhunderts eingeleitet zu sein schien. Die zunehmende Gärung in China zwang zu großer Vorsicht, da man auf einen Widerstand stoßen konnte, der vor 10 Jahren unmöglich gewesen wäre. Dabei kämpften im Schoße der Regierungen verschiedene Ansichten über die Bedeutung der bevorstehenden Umwandlung Chinas. Ein Teil der Bourgeoisie Westeuropas und Amerikas wies auf den stark zunehmenden Anteil Chinas an dem Weltverkehr hin – im Jahre 1901 betrug er 1376,1, im Jahre 1909 2077,2 Millionen Mark –, und folgerte daraus, daß die Beschleunigung dieser Entwicklung auch den Anteil des europäischen Kapitals an der Ausbeutung Chinas entsprechend vergrößern würde. Man zog daraus den Schluß, daß es im Interesse des Kapitals liege, der Entwicklung Chinas keine Steine in den Weg zu legen und jedenfalls auf alle Pläne der Aufteilung Chinas zu verzichten. Ein anderer Teil der bürgerlichen Politiker wies darauf hin, daß Japans Lebensinteressen diese Macht zur Aneignung der Südmandschurei trieben, und daß Rußland an eine Ausbreitung in der Nordmandschurei, der Mongolei und dem Chinesisch-Turkestan denken müsse, da es bei einem wirtschaftlichen Wettstreit mit dem europäischen Kapital auf den Märkten des freien Chinas den kürzeren werde ziehen müssen. Ließen sich aber die Ausbreitungsgelüste Rußlands und Japans nicht eindämmen, so würden die anderen Mächte und in erster Linie Nordamerika, auch eingreifen, wodurch die chinesische Frage an demselben Wendepunkt angelangt sein würde, wie im Jahre 1900. Daran wurde nun die Mahnung geknüpft, sich in Bereitschaft zu halten, die verstärkt wurde durch die Furcht des europäischen Kapitals vor dem chinesischen, und durch die Erwägung, daß die chinesischen Volksmassen, einmal in Bewegung geraten, sich an den Vertretern des ausländischen Kapitals versündigen könnten. Und da das letztere sehr möglich erscheint, weil das chinesische Volk in dem europäischen Kapital seinen Ausbeuter und Unterdrücker sehen muß, so wird das europäische Kapital Vorkehrungen treffen, um in die Entwicklung der chinesischen Frage eventuell mit Waffenmacht eingreifen zu können. So steuerte das Schiff des europäischen Imperialismus in der chinesischen Frage ohne festen Kurs.
Was den deutschen Imperialismus betrifft, so zeigte er in seiner chinesischen Politik dieselbe Unbestimmtheit der Ziele wie der europäische überhaupt. Der im Jahre 1897 »gepachtete« Hafen Kiautschau sollte zum Bollwerk der deutschen Expansion in China ausgebaut werden. 150 Millionen Mark wurden für den Ausbau und die Verwaltung dieses Stützpunktes verwendet, ohne irgend welche ernsteren Ergebnisse zu zeitigen. Auf seine militärische Ausrüstung mußte man aus Rücksicht auf das erstarkende China verzichten, und als ökonomisches Einfallstor konnte er keine spezielle Bedeutung erlangen, weil die industriell vorgeschrittenen Provinzen in Südchina liegen. Zwar ist der Gesamthandel Kiautschaus auf 130 Millionen Mark gestiegen, aber die deutsche Ausfuhr nach Kiautschau war sehr gering und verminderte sich in dem Maße, wie der Ausbau des Hafens und der deutschen Verwaltungsgebäude beigelegt wurde. Im Jahre 1909 betrug die deutsche Einfuhr in Kiautschau 3,3 Millionen Mark und die Ausfuhr 147 000 Mark. Der Erfolg des ersten Schrittes Deutschlands auf dem Wege der territorialen Fußfassung in China war also lächerlich klein.
Ungeachtet dessen wiesen die deutsche Bourgeoisie und das deutsche Kapital jeden Gedanken an die Aufgabe Kiautschaus von sich, weil sie noch immer mit der Möglichkeit eines Zusammenbruchs der chinesischen Erneuerungsversuche und der Wiederkehr der Aufteilungspolitik rechnen. Das deutsche Kapital schafft sich angesichts dessen weltpolitisch das Anrecht, an der zukünftigen Teilung Chinas mitzuwirken. Es nimmt teil am Wettstreit der kapitalistischen Mächte auf allen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens Chinas. Aber die Konkurrenz der Mächte, die wie England durch ihre älteren Beziehungen zu China oder wie Japan und die Vereinigten Staaten Nordamerikas durch ihre geographische Lage einen Vorsprung auf dem chinesischen Markte besitzen, erlauben dem deutschen Kapital auch auf diesem Gebiete keine besonderen Erfolge. Der deutsche Anteil an dem Handelsverkehr Chinas ist zwar in dem letzten Jahrzehnt absolut gestiegen – er betrug im Jahre 1901 82,4; 1902 93; 1903 79; 1904 92; 1905 118; 1906 124; 1907 119; 1908 121; 1909 122 und 1910 161 Millionen Mark – aber relativ bedeuten diese Ziffern kein Wachstum: im Jahre 1901 betrug der Anteil Deutschlands am chinesischen Handel in Prozenten 5,99 und 1909 bloß 5,87. Berücksichtigt man nun auch, daß ein Teil der deutschen Ausfuhr durch England geht, also in den Handelsziffern Englands enthalten ist, so kann man dennoch von einem Vordringen des deutschen Handels in China nicht sprechen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Anteil des deutschen Kapitals an den Industrie- und Bankgründungen in China. Neben der im Jahre 1889 gegründeten Deutsch-asiatischen Bank (Sitz in Schanghai, Kapital 20 Millionen Mark), die ziemlich gute Geschäfte macht und ihren Teilhabern 8 Prozent Dividende zahlt, arbeitet in China die Deutsche Schantau-Bergbau-Gesellschaft mit 12 Millionen Mark Kapital, die China Export-Import und Bank-Compagnie mit 1½ Millionen Mark und die Schantung-Bahngesellschaft mit 54 Millionen Mark Kapital. Dazu kommt noch in Betracht die Teilnahme Deutschlands an der Deckung des chinesischen Geldbedarfs, die sich in der teilweisen Unterbringung chinesischer Staatsanleihen an den Börsen Deutschlands äußert; die Höhe der Beteiligung des deutschen Kapitals an diesen Anleihen, die bis zum Jahre 1909 2400 Millionen Mark betragen, läßt sich jedoch nicht ganz genau angeben, aber jedenfalls dürfte er nicht groß sein, da er sonst den Anteil Deutschlands am chinesischen Handelsverkehr beschleunigen müßte. Vergleicht man diese Resultate der wirtschaftlichen Ausbreitung des deutschen Kapitals in China mit dem Wachsen der Prozentzahlen des japanischen und amerikanischen Handels, so muß man zu dem Ergebnis gelangen, daß das deutsche Kapital auf seine Errungenschaften in China keineswegs stolz sein kann. Die deutsche Bourgeoisie verhüllt diese Tatsache nicht, sie zieht aber aus ihr nur den Schluß, daß es notwendig sei, mit gesteigerter Energie an die Eroberung des chinesischen Marktes zu schreiten. Während die Kulturbedürfnisse des deutschen Volkes nur in geringem Maße befriedigt werden, gründet das Deutsche Reich eine Hochschule in China, um durch die Ausbildung von Chinesen Agenten für das deutsche Kapital zu erziehen, während in Deutschland die Teuerung wütet, und die Regierung jeder Forderung des deutschen Volkes nach Abschaffung der von ihr mitverschuldeten Wirtschaftspolitik ein schroffes Nein entgegensetzt, nimmt sie sich liebreich der hungernden chinesischen Bauern in Schantung an, um den Boden für die zukünftige Eroberungspolitik in China vorzubereiten. Der Ausbruch der chinesischen Revolution mit ihren nicht vorauszusehenden Folgen, weckt den alten Appetit des deutschen Imperialismus. » Schaut auf China und baut neue Kriegsschiffe« – schallt es aus den Verhandlungen der Schiffsbautechnischen Gesellschaft, und die imperialistische Presse vertritt die Ansicht, daß China wieder zum Tummelplatz des europäischen Imperialismus werden könne. Das deutsche Kapital wittert wieder Morgenluft. Was es auf dem Wege der friedlichen Ausbreitung nicht errungen hat, will es auf gewaltsamem Wege mit einem Schlage erobern. Und nur von dem Gang der Ereignisse am Gestade des Stillen Ozeans wird es abhängen, ob das nächste Jahr den deutschen Imperialismus nicht im Wirrwarr eines neuen chinesischen Abenteuers findet.
3. Das deutsche Kapital in der Türkei.
Auf dem zweiten Terrain, dessen Unterminierung das deutsche Kapital sich zur Aufgabe gestellt hat, in der Türkei, ist es auf nicht mindere Schwierigkeiten gestoßen wie in China. Sein erstes größeres Unternehmen, der Bau der Bagdadbahn, verletzte wichtige Interessen Englands. Erstens stärkte es die Lage des jungen deutschen Konkurrenten, was dem englischen Kapital um so unangenehmer war, als es diesen Konkurrenten an allen Enden der Welt vorfand. Zweitens stärkte es die Türkei, was seit dem Augenblick, wo Rußland das Schwergewicht seiner Ausbreitung nach dem fernen Osten verlegt hatte, nicht mehr im Interesse des englischen Kapitals lag. Dazu kamen noch englische Pläne, die durch die Bagdadbahn durchkreuzt wurden; so der Plan einer Bahn, die Ägypten durch das südliche Arabien und Persien mit Indien verbinden sollte, und die großen Pläne über die Besiedlung Südmesopotamiens mit ägyptischen Bauern, d. h. die Vorbereitung der Annexion dieser Gebiete durch England. Zu dem englischen Widerstand gesellte sich der seines damaligen mittelasiatischen Konkurrenten, Rußlands. Seit den Erfahrungen, die Rußland mit dem befreiten Bulgarien gemacht, seitdem ihm klar geworden, daß es auf dem Wege nach Konstantinopel starken Widerstand nicht nur bei den westeuropäischen Mächten, sondern selbst bei den erwachenden »slawischen Brüdern«, finden würde, entdeckte es sein asiatisches Herz und wendete sich in der Richtung des kleinsten Widerstandes, zu den Gestaden des Stillen Ozeans, wo es von China keinen nennenswerten und von Japan nur schwachen Widerstand erwartete. In demselben Jahre, in dem die provisorische Konzession der Bagdadbahngesellschaft erteilt wurde, begann der Bau der mandschurischen Bahn. Kein Wunder also, daß die auf die Konservierung des Status quo gerichtete russische Politik im nahen Orient die Bagdadbahn als eine ernste Störung ihrer Kreise betrachten mußte, um so mehr, als sie auf ihre alten Pläne der Erringung des Zutritts zum Persischen Golf nicht verzichtet hatte. Der zukünftigen Position Rußlands in einem Hafen Südpersiens konnte die Möglichkeit des Aufkommens einer türkischen oder, was man für noch wahrscheinlicher hielt, einer deutschen Flotte im Persischen Golf, in dem Hafen, mit dem die Bagdadbahn enden würde, ebenso unangenehm werden wie es England bedrohlich erscheinen würde. Aber auf die Neutralität Deutschlands angesichts der bevorstehenden Auseinandersetzung im fernen Osten angewiesen, mußte sich die russische Gegnerschaft mit zwei Maßregeln begnügen: mit der Verpflichtung der Türkei, daß alle Bahnbauten am Schwarzen Meere nur von Russen oder vom türkischen Staate selbst gebaut werden. Die zweite Maßregel bestand in der Einwirkung auf die französische Regierung, die Bagdadbahnwerte zur offiziellen Notierung auf der Pariser Börse nicht zuzulassen, sie sollte nicht nur der Bagdadbahn schaden, sondern auch den unermeßlichen Pumpplänen Rußlands nützen. Die französische Regierung nahm eine feindliche Stellung dem Bagdadbahnplan gegenüber nicht nur unter der Einwirkung Rußlands ein. Angesichts der Schwäche der französischen Industrie, ihrer geringen Konkurrenzfähigkeit, mußte die französische Regierung die Stärkung des deutschen Exports nach der Türkei befürchten. Tatsächlich ist denn auch, während der deutsche Export nach der Türkei von (in runden Zahlen) 35 Millionen im Jahre 1901 auf 67 im Jahre 1905 gewachsen ist, der französische in derselben Zeit von 35 auf nur 40 gestiegen, obwohl in dieser Zeit das in der Türkei angelegte französische Kapital auf mehr als zwei Milliarden, das deutsche aber nur auf 300 bis 500 Millionen Mark geschätzt wurde. Aber trotz der Feindschaft der französischen Regierung und der Gefahr, die dem französischen Einfluß in der Türkei drohte, nahm das französische Kapital einen starken Anteil an der Finanzierung des Bagdadbahnunternehmens (er beträgt jetzt 30–40 Prozent des Gesamtkapitals). Die hohen Profite, die einzelnen Banken und den Rentiers winkten, überwogen das Interesse der französischen auswärtigen Politik.
Die türkische Regierung ließ sich durch diese Schwierigkeiten nicht abschrecken. Abdul Hamid, ein in wirtschaftlichen Sachen moderner Kopf, wußte die Bedeutung des Eisenbahnnetzes als der wichtigsten Vorbedingung der staatlichen Zentralisation sehr wohl zu würdigen. Er wußte, daß nur die Bagdadbahn ihn zum Herrscher über Mesopotamien und Babylonien machen konnte, über Länder, die jetzt nur ein Tummelplatz der Raubzüge der Beduinen waren. Und die kurzen Erfahrungen, die er mit den anatolischen Bahnen gemacht hatte, zeigten ihm, wie sehr die Bahnen die Steuerkraft erhöhen. Da aber die türkische Regierung nicht imstande war, selbständig den Bahnbau zu unternehmen, mußte sie ihn einer Kapitalistengruppe übergeben, hinter der jene Regierung stand, die am meisten Interesse an einem Verschieben der Aufteilung der Türkei hatte. Das war Deutschland, und so gewährte Abdul Hamid im Jahre 1902 die Kilometergarantie für die 200 Kilometer lange Strecke Konia-Eregli, die am 25. Oktober 1904 dem Betrieb übergeben wurde.
Aber die Gegner ruhten nicht. Sie nutzten die finanziellen Schwierigkeiten der Türkei aus, um den weiteren Bahnbau zu hintertreiben. Wie bekannt, besitzt die Türkei auf Grund internationaler Verträge kein Recht, einen autonomen Zolltarif aufzustellen, zur Erhöhung der Zölle ist die Zustimmung der Mächte nötig, die nach einer treffenden Bemerkung Galsters[29] in Konstantinopel als überzeugte Freihändler auftreten, obwohl die Zollmauern von den europäischen Staaten für ihre eigenen Gebiete dauernd erhöht werden. Und so bewilligten im Jahre 1906 die Westmächte die Erhöhung der Wertzölle von 8 Prozent auf 11 Prozent nur unter der Bedingung, daß der Erlös bloß für die Reformen in Mazedonien verwendet wird. Damit wollten sie mit einem Schlage gleich zwei Fliegen treffen: in den Augen der Balkanvölker paradierten sie als ihre speziellen Beschützer, und gleichzeitig glauben sie dem Unternehmen des deutschen Kapitals einen tödlichen Schlag versetzt zu haben. Obwohl nach einem früheren Vertrag der Erlös der Zölle schon der Bagdadbahngesellschaft zugebilligt war, protestierte Deutschland gegen die Bedingungen der Westmächte nicht, um der Türkei, deren Vertrauen zu gewinnen es noch galt, keine Schwierigkeiten zu bereiten. Die deutsche Regierung und die Deutsche Bank konnten so entgegenkommend sein, weil andere Quellen den weiteren, wenn auch langsamen Bau ermöglichten. Im Jahre 1903 fand die Unifizierung der vier Serien der türkischen Staatsschulden statt. Die Ersetzung dieser in schweren Zeiten zu schlechten Bedingungen aufgenommenen Anleihen durch einen einheitlichen Anleihewert machte verschiedene Einnahmen frei, die bis dahin der Verzinsung der Staatsschuld hatten dienen müssen. Nach langem Kampfe, den die Vertreter der Westmächte gegen die Überweisung eines Teiles dieser Einkünfte an die Bagdadbahngesellschaft zur Deckung der Kilometergarantie führten, erteilte Abdul Hamid im Jahre 1908 die Kilometergarantie für die 840 Kilometer lange Strecke bis zum Dorfe El Helif im oberen Mesopotamien, die den schwierigsten Teil des Baues bildet, da es sich um die Durchquerung des Taurus und Amanusgebirges handelt.
Der Bau dieser Strecke war noch nicht begonnen, als das Hamidsche Regime wie ein Kartenhaus unter dem Anprall der jungtürkischen Bewegung zusammenbrach. Mit den Jungtürken schienen die Westmächte die Oberhand in Konstantinopel zu gewinnen. Die Jungtürken, die als Flüchtlinge die Gastfreundschaft Englands und Frankreichs genossen hatten, während der deutsche Boden die Sohlen der Schnorrer und Verschwörer brannte, kamen an das Staatsruder mit der Sympathie für die Westmächte, zu der sich die Antipathie gegen die Freundin Abdul Hamids, die deutsche Regierung, gesellte. Aber die objektive Tatsache, daß die Interessen Englands die Schwächung und Aufteilung der Türkei erfordern, daß Rußland den Balkanstaaten durch die neoslawische Bewegung neue Hoffnungen einzuflößen suchte, daß es nach dem mittelasiatischen Abkommen mit England die Türkei von der persischen Seite her zu bedrohen schien, brachte in sehr kurzer Zeit die auswärtige Politik der Türkei in die alten Geleise. Die Fortführung der Linie von Burgurla an wurde im Frühjahr 1909 begonnen. England mußte nun einsehen, daß die Vereitelung des Baues der Bagdadbahn nicht leicht sein werde, und so versuchte es jetzt wenigstens die Gefahr, die den englischen weltpolitischen Plänen von der Bahn drohte, nach Möglichkeit zu beseitigen. Sie forderte, die Trace von Adana an sollte entlang dem Golf von Alexandrette laufen, was allerdings abgeschlagen wurde, obwohl dieser Teil der Bahn zu den wirtschaftlich einträglichsten gehören würde. Die türkische Regierung blieb nach einem gewissen Schwanken bei dem alten Projekt, da nach der Meinung der militärischen Sachverständigen die Annahme der englischen Pläne den englischen Kriegsschiffen die Möglichkeit geben würde, in Kriegszeiten die Truppentransporte nach Arabien und Mesopotamien zu unterbrechen. Aber nicht nur die gesteigerte Widerstandskraft der Türkei, zu der er teilweise auch beigetragen hatte, kam dem deutschen Imperialismus zugute. Auch die immer mehr zutage tretende Schwäche der auswärtigen Politik des konterrevolutionären Rußlands erwies ihm einen entschiedenen Dienst. Seit dem Zusammenbruch der »neoslawischen« Balkanpolitik Rußlands wendet sie sich wieder von den Fragen des nahen Orients, denen Mittelasiens und des fernen Orients zu. Während sie sich aber im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts dabei nur der Neutralität Österreichs im nahen Orient versichern mußte und Deutschland so sehr durch das Bündnis mit Frankreich einzuschüchtern wußte, daß sie selbst dessen Unterstützung im fernen Orient nach dem Chinesisch-Japanischen Kriege bekam, muß der restaurierte Zarismus jetzt seiner geschwächten und der mächtig gestärkten Stellung des deutschen Imperialismus Rechnung tragen. Und er erklärt in Potsdam, nichts gegen den Weiterbau der Bagdadbahn einwenden zu wollen. Noch mehr, er stimmt dem deutschen Plane zu, nach dem eine Zweigbahn nach der persischen Grenze (nach Chanikin) gebaut werden soll, die nicht nur dank der Beförderung der persischen Pilger zum heiligen Orte in Kerbela zu den finanziell einträglichsten Linien des Bahnsystems gehören wird, sondern noch die persischen Märkte dem deutschen Kapital öffnet. Die so geänderte Haltung Rußlands ermöglichte der türkischen Regierung die Erteilung nicht nur des Zugeständnisses zum Bau der weiteren 1435 Kilometer langen Strecke von Helif nach Bagdad, sondern sie rollt die Frage des Baues der letzten 650 Kilometer betragenden Strecke von Bagdad zum Persischen Golf auf. Über diese Strecke werden jetzt Verhandlungen zwischen Türkei, Deutschland, England, Frankreich und Rußland geführt. Zu ihrer Ermöglichung willigte die Bagdadbahngesellschaft in die Rückgabe der Konzession, auf deren Grund sie die Bahn bis zum Persischen Golf führen könnte, und es wird verhandelt über die Art, wie die letzte Linie gebaut werden soll, ohne die englischen Interessen zu verletzen, welche die Türkei nicht gänzlich ignorieren kann, ohne England zu einer offensiven Politik zu reizen.
In die Verhandlungen tritt England in ganz anderer Haltung ein als im Jahre 1903. Während der letzten Debatten im Oberhaus erklärte der Regierungsvertreter, Lord Morley, gerade heraus, daß die ablehnende Haltung Englands »durch die späteren Ereignisse keinesfalls gerechtfertigt wurde«. Trotzdem wird es wohl noch manche Kämpfe geben, bis es zu einer Einigung kommen wird. Ihr Zustandekommen wird nicht nur durch Gegensätze in der englischen Finanzwelt verschleppt, sondern in erster Linie durch die Bemühungen Englands, selbst nach der bisher verlorenen Kampagne zu retten, was sich retten läßt.
Die Bagdadbahn hatte eine große politische Bedeutung schon in dem Augenblick, wo ihr Plan gefaßt wurde. Diese Bedeutung bestand erstens – wie schon erwähnt – in der Schaffung großer ökonomischer Interessen des deutschen Kapitals auf türkischem Boden, was ihm die Möglichkeit gab, bei einer eventuellen Teilung des türkischen Reiches Erbansprüche zu erheben, zweitens in der militärischen Stärkung der Türkei. Das Erstarken des deutschen Imperialismus, dessen erster mit großer Mühe errungener Erfolg die Bagdadbahn ist, der Sieg der Revolution in der Türkei, das Aufkommen einer modernen revolutionären Bewegung in Indien, die natürlich ganz anders zu bewerten ist als die früheren zerstreuten Aufstände einzelner Stämme, das Aufkommen der nationalistischen Bewegung in Ägypten, der Beginn des Regenerationsprozesses Persiens, das alles hat die politische Bedeutung der Bagdadbahnfrage mächtig erhöht. Zu den Momenten, die wir schon gestreift haben, kommen nun noch andere hinzu. Zunächst die Bedeutung der Bagdadbahn und der von ihr beschleunigten Stärkung der Türkei in Arabien und Mesopotamien für den deutsch-englischen Gegensatz, worauf Paul Rohrbach in der jüngst erschienenen zweiten Auflage seiner Arbeit » Die Bagdadbahn« in folgenden Worten hinweist:
»Es gibt für Deutschland im Grunde nur eine einzige Möglichkeit, einem englischen Angriffskrieg zu begegnen, und das ist die Stärkung der Türkei. England kann von Europa aus nur an einer Stelle zu Lande angegriffen und schwer verwundet werden: in Ägypten. Mit Ägypten würde England nicht nur die Herrschaft über den Suezkanal und die Verbindung mit Indien und Asien, sondern wahrscheinlich auch seine Besitzungen in Zentral- und Ostafrika verlieren. Die Eroberung Ägyptens durch eine mohammedanische Macht wie die Türkei könnte außerdem gefährliche Rückwirkungen auf die 60 Millionen mohammedanischer Untertanen Englands in Indien, dazu auf Afghanistan und Persien haben. Die Türkei aber kann nur unter der Voraussetzung an Ägypten denken, daß sie über ein ausgebautes Eisenbahnsystem in Kleinasien und Syrien verfügt, daß sie durch die Fortführung der anatolischen Bahn einen Angriff Englands auf Mesopotamien abwehren kann, daß sie ihre Armee vermehrt und verbessert, und daß ihre allgemeine Wirtschaftslage und ihre Finanzen Fortschritte machen … Auf der anderen Seite aber würde die bloße Erkenntnis, daß die Türkei militärisch stark, ökonomisch gefestigt und im Besitz genügender Eisenbahnverbindungen ist, für England möglicherweise schon genügen, um auf den Gedanken des Angriffs auf Deutschland zu verzichten, und das ist es, worauf die deutsche Politik abzielen muß. Die Politik der Unterstützung, die Deutschland der Türkei gegenüber verfolgt, bezweckt nichts anderes als den Versuch, eine starke Versicherung gegen die von England her drohende Kriegsgefahr zu schaffen«.[30] Die Ausführungen Rohrbachs stellen sehr weite politische Perspektiven dar, die nur bei der weiteren Erstarkung der Türkei sich verwirklichen könnten. Vor wenigen Jahren noch hätte die Möglichkeit einer türkischen Offensive gegen England nicht einmal als Gegenstand der Bierbankpolitik, sondern direkt als Hirngespinst gegolten. Heute aber muß man diesem bisher bei der Behandlung der Bagdadbahnfrage wenig in Betracht kommenden Moment die ihm zukommende Bedeutung zuerkennen. Denn obwohl die Mächte auch heute noch mit der Möglichkeit eines Zusammenbruchs des jungtürkischen Regiments rechnen, so ziehen sie andererseits auch die Möglichkeit in Betracht, daß sich die Türkei durchschlagen und eine Rolle in den weltpolitischen Auseinandersetzungen spielen wird. Was weiter eine besondere Berücksichtigung erfordert, sind die Umwälzungen in Mittelasien, speziell in Persien. Hier läuft die englische Politik nach dem Siege der Revolution auf die Hemmung des Reorganisationsprozesses Persiens hinaus. Das ist aber nur möglich, wenn das Tempo seiner ökonomischen Entwicklung verlangsamt wird. Ob das geschieht zur Schaffung eines wüstenartigen Glacis in Südostpersien, ob zur Vorbereitung der späteren Annexion – dies festzustellen ist natürlich unmöglich –, die Erstarkung der Türkei in Mesopotamien, die wirtschaftliche Entwicklung dieser Stätte alter Kultur würde jedenfalls einen dicken Strich durch die englischen Pläne darstellen, und so ist es kein Wunder, daß in der jetzigen Situation, wo die Hintertreibung des Baues unmöglich ist, nachdem der Versuch, die Bahn unter die Obhut der englischen Schiffskanonen im Golf von Alexandrette zu stellen, mißlungen ist, England selbst alles tut, um den bestimmenden Einfluß auf die Bahnlinie von Bagdad zum Persischen Golf zu bekommen.
Welche Trümpfe hat England in der Hand? Neben dem wichtigsten, einer maritimen und finanziellen Macht, die der Türkei nicht erlaubt, ohne sehr großes Risiko offen auf die Seite des Dreibundes überzugehen, ist es seine Stellung in Koweit, der besten Endstation der Bagdadbahn am Persischen Meer. Da der Hafen in Bassora sehr kostspielige Arbeiten erfordern würde, um als Endstation zu dienen, muß der Türkei sehr daran gelegen sein, die Bahn in Koweit ausmünden zu lassen. Koweit ist formell seit 1638 ein der Türkei untertäniges Sultanat, das, seitdem Midhat Pascha von Bagdad aus in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die türkische Herrschaft am Persischen Meer befestigte, als solches selbst von England angesehen worden war. Seitdem aber die Bagdadbahnfrage England auf die Gefahr der Erstarkung der Türkei am Persischen Meer aufmerksam gemacht hatte, wußte England seine Stellung in Koweit so zu befestigen, daß die Türkei genötigt war, nach einem von dem bekannten englischen diplomatischen Schriftsteller Lucien Wolff gesehenen Dokumente (»Daily Graphic« vom 20. März 1911) einen Zustand anzuerkennen, nach dem weder die Türkei noch England Koweit militärisch besetzen dürfen. Das bedeutet, daß ohne Einwilligung Englands die Bagdadbahn nicht in Koweit enden kann, wenn die Türkei nicht einen militärischen Konflikt mit England unmittelbar heraufbeschwören will. Der zweite Trumpf in Englands Händen, auf den Sir Edward Grey jüngst erst unzweideutig im englischen Parlament hinwies, ist die Unmöglichkeit der von der Türkei schon so lange begehrten Erhöhung der Zölle von 11 auf 15 Prozent ohne Einwilligung Englands.
Welche Forderungen will England vermittels dieser Trümpfe durchsetzen? Es ist in erster Linie die Übergabe der Leitung der Bahnlinie von Bagdad bis Koweit in die Hände Englands, zweitens die überwiegende Anteilnahme des englischen Kapitals an der Finanzierung dieser Strecke. Demgegenüber erstrebt die Türkei eine internationale Verwaltung der Linie und eine solche Beteiligung der türkischen und ausländischen Kapitalistengruppen, daß keine das Übergewicht bekommt. Bei den Verhandlungen darüber sucht man einen Mittelweg zwischen den beiden extremen Standpunkten zu finden, und die allgemeine internationale Situation der nächsten Jahre wird bestimmen, welche Interessen den Sieg behaupten werden. Die alldeutsche Presse behauptet, daß der deutsche Imperialismus ganz um das erstrebte Ziel kommen wird, wenn die Lösung der Frage auch nur annähernd den Forderungen Englands entspricht, da dann die Bagdadbahn das Los des Suezkanals teilt. Selbst wenn man die wirtschaftliche Bedeutung der Bagdadbahn fürs erste ganz beiseite läßt, muß man diese Erklärung der Dehn, Plehn und Konsorten doch lediglich als einen Versuch ansehen, der deutschen Regierung den Rücken zu stärken, denn die Tatsache schon, daß die Türkei ihre Herrschaft in Mesopotamien bis Bagdad festigen würde, müßte jeden Versuch Englands, vom Süden her einen Vorstoß zu wagen, sehr erschweren, ganz abgesehen von der gänzlichen Durchkreuzung der englischen Pläne einer Bahn, die Ägypten mit Indien verbinden sollte, oder der Lahmlegung der wirtschaftlichen Entwicklung an den Gestaden des Persischen Golfs.
So bedeutet die Bagdadbahn einen Sieg des deutschen Imperialismus, selbst wenn bei dem Bau ihrer letzten Linie die englischen Interessen mehr berücksichtigt würden, als es nach Lage der Dinge heute zu erwarten ist. Aber der moderne Imperialismus ist keine Jagd nach Phantomen, nach einer bloß platonischen Weltherrschaft, sondern eine Politik des Kapitalismus, seiner reifsten Phase, der nach Anlagesphären für das von der sinkenden Profitrate bedrohte Kapital sucht. Von dem wirtschaftlichen Standpunkt gesehen, bedeutet der Bau der Bagdadbahn einen vollen Erfolg des deutschen Kapitals. Wie wir schon im ersten Kapitel ausgeführt haben, geben die Leiter des Unternehmens den bloßen Gründergewinn auf 138 Millionen Francs an, gar nicht gesprochen von den »Ersparnissen«, die sie bei den ihnen von der Türkei zugestandenen Baukosten machen. 160 Millionen Francs sollen diese Ersparnisse nach den Berechnungen englischer Fachmänner betragen. Daß der Bau der Bagdadbahn auch den deutschen Handelsverkehr mit der Türkei günstig beeinflußt, ergibt sich schon aus der Tatsache, daß seine Ziffern – die deutsche Einfuhr aus der Türkei stieg in den Jahren 1902 bis 1910 von 36 auf 37 Millionen Mark, die deutsche Ausfuhr in die Türkei von 43 auf 105 Millionen Mark – nicht nur absolut, sondern auch im Vergleich mit dem Handelsverkehr anderer Staaten stark gewachsen sind.
4. Die Marokkopartie.
Wir erwähnten schon in dem einleitenden Abschnitt dieses Kapitels, daß die Konzentrierung der deutschen auswärtigen Politik auf zwei der wichtigsten Ziele – auf die Erringung einer Position in der Türkei und in China – keinesfalls das Vordringen auf anderen Gebieten ausschloß. Der deutsche Imperialismus benutzte jede Gelegenheit, Positionen zu erlangen, die wie die nach dem Spanisch-Amerikanischen Kriege von Spanien gekauften Karolineninseln, die deutschen älteren Besitzungen in der Südsee abzurunden halfen. Er suchte den Einfluß des deutschen Kapitals auch in Gebieten zu verstärken, die er dank ihrer geographischen Lage und historischen Entwicklung nicht in seine Einflußsphäre zu ziehen vermochte. Denn späterhin konnte er für den Verzicht auf politische Ansprüche in diesen, außerhalb der Linie seiner Entwicklung liegenden Gebieten Entschädigungen in anderen Gebieten erlangen, seien es politische oder territoriale, die wiederum zur Abrundung, zur Kommassation der alten Besitzungen dienen konnten.
Eine ganze Anzahl von Aktionen des deutschen Imperialismus, die auf den ersten Blick Ausbrüche einer irren, unsteten Politik zu sein scheinen, gehören bei näherer Betrachtung zu dieser Politik der Schaffung von Hilfsmitteln zur Unterstützung der hauptsächlichsten Ziele des deutschen Imperialismus. So war es mit der deutschen Politik in Persien, die neben den Handelszielen den Zweck verfolgte, Trümpfe gegen Rußland in die Hand des deutschen Imperialismus zu geben, und die übrigens auch dazu verholfen hat, Rußland von einem zu nahen Verhältnis zu dem englischen Imperialismus abzuhalten. Zu dieser Politik muß auch die Marokkopolitik der deutschen Regierung gerechnet werden, wenn man sie jetzt, beim Abschluß der Marokkokrise, rückschauend untersucht.
Die ganze Entwicklung der nordafrikanischen Geschichte in den letzten drei Jahrzehnten wies darauf hin, daß dieses entwicklungsfähige Land,[Anmerkungen 8] wenn es nicht imstande sein würde, seine Unabhängigkeit zu wahren, Frankreich zufallen müßte. Die deutsche Marokkopolitik konnte den Plan der Fußfassung in Marokko nicht verfolgen, wollte sie ihre Kräfte nicht gänzlich zersplittern und eine Reibungsfläche mit Frankreich schaffen, die der deutschen Regierung die Hände auf anderen wichtigeren Gebieten binden müßte. Deutschland griff in die Marokkofrage ein, als Frankreich und England hinter seinem Rücken die Geschicke Marokkos im Jahre 1904 zu entscheiden suchten. Ein Protest dagegen sollte dartun, daß das deutsche Kapital den Anspruch erhebt, bei jeder Weltteilung mitsprechen zu dürfen. Das Ziel dieses Protestes war, den Versuch zu unternehmen, ob sich die Unabhängigkeit Marokkos nicht retten ließe, und ob es nicht ein Gebiet der gemeinsamen Ausbeutung für das internationale, nicht nur französische Kapital, bilden könnte. Wäre die Aktion Deutschlands gegen die französischen Marokkopläne im Jahre 1905 von Erfolg gekrönt gewesen, dann hätte das deutsche Kapital zwei Fliegen mit einem Schlage getötet: es hätte sich ein Feld zur Ausbeutung bewahrt, und könnte als Beschützer der islamitischen Freiheit vor der Türkei stolzieren. Diese Ziele wurden nicht erreicht, obwohl die deutsche Regierung sie durch starkes Säbelgerassel unterstützte; Frankreich wurden dank der Unterstützung Englands, Rußlands und Italiens auf der Konferenz in Algeciras im Jahre 1906 Funktionen in Marokko überwiesen, deren Ausübung, bei gleichzeitiger Minierarbeit des französischen Börsenkapitals, Marokko mit jedem Tage immer mehr an Frankreich ausliefern mußte. Angesichts dieser Tatsache mußte der deutsche Imperialismus auf seine bisherigen Ziele in der Marokkopolitik verzichten, denn der diplomatische Kampf gegen die Beherrschung Marokkos durch Frankreich mußte mit einem Kriege enden, Marokko aber war eines Krieges für das deutsche Kapital nicht wert, denn es lag abseits von den Hauptzielen der deutschen Weltpolitik. Es galt hier nun, aus der Anerkennung des französischen Appetits auf Marokko politischen Gewinn zu erzielen und zugleich koloniale Nebengewinne herauszuschlagen. Diese Politik hatte die deutsche Regierung in dem Februarabkommen vom Jahre 1909, wie in dem Novemberabkommen des Jahres 1911 verfolgt. Im Jahre 1909 erkannte sie an, daß Frankreich in Marokko politische Interessen besitzt, und nahm für sich nur Handelsinteressen in Anspruch. Dank diesem Zugeständnis schloß sich Frankreich den Versuchen Englands nicht an, die bosnische Krise in einen Weltkrieg zu verwandeln, in dem Deutschland und Österreich einer englisch-französisch-russischen Koalition gegenübergestanden wäre. Die deutschen Zugeständnisse in der Marokkofrage dienten also zur Abwehr eines Angriffes der Tripelentente, was zur Durchbrechung des Ringes, den England um Deutschland gezogen hatte, um den deutschen Imperialismus auf die Knie zu zwingen, führte.
In den letzten zwei Jahren entwickelte sich die Marokkofrage soweit, daß sie zur Lösung reif wurde. Die Weltlage erlaubte der deutschen Regierung nicht, die bisherigen Bahnen ihrer Marokkopolitik zu verlassen und ein Stück des marokkanischen Bodens an sich zu reißen. Die Lage der Türkei war seit dem Frühjahr bedroht: der albanische und arabische Aufstand, der Niedergang des jungtürkischen Ansehens, das Brodeln auf dem Balkan, ließen Verschiedenes erwarten. Die Türkei bildet aber, wie hier schon wiederholt angegeben worden ist, eine wichtige Position in den Berechnungen des deutschen Imperialismus gegenüber England. Dabei näherte sich das deutsch-englische Ringen um die Endlinie der Bagdadbahn seinem Abschluß. In einer solchen Situation eine Politik zu beginnen, die Frankreich und England fesseln müßte, war für die deutsche Diplomatie – schätzt man sie auch noch niedriger als gewöhnlich ein, obwohl Übertreibung auch hier die Erkenntnis trübt – unmöglich. Umgekehrt: ihre Politik ging darauf hinaus, das Werk von Potsdam weiterzuführen. In Potsdam wurde Rußlands Verhältnis zur Tripelentente gelockert. Die Liquidation der Marokkofrage sollte Frankreich von der Notwendigkeit befreien, die englische Unterstützung in Marokko mit der Unterstützung Englands im nahen Osten zu bezahlen, wo die französischen Interessen selbst keine Schwächung der Türkei erfordern. Dieses allgemeine Ziel der letzten deutschen Marokkoaktion erklärt zum Teil den nervösen und sonst unverständlichen Eingriff der englischen Regierung in die deutsch-französischen Verhandlungen durch die Rede Lloyd Georges vom 21. Juli vorigen Jahres. Es galt, in Frankreich den Eindruck hervorzurufen, als ständen der deutschen Aktion noch andere Ziele als die offiziell zugestandenen, es galt, in der Welt den Eindruck zu wecken, Deutschland bleibe in dem Rahmen von Entschädigungsforderungen nur dank dem englischen Machtwort. Und dieses Ziel war die Ursache, warum es Deutschland so sehr daran gelegen war, daß die Verhandlungen unter vier Augen, nur zwischen Frankreich und Deutschland, stattfanden. Die zweite weltpolitische Ursache, warum Marokko nicht das Ziel der deutschen Politik bilden konnte, war die schon früher bei der Festlegung der deutschen Marokkopolitik in Betracht gezogene Tatsache, daß eine Besitzergreifung eines Teiles von Marokko ohne Zustimmung Frankreichs – selbst wenn sie zu keinem Kriege geführt hätte, was sehr unwahrscheinlich zu sein scheint –, Deutschland genötigt hätte, dort eine große Land- und Seemacht zu unterhalten, das heißt, sich für die nächsten, für die ganze weltpolitische Entwicklung so kritischen Jahre, in der Nordsee sehr zu schwächen. Denn selbst wenn die Reichstagsabgeordneten ohne weiteres eine große Flottenvermehrung bewilligen wollten, würde ihr Ausbau Jahre erfordern, in denen die Schiffe in Agadir die Entblößung der heimischen Gewässer bedeuten müßten. Zuletzt kam in Betracht die Gefahr des Krieges, der von vornherein als Angriffskrieg unter für Deutschland sehr ungünstigen diplomatischen Bedingungen stattfinden würde. Schon diese Momente genügten, um den deutschen Imperialismus von allen territorialen Absichten auf Marokko zurückzuhalten. Sie wurden unterstützt durch das Fehlen größerer kapitalistischer Interessen Deutschlands in Marokko, durch die Teilnahme eines Teils des deutschen Kapitals an den französischen Unternehmungen in Marokko und durch die zunehmende Protestation des Proletariats, mit der nicht zu rechnen die Regierung keinen Grund hatte, da Marokko nicht zu den Lebensinteressen des deutschen Kapitals gehört.
So verfolgte die deutsche Regierung auch bei der letzten Marokkoaktion in erster Linie die alten Ziele vom Jahre 1909, die Schwächung der Position Englands durch die Wegräumung des Konfliktsstoffes, der immer wieder zu Reibungen mit Frankreich führte und es dem englischen Imperialismus in die Arme trieb. Ferner versuchte sie für die volle Anerkennung der französischen Marokkopläne Entschädigung auf kolonialem Gebiet zu erlangen. Die von Frankreich abgetretenen Gebiete von Französisch-Kongo[31] ein Sumpf- und Waldland, das nur dem Finanzkapital Profite abwerfen wird, da es nötig sein wird, aus den Groschen der deutschen Arbeiter neue Kolonialbahnen zu bauen – erlauben aber dem deutschen Imperialismus, den Versuch zu unternehmen, durch weiteren kolonialen Schacher mit Belgien und Portugal eine Verbindung zwischen den afrikanischen Kolonien Deutschlands zu schaffen. Ob das Abkommen das erste Ziel erreicht, ob es in England den Eindruck erweckt, daß es ebensowenig auf die aktive Unterstützung Frankreichs wie Rußlands gegen Deutschland wird rechnen können, ist eine Frage, die sich jetzt nicht beantworten läßt. Diese beiden Ziele geben der Marokkopolitik der Regierung, obwohl sie zum Verlust Marokkos für das deutsche Kapital und zur »Kongoentschädigung« geführt hat, die selbst für breite Kreise des Industrie- und Handelskapitals wenig verlockend ist, vom Standpunkt ihrer allgemeinen imperialistischen Politik einen gewissen Sinn. Die Tatsache, daß die deutsche Regierung keine territoriale Besitzergreifung in Marokko anstrebte, daß sie also nicht gesinnt war, wegen Marokko einen Krieg zu beginnen, hat keinesfalls die Gefahr eines Krieges ausgeschlossen. Da der Charakter der deutschen Marokkopolitik auch der französischen und englischen Regierung bekannt war, konnten sie in ihrer Unnachgiebigkeit weiter gehen, als der deutsche Imperialismus ohne Einbuße an Ansehen zu ertragen vermochte. Das hätte leicht zu einer Besitzergreifung in Marokko mit allen ihren Konsequenzen führen können, und auch etwaige Unruhen in Südmarokko zur Zeit der Stationierung der deutschen Kriegsschiffe in Agadir hätten Deutschland aus der festgelegten Bahn herauswerfen können.
Die Marokkopolitik des deutschen Imperialismus konnte den Weltkrieg entfesseln wie jede seiner Aktionen, die von Anfang an auf Biegen oder Brechen losging. Dasselbe gilt von allen anderen imperialistischen Unternehmungen, die dem deutschen Imperialismus als untergeordnete Trümpfe bei seinen Hauptzügen dienen sollen. Es gibt in dieser Zeit der großen weltpolitischen Spannungen keine imperialistischen Aktionen, denen nicht die Gefahr des Weltkrieges auf dem Fuße folgen würde. Die Tatsache also, daß der deutsche Imperialismus in einer Frage keine territorialen Absichten hat, nimmt seiner Einmischung, wenn sie nur ernsterer Natur ist, nicht den Charakter einer imperialistischen, den Frieden gefährdenden Aktion. Dasselbe gilt natürlich auch von der Einmischung Englands oder Frankreichs in die Hauptaktionen des deutschen Imperialismus. Die imperialistischen Gegensätze können an Punkten zur Austragung kommen, die keineswegs zu den Brennpunkten der deutschen auswärtigen Politik gehören.
Was nun?
Von Jahr zu Jahr wächst das deutsche Kapital an Macht, und es verfügt über eine immer größere Schar von Proletariern. Auf dem inneren Markt hat es mit dem alten, selbständig produzierenden Kleinbürgertum aufgeräumt. Mit jedem Jahre steht es gefügter da, in Kartellen und Aktiengesellschaften zusammengeschlossen, die mit jedem Jahre immer einheitlicher von einem halben Dutzend Banken kommandiert werden. Nur die Vereinigten Staaten Nordamerikas können sich mit der rapiden Entwicklung des deutschen Kapitals messen. Mit Stolz schaut es auf die Ziffernreihen, die diesen Entwicklungsprozeß illustrieren. Die Kohlen- und Eisenproduktion, dieser Maßstab des wirtschaftlichen Fortschrittes, betrug in der Zeit von 1890 bis 1910.[32]
| 1890 | 1900 | 1909 | |
|---|---|---|---|
| Großbritannien | 184.529 | 228.795 | 268.007 |
| Vereinigte Staaten | 143.127 | 244.653 | 397.000 |
| Deutschland | 89.291 | 149.788 | 217.446 |
| Frankreich | 26.084 | 33.405 | 37.116 |
Auf dieses Wachstum der Produktionskräfte gestützt, hat das deutsche Kapital seinen Außenhandel in den letzten 25 Jahren mehr als verdoppelt. Von 6,5 Milliarden Mark im Jahre 1883 ist er auf 14,1 Milliarden Mark im Jahre 1908 gestiegen. Das Tempo seiner Entwicklung ist derart, daß es unmittelbar hinter den Vereinigten Staaten folgt. Der Außenhandel betrug:
| Deutschland | Großbritannien | Vereinigte Staaten | Frankreich | |
|---|---|---|---|---|
| 1898 in Mio. Mark | 8.837 | 13.142 | 7.549 | 6.497 |
| 1908 in Mio. Mark | 14.062,6 | 18.170,2 | 12.834,1 | 9.090,4 |
| Zunahme in Prozent | 60 | 38 | 70 | 41 |
Der deutsche Besitz an auswärtigen Wertpapieren wurde im Jahre 1905 offiziell auf 16 Milliarden geschätzt. Obwohl es an späteren Schätzungen fehlt, weist eine ganze Reihe von Tatsachen darauf hin, daß der deutsche Wertpapierbesitz in viel schnellerem Tempo wächst, als früher. Denn seitdem Deutschland die Bahnen des Imperialismus beschritten hat, sucht das deutsche Kapital, die ihm von den imperialistischen Machtmitteln verliehene Position in den wirtschaftlich unentwickelten Ländern auszunützen, und es wird von der Regierung angespornt, ihre imperialistischen Aktionen wirtschaftlich vorzubereiten.[Anmerkungen 9] Das Machtgefühl des deutschen Kapitals ist stark gewachsen. Es will sich nicht mehr als Bittender in die Fremde begeben, der nachschaut, ob ihm nicht vom Tische der älteren kapitalistischen Staaten ein Brocken zufällt, wie das vor der Reichsgründung der Fall war. Aber dem wachsenden Machtgefühl im Inneren gesellt sich nicht die Durchsetzungsmöglichkeit dieser Macht dem Auslande gegenüber. Das deutsche Kapital blickt mit Eifersucht auf die Weltstellung des englischen Kapitals: es sieht, wie das französische Kapital, das sich weder auf eine zunehmende Bevölkerung, noch auf eine rapid wachsende Industrie stützen kann, ein großes Weltreich gegründet. Das deutsche Kapital sieht, daß der Handelsverkehr seiner Kolonien mit Deutschland nach 25-jährigem Bestehen 100 Millionen Mark beträgt – bei 16 Milliarden des deutschen Außenhandels; selbst die Ausbeutung des deutschen Volkes vermittels dieser Kolonien geht nur schwer vonstatten. Zwei Jahrzehnte hindurch mußte es die Ausgaben für die Kolonien dem Reichstag direkt erpressen, denn jede Geldforderung für den Bau von Kolonialbahnen, die dem Kapital fette Zinsen abwerfen, wurde selbst von bürgerlichen Parteien mit der Erklärung beantwortet, das bedeute, Millionen in den Sumpf hineinzustecken. Parteien, die wie der Freisinn oder das Zentrum einen Anhang von Arbeitern oder Kleinbürgern besaßen, fürchteten die Verantwortung für diese offenkundige Verschleuderung von Millionen Steuergroschen für koloniale Ausgaben, von denen nicht einmal breitere Kreise der Bourgeoisie irgend einen Nutzen hatten.
Der Drang nach neuen Eroberungen, der die Einschwenkung Deutschlands in das Fahrwasser des Imperialismus vor 12 Jahren verursachte, nimmt mit jedem Jahr zu. Einmal im Sattel, reißt der Imperialismus auch solche Schichten des Bürgertums mit sich, die ihm anfangs Widerstand geleistet haben. Das Kleinbürgertum, das der Kolonialpolitik feindlich gegenüberstand, weil sie ihm nur neue Lasten auferlegte, die Handelsbourgeoisie, die die geringen Erträge des deutschen Kolonialbesitzes den großen Profiten aus dem Handelsverkehr mit den kapitalistisch entwickelten Ländern gegenüberstellte, alle diese Schichten gerieten in den Bann des Imperialismus, als er Aussichten auf neue Eroberungen eröffnete. Das Kleinbürgertum wurde von der nationalen Phrase in Gefangenschaft genommen, mit der der Imperialismus seine Geschäfte zu umgeben verstand, während die Handelsbourgeoisie von den Aussichten auf Profit geblendet wurde. Dem Imperialismus gelang es, einen so weitgehenden Umschwung in der Stimmung des deutschen Bürgertums herbeizuführen, daß selbst seine Stellung gegenüber den Kolonien eine freundlichere wurde. Der einen Teil des Kleinbürgertums und der Handelsbourgeoisie vertretende Freisinn, dessen führendes Organ, die »Freisinnige Zeitung«, noch am 10. November 1905 geschrieben hatte: »Die Kolonien lassen sich nicht ausbeuten, sondern beuten durch ihren Zuschußbedarf das Mutterland selbst aus«, zog im Verein mit den Konservativen und Nationalliberalen im Dezember 1906 in die Wahlschlacht unter dem Zeichen der Kolonialpolitik, und während der Marokkokrise des Jahres 1911 marschierte er Schulter an Schulter mit ihnen unter dem Banner des Imperialismus. Dieselbe Wandlung hat das Zentrum durchgemacht. Mit der imperialistischen Verseuchung dieser Parteien hat der deutsche Imperialismus, soweit es sich um die bürgerlichen Parteien handelt, freie Bahn im Innern erlangt.
Anders verhält es sich auf den Gebieten, wo der Kampf um neuen kolonialen Besitz ausgefochten werden muß. Hier stößt der deutsche Imperialismus auf Schritt und Tritt auf Hindernisse. Und die stärksten werden ihm von der ältesten imperialistischen Macht, von England, in den Weg gerollt. Will er türkische Bauern ausbeuten, indem er sich vom türkischen Staate Zinsgarantien beim Bahnbau und gesalzene Preise für Lieferungen bezahlen läßt, so kann er das nur tun, nachdem er die zahlreichen Steine fortgeräumt hat, die ihm das englische Kapital in den Weg gelegt hat. Und keinen Tag ist er sicher, ob England nicht die milchende türkische Kuh auf die Schlachtbank stößt. Will der deutsche Imperialismus den Appetit des französischen Kapitals auf Marokko ausnützen, um ihm ein Stück Mittelafrika zu entreißen, so stößt es wieder auf das englische Kapital, das dem französischen den Rücken stärkt, damit das deutsche keinen zu großen Anteil bekommt. Der deutsche Imperialismus weiß hierbei sehr gut, daß es sich nicht um eine vorübergehende Erscheinung handelt. Wie groß die Welt ist, wo nur noch etwas zu erobern ist, überall hat das englische Kapital wirtschaftliche oder strategische Interessen. Es ist eben eine Weltmacht. Es stellt sich den Bestrebungen des deutschen Kapitals entgegen, neue Kolonien durch Neuerwerbungen in Mittel- und Südafrika zu vereinigen, weil das England die Möglichkeit nehmen würde, die Bahn, die von Kairo bis weit nach dem Süden von Ägypten und vom Kap bis weit nach Rhodesien hinein gebaut wurde, zu einer Querbahn zu vereinigen, die Afrika vom Norden bis zum Süden durchschneidet. Will der deutsche Imperialismus Flottenstützpunkte erwerben, ohne die er keinen Krieg in fernen Ozeanen führen kann, so tritt ihm auch hier das englische Kapital in den Weg, das in ihm seinen gefährlichsten Feind sieht.
So zeigt sich der deutsch-englische Gegensatz als ein kapitalistischer Gegensatz, der nicht aus der Welt geschafft werden kann, solange das englische Kapital den Anspruch auf Weltherrschaft erhebt und das deutsche einen Teil dieser Herrschaft für sich gewinnen will. Nach Kämpfen, die, wie z. B. während der Marokkokrise, beide Staaten dicht an den Rand des Krieges gebracht haben, versuchen sie sich nun zu verständigen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der deutsche und der englische Imperialismus eben jetzt solche Versuche unternimmt oder unternehmen wird. Es ist möglich, daß der englische Imperialismus dem deutschen gewisse Zugeständnisse machen wird, um die Spannung auf eine kurze Zeit abzuschwächen. Aber keiner von ihnen traut dem anderen über den Weg, keiner glaubt daran, daß sich die Gegensätze zwischen ihnen überbrücken lassen, und jeder will weiter rüsten, um in voller Rüstung dem anderen gegenübertreten zu können, wenn die Verständigungsidylle zu Ende ist. Und darum ist es totsicher, daß dieselbe deutsche Regierung, die heute offenkundig eine Verständigung mit England über die zentral-afrikanischen Fragen anstrebt, nach den Wahlen dem Reichstag eine neue Flottenvorlage auftischen wird. Ein Kampf gebärt den anderen, selbst wenn er von einem Waffenstillstand unterbrochen wird. Das Wettrüsten hört nicht auf, und der nächste Tag kann einen Zusammenprall zwischen dem deutschen und dem englischen Imperialismus bringen. Die Gefahr eines solchen Zusammenpralls wird durch die Tatsache erhöht, daß seit einigen Jahren in den Ländern des Orients eine Entwicklung eingesetzt hat, die überhaupt jede imperialistische Politik unmöglich machen kann. In dem von England seit hundert Jahren ausgesogenen Indien haben sich mit der Zeit Elemente entwickelt, die den Kampf um die Abschüttelung des englischen Joches mit modernen Mitteln zu führen beginnen. Die junge indische Bourgeoisie und Intelligenz will nicht länger Sklave des englischen Kapitals sein. In der schon stattlichen Schicht des Fabrikproletariats beginnt es zu gären, und diese soziale Gärung fließt mit der allgemeinen nationalen zusammen. Volksbewegungen und terroristische Attentate zeigen England, daß es eines Tages genötigt sein wird, seine Herrschaft über Indien mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Dies bringt einen unruhigen Zug in die englische Politik hinein, die unter dem fortwährenden Alp lebt, die indischen Schwierigkeiten könnten von anderen Mächten ausgenutzt werden, und die in dieser Angst sich auf Kämpfe vorbereitet und zu Kämpfen drängt. Dieselben Anzeichen des Erwachens der Orientvölker sehen die Franzosen in Indo-China. Die persische Revolution spricht dieselbe Sprache. Und die türkische wie die chinesische Frage beginnt eine Entwicklung, deren Konsequenzen überhaupt noch nicht abzusehen sind.
Die ganze imperialistische Welt steht Entwicklungstendenzen gegenüber, die dem Imperialismus die Kehle einzuschnüren drohen. Da ergreift jeden Staat die Lust, noch vor Torschluß auf Beute auszugehen, damit ihm die anderen Staaten nicht zuvorkommen und ihm die Möglichkeit kolonialer Entwicklung nicht gänzlich verschließen. Rußland steuert auf die Aufteilung Persiens los, damit dieser Staat nicht erstarkt und in die Reihen der kapitalistischen Staaten einrückt; Österreich, Bulgarien und Italien beeilen sich, ihre Beute in Sicherheit zu bringen, bevor die türkische Revolution die Türkei aus einem Objekt der imperialistischen Politik in einen mächtigen Staat verwandelt; andere Staaten lauern auf den Augenblick, wo sie dasselbe tun könnten. In Ostasien drängten Rußland und Japan, um im Nordwesten und Nordosten des chinesischen Reiches Fuß zu fassen, und die chinesische Revolution rollt auch vor allen anderen Staaten die Frage auf, ob es nicht besser sein würde, China aufzuteilen, solange das noch irgendwie möglich ist.
Die Gärung in den Ländern, die sich der Imperialismus seit Jahren auserkoren, steigert die Gärung in den imperialistischen Staaten. Niemand weiß, was er morgen tun wird, niemand, was er heute will. Einerseits mahnen die drohenden Gefahren seitens der erwachenden Kolonialländer an die Notwendigkeit, zwischen den alten kapitalistischen Staaten ein Einvernehmen herzustellen. So erklärt England sich bereit zu einem Übereinkommen mit Deutschland, das der deutschen Kolonialpolitik neue Bahnen in Afrika eröffnen würde; so versuchen England, Deutschland, Frankreich und die Vereinigten Staaten zusammen in China einzumarschieren. Aber zugleich mit diesen Tendenzen zur Schaffung eines Abkommens, das die alten imperialistischen Raubstaaten in eine Front gegen die Länder des erwachenden Orients stellen würde, wirken andere Kräfte, die nicht nur diese Tendenzen zu hintertreiben suchen, sondern selbst die alten Mächtegruppierungen in Gefahr stellen und alles ins Wanken bringen. Wenn die Angst vor großen Verwicklungen im Orient zu Vereinbarungen unter den imperialistischen Staaten drängt, so wirkt der Wille zum schnellen Zugreifen zersetzend auf diese Tendenz. Um Persiens Entwicklung zu hemmen, schlossen England und Rußland im Jahre 1907 ein Abkommen, das die beiden Staaten auch in der europäischen Politik näher brachte. Aber Rußland will nicht nur die persische Entwicklung aufhalten, sondern auch Nordpersien möglichst schnell in seine Hände bringen, wozu England schon darum keine Neigung zeigt, weil es in keine direkte Nachbarschaft mit Rußland, aus der nur Streitigkeiten entstehen können, kommen will. Darum näherte sich Rußland Deutschland, um freiere Hand gegen England in Persien zu erhalten. Angesichts dessen gewährt ihm aber auch England eine größere Bewegungsfreiheit in Persien, als im Vertrag von 1907 vorgesehen ist, daß aber dieses Recken und Strecken des Vertrages das Zusammengehen Rußlands und Englands in Europa, das zu den Grundpfeilern der weltpolitischen Lage gehört, nicht fördern kann, ist klar. England, Rußland und Frankreich gehören zu einem weltpolitischen Lager, aber während England die Aufrollung der türkischen Frage anstrebt, weil seine Bahnbaupläne zwischen Ägypten und Indien, wie seine ganze Stellung im Orient keine starke Türkei dulden können, wollen Frankreich und Rußland die jetzige Lage im nahen Osten aufrecht erhalten, weil das erste in Marokko, das zweite in Persien und an den chinesischen Grenzgebieten alle Hände voll zu tun hat und sich noch nicht stark genug fühlt, seine Kräfte auf dem Balkan mit Österreich, oder in Kleinasien mit der Türkei zu messen. So schafft die Entwicklung fortwährend Gegensätze in demselben imperialistischen Lager.
Wie sieht es nun in entgegengesetzter Lage aus? Die Annexion Bosniens und Herzegowinas durch Österreich im Jahre 1907 stellte eine Zeitlang die Position des deutschen Imperialismus in Frage, der als Verbündeter Österreichs für die Politik der Donaumonarchie verantwortlich gemacht wurde. Dieselbe Wirkung hat der Tripolisraub Italiens herbeigeführt, und es ist noch eine Frage, ob nicht der Fortgang des Türkisch-Italienischen Krieges Österreich zu einem Vorstoß auf dem Balkan verlocken wird. So zeigt sich der Dreibund, der als Organ der kontinentalen Machtpolitik entstanden ist, in den Fragen der imperialistischen Politik von Gegensätzen unterminiert.
Was nun? Diese Frage zu beantworten sind am wenigsten die Regierungen imstande. In allen Staaten nehmen die imperialistischen Kräfte an Umfang zu. Für alle verschlechtern sich die Bedingungen der imperialistischen Politik. Da nicht alle gleich stark sind, entsteht die Gefahr, daß manche auf eigene Faust Vorstöße im fernen und nahen Osten unternehmen werden. Gleichzeitig stehen in Afrika Machtverschiebungen bevor, die durch das deutsch-französische Kongoabkommen und die Schwäche Portugals aufgerollt worden sind. Und in dieser Situation voll Konfliktsmöglichkeiten fehlt den Regierungen jeder ordnende, leitende Gedanke. Jede verfolgt ihre eigenen Ziele, und wenn sie sich auch zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles heute verständigen, so entzweien sie sich morgen wegen anderer Ziele, die die politische Situation aufgerollt hat. Ein Strudel reißt die imperialistischen Staaten mit sich fort und stößt sie aufeinander. Niemand ahnt, was aus diesen Zusammenstößen morgen erwachsen kann. Die kapitalistische Entwicklung, die wie keine andere die Beherrschung der Naturkräfte ermöglicht, hat ein neues Gebiet elementarer Kräfte geschaffen, von denen sie beherrscht und wild vorwärts getrieben wird. Sie endet als Gesellschaftsordnung, die die Gefahr eines Weltkrieges zu einer steten sozialen Tatsache erhoben hat. Die Grundbedingung ihres Bestehens ist die Sicherheit und Ruhe der ökonomischen Entwicklung. Sie hat aber einen Zustand geschaffen, in dem das wirtschaftliche Leben sich in jedem Augenblick vor der Gefahr der gewaltsamen Zerstörung befindet.
Der englische Staatssekretär des Äußern, Sir Edward Grey sprach neulich von einem Zustand des politischen Alkoholismus, und weder die Bourgeoisie noch ihre Regierungen kennen ein Mittel, der ihn aus der Welt schaffen könnte. So taumeln sie aus einer Kriegsgefahr in die andere, bis sie auf dem Schlachtfelde aufeinander stoßen, oder bis die eiserne Hand des Proletariats sie an die Gurgel packt, um diesem Treiben ein Ende zu machen.
Das Gerassel der auffahrenden Kanonen, die die zivilisierte Welt in ein Trümmer- und Leichenfeld zu verwandeln drohen, vermag nicht den dröhnenden Schritt der Arbeiterbataillone zu übertönen, die auf dem weltpolitischen Kampffelde antreten. Der akuten Kriegsgefahr folgt die Gefahr revolutionärer Straßenkämpfe, – eine Gefahr für das Kapital, ein Hoffnungsstrahl für die Menschheit.
Der Imperialismus und die Lage der Arbeiterklasse.
1. Das Wettrüsten und seine wirtschaftlichen Folgen.
Der Imperialismus bedeutet die Politik der Gewalt gegen schwache Völker, darum ist er ohne Gewaltmittel, Flotte und Landheer unmöglich. Der Imperialismus erzeugt den Kampf aller Staaten gegen alle, darum ist er ohne Wettrüsten undenkbar. Bereit sein ist alles, heißt es für jeden imperialistischen Staat, darum spannt jeder alle Kräfte an, um seine Machtmittel technisch und zahlengemäß an der Spitze zu erhalten, und zwar in der Stärke, die seinen strategischen und diplomatischen Notwendigkeiten entspricht. Welchen Umfang finanziell das Wettrüsten angenommen hat, zeigt die umstehende Tabelle, die wir nach den eingehenden Angaben des Nauticus für 1911 zusammengestellt haben.
In neun Jahren ist die militärische Belastung Deutschlands auf den Kopf der Bevölkerung um mehr als 4 Mark, und für die fünfköpfige Familie um 20 Mark gestiegen, ähnlich geht es in allen anderen Staaten. Dieses Rüsten ohne Ende zerrüttet die Finanzen eines Staates nach dem andern und nötigt sie zu immer neuen »Finanzreformen«, d. h. zu einer immer stärkeren Anziehung der Steuerschraube. Selbst in Ländern, in denen nicht alle Lasten durch indirekte Steuern aufgebracht werden, stärkt das Wettrüsten den Widerstand der besitzenden Schichten gegen eine Erhöhung der direkten Steuern und nimmt der Arbeiterklasse die Aussicht auf Erfolg im Kampf für die Herabsetzung der indirekten ihren Lebenshalt belastenden Steuern. In Ländern, wo auf den indirekten Steuern der ganze Haushalt des Staates aufgebaut ist, verewigt der Imperialismus durch seine wachsenden Ausgaben das System der Schutzzölle, ohne die er nicht auskommen kann. Die wachsende indirekte Steuerlast bedeutet aber eine wachsende Teuerung aller Lebensmittel. Ihr Preis wird nicht nur um den vom Staate eingezogenen Zoll erhöht. Unter dem Schutze der Zollmauer schließt sich das Kapital zusammen, um den von der auswärtigen Konkurrenz gesäuberten Markt gehörig auszubeuten. Es schraubt den Preis der Waren fast um den ganzen Zollbetrag in die Höhe. Nach den Berechnungen Gradnauers betrug diese Preiserhöhung der wichtigsten und industriellen Produkte in Deutschland im Jahre 1908 46 Mark auf den Kopf der Bevölkerung, d. h. pro Familie 230 Mark.[33]
2. Die imperialistische Ausdehnung und die Lage der Arbeiterklasse.
Der Imperialismus verursacht das Wachstum der Steuerlast der Arbeiterklasse und die wachsende Teuerung der notwendigsten Lebensmittel. Diese Tatsache zu leugnen, fällt selbst den rabiatesten Vertretern des Imperialismus schwer. Sie versuchen deshalb ihre Bedeutung durch die Behauptung abzuschwächen, die imperialistische Ausdehnung gebe der Arbeiterschaft erhöhte Arbeitsgelegenheit und hebe infolgedessen die Arbeitslöhne. Diese Behauptung ist völlig aus der Luft gegriffen. Erstens ist eine Produktionserweiterung und ein größerer Warenverkehr keinesfalls gleichbedeutend mit erhöhter Arbeitsgelegenheit. Geht die Produktionserweiterung Hand in Hand mit der Einführung arbeitssparender Maschinen, so kann sogar eine Verringerung der Arbeitsgelegenheit folgen. Dasselbe Resultat ergibt sich, wenn das Kapital Massen von kulturell niedrig stehenden Arbeitern aus den Ländern herbeizieht, die durch seine Ausdehnung proletarisiert worden sind. Das englische Kapital, das Südafrika unterjochte, um seine Goldminen besser ausbeuten zu können, wendet dabei chinesische Kulis an, die fast wie Sklaven behandelt werden.
| Jahr | Deutschland | England | Frankreich | Rußland | ||||
|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
| Heer & Marine in 1,000 Mark | pro Kopf | Heer & Marine | pro Kopf | Heer & Marine | pro Kopf | Heer & Marine | pro Kopf | |
| 1902 | 874.536 | 15,08 | 1.218.300 | 29,07 | 827.202 | 21,18 | 958.015 | 6,94 |
| 1903 | 872.598 | 14,84 | 1.370.808 | 32,48 | 808.730 | 20,68 | 1.004.091 | 7,19 |
| 1904 | 853.633 | 14,30 | 1.340.069 | 31,45 | 770.682 | 19,68 | 1.048.360 | 7,41 |
| 1905 | 928.609 | 15,32 | 1.257.263 | 29,24 | 857.290 | 21,87 | 1.068.705 | 7,37 |
| 1906 | 998.113 | 16,23 | 1.208.437 | 27,84 | 940.254 | 23,93 | 1.034.501 | 7,16 |
| 1907 | 1.097.714 | 17,59 | 1.178.308 | 27,00 | 910.127 | 23,21 | 1.065.631 | 7,30 |
| 1908 | 1.165.167 | 18,70 | 1.204.429 | 27,25 | 932.844 | 23,68 | 1.106.013 | 7,49 |
| 1909 | 1.279.329 | 19,70 | 1.284.588 | 28,80 | 975.056 | 24,70 | 1.245.607 | 8,31 |
| 1910 | 1.241.268 | 19,13 | 1.394.619 | 30,99 | 998.180 | 25,27 | 1.227.989 | 8,10 |
| 1911 | 1.259.029 | 19,16 | 1.452.483 | 32,14 | 1.052.111 | 29,56 | 1.285.328 | 8,37 |
| Jahr | Österreich | Italien | Verein. Staaten | Japan | ||||
|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
| Heer & Marine in 1.000 Mark | pro Kopf | Heer & Marine | pro Kopf | Heer & Marine | pro Kopf | Heer & Marine | pro Kopf | |
| 1902 | 401.604 | 8,69 | 282.573 | 8,64 | 860.164 | 10,87 | 180.113 | 3,92 |
| 1903 | 410.215 | 8,81 | 327.290 | 9,95 | 928.413 | 11,54 | 174.305 | 3,73 |
| 1904 | 420.598 | 8,95 | 344.287 | 10,40 | 1.019.759 | 12,47 | 68.673 | 1,46 |
| 1905 | 515.773 | 10,88 | 342.920 | 10,30 | 972.740 | 11,69 | 72.484 | 0,52 |
| 1906 | 441.073 | 9,23 | 370.726 | 11,03 | 964.862 | 11,41 | 272.477 | 5,60 |
| 1907 | 442.737 | 9,18 | 371.298 | 9,87 | 1.085.572 | 12,61 | 416.464 | 8,46 |
| 1908 | 427.564 | 8,77 | 359.918 | 10,59 | 1.174.551 | 13,57 | 448.106 | 9,00 |
| 1909 | 459.081 | 9,00 | 376.900 | 10,99 | 1.375.614 | 15,07 | 335.860 | 6,65 |
| 1910 | 463.895 | 9,01 | 434.725 | 12,60 | 1.214.522 | 13,16 | 337.826 | 6,61 |
| 1911 | 548.800 | 10,55 | 472.583 | 13,58 | 1.094.020 | 11,18 | 387.245 | 7,49 |
Und die deutschen Reeder, die Chinesen als Matrosen beschäftigen, zeigen, daß auch das deutsche Kapital es nicht verschmäht, die durch seine Ausbreitung von der Scholle vertriebenen und proletarisierten chinesischen Kulis auszubeuten. Aus dem Dargelegten folgt, daß sich aus dem vergrößerten Warenabsatz noch keineswegs eine Hebung der Lage der Arbeiterklasse ergeben muß. Wir wissen aber, daß der Warenabsatz der deutschen Industrie nur zu einem geringen Teil in die Länder der imperialistischen Ausdehnung des deutschen Kapitals geht, und daß diese Länder mit ihrer unentwickelten Bauernbevölkerung auch in der Zukunft keine großen Absatzmärkte versprechen. Würde es aber dem Kapital gelingen, eine Industrie mit ihnen großzuziehen, so würden sie auch selbst die von ihnen benötigten Industrieerzeugnisse schaffen. Zwar wird das nicht mit einem Schlage geschehen, und der Prozeß der Industrialisierung Chinas wird der europäischen Industrie eine Zeitlang große Märkte eröffnen, da er einen großen Bedarf für Maschinen und Textilerzeugnisse schaffen wird; es wird sich hier aber dennoch nur um eine vorübergehende Belebung der europäischen Industrie handeln. Denn wenn die industrielle Entwicklung der rückständigen Länder früher ihren Warenverkehr mit den älteren kapitalistischen Ländern erhöht hat, so findet dieser Prozeß seine Grenzen in der nur allmählich steigenden Kaufkraft der Länder, in denen das Proletariat mit jedem Jahre einen größeren Teil der Bevölkerung ausmacht.
Die imperialistische Ausdehnung Deutschlands hat bisher der deutschen Arbeiterklasse nicht einmal eine größere Arbeitsgelegenheit geschaffen, wenn wir von einem winzigen Teil absehen, der direkt für die Flottenlieferanten arbeitet. Würde also die erhöhte Arbeitsgelegenheit für einzelne Arbeitergruppen sogar gleichbedeutend sein mit der Möglichkeit, eine besser entlohnte Arbeit zu finden, so hätte die Arbeiterklasse als Ganzes dennoch keinen Nutzen davon. Wie sich die Verfechter des Imperialismus auch anstrengen, sie sind nicht imstande, irgend welche Tatsachen vorzubringen, die beweisen würden, daß die zwölf Jahre der imperialistischen Politik, neben der wachsenden Teuerung und der Steuerlast, irgend welche Wirkungen herbeigeführt haben, die der Arbeiterklasse günstig waren. In dem bereits zitierten Artikel »Zehn Jahre Flottengesetz«, den der offiziöse Nauticus[34] im Jahre 1910 zur Verherrlichung des Flottengesetzes und seiner Wirkungen veröffentlicht hat, konnte nur aufgeführt werden, daß der Konsum pro Kopf der Bevölkerung gestiegen ist.
Wir lassen die Frage offen, wieviel von diesem steigendem Konsum wirklich auf die Arbeiterklasse, und wieviel auf die besitzenden Schichten entfällt. Wir lassen auch die Frage unberücksichtigt, wie die Lage der deutschen Arbeiterklasse ausgesehen hätte, wenn nicht die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie, die sich des größten Hasses der Imperialisten und der Regierung erfreuen, ihren ständigen Kampf im Interesse der Arbeiterklasse geführt hätten. Es genügt, daß die Regierung zur Illustrierung der segensreichen Wirkung des Imperialismus auf die Lage der Arbeiterklasse nichts weiter auszuführen hat, als 5 kg Roggen und Weizen, 5½ kg Zucker und 14 kg Gerste. Daß auch dieses Mehr an Lebensmitteln, welches die Arbeiterklasse angeblich verbraucht hat, nur in der Phantasie des offiziellen Skribenten auf das Konto des Imperialismus gestellt werden kann, ist eine besondere Tatsache. Denn wenn sie nicht dem opfervollen Kampfe unserer Gewerkschaften und der Sozialdemokratie zu verdanken wären, so würde sie lediglich der Arbeitsgelegenheit zuzuschreiben sein, die der Handelsverkehr mit den kapitalistischen Ländern Europas bietet, nicht aber dem nur langsam zunehmenden Handelsverkehr mit den unentwickelten Ländern, auf den das Bestehen der Kriegsflotte einen Einfluß haben kann.
Ähnlichen Einwendungen, wie die soeben gemachten, begegnen die Imperialisten gewöhnlich mit dem Hinweis auf die angebliche Hebung der Lage der arbeitenden Klassen in England durch die Kolonialpolitik. Diesen Einwand hat schon Parvus[35] widerlegt, indem er nachwies, daß die Zeit der Lohnsteigerungen in England zugleich die Zeit der relativen Verminderung des kolonialen Exports war, daß also die Aufbesserung der Lage der Arbeiterklasse in England ganz anderen Faktoren zuzuschreiben ist, als der englischen Kolonialpolitik. Was Parvus für die Vergangenheit theoretisch nachgewiesen hat, beweisen die kolossalen Arbeitsaufstände, die in diesem Jahre in ganz England getobt haben, noch nachdrücklicher. Welchen Ursachen dieses Sichaufraffen der englischen Arbeiter als Musterknaben zuzuschreiben ist, die ein halbes Jahrhundert lang von den bürgerlichen Sozialpolitikern gefeiert wurden, geht aus einem lehrreichen Artikel des holländischen Schriftstellers F. M. Wibaut[36]: »Ein Menschenalter des Kapitalismus« hervor, in dem auf Grund englischer offizieller Materialien der Beweis geführt wird, daß die Lage der Arbeiterklasse in England sich in den letzten dreißig Jahren (1875–1907) verschlechtert hat. »Nur in der ersten Hälfte des betrachteten Zeitabschnittes« – so faßt er seine Untersuchungen zusammen – »fand eine bedeutende Zunahme des Reallohnes statt, aber sie war hauptsächlich eine Folge der Senkung der Lebensmittelpreise.« In der zweiten Hälfte dagegen, seit 1895, sinkt der Reallohn; die Verringerung der Kaufkraft des Lohnes war größer als die Steigerung der Geldlöhne. Auch wird die Sicherheit der Existenz nicht größer; die Schwankungen in der Arbeitsgelegenheit werden nicht geringer; der Teil der Lebenszeit, in dem die Arbeitskraft Käufer findet, wurde von 1891 bis 1901 kleiner. Diese Worte des Forschers seien noch durch folgende Ziffern ergänzt: In der Zeit von 1875 bis 1905 weisen die Löhne eine durchschnittliche Steigerung von 13 Prozent auf. Aber in der Zeit von 1905 bis 1908, verglichen mit der Zeit 1895 bis 1899, steigen die Preise der Lebensmittel schneller als die Geldlöhne, nämlich um 18 Prozent. Die Lage der englischen Arbeiterklasse hat sich also absolut verschlechtert. Und dies geschah in der Zeit, wo die Produktionskraft der englischen Arbeiterklasse und der Wohlstand der Kapitalisten mächtig gewachsen ist. Die englische Einfuhr ist in den letzten 28 Jahren um 92, die Ausfuhr um 808 gewachsen, während die Bevölkerung nur um 29 Prozent gestiegen ist. Gleichzeitig ist das aus Handel und Industrie stammende Kapitalisteneinkommen um 92 Prozent gestiegen. Es ergibt sich also: Der Arbeiter lieferte der Gesellschaft viel mehr als früher, die Kapitalisten erhöhten ihr Einkommen um 92 Prozent. Würde sich die Lage der Arbeiter gehoben haben, ständen sie absolut jetzt besser als vor dreißig Jahren, sie würden relativ trotzdem heute schlechter stehen. Aber das nicht einmal ist der Fall. Während der Wohlstand der Kapitalistenklasse ungeheuer steigt, kann der englische Arbeiter nicht einmal sagen, daß sein »Wohlstand«, wenn auch nicht in demselben Maße, so doch wenigstens überhaupt, gestiegen wäre. Die Lage der englischen Arbeiterklasse hat sich positiv verschlechtert. Wer das nicht dem Marxisten Wibaut glauben will, der vielleicht von der legendären Verelendungstheorie verblendet ist, der lese den Aufsatz des englischen liberalen Statistikers Chiozza-Money in dem Londoner liberalen Wochenblatt »The Nation« (vom 30. April 1911) über Lohn und Profit in den letzten fünfzehn Jahren. Er findet dort eine Bestätigung der Ausführungen Wibauts. Dies alles zeigt, daß die Kolonialpolitik Englands – die erfolgreichste Kolonialpolitik, die jemals in der Geschichte getrieben worden ist –, die Arbeiterklasse nicht vor dem bittersten Elend hat schützen können. Angesichts dessen verlieren alle Hinweise darauf, daß sich die deutsche Kolonialpolitk erst in den Anfängen befinde, selbstverständlich allen Wert. Keine Kolonialpolitik kann die Lage der Arbeiterklasse heben, jede aber führt zu Ergebnissen, die niederdrückend auf sie wirken.
3. Imperialismus und Sozialreform.
Der Imperialismus verschlechtert die Lage der Arbeiterklasse, indem er das Einkommen der Arbeiter mit immer wachsenden Steuern für den Staat, die Junker und die Schlotbarone belastet. Er schafft der Arbeiterklasse keine Gelegenheit für bessere, lohnendere Arbeit. Das allein würde schon genügen, um in dem Imperialismus eine Kraft zu sehen, die den Aufstieg der Arbeiterklasse hemmt und alle ihre Bemühungen nach Erringung einer höheren Lebenslage lahmzulegen sucht. Aber damit erschöpft sich keineswegs die niederdrückende Wirkung des Imperialismus auf die Lage der Arbeiterklasse. Er verstopft auch die Quellen der Sozialreform, des staatlichen Schutzes der Arbeitskraft vor der Raubwirtschaft des Kapitals. Am 4. Februar 1890 kündigte bekanntlich ein Kaiserlicher Erlaß Reformen an, »die die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihren Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung wahren sollten«; am 5. Dezember 1894 erklärte die Thronrede als die vornehmste Aufgabe des Staates, die schwächeren Klassen zu schützen und ihnen zu einer höheren wirtschaftlichen Entwicklung zu verhelfen. Und als einige Jahre später der imperialistische Kurs in Deutschland begann, hofften die bürgerlichen Sozialreformer, daß er Hand in Hand mit einer Beschleunigung des sozialpolitischen Kurses gehen würde: »So treiben wirtschaftlicher Fortschritt und soziale Reform sich gegenseitig vorwärts, wie zwei ineinander greifende Zahnräder,« schrieb damals der Redakteur der »Sozialen Praxis«, Professor Franke. »Und darum erheischt eine erfolgreiche Weltpolitik und Weltmachtpolitik als unerläßliches Korrelat (Ergänzung) auch eine kräftige Fortführung der Sozialpolitik in Deutschland … Weltpolitik und Sozialpolitik sind die beiden Pole, an denen sich ein und dieselbe Kraft manifestiert. Dem nationalen Drang nach außen muß der soziale Fortschritt im Innern entsprechen … Das Deutsche Reich muß im 20. Jahrhundert Weltpolitik treiben, wenn es seinen Platz an der Sonne haben will, und es muß die Sozialpolitik fortführen, wenn dem äußeren Glanze auch die innere Kraft den Bestand verleihen soll«.[37]
Diese guten Leute und schlechten Musikanten bemerkten nur nicht, daß die Flottenvorlage von der Zuchthausvorlage begleitet wurde. Und seitdem Deutschland mit Volldampf den imperialistischen Kurs steuert, seitdem es seine Rüstungen von Jahr zu Jahr steigert, ist im Deutschen Reichstage kein einziges Gesetz angenommen worden, das imstande gewesen ist, die Lage einer breiteren Schicht des Proletariats wirklich zu heben. Auch für einen Blinden ist es klar, daß zwischen den beiden Tatsachen, dem gänzlichen Versagen der Sozialreform und dem ununterbrochenen Rüsten ein Zusammenhang besteht. Aber es hieße an der Oberfläche der Dinge haften bleiben, wenn man annehmen wollte, dieser Zusammenhang bestehe nur darin, daß die Rüstungsausgaben das für die Sozialreform notwendige Geld verschlingen. Der Zusammenhang ist ein viel tieferer. Nicht nur das Geld wird durch die Rüstungen verschlungen, die Rüstungen sind zudem Ausfluß desselben Kurses, der die Sozialreform zum Stillstand verurteilt. Die Sozialreform entspringt entweder dem Kampfe der verschiedenen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft untereinander, der von der Arbeiterklasse geschickt ausgenützt wird, oder sie ist ein Ausfluß des Glaubens der herrschenden Parteien, die Arbeiterklasse durch Zugeständnisse von dem revolutionären Kampfe abbringen zu können. Eben dieser Spekulation verdankt die Arbeiterklasse, daß die deutsche Regierung in den neunziger Jahren ihr soziales Herz entdeckt hat, und daß sich diese sozialen Gefühle noch verstärkten, als die Peitsche des Sozialistengesetzes sich als ohnmächtig erwies. Es zeigte sich aber bald, daß die deutsche Arbeiterklasse nicht umsonst dreißig Jahre Klassenkampf hinter sich hatte. Es trat bald zutage, daß die Regierung, die den »neuen Kurs« inauguriert hatte, nicht imstande war, ihn durchzuführen, da die Klassen, deren Willen sie zu vollstrecken hatte, ihr das nicht erlaubten. Der hohe Grad des proletarischen Bewußtseins entsprach einer mit jedem Jahre an Kraft zunehmenden Macht des Kapitals, das nicht bloß Herr im Hause sein wollte, sondern auch über die fernen Meere seine Herrschaft zu ziehen suchte. Dieselbe Macht, die dem Kapital ermöglichte, dem neuen Kurs Einhalt zu gebieten, gestattete ihm auch, der Regierung den imperialistischen Kurs vorzuschreiben, Die Knechtung der arbeitenden Klasse in Deutschland und die Ausbeutung der fremden, wenig entwickelten Völker durch die imperialistische Politik gehen Hand in Hand miteinander.
Daß der Arbeiterschutz und der Imperialismus aus einer Quelle fließen, bedeutet aber keineswegs, daß die imperialistische Politik den Arbeitertrutz nicht stärken sollte. Sie tut es in bedeutendem Maße schon dadurch, daß die Bourgeoisie, die die Eingeborenen in den Kolonien wie Sklaven behandelt, geneigt ist, dieselben Herrschaftsmethoden auch gegenüber dem Proletariat im Mutterlande zu gebrauchen. Aber noch stärker beschleunigt der Imperialismus diese Rückentwicklung vom Arbeiterschutz zum Arbeitertrutz, indem er die Entwicklung des Staates zur Demokratie hemmt.
4. Der Imperialismus und die Demokratie.
Der Imperialismus verschlechtert die Lage der Arbeiterklasse und verstopft zugleich die Quellen der Sozialpolitik. Indem er so der Arbeiterklasse immer neue Lasten aufbürdet, legt er ihr zu gleicher Zeit Fesseln an, damit sie sich nicht zu wehren vermag. Der Imperialismus höhlt zuerst den Parlamentarismus aus, der für die Arbeiterklasse eine Kampfeswaffe, ein Mittel zur Aufrüttelung der Volksmassen ist, indem er an die Spitze der bürgerlichen Interessen solche stellt, die sich öffentlich nicht behandeln lassen. Die Bourgeoisie stimmt diesem Vorhaben gerne zu, denn sie sieht in dem Parlamentarismus nicht die Form, in der das Volk seine Herrschaft ausüben soll, sondern die, in der sie am besten ihre eigenen Klasseninteressen vertritt. Sieht also die Bourgeoisie in dem Streben nach Eroberung fremder, kulturell niedriger stehender Lander zwecks ihrer Ausbeutung durch den Export des Kapitals und der Waren die ihren Interessen am meisten entsprechende Politik, so wird das Parlament zur Waffe des Imperialismus, und von den Notwendigkeiten der Weltpolitik wird es abhängen, inwieweit das Parlament selbst die Leitung der auswärtigen, jetzt imperialistischen, Politik in seinen Händen behält. Die Bourgeoisie weiß aus historischer Erfahrung, daß es ihren Interessen nicht entspricht, wenn sie ihre auswärtigen Interessen gänzlich der Bureaukratie überläßt. Bureaukratie heißt Routine, geringe Anpassungsfähigkeit an neue Notwendigkeiten, und in vielen Fällen Schlendrian. Sie verbürgt nicht nur die beste Verwaltung, sondern nicht einmal die beste Kenntnis der Sachlage. Besonders was die Kenntnis der Kolonialpolitik betrifft, die wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Betätigung in fremden Ländern, zieht der Bureaukrat, der an seinem Schreibtisch gebunden oder nur auf kurze Reisen angewiesen ist, gegen den Kaufmann, den Journalisten, den Gelehrten, die im freien Verkehr Land und Leute viel besser kennen lernen können, den kürzeren. Darum befaßt sich die Presse, die Wissenschaft und das Parlament der imperialistischen Staaten so viel mit den Angelegenheiten der imperialistischen Politik. Aber ihre Ausführung befindet sich, wie jede Gesetzausführung, in den Händen der Bureaukratie. Während aber bei der Einführung neuer Gesetze, die die innere Politik betreffen, die Bourgeoisie die einzuschlagenden Wege sorgfältig im Parlamente prüft und sich die Kontrolle ihrer Ausführung im vollen Umfange vorbehält, vermeidet sie die öffentliche Erörterung bevorstehender Schritte ihrer auswärtigen Politik; selbst nachdem sie es schon getan, geht das bürgerliche Parlament sehr vorsichtig zur Ausübung seines Beaufsichtigungsrechts über.
In England, wo in den Kreisen der Bourgeoisie die Kenntnis der auswärtigen Angelegenheiten dank der weitverzweigten Ausbreitung der Handelsbeziehungen usw. verhältnismäßig hoch steht und das parlamentarische System am höchsten entwickelt ist, erfährt das Parlament von den Plänen seiner der parlamentarischen Mehrheit entsprossenen Regierung größtenteils erst später, wenn man sich dieselben auch schon nach den Taten der Regierung zurechtkonstruieren kann. Was dem Parlament direkt von der Regierung »eröffnet« wird, sind größtenteils allgemeine Redensarten über die Richtlinien der auswärtigen Politik, die man sich auf Grund der in Betracht kommenden Tatsachen auch ohne »Eröffnungen« entwerfen kann, oder Erklärungen, die der Regierung zur Erhöhung des Eindrucks ihrer Schritte im Auslande nötig erscheinen. Und die regierenden Klassen entäußern sich gerne ihres Rechts auf bestimmenden direkten Eingriff in die auswärtige Politik. Wissen sie doch sehr gut, daß die von ihnen abhängige Regierung keine selbständigen, sondern ihre Interessen dabei vertritt, und daß sie in diesem Sinne handelt, wenn sie sich in den Mantel des Schweigens hüllt. Denn obwohl es den Kabinetten nur in den allerseltensten Fällen gelingt, ihre Töpfe vor den neugierigen Blicken der ausländischen Diplomatie geschlossen zu halten, und obwohl das Spiel zwischen den Diplomaten verschiedener Staaten in Wirklichkeit größtenteils mit aufgedeckten Karten stattfindet, liegt es im Interesse der Kämpfenden selbst, daß die breite Masse des Volkes die Ziele und Trümpfe nicht kennen lernt. Würde das Spiel offen vor der ganzen Welt gespielt werden, so würde es viel schwieriger sein als jetzt, dieser Politik des schmutzigsten Profitinteresses das Mäntelchen des nationalen Interesses umzuhängen. Gerät aber die Politik der Regierung in Gegensatz zu den Interessen einer Gruppe der Bourgeoisie, und versucht diese durch öffentliche Debatte die Pläne ihrer Widersacher zu durchkreuzen, so läßt die Mehrheit des Parlaments die Verhandlung überhaupt nicht zu, indem sie sich hinter die Unmöglichkeit der offenen Besprechung dieser Angelegenheiten in diesem Stadium aus »vaterländischem Interesse« verschanzt. Dies gelingt ihr noch leichter, wenn die Interpellation von einer kleinen Gruppe Ideologen ausgeht, die sich mit ihren abstrakten Auffassungen an dem konkreten Schmutz stoßen, oder von den Vertretern der Arbeiterklasse. Es genügt, an den Ausgang verschiedener Interpellationen der englischen Labour Party oder des Genossen Jaurès zu erinnern. Wenn man einwenden wollte, daß es die Labour Party an der nötigen Geschicklichkeit fehlen ließ, daß sie ihre Position dadurch schwächte, daß sie sich vorher mit der Regierung in Verbindung setzte, so ist das bei Jaurès nicht der Fall. Der französische Genosse kennt die Interna der Diplomatie, und – was man auch von seiner prinzipiellen Auffassung der Probleme der auswärtigen Politik denken mag – in konkreten Tatsachen läßt er sich keinen Bären aufbinden. Daß es ihm aber gelungen wäre, jemals die Regierung ins Bockshorn zu jagen und von ihr mehr zu erfahren, als sie sagen will, das läßt sich auch beim besten Willen nicht behaupten. Das Interesse der Bourgeoisie nimmt dem Parlamentarismus den Charakter einer Waffe gegen den Imperialismus auch in den Ländern, wo die Demokratie in größerem Maße als in Deutschland verwirklicht ist, und wo die besitzenden Klassen viel Selbstbewußtsein besitzen und sich keinesfalls als Objekte der bureaukratischen Verwaltung betrachten.
In Deutschland, wo das Parlament niemals eine selbständige Kraft besessen hat und wo die Parlamentsbeschlüsse von der Regierung und dem Bundesrat einfach in den Papierkorb geworfen werden können, hat man die Macht des Parlaments überhaupt nicht zu schmälern brauchen. Der Imperialismus hat die Ohnmacht des Parlaments nur in das rechte Licht gerückt und gezeigt, daß es mit Zustimmung der Bourgeoisie ohnmächtig ist. Der Reichstag hat mit Bereitwilligkeit der Regierung die Absolution erteilt, als sie ohne seine Genehmigung im chinesischen Abenteuer ungeheure Summen verpulverte. Der Reichstag hat dem mit keinem einzigen Wort widersprochen, daß die Regierung sich heuer in die Marokkokrisen eingemischt und die Gefahr eines Krieges auf sich genommen hat, ohne der Volksvertretung auch nur ein Wort darüber zu sagen. Als im Jahre 1908 das persönliche Regiment sich durch die Selbstenthüllungen des Kaisers im »Daily Telegraph« in furchtbarster Weise kompromittierte, reichte die Erregung der bürgerlichen Parteien nur dazu aus, an das persönliche Regiment die Bitte zu richten, es möge doch seine Interessen besser verwalten. Und als heuer sich in der Bourgeoisie die Meinung verbreitete, die deutsche Diplomatie sei nicht imstande, ihre Interessen mit Nachdruck zu vertreten, da gipfelten ihre Wünsche nicht in dem Rufe nach dem Ausbau der Demokratie, sondern in der Bitte, die diplomatischen Stellen mit bürgerlichen Elementen zu besetzen, die besser als die Junker imstande sein würden, sich mit den fremden Diplomaten wegen der Profitinteressen herumzuschlagen.
Der Imperialismus höhlt die Macht des Parlaments aus und stärkt zugleich die Macht der Bureaukratie. Nicht nur weil die Ohnmacht des Parlaments die Allmacht der Bureaukratie bedeutet, sondern auch weil der Imperialismus das Wachstum der Machtmittel der Bureaukratie fördert, indem er mit jedem Jahre das Budget, die Rüstungen anschwellen läßt. Kein Wunder also, wenn die Bureaukratie ihr verstärktes Machtgefühl späterhin nicht nur auf dem Gebiet der auswärtigen Politik zur Geltung bringt, sondern die Arbeiterklasse immer heftiger schurigelt. Nachdem die Quellen der Sozialpolitik mit dem Eintritt Deutschlands in die Bahn des Imperialismus versiegten, hat die Arbeiterklasse zusehen müssen, wie ihre kümmerlichen Selbstverwaltungsrechte in den Krankenkassen, die sie mit Mühe zum Wohl der leidenden Proletarier ausgenützt hat, der Bureaukratie ausgeliefert worden sind.
Der Kampf gegen den Imperialismus.
Von Jahr zu Jahr wächst die imperialistische Gefahr. Sie vernichtet die Resultate jahrzehntelangen Ringens der Arbeiterklasse um die Aufbesserung ihrer Lage und droht, die sich immer solidarischer fühlenden Proletarier aller Länder auf das blutige Schlachtfeld zu führen. Je größer ihr Umfang wird, je öfter der Imperialismus nach einer kaum überstandenen Gefahr, vor der es selbst der Bourgeoisie graut, wieder von neuem seine ruchlose Arbeit beginnt, desto klarer tritt es zutage, daß in diesem Wahnsinn ein System steckt, desto offensichtlicher wird es, daß es keine bürgerliche Schicht gibt, die ihm Widerstand leisten könnte. Was tun, wie dieses zügellose Treiben bändigen, wie diesem Wahnsinn ein Ende bereiten?
Bürgerliche Friedensfreunde vermeinten der Kriegsgefahr beikommen zu können, ohne den Kapitalismus abschaffen zu müssen. Sie glauben sogar, daß der Kapitalismus, nachdem der Imperialismus vermittels ihrer unschuldigen Hausmittel überwunden sein wird, erst recht aufblühen würde. Da sie gegen die Ausbeutung der unentwickelten Völker durch die alten kapitalistischen Staaten nichts einzuwenden haben und nur an dem Wettrüsten, an der Gefahr eines Krieges unter den zivilisierten Völkern, Anstoß nehmen, sehen sie in dem gemeinsamen Vorgehen der kapitalistischen Staaten das zu erstrebende Ziel und glauben, am Kapitalismus selbst Kräfte zu finden, die dieses Ziel verwirklichen könnten. Immer mehr – so behaupten die bürgerlichen Friedensapostel – wächst die Zahl der gemeinsamen ökonomischen Interessen der zivilisierten Länder, d. h. der Bourgeoisie der kapitalistischen Staaten. Deutsches Kapital steckt in englischen kolonialen Unternehmungen und französisches in deutschen Industrieunternehmungen. Der Handelsverkehr knüpft diese Länder immer fester aneinander; ein Krieg zwischen ihnen, möge er ausfallen wie er will, müßte allen die größten Wunden schlagen. Angesichts dessen müßten sich die Regierungen der zivilisierten Länder über ihre kolonialen Streitfragen einigen und schließlich lernen, nachdem sie sich über die Teilung der Beute geeinigt, in den Ländern der ökonomischen Ausdehnung des europäischen Kapitals – in China, in der Türkei usw. – gemeinsam aufzutreten. Wird diese Einigung erzielt, so ist das Ende des Wettrüstens da, und es ist nur noch nötig, die verhältnismäßig geringen Machtmittel gegen die sich widerstrebenden Barbaren zu unterhalten. Alle eventuell auftauchenden Streitigkeiten würden dann von den obligatorischen internationalen Schiedsgerichten friedlich aus der Welt geschafft werden.
Die Entwicklung der Orientvölker in den letzten Jahren hat eine neue Quelle der Rüstungen eröffnet, die durch keine kapitalistischen Abmachungen verstopft werden können. Handelt es sich doch dabei um die Auflehnung der Orientvölker gegen das internationale Kapital. Diese Abmachungen könnten nur auf eine Zeitlang die Gefahr des Zusammenstoßens der konkurrierenden kapitalistischen Staaten vermindern, sie könnten sie aber nicht abhalten, gegen den erwachenden Orient zu rüsten. Können aber solche Abmachungen das Wettrüsten aus der Welt schaffen und die kapitalistischen Staaten zu dauerndem gemeinsamen Vorgehen bewegen? Dies ist mehr als zweifelhaft, obwohl die Interessen des Kapitals der verschiedenen Länder sich in der Tat zu einem Teile immer mehr verflechten. Die Trusts und Aktiengesellschaften, die von dem sich immer mehr international gestaltenden Finanzkapital gespeist werden, haben indes auch ihre »nationalen« Interessen. Diese bestehen darin, daß einzelne »nationale« Kapitalistengruppen die Möglichkeit haben, einen schwachen Staat um so stärker schröpfen zu können, je kleiner der Einfluß der anderen Kapitalistengruppen in ihm ist. Selbst wenn sie sich in der Folge über die Aufteilung dieses Marktes einigen wollen, müssen sie vorher ihre Kräfte messen, um die Beute nach dem Kräfteverhältnis teilen zu können, und wenn es sich morgen zeigen sollte, daß eine der »nationalen« Kapitalsgruppen schwächer geworden ist, so wäre in demselben Augenblick das gestrige Übereinkommen über den Haufen geworfen, und alle anderen konkurrierenden Gruppen würden sofort versuchen, ihren Anteil an der Beute auf Kosten der schwächeren zu vergrößern. Es gibt eben keinen anderen Teilungsmaßstab als die ökonomische Macht, die sich in den staatlichen Machtmitteln äußert. Darum fordern die Kapitalisten aller Staaten, selbst wenn sie sich verständigen wollen, das Rüsten ohne Unterlaß; denn sie sehen in den Rüstungen den Maßstab, nach dem ihr Anteil an der Beute bemessen wird, die Garantie, daß sie jede Verschiebung in den Kräfteverhältnissen anderer Gruppen auszunützen imstande sein werden. Keinem internationalen Schiedsgericht wollen sie die Entscheidung über ihre wichtigen Interessen anvertrauen, was die Schiedsgerichte zu Institutionen stempelt, welche die Konflikte schlichten, die nicht einmal eines diplomatischen Krieges wert sind. Ist also auch die Angst des Kapitals vor dem Kriege groß, so vertröstet sich jeder kapitalistische Staat dennoch damit, daß die andern vor ihm werden zurückweichen müssen, wenn er sehr stark dastehen würde. So geht das Wettrüsten immer weiter. In derselben Richtung wie die politische Entwicklung geht der technische Fortschritt des Militarismus. Würde auch zwischen einzelnen Mächten eine Verständigung wegen ihrer Rüstungen erzielt werden, so würde eine das Kräfteverhältnis von Grund aus ändernde neue militärische Erfindung als Ansporn für neue Rüstungen dienen; denn welche Macht würde sich der Lockung widersetzen können, die in ihren Händen befindlichen Trümpfe möglichst schnell auszunützen? Daß die Erfindung schon morgen kein Geheimnis bleiben würde, schafft heute die Möglichkeit nicht aus der Welt, mit ihrer Hilfe einen größeren Anteil an der Weltbeute zu erkämpfen. Darum ist das Aufrüsten und nicht das Abrüsten das Zeichen der Zeit.
In dieser Hinsicht hat keine einzige Macht einer anderen etwas vorzuwerfen. Wenn England seine Rüstungen mit Friedenserklärungen und Aufforderungen zu einer Flottenverständigung begleitet, so tut es dies nur, weil es einen Vorsprung in den Rüstungen besitzt, der ihm die Beherrschung der Welt sichert. Rüsten aber alle anderen Staaten weiter, so verringert sich dieser Vorsprung trotz der größten Anstrengungen Englands. Der deutsche Imperialismus, der sehr spät aufgestanden ist und von dem Raubgut nur die schlechtesten Teile ergattert hat, hofft bei fortgesetzten Rüstungen an Macht zu gewinnen und beantwortet deshalb alle englischen Einladungen zu einer Flottenverständigung mit einer glatten Absage. Sollte es aber schließlich wegen des Bautempos seiner Kriegsschiffe sich mit England verständigen, um koloniale Zugeständnisse zu erhalten, so kann man sicher sein, daß es dann die erste Gelegenheit, die durch eine neue politische Mächtegruppierung geschaffen werden kann, benutzen wird, um mit verstärkter Kraft das versäumte nachzuholen.
Das von den bürgerlichen Friedensfreunden aufgestellte Ziel und die von ihnen zur »Zivilisierung« des Imperialismus vorgeschlagenen Mittel sind also utopisch. Aber selbst wenn dieses Ziel verwirklicht werden könnte, wenn in dem Chaos der sich auflösenden bürgerlichen Gesellschaft und der sie zerfleischenden Gegensätze sich eine Organisation aller kapitalistischen Staaten zur schnelleren Ausbeutung und Unterdrückung der rückständigen Länder bewerkstelligen ließe, so wäre das noch immer kein Ziel, das von der Arbeiterklasse unterstützt werden könnte. Als unterdrückte Klasse kann das Proletariat nicht mithelfen, andere zu unterdrücken, weiß es doch aus eigener Erfahrung, daß die Peitsche, die es zu schwingen mitgeholfen hätte, später auf seinen eigenen Rücken niedersausen wird, ganz abgesehen davon, daß es auch die Kosten dieser Unterdrückungspolitik tragen müßte.
Wie die Wundermittel der bürgerlichen Friedensfreunde – die Verständigung des Kapitals, die Internationalen Schiedsgerichte – keinen Damm gegen die wachsende imperialistische Gefahr bilden können, so räumt der Imperialismus auch mit allen anderen Hindernissen auf, die ihm auf dem Boden des Kapitalismus in den Weg gestellt werden können. Die parlamentarische Opposition macht er, wie wir gesehen, ohnmächtig, indem er unter der Zustimmung der Bourgeoisie dem Parlamentarismus jede Widerstandskraft raubt. Stellt sich ihm die Presse in den Weg, so knebelt er sie, wie er das in Deutschland nach dem Hunnenfeldzug tat, als die sozialdemokratische Presse die Barbaren der deutschen Zivilisation in China zu geißeln begann. Es tritt immer deutlicher zutage, daß in der Rüstkammer der bürgerlichen Gesellschaft kein Mittel vorhanden ist, das dem tobenden Imperialismus die Kandare anlegen könnte. Mit der wachsenden imperialistischen Gefahr wächst aber der Grimm der Arbeiterklasse gegen sie. Jede neue Aktion, die die Kriegsgefahr heraufbeschwört, entfacht eine heftige Protestaktion des Proletariats der kapitalistisch entwickelten Länder. Kein Appell an die »nationalen« Instinkte hilft nunmehr gegen die mächtig anschwellende antiimperialistische Gesinnung der Volksmassen; denn unter dem nationalistischen Mäntelchen guckt immer deutlicher das kapitalistische Profitinteresse als Triebkraft der imperialistischen Aktionen hervor. Ist nun die zunehmende Protestaktion des Proletariats das Mittel, die Abkehr des Kapitalismus von der imperialistischen Politik zu erzwingen?
Damit das der Fall sein könnte, müßten für den Kapitalismus andere Entwicklungsbahnen freistehen, als die er eingeschlagen hat. Dies ist aber nicht der Fall. Diese Tatsache geht nicht nur daraus hervor, daß alle kapitalistischen Staaten imperialistische Politik treiben, sondern auch daraus, daß die Politik des Freihandels, die Politik des Abrüstens, die Politik der Demokratie – worin die dem Imperialismus entgegengesetzte, aber immer noch bürgerliche Politik zusammengefaßt werden kann – nichts anderes bedeuten würde, als die Selbstauslieferung des Kapitalismus an den Sozialismus. Der Freihandel würde die Produktivkräfte mit solcher Schnelligkeit entfalten, daß die bürgerliche Gesellschaft vor die Frage gestellt würde: entweder sozialistische Regelung der Produktion oder Lahmlegung der Produktion durch Krisen. Und während die immanente wirtschaftliche Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft diese Frage vorlegen würde, würde das in der Demokratie erstarkte, mit allen ihren Waffen ausgerüstete, arbeitende Volk einen gelinden Druck auf die Kapitalistenklasse ausüben, um die Beantwortung dieser Frage im Sinne des Sozialismus zu beschleunigen. Diesen Weg, dessen Ziel dem Kapital nicht verborgen ist, kann der Kapitalismus, wenn er nicht zugunsten des Sozialismus abdanken will, nicht beschreiten. Im Imperialismus sieht das Kapital seine letzte Zuflucht vor dem Sozialismus. Die Trusts und Kartelle haben ihm die Möglichkeit gegeben, sich der Entwicklung der Produktivkräfte zu widersetzen oder ihre für das Kapital ungünstigen Folgen – wie z. B. den Preissturz – zu vermeiden. Der Militarismus und die kolonialen Unternehmungen ersetzen ihm den sich einengenden inneren Markt. Die wachsenden Machtmittel des Staates geben ihm die Möglichkeit, das Proletariat niederzuhalten. Das Kapital weiß nicht, daß das nur Notbehelfe sind, die ihm nur eine Zeitlang helfen können, sich über Wasser zu halten, und nur eine kurze Galgenfrist gewähren. Es hofft durch Entfaltung des Nationalismus, durch die kolossalen Gewaltmittel, die ihm der Imperialismus in die Hände liefert, allen Gefahren standzuhalten. Die Umwälzungen, die es jenseits der großen Ozeane herbeiführt, steigern in ihm den Glauben an eine soziale Mission, die es zu erfüllen hat. Es hält am Imperialismus aus allen Kräften fest und ist bereit, jeden Widerstand zu brechen, der sich seinen imperialistischen Lebensinteressen in den Weg stellen sollte. So steht das Proletariat vor der Tatsache, daß es von dem Imperialismus mit den größten Gefahren bedroht wird, daß es keine Möglichkeit gibt, dem Kapitalismus eine andere Politik aufzudrängen, ohne die politische Macht aus den Händen des Kapitalismus zu entwinden. Diese Situation führt das Proletariat zum Kampfe um den Sozialismus, denn hat es einmal die Macht in Händen, so hat es keinen Grund, für andere Ziele als für die Erfüllung seiner eigenen historischen Aufgabe zu kämpfen. Die historische Entwicklung hat den Sozialismus schon lange aus dem Stern, der dem Wanderer aus weiter Ferne den Weg zeigte, zu einer Tatsache gemacht, für die die Gesellschaft ökonomisch reif ist. Der Grad der durch die technische Entwicklung erreichten Ausgiebigkeit der menschlichen Arbeit erlaubt in den kapitalistischen Staaten allen Menschen, ihre Bedürfnisse zu decken. Der hohe Grad der Vergesellschaftung der Arbeit, die hohe Konzentration der Industrie, ihre Beherrschung durch die Banken, erlauben die zentrale Leitung der Produktion. Die Frage des Sozialismus ist jetzt eine reine Machtfrage geworden. Hat die Arbeiterklasse dem Kapital die Macht entrissen, so gibt es für sie kein anderes Ziel, als die Verwirklichung des Sozialismus. Dieses aber bedeutet: die einzige gründliche Entwurzelung des Imperialismus drängt die Arbeiterklasse zum Kampfe um den Sozialismus, vor dem die imperialistische Politik die Bourgeoisie eben retten sollte.
Hie Imperialismus, hie Sozialismus – das ist die Losung, die aus dem Ringen der kapitalistischen Staaten um die Welt, aus dem Kampfe des Proletariats gegen den Imperialismus hervorgeht. Daß sie im Sinne der historischen Entwicklung gelöst wird, daß sie also mit der Zertrümmerung des Kapitalismus enden muß, dafür bürgt die Höhe der sozialen Entwicklung, die der Kapitalismus in seinen ältesten Domänen erklommen hat. Der Kapitalismus ist in seinen ältesten Stätten kein Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung mehr; seine imperialistische Politik entspringt, wie wir schon gezeigt haben, in letzter Linie der Tatsache, daß er die Produktivkräfte in seinem Mutterlande nicht entwickeln, sondern hemmen will. Damit ist schon gesagt, daß der Boden für den Sozialismus in den alten Ländern der kapitalistischen Entwicklung reif ist, daß die Ernte nur auf die Schnitter wartet.
Das Proletariat selbst ist aber in den vorgeschrittenen Ländern nur in seiner Minderheit dieser Tatsache sich bewußt, und nur zu einem Teile bereit, sich für den Sozialismus in die Schanzen zu schlagen. Das gibt dem Imperialismus die Möglichkeit, noch eine Zeitlang die Menschheit zu bedrohen. Aber indem er dies tut, beschleunigt er auch den Augenblick, da das ganze Volk die Sturmglocken vernehmen wird. Jedes neue Brigantenstück des Imperialismus weckt eine stärkere Protestaktion des Proletariats, während die zunehmende Teuerung und die ständig wachsenden Steuerlasten dem Heer der Kämpfenden immer neue Bataillone zuführen. Genügt nicht die Kraft des unter dem Banner des Sozialismus gegen den Imperialismus kämpfenden Proletariats, um den Ausbruch eines europäischen Krieges zu hintertreiben, so werden die Greuel dieses Krieges, die unermeßliche Not, die er über die Volksmassen aller Länder ausschütten wird, dafür sorgen, daß die Besiegten wie die Sieger vom blutigen Schlachtfelde als Gefangene des Sozialismus heimkehren. Das Proletariat kann nicht im Kampfe gegen den Imperialismus besiegt werden. Dafür bürgt nicht nur die Tatsache, daß das Kapital nicht imstande ist, die Arbeiterklasse zu besiegen, ohne die Wurzeln seiner Macht, die Produktion, ihres wichtigsten Betriebsmittels, der Arbeitskraft zu berauben. Dafür bürgt auch die Tatsache, daß das moderne Heer, das wichtigste Machtmittel des Imperialismus, in immer steigendem Maße aus Proletariern besteht. Wie stark auch der Einfluß des militärischen Drills und des Kadavergehorsams ist, die den Proletarier im Soldatenrock von dem im Arbeitskleide zu trennen suchen, so muß er dennoch versagen vor den erschütternden Folgen des Krieges.
Es wäre müßig, zu untersuchen, in welchen Formen die Auseinandersetzung zwischen dem Proletariat und den Mächten des Imperialismus stattfinden wird. Jedenfalls gehört eine solche Untersuchung nicht in den Rahmen dieser Schrift, die sich zur Aufgabe gestellt hat, die Entwicklungstendenzen des deutschen Imperialismus und die Interessen, die seine Triebkraft bilden, darzustellen. Die vorgeschrittenen Elemente der Arbeiterklasse müssen angesichts der nahenden großen Kämpfe Aufklärung in die Massen tragen über den Charakter des Imperialismus und die historischen Aufgaben der Arbeiterklasse. Je energischer diese Arbeit geleistet wird, je mehr dem Imperialismus die Maske abgerissen wird, desto geringer werden die Opfer sein, die der Kampf erfordern wird. Daß sie aber nicht klein sein werden, weiß das Proletariat sehr wohl. Handelt es sich doch um nichts Geringeres, als eine Klasse zu entthronen, die in ihrer Machtfülle die Welt beherrscht, die Fesseln zu sprengen, die Millionen von Menschen in Sklaven verwandeln, und an Stelle des Prinzips des weltbeherrschenden kapitalistischen Besitzes das Prinzip der Arbeit zu setzen. Daß die bevorstehenden Kämpfe nicht im nationalen Rahmen ausgefochten werden können, ergibt sich schon aus dem internationalen Charakter des Imperialismus. Und die zunehmende Schlagfertigkeit, mit der die Arbeiterklasse gegen den Imperialismus manöveriert, beweist, daß die objektiven Aufgaben, die der internationalen Arbeiterklasse harren, ihre bewußten Träger schon in der ganzen kapitalistischen Welt besitzen. Das Band der internationalen Solidarität, das vor fünfzig Jahren noch ein theoretischer Begriff war und erst in den wirtschaftlichen und politischen Kämpfen des Proletariats erstarkt ist, verwandelt sich unter dem Einfluß der immer wieder vom Imperialismus heraufbeschworenen Kriegsgefahr in einen eisernen Ring, der die Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder als eine Kampfkolonne zusammenhält. In der kommenden Auseinandersetzung zwischen dem Imperialismus und dem Proletariat wird es sich aber in einen engeren Ring verwandeln, der den Kapitalismus erdrosseln wird.
Großen Kämpfen schreitet das Proletariat entgegen. Mögen auch die Opfer groß sein, die seiner harren, es hat keine Ursache zu zaudern, oder nervöse Voreile zu zeigen. Die Arbeiterklasse geht den künftigen Kämpfen freudig entgegen, denn was auch die Lobredner des Kapitalismus sagen mögen, die Arbeiterklasse hat doch nur ihre Ketten zu verlieren. Ihr winkt in der Ferne der Sozialismus, dessen Sonne über blutige Schlachtfelder scheinen wird, wenn es dem Proletariat nicht gelingt, durch einen Krieg gegen das Kapital den Krieg der Nationen unmöglich zu machen.
Unser Kampf gegen den Imperialismus.
Der Imperialismus als die Politik des Kapitalismus.
Die Grundlage aller Differenzen in unserem Verhältnis zum Imperialismus bildet die Frage nach seinem Charakter. Was ist der Imperialismus, welches ist sein Verhältnis zur kapitalistischen Entwicklung überhaupt, zur weltwirtschaftlichen Expansion im besonderen? Ist er die auswärtige Politik des krachenden Kapitalismus oder nur eine der noch jetzt möglichen Formen der kapitalistischen Machtentfaltung? Die Bedeutung dieser Fragen leuchtete dem deutschen Proletariat nur allmählich in den letzten Jahren ein. Lange Zeit schien der Imperialismus dem deutschen Proletariat eine berechtigte, von den geographischen Bedingungen aufgezwungene, gewissermaßen zur nationalen Eigenart gewordene Politik des englischen Kapitals zu sein. Da die englische Weltpolitik solche »Erfolge« aufzuweisen wußte, wie die aufblühenden, sich selbst verwaltenden Staaten Kanadas, Australiens, Neuseelands, bemühte man sich, selbst die englische Ausbeutung Indiens gegen die »doktrinäre« Verurteilung eines Hyndman zu verteidigen, und sogar als der Burenkrieg das Raubgesicht des englischen Imperialismus zeigte, verdeckten es später die Zugeständnisse, die England den Besiegten machte, indem es ihnen die Selbstverwaltung gab. Der französische Imperialismus wurde nur nach einer speziellen Seite gewürdigt, als Ausfluß der Sucht, die Niederlage des Jahres 1871 durch die Auffrischung der Gloire auf kolonialem Boden wettzumachen. Als sich aber allmählich die deutsche auswärtige Politik aus einer Kontinentalpolitik in Weltpolitik zu verwandeln begann, als sie ihr wichtigstes Machtmittel, die Flotte, auszubauen begann, da schien dieser wichtigste Prozeß in der Geschichte des neuen Reiches mehr Produkt eines bizarren Cäsarenwahns als historische Notwendigkeit zu sein, der man die höhere Notwendigkeit des Sozialismus entgegenstellen muß, die es aber zu studieren und zu verstehen gilt, wenn der Kampf gegen sie entsprechend geführt werden soll. Als aber der »Wahnsinn« zum System wurde, als er das Reich von einem »Abenteuer« ins andere stürzte, als er Milliarden zu verschlingen und Kriegsgefahren heraufzubeschwören begann, da wurde sich zwar die ganze Partei klar über die gemeinsamen Grundlagen der gesamten imperialistischen Politik des Kapitalismus, die schon vor fünfzehn Jahren von Kautsky, Parvus in ihren Grundzügen richtig erkannt wurden, aber es fehlt bis heute nicht nur eine durchdachte Erkenntnis der Entwicklungslinien des deutschen Imperialismus, sondern es mangelt an einer konsequenten Anwendung der Analyse der Triebkräfte des Imperialismus, wie sie von Kautsky und Parvus in ihren verdienstlichen, wenn auch nicht in allen Teilen gleichmäßig durchgearbeiteten Broschüren über die Kolonialpolitik aufgestellt und von Hilferding und Otto Bauer vertieft wurde, in der täglichen Agitation der Partei, in ihrer Stellungnahme zu den konkreten Fragen des Imperialismus.[Anmerkungen 10]
Die Theoretiker des Marxismus haben den Imperialismus als die Politik des Kapitalismus im Zeitalter des Finanzkapitals dargestellt. Sie haben die überseeische Expansion des Kapitals geschildert als Folge seiner Flucht vor der sich mindernden Profitrate in den Ländern des entwickelten Kapitalismus, sie haben also den Imperialismus als ebenso notwendige Folge dieser Entwicklung geschildert, wie die Kartelle und die sich in ihre Dienste stellende Schutzzollpolitik. Die überseeische kapitalistische Expansion führt in ihrer Entwicklung zur Kolonialpolitik, zum Streben nach überseeischen, dem nationalen Kapital gewissermaßen reservierten Gebieten, die sich mit dem Mutterland, das heißt zur imperialistischen Politik, in einem staatsrechtlichen Verhältnis befinden. Es gibt jetzt keine überseeische Politik, die nicht dem Imperialismus dienen würde. Denn wenn das nationale Kapital auch nicht alle überseeischen Gebiete, die es wirtschaftlich »erschließt«, in kolonialen Besitz verwandeln kann, ja nicht einmal es immer bezweckt – auch auf dem Gebiet der Weltpolitik müssen sich die kapitalistischen Staaten in den zu verfolgenden Zielen konzentrieren, und sie können nicht nach jedem an sich wünschenswerten Objekt greifen –, so dient doch die wirtschaftliche Expansion in allen Ländern, die eventuell Kolonien werden können, der imperialistischen Politik. Durch die Erweiterung seines ökonomischen Einflusses an den verschiedensten Stellen der Erde, die er nicht zu besetzen gedenkt, wird der imperialistische Staat ökonomisch für seine Hauptziele gestärkt. Indem die Massen der dem Kapital zufließenden Profite und Zinsen sich vermehren, bekommt der imperialistische Staat ökonomische Mittel zur Durchführung seines Willens in den ins Auge gefaßten Gebieten, und er bekommt politische Trümpfe zur Durchsetzung seiner Ziele in die Hand. Die wirtschaftliche Festsetzung in Marokko schanzte dem deutschen Finanzkapital Millionen aus der Ausbeutung der marokkanischen Bauern zu, aber noch mehr, sie gab der deutschen Regierung die Möglichkeit der Forderung von Kompensationen von Frankreich am Kongo, die die ganze mittelafrikanische Frage aufrollen. Das Eindringen des deutschen Kapitals nach Persien, obwohl es sich erst in den Anfängen befindet, gab Deutschland Trümpfe in die Hand zur Aufräumung der Hindernisse, die ihm Rußland in der Bagdadbahn stellte, ja zur Lockerung des Verhältnisses Rußlands zu England, wodurch die allgemeinen Ziele der deutschen Weltpolitik gestärkt wurden. Der Zusammenhang zwischen der »friedlichen« überseeischen Politik des Kapitals und seiner eventuellen Gewaltpolitik, das heißt dem Imperialismus, ist noch größer. Unter Umständen kann sich das Ziel der friedlichen Expansion eines Landes unter dem Drucke der Verhältnisse in das Ziel der gewaltsamen Expansion verwandeln: Unruhen der »friedlich« ausgebeuteten Bevölkerung, ein Zusammenstoß mit anderen Mächten, die durch weniger friedliche Mittel das strittige Gebiet für ihre ausschließliche Expansion gewinnen wollen, können unter Umständen sehr leicht einen Umschwung der friedlichen in eine kriegerische Expansion veranlassen, selbst wenn sie früher sich nicht auf der bewußt gewählten Marschroute der Weltpolitik des in Betracht kommenden Staates befand. Darin bestand unter anderem mehrere Male die Gefahr der deutschen Einmischung in die Marokkowirren, obwohl die deutsche Regierung nach unserer festen Überzeugung, die durch neuere, tiefer eindringende Untersuchungen bürgerlicher Weltpolitiker bestätigt wird,[Anmerkungen 11] kriegerische Absichten nicht von vornherein besaß. In vielen Fällen aber ist die friedliche Expansion überhaupt erst möglich als Folge der gewaltsamen. Denn was bildet den wichtigsten Gegenstand der überseeischen Expansion? Doch nicht der Export der Erzeugnisse des täglichen Gebrauchs, Textilwaren usw., nach denen das Bedürfnis in nicht entwickelten Kolonialländern nicht nur sehr gering ist, sondern das erst entwickelt werden kann, wenn irgend eine staatliche Gewalt an Ort und Stelle sich befindet und dem Handelsverkehr die entsprechende Sicherheit bietet. Eine solche Gewalt existiert in den unentwickelten Gebieten nicht, sie kann also weder durch geordnete Rechtsverhältnisse noch durch Verkehrswege der friedlichen wirtschaftlichen Expansion der kapitalistischen Länder die Wege ebnen. Das macht den Bau von Eisenbahnen und anderen Verkehrswegen durch das Finanzkapital in den unentwickelten Ländern zur Vorbedingung der »friedlichen« Entwicklung, was wieder die Besetzung dieser Gebiete erfordert. Und eben der Export des Kapitals zum Bau der Verkehrswege, dem die Aufpfropfung des Staatsmechanismus folgt, bildet den Hauptteil der »friedlichen« wirtschaftlichen Expansion.
Angesichts alles dessen muß aufs energischste die auch unter einem Teile der Radikalen verbreitete Auffassung abgelehnt werden, die Sozialdemokratie sei zwar eine entschiedene Gegnerinder Kolonialpolitik, sie trete aber für die friedliche überseeische Expansion Deutschlands ein. Diese Auffassung ist gänzlich falsch (weil sie den Zusammenhang zwischen friedlicher und gewaltsamer Expansion übersieht), man könnte sie als Überbleibsel aus den Zeiten des Einflusses der freihändlerischen Auffassungen auf das Geistesleben der Sozialdemokratie ruhig aussterben lassen, würde sie nicht sehr wichtige Folgen für unsere Agitation haben: sie bricht jedem konsequenten Kampfe gegen die Kolonialpolitik und den Imperialismus das Rückgrat.
Die Grundlage dieser Auffassung bildet die Annahme, die überseeische Expansion liege im Interesse der Arbeiterklasse, die durch sie Arbeitsgelegenheit bekommt. Würde diese Auffassung von der Sozialdemokratie als richtig anerkannt, dann bleibt der imperialistischen Presse nur übrig, zu beweisen – und sie kann es mit gutem Erfolg tun –, daß die Zeit der überseeischen friedlichen Expansion in Kolonialgebieten vorüber ist, daß, wer die wirtschaftliche überseeische Expansion als im Interesse der Arbeiterklasse liegend betrachtet, auch für die Mittel eintreten muß, die ihre Entwicklung sichern, das heißt für Flotte und Imperialismus überhaupt. Wer also die friedliche Expansion als im Interesse der Arbeiterklasse betrachtet, der verliert jeden Halt gegenüber dem Imperialismus.[Anmerkungen 12]
Will er aber seine ablehnende Haltung gegenüber dem Imperialismus bewahren, so bleibt ihm nur ein Weg offen: er muß die imperialistische Politik nicht als die auswärtige Politik des krachenden Kapitalismus behandeln, sondern zu beweisen suchen, es bestände für den Kapitalismus die Möglichkeit noch anderer auswärtiger Politik, die auch im Interesse der bürgerlichen Gesellschaft liege. Nur das Unverständnis der Massen der besitzenden Klassen wolle das nicht verstehen, und das mache sich der Eigennutz kleiner Cliquen von Interessenten zunutze, die die Massen des verführten Bürgertums vor ihren Karren spannen.
Diese Art der Behandlung des Imperialismus – auch sie hat im Lager des Marxismus in Deutschland eine Reihe von Vertretern – schraubt unsere Erkenntnis des Imperialismus um Jahrzehnte zurück, indem sie an Stelle des Imperialismus, wie er lebt und webt, eine ganz andere Weltpolitik zum Ausgangspunkt ihrer Stellungnahme nimmt, nämlich die Weltpolitik der schon lange verschwundenen Epoche des englischen Industriekapitals, deren theoretischen Ausdruck man bei den freihändlerischen Nationalökonomen Englands findet. Sie wiesen darauf hin, daß die Güte der Ware, nicht aber die Kanonen die kolonialen Märkte erobern, weshalb auch jede Kolonialpolitik vom Übel sei. Man müsse nur für die Sprengung der chinesischen Mauern sorgen und das Weitere der Durchschlagskraft der kapitalistischen Wirtschaftsordnung überlassen. Aber die Tatsache beiseite gelassen, daß diese theoretische Propaganda nicht einmal zum Aufgeben auch nur einer einzigen Kolonie geführt hat, so basierte diese Auffassung auf der Vorherrschaft der englischen Industrie und auf dem Glauben an die heilvolle Wirkung der freien Konkurrenz. Motivierte doch der bekannte englische Schriftsteller Josiah Tucker im Jahre 1774 die kolonialfreundliche Stellungnahme in folgenden charakteristischen Worten: »Die Kolonien treiben immer Handel mit dem Volke, das ihnen den größten Nutzen gewährt. Nirgends aber finden sie einen so guten Markt für Rohstoffe, kein anderes Land liefert ihnen die unentbehrlichen gewerblichen Erzeugnisse so billig wie England. Über Waren, die sie anderweitig vorteilhafter kaufen oder absetzen, verfügen sie auch jetzt schon nach Belieben. Damit fällt aber auch das Bedenken, daß die Freigabe Amerikas die englische Seemacht schädigen könnte.[38]
Seit dieser Zeit hat sich vieles geändert. Keine einzige nationale Bourgeoisie hat ein Monopol auf den Weltmarkt. Ein wüster Kampf tobt auf ihm. Und da dieser Kampf eine so rapide Entwicklung der Produktivkräfte fordert, daß diese die kapitalistische Welt aus den Fugen zu heben drohen, ist die Losung des Kapitals nicht die freie Konkurrenz, sondern Monopole, auch Monopolisierung der auswärtigen Märkte durch Schaffung von Kolonien. Denn selbst wenn in diesen Kolonien das Prinzip der offenen Tür und gleicher zollpolitischer Behandlung jeder Ware herrschen sollte – dies wird oft nötig sein aus Rücksicht auf die Finanzen der Kolonie oder auf internationale Verträge –, so gibt der Besitz der politischen Gewalt der Bourgeoisie des Landes, dem die Kolonie gehört, einen so großen Vorsprung vor den Konkurrenten, wie es ihr nur nötig ist. Die sprachliche Gemeinsamkeit mit den kolonialen Behörden, ihre Versippung mit dem nationalen Kapital, die finanzielle Abhängigkeit von dem Mutterland bringen es mit sich, daß die Kolonie ein Ausbeutungsmonopol des kolonisierenden Landes bildet.
Wer es also für möglich hält, dem monopollüsternen Kapital unserer Ären die Weltpolitik des englischen Kapitals aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts zu empfehlen, der macht es sich unmöglich, überhaupt die von ihm bekämpfte imperialistische Politik zu erkennen und erfolgreich zu bekämpfen.
Die Annahme der Möglichkeit einer anderen als der imperialistischen Weltpolitik des Finanzkapitals führt zu weiteren Irrtümern. Für die Agitation gegen den Imperialismus folgt aus ihr, daß man die imperialistischen Affären als Produkt der Treibereien einer kleinen Clique darstellt, gegen die die breiten Schichten des Bürgertums scharf Stellung nehmen können. Da sie es aber nicht tun, so bekommt die Haltung des Bürgertums zu den imperialistischen Fragen den Charakter einer Komödie der Irrungen. Das Resultat einer solchen Betrachtungsweise für die Politik der Partei ist, daß sie nicht imstande ist, kühl und richtig die Ursachen des imperialistischen Umschwunges in den Schichten des Bürgertums zu würdigen, was zu einer ganzen Reihe allgemeiner Fehlschüsse, besonders in den Fragen des Kampfes gegen den Imperialismus, führt, auf die ich noch im weiteren zurückkommen werde.
Soll unsere Haltung gegen den Imperialismus eine unverrückbare Grundlage bekommen, so gilt es, aus dem Geistesleben die Überreste alter Ideologen auszumerzen, die einmal zum Teil eine wirkliche Basis besaßen, jetzt aber irreführend, weil den Tatsachen nicht entsprechend, sind.
Der Imperialismus ist die einzig mögliche Weltpolitik der jetzigen kapitalistischen Epoche. Er bringt zwar einer eng begrenzten Schicht der führenden kapitalistischen Kreise, den Banken und der schweren Industrie, aber hinter ihm stehen die weitesten Kreise der Bourgeoisie, Nutzen, weil er ihnen Aussichten eröffnet, die, wenn auch unerfüllbar, für die Bourgeoisie eine unüberwindbare Kraft besitzen. Er verheißt ihr die Schaffung von Monopolmärkten, auf denen sie frei von den Sorgen sein wird, die ihr jetzt der Weltmarkt verursacht. Er verheißt ihr Raum für die andauernde Entwicklung der Produktivkräfte, also die Überwindung der Gefahr der sozialen Revolution. Er öffnet ihr in der Epoche des Wachstums der materiellen Macht der Bourgeoisie und ihres gesteigerten Zerfalls den Ausblick auf eine Machtentfaltung, der sie mit höchstem Entzücken erfüllt.
Es gibt keine andere als die imperialistische Politik des Kapitalismus unserer Tage.
Es gibt keine Mittel im Kampfe gegen den Imperialismus des Kapitalismus.
Die geschilderten Differenzen in der Behandlung des Imperialismus führen zu sehr wichtigen Differenzen in der Auffassung des Kampfes gegen den Imperialismus. Wer im Imperialismus nicht die Politik des Kapitalismus sieht, sondern nur die Politik kapitalistischer Cliquen, denen die antiimperialistischen Tendenzen innerhalb des Bürgertums die Wage halten oder jedenfalls sich mit Aussicht auf Erfolg entgegensetzen können, dem lächelt auch die Hoffnung, daß das Proletariat gemeinsam mit den antiimperialistischen bürgerlichen Schichten in der Lage sein wird, dem Imperialismus die ärgsten Giftzähne auszubrechen. Diese Hoffnung scheint von Zeit zu Zeit durch Tatsachen bestätigt zu werden. In Spanien nahm das Kleinbürgertum an dem proletarischen Aufstand gegen das Riffabenteuer teil, in England drängt das Kleinbürgertum nach einer Milderung des englisch-deutschen Gegensatzes. Aber nur wer an der Oberfläche der Ereignisse haften bleibt, kann in diesen Vorgängen Anzeichen einer wachsenden bürgerlichen Opposition gegen den Imperialismus sehen. Eine wirkliche Auflehnung des Kleinbürgertums gegen den Imperialismus, wie sie Spanien gesehen hat, ist nur in kapitalistisch ganz unentwickelten Ländern möglich, in denen der Imperialismus mit den Interessen oder Hoffnungen weiterer bürgerlicher Schichten noch nicht verwachsen, in denen er wirklich nur ein Abenteuer einer kleinen Hofclique ist. Wo die Spitzen der Bourgeoisie an seinen Geschäften interessiert sind, wo die Banken die Presse beherrschen, kommt selbst in wirtschaftlich noch verhältnismäßig zurückgebliebenen Ländern, die erst an der Schwelle des Überganges vom Agrarstaat zum Industriestaat stehen, wie Österreich, Japan, Italien, keine namhafte bürgerliche Opposition gegen den Imperialismus auf. Die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum spannen sich dort vor den Wagen des Imperialismus und glauben dabei ihre zukünftigen Interessen zu vertreten, zu verhüten, daß die alten kapitalistischen Staaten die Welt restlos unter sich verteilen. Die Annexion Bosniens und der Herzegowina hat keine antiimperialistische Opposition des Kleinbürgertums hervorgerufen, obwohl sie Österreich an den Rand des Krieges brachte und seine Finanzen arg in Mitleidenschaft zog. Dasselbe in Italien. Nach einer großen Niederlage, wie es die abessinische war, entsteht zwar ein Katzenjammer, aber einige Jahr später beherrscht schon die imperialistische Ideologie die öffentliche Meinung. Vielleicht werden die Folgen des tripolitanischen Abenteuers wieder eine Ernüchterung im Kleinbürgertum erzeugen, aber es ist klar, daß diese dann für die einstweilen hinter Schloß und Riegel gebrachte tripolitanische Beute keine Bedeutung haben kann. Und bis Italien die Kräfte zu neuen Abenteuern sammelt, wird auch dieser Katzenjammer verflogen sein. Wie ist es aber mit der angeblich antiimperialistischen bürgerlichen Bewegung in England bestellt? Wir lassen ihre Schwäche beiseite. Die »Daily News« fragten mit Recht vor kurzem: Was helfen die antiimperialistischen Artikel und Reden der linksliberalen Abgeordneten, wenn ihnen imperialistische Taten folgen? Es ist aber ein großer Irrtum, in dem »deutschfreundlichen« Gebaren des englischen Kleinbürgertums und eines Teiles des englischen Handelskapitals – siehe die Haltung des »The Economist« – eine Opposition gegen den britischen Imperialismus zu sehen. Es ist eine Bewegung für die Erhaltung der britischen Weltherrschaft mit billigeren Mitteln, weil die großen Flottenausgaben zur Belastung des Kleinbürgertums führen können. Der Schrei: Verständigung mit Deutschland, bedeutet also nicht: nieder mit dem Imperialismus! Aber die Hoffnung auf eine bürgerliche Opposition gegen den Imperialismus ist nicht die einzige Folge dieser Unterschätzung des Imperialismus. Nicht einmal die wichtigste. Auch wenn man den Imperialismus nicht in seinem Zusammenhang mit der Kartellierung der Industrie, mit der Schutzzollpolitik, kurz, als regelrechten Ausfluß der letzten Phase der kapitalistischen Entwicklung auffaßt, erliegt man leicht der Versuchung, die imperialistischen Gegensätze zu unterschätzen. Da die imperialistischen Interessen nicht als die Interessen der Bourgeoisie angesehen werden, sondern als die einzelner ihrer Cliquen, hofft man durch den Druck der proletarisch-bürgerlichen Opposition die streitenden imperialistischen Lager zu gegenseitigen Zugeständnissen zu bringen, zu einem gewissen Ausgleich, um so mehr, als die Regierungen erstens – im großen ganzen – die allgemeinen bürgerlichen Interessen Sonderinteressen der Cliquen gegenüber vertreten sollen, zweitens, weil sie die Haltung der Volksmassen während eines imperialistischen Zusammenstoßes fürchten müssen. Diese Auffassung enthält natürlich einen berechtigten Kern: wo keine großen ökonomischen Interessen des Kapitals engagiert sind und die allgemeinen weltpolitischen Ziele eines Staates zum momentanen Ausgleich drängen, endet die Krise ohne Zusammenstoß, durch einen Schacher. Natürlich kann die Möglichkeit solcher Ausgleiche keinem Zweifel unterliegen. Fraglich ist in Beziehung auf sie nur zweierlei: erstens, ob man aus diesen Ausgleichen auf die Tendenz zur Milderung der imperialistischen Gegensätze schließen kann, zweitens, welche Stellungnahme das Proletariat dieser Tendenz wie einzelnen imperialistischen Schachergeschäften gegenüber einnehmen soll. Wenn man die Anleihegeschäfte der europäischen Finanz in China und der Türkei für die letzten Jahre studiert – die Geschichte der letzten türkisch-französischen Anleihe und der augenblicklich verhandelten internationalen Anleihe für China kann als Schulbeispiel angesehen werden –, so treten zwei Tatsachen klar zutage: Die Einigung der internationalen Finanz auf ein gemeinsames Vorgehen ist sehr schwierig, erstens, weil einzelne Gruppen der Finanz im Rahmen eines Staates schwer davon abzubringen sind, auf eigene Hand ihr Glück zu probieren gegen die andere nationale Gruppe, die sich international zu einem Raubzug assoziieren will, zweitens, weil ein Ausgleich der Interessen nationaler Gruppen untereinander sehr schwer zu finden ist. Die Verteilung der Beute erfolgt nach dem Machtverhältnis, und dieses ist weder leicht festzustellen noch unveränderlich. Darum – das ist die zweite Tatsache, auf die es ankommt – bildet ein Zusammengehen der nationalkapitalistischen Gruppen miteinander bei verschiedenen überseeischen Finanzgeschäften absolut keinen Ansporn zur Minderung der imperialistischen Machtmittel und Tendenzen. Jede nationale kapitalistische Gruppe will bereit sein, sich eventuell gegen die anderen auf eigene Hand durchzusetzen, gestützt auf die Machtmittel ihres Staates.
Würde aber auch ein Zweifel über diese Entwicklungsmöglichkeiten sachlich zu vertreten sein, so ist es ein Produkt einer gänzlichen Undurchdachtheit des Problems unserer Haltung zum Imperialismus, wenn weite Kreise der Partei den Abstand zu den imperialistischen Vergleichsgeschäften fehlen lassen und in ihnen einen zu begrüßenden Erfolg unseres Kampfes gegen den Imperialismus, einen Anfang der Annäherung der Völker sehen. Selbst wenn dieser Ausgleich international wäre, also nicht auf eine neue Mächtegruppierung, das heißt auf das Ersetzen alter Gegensätze durch neue hinausliefe – wie es bisher immer der Fall war –, so wäre sein Resultat keinesfalls das, was wir erstreben. Ein internationales Übereinkommen der imperialistischen Mächte könnte naturgemäß kein antiimperialistisches Resultat zeitigen: es würde mit einer Verteilung der Erde enden, wie sie schon einigemal stattgefunden hat. Solch ein Zustand, der den bisher mit Kolonien wenig beglückten Ländern freien Raum für die koloniale Tätigkeit eröffnen würde, kann schon darum kein von uns zu begrüßendes Ziel des proletarischen Kampfes bilden, weil wir doch prinzipielle Gegner der Kolonialpolitik sind. Aber noch ärger sieht die Sache aus, wenn man sie nicht in der luftleeren Region der Abstraktion behandelt, sondern auf dem Boden der Wirklichkeit, an der Hand der geographischen, wirtschaftlichen und machtpolitischen Faktoren, die über den Gang der Weltpolitik entscheiden. Die Welt ist ganz ungleichmäßig unter die Mächte verteilt. Eine von G. Hildebrand zusammengestellte Tabelle über dies Verhältnis von Hauptland und Kolonien zeigt dies sehr grell:
| Zählungjahr | Einwohner per Quadratkilometer des Stammlandes | Kolonialbesitz in Prozenten des Stammlandes | |
|---|---|---|---|
| Belgien | 1910 | 255,2 | 8.090% |
| Niederlande | 1909 | 177 | 6.184% |
| Portugal | 1900 | 58,5 | 2.258% |
| Frankreich | 1906 | 73,8 | 1.286% |
| England | 1910 | 145 | 9.399% |
| Deutschland | 1910 | 120 | 491% |
| Österreich-Ungarn | 1910 | 75,8 | - |
| Italien | 1910 | 121 | 171% |
Die zurückgesetzten imperialistischen Staaten können freien Raum für ihre wirtschaftliche Entfaltung nur auf Kosten Dritter erlangen. Geschieht das durch machtpolitisches Kräftemessen, so ist klar, daß neue Gegensätze aufgerissen werden, die an Schärfe die jetzigen übertreffen. Aber selbst wenn es zu einem Abkommen zwischen England und Deutschland über die belgischen und portugiesischen Kolonien käme, das mit pekuniärer Abfindung der beraubten Staaten enden würde, so ist auf lange Zeit ein Element der Unruhe in die Weltpolitik gebracht, und Rüsten bis zum Weißbluten müßte die Parole der schwächeren und infolgedessen auch der stärkeren Mächte sein, denn keine würde sich dann vor einem neuen »Ausgleich« auf ihre Kosten sicher fühlen. Nicht nur neue koloniale Lasten, sondern auch neue Militärlasten werden die Folge aller Verständigungsaktionen sein. Und deshalb ist nur eine einzige Haltung der Sozialdemokratie ihnen gegenüber möglich: die Demaskierung der volksfeindlichen Ziele dieser Aktionen, der Hinweis, daß die Arbeiterklasse nichts von ihnen zu erwarten hat, daß ihre Aufgabe nur im entschiedensten Kampfe gegen den ganzen internationalen Kurs des Imperialismus besteht.
Oft wird gegen diesen Standpunkt der Hinweis ins Feld geführt, wir könnten doch nicht mit verschränkten Armen dem sich immer mehr verschärfenden deutsch-englischen Gegensatz gegenüberstehen, wir müßten ihn einzuschränken suchen, ihm die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung nehmen. Wer von diesem Standpunkt aus sich, wenn auch nur im Prinzip zustimmend, zu den Ausgleichgeschäften der imperialistischen Staaten stellt, der erreicht alles andere als das ihm vorschwebende Ziel. Denn unser hemmender Einfluß auf die imperialistischen Treibereien wächst proportional zu dem Mißtrauen, das die Volksmassen gegen die imperialistische Politik und ihre Leiter fühlen, proportional zu der antiimperialistischen Stimmung und Aktion der Arbeiterklasse. Nur die Furcht vor dem Proletariat steigert die Vorsicht der Regierung in der Vertretung der imperialistischen Interessen. Was kann aber die Aktionskraft der Arbeiterklasse mehr schwächen als die Hoffnung – und die, wie wir es gezeigt haben, noch dazu gänzlich unbegründete – auf die Verständigungsaktionen der imperialistischen Mächte? Was kann ihren scharfen Gegensatz zum Imperialismus fester einschläfern als die Taktik, die darauf hinausläuft, den Kampf gegen neue koloniale Erwerbungen zu schwächen, aus Rücksicht auf die angebliche Milderung der imperialistischen Gegensätze und des Rüstungstempos, das durch kolonialen Schacher erreicht wird?
Wir stellen die Frage unseres Verhältnisses zu den Ausgleichsaktionen allgemein und verzichten zunächst auf die konkrete Schilderung der jetzigen Phase des deutsch-englischen Gegensatzes, der Rolle der Rüstungsfrage in ihr und der Behandlung, die diese Fragen in unserer Presse gefunden haben. Es handelt sich mir augenblicklich nur um die Feststellung der Hauptgesichtspunkte, unter denen sich eine proletarische Taktik im Kampfe gegen den Imperialismus aufbauen läßt.
Da der Imperialismus die Politik des Kapitals unserer Tage ist, da er in den kapitalistisch entwickelten Staaten alle bürgerlichen Schichten mitreißt, da er immer neue Gegensätze unter den Staaten schafft, liegt eine dauernde Milderung der imperialistischen Gefahr nicht im Bereich der Möglichkeit. Momentane Versuche ihrer Abschwächung, wie sie von den Großmächten vorgenommen werden, zeitigen rein imperialistische Resultate, Verschiebungen im Kolonialbesitz der imperialistischen Staaten, die, wie sie durch Machtverschiebungen entstanden sind, zu immer größerer imperialistischer Machtentfaltung führen. Angesichts dessen kann die Sozialdemokratie sich nicht auf die Suche nach weißen Salben auf die Wunden, die der Imperialismus schlägt, verlegen, sondern sie muß im prinzipiellen Kampfe gegen den Imperialismus, in der Ablehnung und Bekämpfung seiner Kombinationen ihre Aufgabe sehen.
Sozialismus gegen Imperialismus.
Der Kampf gegen die imperialistischen Abenteuer nimmt in der ganzen proletarischen Welt an Stärke zu. In Deutschland hat er während der Marokkokrise einen Umfang angenommen, wie es noch vor kurzem niemand erwarten konnte. Die vortrefflich gelungene Versammlungsaktion der Sozialdemokratie zeigte, daß es der imperialistischen Agitation nicht gelungen ist, die kapitalistischen Ziele des Imperialismus vor den Massen zu verstecken, sie in nationale Ziele umzulügen. Und wem es gegönnt war, während der Wahlagitation selbst in kleinen Orten über die deutsche Weltpolitik zu sprechen, der mußte das Fehlen aller nationalistischen Regungen in der Arbeitermasse mit der größten Freude feststellen. Diese Tatsache erübrigt ein besonderes Eingehen auf die Frage von den Grenzen unseres Kampfes gegen den Imperialismus. Worauf es ankommt, das ist die ununterbrochene Agitation, welche die Kluft zwischen dem Imperialismus und der Arbeiterklasse erweitert und vertieft und den objektiven Gegensatz des Imperialismus zu den Interessen der Arbeiterklasse aufzeigt. Aus diesen Tatsachen ergibt sich von selbst, daß in der ernsten Situation, in der es aufs Biegen oder Brechen gehen wird, der Imperialismus die Arbeiterklasse auf seiner Seite nicht finden kann.
Der größte Teil der Fehler, die im Kampfe gegen den Imperialismus selbst bei seinen prinzipiellen Gegnern unterlaufen, resultiert aus der Eigenart des deutschen Imperialismus. Die geographische Lage Deutschlands bewirkt, daß der deutsche Imperialismus sehr stark in der Kontinentalpolitik verankert sein muß. Er muß damit rechnen, daß bei jeder machtpolitischen Entscheidung die Würfel auf dem Kontinent fallen werden, und daß sein diplomatischer Aufmarsch immer mit der Schaffung einer günstigen Konstellation auf dem Kontinent beginnen muß. Das hat bei dem deutschen Bürgertum schließlich die Einsicht in die Notwendigkeit der Vereinigung von Kontinental- und Weltpolitik, des Ausbaus von Heer und Flotte erweckt. Restlos ist der Gegensatz der beiden Strömungen in der deutschen Politik noch heute nicht ausgemerzt, früher aber mußte sich die weltpolitische Richtung sehr mühselig ihren Weg bahnen. Sie wurde bekämpft durch die Junker, da diese in ihr einen Ausfluß der scheel angesehenen Industrialisierung Deutschlands sehen, und von dem Konkurrenzneid der Offizierskreise des Landheeres, die ein Ast am Baume des Junkertums sind. Die liberalen Bourgeois waren auch keine Freunde der Weltpolitik. Schon lange, nachdem Deutschlands Handelspolitik sich auf dem Boden des Schutzzolls befand, hielten sich die Liberalen bis weit in das nationalliberale Lager – siehe die Haltung Bambergers zu der Kolonialpolitik[Anmerkungen 13] – in den Fragen der Weltpolitik an die freihändlerische Auffassung von der Überflüssigkeit der Weltpolitik. Von dem Bürgertum kühl behandelt, wie konnte der deutsche Imperialismus von den Vertretern der Arbeiterklasse anders als eine erotische Pflanze betrachtet werden, bei deren Bekämpfung man auf Bundesgenossen rechnen kann? Und daß der Kampf gegen den Imperialismus auf die leichte Achsel genommen, daß er nicht mit der ganzen prinzipiellen Schärfe geführt wurde, ist auch zu einem großen Teile der Eigenart des deutschen Imperialismus zuzuschreiben. Die langen Jahre der gänzlichen Versumpfung der deutschen Kolonialpolitik reizten zu allem anderen eher als zu einem prinzipiellen Kampfe gegen sie, als den letzten Zufluchtsort des Kapitals vor dem Sozialismus. Viel leichter war der Kampf gegen sie mit den Ziffern des kolonialen Handelsverkehrs und des Kolonialetats in der Hand, wobei man auf die Unterstützung eines großen Teiles der bürgerlichen Presse rechnen konnte.
In derselben Richtung wie die Versumpfung der deutschen Kolonialpolitik und die Kolonialmüdigkeit der Bourgeoisie wirkte auf unseren Kampf gegen den Imperialismus die Art, wie er sich sein Flußbett suchte. Jetzt, nach zwanzig Jahren imperialistischer Politik, kann man auf Grund ihres Studiums ihre Richtlinien wohl erkennen.[Anmerkungen 14] Aber sie sind nicht das Produkt eines von Anfang an bewußten Strebens der deutschen Regierung; der imperialistische Kurs machte viele Schwankungen durch, er wurde von den verschiedensten Einflüssen nach allen Richtungen gezerrt, bis er sich irgendwo stabilisierte. Diese Irrungen und Wirrungen mußten den Eindruck eines persönlichen Zickzackkurses erwecken, sie wurden von bürgerlicher Seite scharf angegriffen. Und obwohl die bürgerliche Kritik der auswärtigen deutschen Politik noch weniger Zeichen einer durchdachten Richtung aufweist, noch mehr in eine Zickzackkurspolitik ausmündet als die amtliche Politik, die schließlich unter dem Drucke der objektiven Bedingungen in die richtige – vom imperialistischen Standpunkte! – Bahn einlenkte, so weckte diese bürgerliche Unzufriedenheit mit den ersten Schritten des Imperialismus Hoffnungen auf das Bürgertum, sie drückte den Kampf der Sozialdemokratie aus der Bahn des prinzipiellen Kampfes gegen den Imperialismus, weil er kapitalistische Politik ist, in die des Kampfes gegen ihn als schlechte kapitalistische Politik.
Die sprunghafte Entwicklung des deutschen Imperialismus, die seine »normalen« Entwicklungstendenzen verdeckte, zeitigte noch eine Verirrung der Taktik, an die wir bisher nicht erinnert haben. Eben weil die Ziele der imperialistischen Politik anderer Staaten klar vorlagen, während die deutschen in der Luft zu schweben schienen, wurde im Kampfe gegen den deutschen Imperialismus seiner Unsinnigkeit oft der Sinn des englischen, französischen Imperialismus, ihre verhältnismäßige Begründetheit gegenübergestellt, worunter nicht nur der prinzipielle Kampf litt, sondern wodurch wir uns zugleich auch Blößen unseren Gegnern gegenüber gaben und unseren ausländischen Bruderparteien den Kampf gegen ihren Imperialismus erschwerten, was sich dokumentarisch belegen läßt.
Ist die Quelle einer Reihe von Mängeln in unserem Kampfe gegen den Imperialismus in der Eigenart des deutschen Imperialismus zu suchen, so liegt die Ursache anderer Fehler auf dem Gebiete des geistigen Lebens der Partei, das nicht Schritt hielt mit dem Tempo der kapitalistischen Entwicklung. Während diese den Boden Deutschlands stürmisch für den Sozialismus vorbereitete, die materiellen Bedingungen der sozialen Revolution reifen ließ, entspricht diesem Reifegrad des materiellen Unterbaus nicht die Ausbreitung der sozialistischen Erziehung der Massen, denen die Erkenntnis noch nicht eingegangen ist, daß der Imperialismus die letzte Karte ist, die der Kapitalismus ins Spiel wirft. Nicht nur die breiten Massen, die außerhalb des Einflusses der Sozialdemokratie, ohne Glauben an die eigene Kraft, unter dem Joche des Kapitalismus ächzen, wissen noch nichts vom Sozialismus, sondern weite Kreise der Sozialdemokratie halten die Erscheinungen des Imperialismus für einen Beweis dafür, daß der Sozialismus noch eine Frage einer sehr fernen Zukunft ist. Die Tatsache, daß der Sozialismus nur als Bewegung der großen Mehrheit des Volkes siegen kann, verschließt ihnen die Augen für eine zweite Tatsache: daß ein namhafter Teil der Arbeiterklasse nur in dem Prozeß des Machtkampfes der sozialdemokratischen Arbeiterschaft die Gleichgültigkeit, das Mißtrauen gegen die eigene Macht abstreifen und sozialistisch werden kann, daß also der Weg zur Macht und der Kampf um Macht nicht erst dann beginnen kann, wenn die überwältigende Mehrheit sich unter dem Banner der Sozialdemokratie sammelt. Das Fehlen dieser Erkenntnis, daß bei der Höhe und Schärfe der Klassengegensätze, die in Deutschland existieren, die Ära der Massenkämpfe schon angebrochen ist, daß ebenso bei Gelegenheit von imperialistischen wie von wirtschaftlichen oder politischen Konflikten der Mächte der Reaktion mit der Arbeiterklasse der Stein ins Rollen kommen kann, hat Konsequenzen für unseren Kampf gegen den Imperialismus. Da der Sozialismus für weite Kreise der Partei keine »aktuelle« Frage ist, kann er nicht als eine konkrete Antwort auf die imperialistischen Fragen gelten. Nicht Sozialismus als Gegenparole auf den imperialistischen Kriegsruf, sondern realpolitische Antworten werden gesucht. Man kümmert sich nicht darum, daß es ganz phantastische Antworten sind und dabei rein bürgerliche, die man in der Form der Befürwortung rein imperialistischer Kombinationen – »deutsch-englische Verständigung« usw. – ausfindig macht. Sie haben den Vorzug, daß sie in dem Rahmen des Kapitalismus bleiben, und denen, die beweisen, daß dieser »Vorzug« durch den »Nachteil« erkauft wird, daß sie keine Kandaren, sondern Zwirnsfäden für den Imperialismus sind, antwortet man mit dem Vorwurf: Das ist doch die lange schon von der Partei verworfene Politik des »Alles oder nichts«.
Eines wird dabei vergessen: Alles oder nichts – Sozialismus oder Wüten des imperialistischen Brandes –, diese Alternative ist keine Alternative der Losungen, die man stellt, wenn man »anarchosyndikalistisch« gesinnt ist, und die man verlacht, wenn man Realpolitiker ist. Es ist eine objektive Alternative, die vom Kapitalismus gestellt ist. Er spielt va banque, und von diesem halsbrecherischen Spiele läßt er sich nicht durch gute Ratschläge abhalten, weil er durch seine ganze Lage zu ihm getrieben wird. Will er nicht der freien Entwicklung der sozialen Kräfte, das heißt dem Sozialismus Raum lassen, so muß er sich durch Syndikate, Trusts, Schutzzölle, Kolonien, das heißt durch Imperialismus zu fesseln versuchen. Er schafft dabei Gegensätze, die ihn in die Luft sprengen können. Da er aber nicht zurück kann, so bleibt uns nur eines zu tun: durch den Kampf um Demokratie uns im Kampfe gegen den Imperialismus zu stärken und durch Agitation und Aktion gegen den Imperialismus uns für den Augenblick vorzubereiten, in dem wir ihm, wenn er durch Explosion zu Boden geworfen ist, das Genick brechen können.
Die Abneigung gegen die Politik der »reinen Negation« in den Fragen des Imperialismus schöpft in den radikalen Parteikreisen Kraft aus zwei Quellen. Die erste ist die Tradition der Marxschen auswärtigen Politik, die zweite eine Analogie mit unserer reformerischen Tätigkeit in den inneren Fragen. Die Väter des wissenschaftlichen Sozialismus seien doch immer für konkrete Lösungen der auswärtigen Fragen, für oder gegen Italien, für diese oder jene Lösung der Orientfrage eingetreten, wird oft eingewendet. Dieser Einwand aber läßt außer acht, daß die Bedingungen, unter denen die Stellungnahme unserer Altmeister erfolgte, in jedem Punkte sich geändert haben. Die Arbeiterklasse war damals als eine ihrer besonderen historischen Aufgaben bewußte Klasse gar nicht vorhanden, und die Stellungnahme Marx', Engels oder Lassalles zu den Fragen der auswärtigen Politik sollte keinesfalls die Marschroute der proletarischen Aktion festlegen. Sie erfolgte, um der bürgerlichen Demokratie zu zeigen, in welcher Richtung sie den Gang der Ereignisse beeinflussen soll. Oft erschienen die Arbeiten unserer Altmeister, die dahin abzielten, anonym in bürgerlichen Blättern. Und auch der Gegenstand ihrer Stellungnahme war ganz anders: nicht um die Unterjochung anderer Völker, nicht um die Belastung der Arbeiterklasse, nicht um die Schaffung der Möglichkeit, die freie Entwicklung der Produktivkräfte auf eine Zeitlang zu hemmen, handelte es sich in der Zeit der Kämpfe um die Entstehung nationaler Staaten in Mittel- und Südeuropa, wie jetzt bei den imperialistischen Staaten. Umgekehrt handelte es sich um die Schaffung des Terrains für den Kampf um den Sozialismus. Und wie es fraglich ist, ob das Proletariat zu dem Träger der auswärtigen Politik werden konnte, die Marx damals befürwortete, wenn es damals als selbständige soziale Kraft existiert hätte – denn dann wäre es nicht nötig gewesen, eine bürgerliche Aufgabe zu erfüllen, wie die Schaffung des Bodens für die Entwicklung des Proletariats –, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß diese Politik nichts mit den Aufgaben zu tun hat, die jetzt vor dem Proletariat der kapitalistisch entwickelten Staaten stehen. Wie interessant die Marxsche auswärtige Politik für die historische Betrachtung ist, sie kann uns keinesfalls als Wegweiser für unsere Stellung zum Imperialismus dienen.
Noch weniger als der Hinweis auf Marx kann die Analogie mit der Taktik der Sozialdemokratie in den inneren Fragen als beweiskräftig angesehen werden; sie bildet nur ein Hemmnis der Entwicklung einer proletarischen Taktik in den Fragen der auswärtigen Politik. Wir kämpfen um Reformen auf dem Gebiet der inneren Politik, aber nur so weit, als sie im Rahmen des Kapitalismus durchführbar sind. Aber wir haben immer den Kampf um Reformen abgelehnt, die undurchführbar waren, selbst wenn er agitatorisch momentan sehr wirksam gewesen wäre. Weder für das »Recht auf Arbeit« noch für eine allgemeine staatliche Garantie des Mindestlohns ist die Sozialdemokratie eingetreten, weil sie diese Reformen für unvereinbar mit dem Bestehen des Kapitalismus hielt. Wollt ihr gegen Arbeitslosigkeit und Elend gesichert sein, so kämpft gegen den Kapitalismus, das war die Antwort der Sozialdemokratie auf die Wunderrezepte sozialer Quacksalber, die unheilbare Wunden des Kapitalismus heilen wollten. Der Imperialismus ist eine unheilbare Krankheit des Kapitalismus, die die Welt mit allgemeinem Siechtum bedroht. Der Hinweis auf andere heilbare Krankheiten kann nicht als Argument gelten gegen die, die dem Imperialismus gegenüber erklären: Ignis et ferrum sanat!
Die Probe aufs Exempel.
Von neuem ist die Regierung an die deutsche Nation mit enormen Rüstungsvorlagen herangetreten, die heute eine halbe Milliarde neuer Ausgaben erfordern, morgen eine halbe Milliarde neuer Einnahmen erfordern werden und die internationalen Gegensätze auf die Spitze treiben. Daß eine Aktion gegen diesen neuen gigantischen Vorstoß des deutschen Imperialismus zu entfalten ist, braucht nicht gesagt zu werden. In welchen Formen sie einzuleiten ist, darüber werden die verantwortlichen Parteiinstanzen entscheiden. Wir wollen hier nur an diesem praktischen Beispiel zeigen, welchen Inhalt die Aktion haben kann, je nachdem man eine einheitliche, durchdachte Taktik verfolgt oder unsere Stellungnahme von den geistigen Überbleibseln vergangener Epochen beeinflussen läßt.
Im ersten Falle zeigen wir den Massen die Ziele des Imperialismus und fragen sie: Wollt ihr diesem kapitalistischen Götzen zuliebe neue Lasten und neue Gefahren über euch ergehen lassen? Wir zeigen ihnen die Konsequenzen dieser imperialistischen Politik und appellieren an ihren Willen zur Befreiung, stärken ihren Glauben an sie.
Im zweiten Falle versuchen wir den Massen zu beweisen, daß selbst vom bürgerlichen Standpunkt dieser neue Vorstoß des deutschen Imperialismus nicht nötig war, daß das bürgerliche Deutschland auch bei einer Verständigung mit England gut fahren kann. Dabei laufen wir nicht nur Gefahr, daß die Imperialisten uns – mit einem gewissen Rechte von ihrem Standpunkt aus – antworten werden: Der kürzeste Weg zur Verständigung mit England führt durch eine Rüstungsverstärkung – Spitze gegen Spitze soll man Gaben empfangen, wie es im Hildebrandlied heißt –, sondern wir haben uns die Hände gebunden in der prinzipiellen Agitation gegen die Kolonialpolitik, obwohl eine Freimachung der Bahn zu ihr das Ziel der neuen Rüstungsausgaben bildet.
In dem einen Falle stehen wir klar zum Gefecht, im zweiten verwirren wir uns in einem Labyrinth von Widersprüchen, sind genötigt – wir, die realpolitische Partei –, die Augen vor den wirklichen Zusammenhängen zu schließen, gehen mit abgebrochener Spitze des Speeres, mit fremdem Banner in der Hand in den Kampf.
Die Wahl sollte doch leicht sein!
Wege und Mittel im Kampfe gegen den Imperialismus.
Die Diskussion in der »Neuen Zeit« über unsern Kampf gegen den Imperialismus hat schon zu einem Resultat geführt: sie hat das Bestehen zweier sich entgegengesetzter Auffassungen des Imperialismus und unseres Kampfes gegen ihn scharf hervorgehoben. Jetzt gilt es, den Charakter dieser Differenz, ihre Quellen und Folgen möglichst klar herauszuarbeiten, denn nur volle Klarheit über faktisch bestehende Meinungsunterschiede nimmt ihnen den Charakter unnötiger Reibereien und erlaubt, ihre Bedeutung für die Parteipraxis zu würdigen. Seiner Form nach eine Polemik gegen den Genossen Kautsky, ist der Artikel ein Versuch einer abgeschlossenen Darstellung des Standpunktes, der in der Frage des Kampfes gegen den Imperialismus von Pannekoek, Lensch und mir seit einigen Jahren verfochten wird. Wie es dem Charakter der ganzen Frage, ihren widerspruchsvollen Tendenzen, dann unseren individuellen Ausgangspunkten entspricht, bestehen auch zwischen meinen Ausführungen und denen der genannten Genossen in einzelnen Teilfragen Meinungsunterschiede, die zu vertuschen wir keine Ursache haben, da ihre Klärung unsere grundsätzliche Übereinstimmung nur festigen kann.
Zwei Methoden der Untersuchung des Imperialismus. Zwei Auffassungen des Imperialismus.
Kautsky hält das Wettrüsten für den Ausdruck einer Politik der besitzenden Klassen, die, obwohl in den Interessen sehr einflußvoller Schichten des Kapitals begründet, doch keine Lebensnotwendigkeit des Kapitalismus ist.
Faktoren – schreibt er auf S. 106/07 der »N. Z.« 1912 –, die ein Lebenselement des kapitalistischen Produktionsprozesses sind, ohne die er nicht zu existieren vermag, können selbstverständlich nur mit ihm selbst beseitigt werden. Aber es ist ein grobes Mißverständnis, jede Erscheinung, die ein Ergebnis des kapitalistischen Produktionsprozesses ist, als sein Lebenselement zu betrachten, ohne das er nicht zu existieren vermag.
Die Gewinnung des Mehrwertes ist ein Lebenselement der kapitalistischen Produktionsweise. Es erzeugt das Streben nach Verlängerung des Arbeitstages. Dies aber ist keineswegs ein Lebenselement des Kapitalismus. Er kann auch, und noch besser, bei verkürzter Arbeitszeit gedeihen. Das Streben nach Vermehrung des Mehrwertes wird durch dessen Beschränkung bloß in andere Bahnen gelenkt. Je kürzer die Arbeitszeit, desto stärker zum Beispiel das Bestreben, menschliche Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen.
So ist auch die stete Ausdehnung des Marktes eine Lebensnotwendigkeit für den Kapitalismus. Auf einer gewissen Höhe seiner Entwicklung erscheint als die bequemste Methode, sie zu erreichen, die Erwerbung von Kolonien oder Einflußsphären, was zum Wettrüsten führt. Wird aber diese Methode unterbunden, so bedeutet das nicht den Zusammenbruch, sondern nur die Notwendigkeit, andere Methoden seiner Expansion in Anwendung zu bringen.
Das Wettrüsten beruht oft auf ökonomischen Ursachen, aber nicht auf einer ökonomischen Notwendigkeit. Seine Einstellung ist nicht im geringsten eine ökonomische Unmöglichkeit.
Das ist die grundlegende Auffassung des Genossen Kautsky, und auf ihr baut er das Gebäude seiner Ausführungen. Weil der Imperialismus nur eine der Methoden ist, durch welche die Lebensnotwendigkeit des Kapitalismus verwirklicht wird, so ist nicht nur der Kampf gegen das Wettrüsten als den Ausfluß des Imperialismus, möglich, was niemand bestreitet, sondern die Abrüstung ist möglich. Da aber die Sozialdemokratie für alle Reformen einzutreten hat, die die Last der Arbeiterklasse erleichtern und die Bedingungen des Klassenkampfes bessern, so hat sie auch für die Abrüstung einzutreten. Um diese seine Stellung zu stärken, begnügt sich Kautsky nicht mit der Behauptung, »unsere Übereinstimmung mit den bürgerlichen Verfechtern der Abrüstung beruhe … auf einer Gemeinsamkeit der Interessen der bürgerlichen Welt mit denen des Proletariats in dieser Frage« –, was schon eine sehr tröstende Feststellung wäre im »neuen Zeitalter der Revolutionen« –, sondern er schreibt (N. Z., XXIX, 2, S. 101): Das Nächstliegende ist die Unterstützung und Verstärkung der gegen den Krieg und das Wettrüsten gerichteten Bewegung des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie. Man darf diese Bewegung nicht unterschätzen. Sie entspringt ebenso realen Beweggründen wie die entgegengesetzte Bewegung, und wir haben alle Ursache, sie im Gegensatz zu der letzteren zu stärken … Und wenn von bürgerlicher Seite Vorschläge zur Erhaltung des Friedens oder der Einschränkung der Rüstungen gemacht werden, die einigermaßen durchführbar sind, haben wir alle Ursache, sie zu fördern und die Regierungen zu zwingen, hierzu Stellung zu nehmen.
So Kautsky. Als ich vor einem Jahre in der » Bremer Bürger-Zeitung« vom 29. April herauszubekommen versuchte, wo in den kapitalistisch entwickelten Ländern denn die Bewegung des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie gegen den Krieg und das Wettrüsten (wohl gemerkt: gegen das Wettrüsten) sich bemerkbar gemacht hätte, welche einigermaßen durchführbaren Vorschläge zur Einschränkung der Rüstungen von ihr gemacht worden wären, da herrschte Schweigen im Walde. In den heutigen Ausführungen Kautskys sucht man auch vergebens nach dem Beispiel irgend einer solchen Bewegung. Denn Kautsky verzeihe, daß wir seine Berufung (in der »N. Z.« vom 6. Sept.) auf die »ansehnliche bürgerliche Abrüstungsbewegung« in England, die von der englischen Regierung vertreten wird, und die »sicher« auch in Frankreich bei der Regierung Gehör und Unterstützung findet, nicht ernst nehmen können. Nicht nur, weil die Zustimmung Frankreichs zu der angeblichen englischen »Abrüstungsbewegung« ein nur dem Genossen Kautsky von der französischen Regierung verratenes Geheimnis darstellt, von dem kein anderer Sterblicher etwas zu hören bekam, sondern weil – wie wir noch weiter zeigen werden – die englische Regierung weder für eine Abrüstung, noch für eine allgemeine Einschränkung der Rüstungen eintritt. Und das ist der Punkt, bei dem die Revision der Kautskyschen Auffassung des Imperialismus beginnen muß. Denn es ist klar, daß eine Auffassung, die keine einzige historische Tatsache aufzuweisen hat, auf die sie sich stützen könnte – und es gibt keine bürgerliche Bewegung gegen Krieg und Wettrüsten, hinter der irgend eine soziale Schicht steht – nichts anderes als eine blutleere Spekulation sein kann.
Stellt man sich den Kapitalismus abstrakt vor, auf Grund eines Schemas, das für alle Zeiten, von dem Beginn der kapitalistischen Warenproduktion bis zu den heutigen Tagen aufgestellt wird, so hat der Kapitalismus nur eine Lebensnotwendigkeit: die Produktion des Mehrwertes und seine Realisierung als Profit. Aber dieses allgemeine Schema genügt nicht einmal zur Darstellung der allgemeinen Gesetze des Kapitalismus, geschweige denn zu seinem Verständnis in den einzelnen Ländern und Perioden.
Untersucht man die Entwicklung des Kapitalismus in einzelnen Ländern oder seine internationale Entwicklung in einer konkreten Periode, in der eine weitergehende Änderung seiner Politik die Frage nach seinen Gesetzen aufwirft, so zeigt es sich, daß er neben seinen allgemeinen Lebensnotwendigkeiten solche von begrenzterer historischer Bedeutung besitzt, die aber ebenso wichtig wie die allgemeinen sind, weil doch die allgemeinen Lebensnotwendigkeiten des Kapitalismus sich nur in konkreten Formen durchsetzen können.
Aus Raumrücksichten muß ich davon absehen, das Gesagte mit Beispielen über die Lebensnotwendigkeiten der kapitalistischen Entwicklung in einzelnen Ländern zu illustrieren, deren Beachtung zum Beispiel die österreichische Sozialdemokratie zur Gegnerin der Forderung des böhmischen Staatsrechtes, die polnische zur Gegnerin der Forderung der Unabhängigkeit Polens gemacht hat, obwohl weder die eine noch die andere Forderung mit der so abstrakt von Kautsky formulierten einzigen Lebensnotwendigkeit des Kapitalismus kollidiert. Etwas länger muß ich verweilen bei der Frage von internationalen Lebensnotwendigkeiten des Kapitalismus, wie sie in einer historischen Situation seine Politik beherrschen, denn eine solche Frage stellt eben der jetzige Streitgegenstand, der Charakter des Imperialismus, dar.
Die Beweisführung Kautskys, nach der der Imperialismus eine der vielen Methoden ist, in denen sich der Ausbreitungsdrang des Kapitalismus durchsetzen kann, hat zwei Löcher: eines in der Vergangenheit des Kapitalismus, das zweite in seiner absehbaren Zukunft, deren Entwicklungslinien schon heute auf Grund von Tatsachen festzustellen sind. Was die Vergangenheit betrifft, so steht fest, daß der Kapitalismus Englands, Frankreichs, Deutschlands auf einer gewissen Stufe der Entwicklung angelangt, zur Kolonialgründung als der wichtigsten Form seiner Ausbreitung griff. Ich lasse die Frage beiseite, ob sie in jedem der drei Länder schon beim Beginn der Kolonialpolitik für das Kapital als Klasse gleich notwendig war, aber die Tatsache, daß das Kapital in allen diesen Ländern an ihr auch weiterhin festhält, obwohl sie die größten Gefahren für den Kapitalismus heraufbeschwört, müßte doch als Symptom dessen gelten, daß diese Politik einer historischen Lebensnotwendigkeit des Kapitalismus entspricht. Diese Lebensnotwendigkeit besteht in dem sich mit der kapitalistischen Entwicklung verschärfenden Gegensatz zwischen dem kapitalistischen Lohngesetz und der kapitalistischen Notwendigkeit der Produktionserweiterung, also auch der Marktvergrößerung. Denn möge das Lohngesetz alles andere als ehern und der Reallohn alles andere sein als um ein stabiles Niveau herumpendelnd, so bleibt es dennoch dabei, daß trotz der Widerstandskraft der organisierten Arbeiterklasse gegen die niederdrückenden Tendenzen des Kapitalismus die Produktivität der Arbeit viel schneller wächst als der Anteil der Arbeiterklasse an dem gesellschaftlichen Einkommen, wodurch – je größer die Arbeiterklasse im Vergleich zu den anderen sozialen Klassen wird – destomehr auch die Notwendigkeit des Kapitalismus wächst, sich in nichtkapitalistischen Staaten durch Warenausfuhr auszubreiten. Diese historisch notwendige Entwicklung hat weitere Konsequenzen: die Notwendigkeit der Aufpfropfung der staatlichen Organisation in Ländern, die eine solche nicht besitzen, die Notwendigkeit des Kampfes gegen solche nichtkapitalistische Länder, die der Ausbreitung des Kapitalismus entgegentreten, schließlich die Notwendigkeit des Rüstens gegen solche kapitalistische Staaten, die diesem Ausbreitungsdrang anderer entgegentreten.
So wird dank diesen Zusammenhängen – die wir natürlich nur in Stichworten anzeigen, weil diese Zusammenhänge als bekannt vorausgesetzt werden müssen (Im »Finanzkapital« Hilferdings und der »Nationalitätenfrage« Bauers sind sie am besten herausgearbeitet, obwohl auch die in diesen Werken gegebene Analyse des Imperialismus nicht erschöpfend ist und tiefer geführt werden muß.) – der Imperialismus zur Lebensnotwendigkeit der gegebenen historischen Phase des Kapitalismus.
Um dem Imperialismus den Charakter der Politik abzusprechen, die einer von Kautsky zugegebenen Lebensnotwendigkeit des Kapitalismus entspricht – der Ausbreitungsnotwendigkeit – müßte Kautsky eine Aufgabe auf sich nehmen, die für einen Freund unhistorischer, rein rationalistischer Spekulationen sehr anziehend wäre, die aber nichts mit den Aufgaben eines Marxisten zu tun hat: nämlich zu beweisen, daß die eigensinnige Dame Historia auch andere sittsamere Wege wandeln könnte, würde sie in ihren jüngeren Jahren einen einsichtigen Ratgeber getroffen haben. Aber leider Gottes ist das nicht mehr gutzumachen, ja, der Dame sind verschiedene Malheurs passiert, die sie in manchen Ländern auf den imperialistischen Weg trieben, selbst bevor der genannte Gegensatz, der die Haupttriebkraft des Imperialismus bildet, sich akut fühlbar machte, in andern wird sie von verschiedenen zweitgradigen Momenten in einem schnelleren Tempo auf die Bahn des Imperialismus gejagt. Und statt der von Kautsky festgestellten Bewegung des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie, ist ein Wachstum der imperialistischen Stimmung in allen Klassen der kapitalistischen Gesellschaft Westeuropas – mit Ausnahme des Proletariats – festzustellen.
In derselben Weise, wie die Vergangenheit des Imperialismus, untersucht Kautsky seine Zukunft. Er sucht nicht die wirklichen, durch Tatsachen beweisbaren Tendenzen des Imperialismus festzustellen, sondern kombiniert sich solche zusammen.
In seinem diesjährigen Maiartikel (letzter Band der »Neuen Zeit«, S. 107/108) schreibt er:
»Was seit zwei Jahrzehnten in steigendem Maße für das Verhältnis der Betriebe untereinander gilt, beginnt jetzt für das Verhältnis der kapitalistischen Staaten untereinander wahr zu werden. Sie alle streben nach Expansion, sie alle genieren dabei immer mehr den anderen, stören und hemmen sich gegenseitig, vermehren daher ihre Streitkräfte und steigern die Kosten des Expansionsgeschäftes in einer Weise, daß alle Profite darob flöten gehen. Nichtsdestoweniger wird diese Methode fortgesetzt, solange einzelne glauben können, durch ihre Rüstungen ein Stadium zu erreichen, in dem sie die Konkurrenz niederwerfen und den Weltmarkt monopolisieren. Je mehr diese Aussicht schwindet, je klarer es zutage tritt, daß die Fortsetzung des Konkurrenzkampfes alle Beteiligten ruiniert, desto näher rückt das Stadium, in dem der Konkurrenzkampf der Staaten durch ihr Kartellverhältnis ausgeschaltet wird. Das bedeutet nichts weniger, als den Verzicht auf die Expansion des heimischen Kapitals, es bedeutet nur den Übergang zu einer wohlfeileren und ungefährlicheren Methode …
So würden auch die Kapitalisten Deutschlands und Englands nicht das mindeste verlieren, wenn beide Staaten sich über ihre auswärtige Politik untereinander verständigen und daraufhin ihre Rüstungen einschränken würden. Beide Staaten vereint würden alle anderen Staaten mindestens Europas dahin bringen können, sich ihren Abkommen und der Abrüstung anzuschließen, und weit energischer und ungehemmter als bisher könnten dann ihre Kapitalisten sich das gesamte Gebiet wenigstens der östlichen Halbkugel erschließen.
Wir wollen jetzt die Nutzanwendung, die Kautsky aus diesen Betrachtungen auf die Frage von unserer Haltung zu den Rüstungsfragen macht, beiseite schieben, wir wollen die Frage, ob die Sozialdemokratie angesichts der schweren Folgen der freien Konkurrenz jemals ihre Aufhebung durch die Trusts gefordert oder gefördert hat, jetzt nicht aufwerfen. Hier wollen wir nur feststellen, daß Kautsky diese Entwicklungstendenzen des Imperialismus aus dem blauen Himmel schöpft, denn es wäre ihm schwer, auch nur auf eine einzige Tatsache hinzuweisen, auf die sich seine Ausführungen stützen. Tatsachen aus den letzten zehn Jahren der imperialistischen Entwicklung weisen darauf hin, daß es in den kapitalistischen Staaten viele kapitalistische Elemente gibt, die überhaupt am Frieden ein Interesse haben, zum Beispiel das Schiffahrtskapital, andere, deren Interessen der kriegerischen Austragung eines konkreten kapitalistischen Gegensatzes im Wege stehen. (So war z. B. die schwere Industrie in Rheinisch-Westfalen fast durchweg gegen einen Krieg wegen Marokko, seit zwischen Thyssen, Krupp & Co. und Schneider-Creuzot ein Zusammengehen erreicht wurde.) Sie sprechen dafür, daß die kapitalistischen Staaten die Gefahren eines Krieges zwischen den europäischen Großmächten so hoch einschätzen, daß sie ihm bis zum äußersten aus dem Wege zu gehen suchen werden. Sie sprechen schließlich dafür, daß die konkurrierenden Kapitalistengruppen bei imperialistischen Geschäften (exotische Staatsanleihen usw.) geneigt sind, sich über die Teilung der Beute zu einigen, was beiläufig gesagt nicht leicht ist. Daß aber in irgend einem modernen Staate – mit Ausnahme Englands, das an der Spitze der Flottenmächte steht, von dem weiteren Rüsten die Verschlechterung seiner Position zu erwarten hat und darum für die Beibehaltung des jetzigen Verhältnisses in der Nordsee, wohlgemerkt nur in der Nordsee! eintritt – eine dieser am Frieden interessierten Schichten gegen das Rüsten wäre, kann ich trotz eifriger Verfolgung der entsprechenden Literatur und Presse nicht ausfindig machen. Sie alle treten trotz ihrer Angst vor dem Kriege für das Rüsten ein, nicht nur weil sie daran auch materielle Interessen haben – Bestellungen, Börsenspiel mit Aktien der an dem Flottenbau beteiligten Industrien usw. –, sondern auch, weil sie in den Rüstungen ein Maß ihres Einflusses bei den imperialistischen Geschäften besitzen, was schon in der »Neuen Zeit« ausführlicher von mir dargestellt wurde,[39] ohne daß ich eine Antwort von dem Genossen Kautsky bekommen hätte. Die Ausführungen Kautskys über die anderen Methoden der Ausbreitung, die dem Kapital offen stehen, schweben also völlig in der Luft, was das ungewollte Zugeständnis ist, daß der Imperialismus eine Lebensnotwendigkeit für den Kapitalismus ist: denn indem Kautsky die Ausbreitung des Kapitalismus für seine Lebensnotwendigkeit hält, aber keinen anderen Weg für sie als den imperialistischen in den Entwicklungstendenzen des Kapitals aufzuweisen weiß, bleibt eben nur der Imperialismus als Lebensnotwendigkeit für den Kapitalismus.
Um mit diesem Kapital zu enden, mochten wir noch auf eine Tatsache hinweisen: Selbst wenn irgendwelche Tendenzen zu einem gemeinsamen Weg auch nur des europäischen Kapitals existieren würden, so würde ihre Durchsetzung – um dauernd zu sein – solche Folgen nach sich ziehen müssen, wie eine gemeinsame Handelspolitik der europäischen Staaten, ein gemeinsames Heer zum Kampfe gegen den aufwachenden Orient (selbst bei der Waffenniederlegung zwischen den europäischen Staaten), eine gemeinsame Bundesregierung – das alles aber würde ein Aufräumen mit soviel zwischenstaatlichem Plunder erfordern, daß es nur von dem eisernen Besen der Revolution ausgeführt werden könnte. Kautsky war es eben, der sich in seinem Maiartikel des vorigen Jahres (XXIX, S. 105/106) mit der Idee der Vereinigten Staaten Europas befaßte und zu dem Schlusse kam: Eine sehr schöne Idee, aber zu verwirklichen nur auf dem Wege der Revolution. Revolution bedeutet aber in Westeuropa soziale Revolution. Das hat Kautsky sehr treffend in seinem » Weg zur Macht« (S. 10) ausgeführt:
»Es stellt sich immer klarer heraus, daß eine Revolution nur noch möglich ist als proletarische Revolution. Daß sie unmöglich ist, solange nicht das organisierte Proletariat eine Macht bildet, groß und kompakt genug, um unter günstigen Umständen die Masse der Nation mit sich fortzureißen. Wenn aber nur das Proletariat noch eine revolutionäre Klasse in der Nation darstellt, folgt andererseits daraus, daß jeder Zusammenbruch des bestehenden Regimes, sei er moralischer, finanzieller oder militärischer Art, den Bankrott sämtlicher bürgerlichen Parteien in sich begreift, die sämtlich dafür verantwortlich geworden sind, daß das einzige Regime, das in einem solchen Falle das bestehende ablösen kann, ein proletarisches ist.«
Der kurze Schluß des langen Liedes ist also: Die Ausbreitung des Kapitalismus ist eine Lebensnotwendigkeit für ihn. Die einzige Methode, vermittels welcher er sich ausbreiten kann, ist der Imperialismus. Jede andere Methode, selbst wenn sie, wofür absolut nichts spricht, möglich wäre, würde sich nur auf dem Wege der Revolution durchsetzen können. Die Revolution ist aber heute nur als proletarische Revolution möglich, und sie würde mit der Zertrümmerung des Kapitalismus, der Quelle des Imperialismus, enden, also ihm auch den Boden für eine andere Methode seiner Ausbreitung entziehen. Die kapitalistische Ausbreitung ist daher jetzt entweder einzig als imperialistische Ausbreitung möglich, oder sie ist unmöglich.
Der Unterschied in den beiden Auffassungen des Imperialismus zeigt sich also als Resultat der verschiedenen Anwendung der Untersuchungsmethode des Marxismus. Für uns dient sie zur Untersuchung der wirklich stattgefundenen Entwicklung, zur Feststellung von Entwicklungstendenzen. Für den Genossen Kautsky ist sie nur ein Brett zu einem Luftsprung, ein Mittel zu einer Kombination auf das interessante Thema: Es könnte schöner sein, und was wäre, wenn es wäre.
Wir überlassen dem Leser das Urteil darüber, wer hier das Recht behält, über das Mißverstehen des Wesens der ökonomischen Notwendigkeit zu sprechen und über das sich marxistisch Verkleiden.
Es gilt jetzt zu untersuchen, welche Schlüsse daraus auf unsere Taktik im Kampfe gegen den Imperialismus zu ziehen sind, welche Mittel uns gegen ihn zu Gebote stehen. Aber vorher gilt es mit einem für mich ganz unverständlichen Mißverständnis Kautskys aufzuräumen.
Kautsky schreibt:
Der Kampf gegen das Wettrüsten ist ein Unding, solange der Kapitalismus herrscht – das ist die jüngste, sagen wir Improvisation unserer jüngsten »Jungen« (S. 467 dieses Bandes).
Ebensowenig wie damals brauchen uns heute die notwendigen Bedürfnisse der »bürgerlichen Industrie« als notwendige Gebote für das Proletariat zu erscheinen, denen sich die Proletarier nur durch eine sozialistische Revolution widersetzen können, und nicht schon innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise. Das Proletariat stellt seine Forderungen nicht nach den Bedürfnissen der Kapitalistenklasse, sondern nach seinen eigenen, und diese eigenen Bedürfnisse erheischen Abrüstung (S. 519 dieses Bandes).
Darauf ist zu erklären: Nicht nur weder haben ich, noch Pannekoek, noch irgend jemand, der mit uns in dieser Frage zusammengeht, auch nur ein Wort geschrieben, das sich in dieser Richtung deuten ließe, sondern unser Wirken und Trachten war subjektiv und objektiv immer auf die Verstärkung unseres Kampfes gegen den Imperialismus und das Wettrüsten gerichtet. Wenn wir den Kampf gegen das Wettrüsten auf dem Boden des Kapitalismus für ein Unding halten würden, was für Sinn hätte unsere Agitation für Massenaktionen gegen den Imperialismus?
Miliz und Abrüstung.
Wir sahen, daß Kautsky im Kampfe gegen den Imperialismus und das Wettrüsten auf die Unterstützung eines Teiles des Bürgertums rechnet, weil er die Möglichkeit einer weiteren Ausdehnung des Kapitalismus auch ohne Imperialismus annimmt. Wie er zu dieser Meinung auf Grund einer reinen Spekulation gelangt, so wachsen auch seine Losungen im Kampfe gegen das Wettrüsten nicht aus der Untersuchung der Wirklichkeit heraus, sondern aus einer ganz willkürlichen Beiseiteschiebung dieser Wirklichkeit, wobei jedoch seine Spekulation nicht einmal den Charakter eines einheitlichen Gedankenganges besitzt. Ihre Bestandteile befinden sich in ähnlichem Kampfe miteinander, wie sie als Ganzes mit der faktischen Entwicklung auf dem Kriegsfuß stehen.
Nach der Darstellung Kautskys »genügte« die Milizlosung, bis eine Flotte aufkam. Als das Rüsten zu Wasser begann und sich herausstellte, wie verflucht teuer es ist, konnten wir uns nicht mit der Milizforderung begnügen.
Erstens, weil der Milizgedanke der Flotte gegenüber gänzlich versagt, zweitens, weil es sich gezeigt hat, daß die Miliz nicht billiger ist als das stehende Heer, was für die Marine von noch größerer Bedeutung ist, da bei ihr die Kosten der Bauten doch viel größer sind als die der Menschenerhaltung.
Prüfen wir die Haltung Kautskys ihren Grundlagen nach. Er behauptet, wir hätten die Milizforderung aus politischen Gründen aufgestellt, um die Macht der Regierung über das Berufsheer zu schwächen, während jetzt die Abrüstungsforderung aus ökonomischen Gründen zu befürworten sei.
Seine Behauptung ist, insoweit sie sich auf die Milizforderung bezieht, richtig, obwohl unvollständig. Die wissenschaftlichen Befürworter der Miliz in den Reihen der Sozialdemokratie – in erster Linie Engels, dessen militärische Schriften heute noch eine vortreffliche Einleitung zu militärischen Studien für jeden Sozialdemokraten bilden – trat für den Milizgedanken nicht nur darum ein, weil seine Verwirklichung für die Arbeiterklasse politisch nützlich wäre, sondern weil sie sich auf der Linie der militärischen Entwicklung befindet. Unsere Haltung dem Militarismus gegenüber war bei Engels analog unserer Haltung allen kapitalistischen Institutionen gegenüber. Wir nehmen den Militarismus wie den Kapitalismus als Tatsache hin, auf deren Boden wir uns stellen müssen, wenn wir sie bekämpfen wollen. Der kapitalistische Staat und alle seine Institutionen bestehen und sind Organe der Herrschaft der Bourgeoisie. Der Militarismus ist es nicht mehr und nicht weniger als der Parlamentarismus. Weil sie Organe der bürgerlichen Klassenherrschaft sind, bekämpfen wir sie grundsätzlich, aber wir können uns nicht außerhalb von ihnen stellen, indem wir ihnen Institutionen entgegenstellen, die ihre Funktionen aufheben würden.
Wir gehen ins Parlament, um auf seinem Boden die Arbeiterinteressen zu vertreten. Aber wir erklären nicht: an Stelle des bürgerlichen Parlaments ist ein Volksparlament zu setzen, das die Interessen des Volkes gegen die Bourgeoisie vertritt. Das wäre ein platonischer Protest, kein Kampf auf reellem Boden. Die gleiche Haltung nehmen wir dem Militarismus gegenüber ein. Er ist ein Organ der Klassenherrschaft nach innen und der kapitalistischen Ausbreitung nach außen. Wir bekämpfen ihn prinzipiell, aber wir können ihn nicht ignorieren und erklären: in der kapitalistischen Gesellschaft ist ein Militarismus, der weder nach außen noch nach innen ein Organ der Klassenherrschaft ist, unmöglich. Nein, der Milizgedanke bezweckt nur die Stärkung der Elemente im Militarismus selbst, die eine glatte Ausübung der vom Kapitalismus dem Militarismus zugewiesenen Funktionen erschweren und den Kampf der Arbeiterklasse gegen den Militarismus erleichtern.
Diese Beurteilung des objektiven Charakters unserer Milizforderung steht im Gegensatz zu vielen subjektiven Ansichten, die die Partei sich über die Miliz machte. In meinem Artikel: » Der Milizgedanke« (Mainummer der »Leipziger Volkszeitung« 1912) versuchte ich die historischen Ursachen darzustellen, die der Milizforderung einen Charakter gaben, den keine andere Forderung unseres Minimalprogramms besitzt, den Charakter einer rein antikapitalistischen Institution, die im vorhinein alle kapitalistischen Funktionen des Heeres im Rahmen des Kapitalismus einbüßt. Es war ein Erbe der kleinbürgerlichen Auffassung, die wir mit der Milizforderung vom Kleinbürgertum übernommen haben. Während aber das Kleinbürgertum in der Miliz eine wirkliche Volkswehr, wie es in der Demokratie die Volksherrschaft, sah, waren wir der Demokratie gegenüber sehr kritisch, dem Milizgedanken gegenüber nicht. Im ersten Falle zeigten Frankreich und Amerika die wirkliche Bedeutung der Sozialdemokratie im Kapitalismus, im zweiten fehlte es an einer im großen Maßstab durchgeführten Probe aufs Exempel.
Wie wir in die kapitalistischen Parlamente ziehen, obwohl wir dem kapitalistischen Parlamentarismus als einem Organ der Klassenherrschaft prinzipiell feindlich gegenüberstehen, und wie wir es tun können, weil das Parlament, um seine Funktionen ausüben zu können, die Vertreterschaft der Arbeiterklasse benötigt, was uns erlaubt, im Parlament gegen den Kapitalismus anzukämpfen, so stehen wir auch dem demokratischen Ausbau der Heeresorganisation gegenüber. Und dieselben Momente ermöglichen uns hier, wie beim Parlamentarismus die Stärkung der antikapitalistischen Tendenz in einer kapitalistischen Institution.
Das Parlament übernimmt der ganzen Nation, also auch der Arbeiterklasse gegenüber die Verantwortung für die Staatswirtschaft. Es sucht also, um das Volk gefügiger zu machen, in ihm den Eindruck zu erwecken, als habe es auch einen Einfluß auf diese Wirtschaft. Es ist das Organ, das die zentralen Interessen der besitzenden Klassen gegen die partikularistischen vertritt, darum muß es suchen, den partikularistischen Interessen unmöglich zu machen, sich auf das Volk zu stützen: es zieht also die Vertreter der Volksklassen zurück. Das Parlament ist ein Organ zur Erhaltung der Klassenherrschaft, es sucht also auch ein Ventil für die Unzufriedenheit des Volkes zu sein. Das alles erleichtert den Kampf um das Wahlrecht und erschwert seine Abschaffung, wo es der Bourgeoisie ungemütlich wird, weil auf seiner Grundlage die Arbeiterklasse auf dem Boden des Parlaments seine Funktionen umzuwandeln sucht durch die Hervorhebung ihrer proletarischen Interessen, durch die Umwandlung der Parlamentstribüne aus einem Organ der Klassenherrschaft in das der proletarisch-revolutionären Agitation.
Dieselben Tendenzen sehen wir im modernen Militarismus. Er ist das Organ der Klassenherrschaft, aber seine Funktion wird durch das Volk in Waffen ausgeübt. Man kann im Zeitalter der allgemeinen Dienstpflicht das Volk aus der Armee nicht ausschließen, aber man muß versuchen, es gefügig zu machen durch den Drill, durch die Aufrichtung einer Mauer zwischen dem Heer und der zivilen Bevölkerung. Wir können das Heer nicht abschaffen, solange der Kapitalismus existiert, obwohl wir ihm prinzipiell ablehnend gegenüberstehen, was wir mit unserm Votum gegen den Militäretat zum Ausdruck bringen. Aber da wir den Militarismus nicht abschaffen können, versuchen wir im Heere die Elemente zu stärken, die die Durchsetzung der Funktion des Heeres als eines Organs der Klassenherrschaft nach innen und der kapitalistischen Ausbreitung nach außen erschwert. Wir tun es durch unsere ganze sozialistische Agitation in der Arbeiterklasse, die mit jedem Jahre einen größeren Teil der Armee ausmacht, wir tun es besonders durch unsere antimilitaristische Aktion, die den Charakter des Heeres aufzeigt. Wir tun es schließlich, indem wir die Abschaffung der Scheidewand zwischen Heer und Volk, also der langen Dienstzeit, des Drills, der militärischen Justiz, fordern. Handelt es sich hier um eine platonische Forderung? Keinesfalls? unsere Milizforderung stützt sich auf schon bestehende Tendenzen des Kapitalismus und Militarismus selbst. Indem der Kapitalismus genötigt ist, der Verbreitung der Bildung in den Volksmassen Vorschub zu leisten, selbst wenn er es nicht will, ermöglicht er die kurze Dienstzeit. Indem er dank der Verschärfung der Gegensätze zwischen den Staaten sie nötigt, eine immer größere Masse der Soldaten einzustellen und auszubilden, stärkt er in ihnen die Tendenz – jedenfalls in den Staaten, die eine Zunahme der Bevölkerung aufweisen –, die allgemeine Dienstpflicht wirklich durchzuführen, was angesichts der Kosten wieder die Tendenz stärkt, die Dienstzeit zu verkürzen. Die kapitalistischen Staaten werden es nicht von selbst tun, weil dieser Tendenz andere entgegenwirken, wie die traditionellen Auffassungen der Gamaschenknöpfe, die Furcht der Bourgeoisie vor den Folgen der Verkürzung der Dienstzeit usw. Es ist möglich, daß an diesen Widerständen eine volle Durchführung einer demokratischen Wehrverfassung[Anmerkungen 15] scheitern wird, da aber der Kampf um sie an wirkliche lebendige Tendenzen anknüpft, kann er einen Widerhall in den Massen finden, kann sie aufklären über das Wesen des Militarismus, also wieder um die antikapitalistischen Tendenzen im Heere stärken. Das Resultat unseres Kampfes, ob es in der Form einer weniger oder weitergehenden Durchführung des Milizgedankens oder nur in der Form der Aufwühlung und Aufklärung der Volksmassen sich äußern würde, wäre Stärkung der antikapitalistischen Tendenzen im Heer, das Erschweren der Durchführung der kapitalistischen Funktionen des Heeres. Wie utopistisch und unhistorisch es wäre, zu hoffen, daß selbst nach Durchführung der Miliz sie sofort aufhört, ein Organ der Klassenherrschaft nach innen und der kapitalistischen Ausbreitung nach außen zu sein, so klar ist es, daß, je energischer wir den Kampf um die Miliz in den breiten Massen des Volkes führen, je größere Resultate er zeitigt, desto schwieriger wird es der kapitalistischen Regierung sein, das Heer als willenloses Instrument zu gebrauchen. Da aber noch keine herrschende Klasse aus Angst vor dem Untergang abgedankt oder sich in ihr Gegenteil verwandelt hat, so wird auch das Kapital, wenn ihm das Wasser zum Halse steigt, va banque spielen, und dann kommt der Gegensatz zwischen den dem Heere vom Kapital zugedachten Funktionen und dem proletarischen Inhalt der Mehrheit des Heeres zum Ausbruch. Es wäre müßig, zu untersuchen, ob es bei erbittertem revolutionärem Massenkampf im Innern oder bei Kämpfen nach außen geschehen würde. Es gilt nur den Zusammenhang zwischen der Milizforderung und unserem Kampfe gegen den Imperialismus und das Wettrüsten festzustellen.
Wie wir nicht annehmen, daß sich der Imperialismus im Rahmen des Kapitalismus durch eine andere Methode der kapitalistischen Entwicklung vertreten läßt, so läßt sich auch die Funktion des Heeres durch irgend eine ausspintisierte Heeresform, die alle Schmerzen lindert, nicht aufheben. Sondern die durch die Entwicklung des Heereswesens zutage gebrachten Tendenzen verschärfen im Heere den Gegensatz zwischen der Arbeiterklasse und dem Imperialismus. Indem wir sie in die politische Forderung der Demokratisierung der Heeresorganisation, das heißt, der Miliz, übersetzen, stellen wir unsern Kampf gegen den Imperialismus auf den einzigen wirklichen, nicht spekulativ gewonnenen Boden.
Kautsky verwirft die Milizforderung nicht. In welchem Zusammenhange ihre allmähliche Verwirklichung oder der Kampf um sie sich zur imperialistischen Entwicklung befindet, legt er nicht klar. Ja, er erklärt einmal im Lauf der Diskussion die Milizfrage im Gegensatz zur Abrüstungsfrage für nicht aktuell. In seinem diesjährigen Maiartikel geht er weiter und erklärt, die Milizidee versage der Flotte gegenüber. Diese Behauptung, in der er mit Matthias Erzberger solidarisch ist, wird in der Parteiliteratur zum erstenmal ausgesprochen. In einer Fußnote zu meinem vor zwei Monaten in der »Neuen Zeit« veröffentlichten Artikel »Zu unserem Kampfe gegen den Imperialismus« fragte ich Kautsky um die Gründe seiner Meinung, da sie für die Diskussion eine große Bedeutung haben müßten. Ich entfernte aber diese Fußnote auf die Aufforderung der Redaktion, da Kautsky sofort zu antworten genötigt wäre, was den Plan der Diskussion stören müßte. Es war zu hoffen, daß Kautsky sie später enthüllen wird. Kautsky schweigt aber auch jetzt über diese von mir angeschnittene Frage, er schreibt nur kleinlaut (»Neue Zeit« 1912, Seite 467): »Wie weit bei ihr die Dienstzeit reduzierbar ist, entzieht sich meiner Beurteilung.«
Da aber die namhafte Verkürzung der Dienstzeit die wichtigste Vorbedingung der Miliz ist, so bedeutet es, daß es sich der Beurteilung des Genossen Kautsky entzieht, ob die Milizidee der Flotte gegenüber versagt. Es sei denn, daß Genosse Kautsky sich der genialen Auffassung von Erzberger anschließen würde, die Milizidee versage der Flotte gegenüber auch aus einem anderen Grunde, weil man nämlich dem Soldaten kein Schiff mit nach Hause geben kann. Aber dann versagt sie auch der Artillerie gegenüber, weil man den Soldaten keine Kanone mit nach Hause geben kann, dann versagt sie auch der Infanterie gegenüber, weil die dreißig Patronen, die der Soldat mit nach Hause nehmen könnte – wie es in der Schweiz geschieht –, ihm nur auf eine Minute zur Verteidigung genügen, während die Maschinengewehre, die man nicht mit nach Hause nehmen kann, eine vielmehr ausdauernde Sprache führen können. Kurz gesagt: wenn die Milizidee aus Rücksicht auf die Unmöglichkeit der Mitnahme von Kriegsschiffen versagt, dann versagt sie überhaupt, also auch beim Heere. Da aber Kautsky sie beim Landheere bestehen läßt, so bleibt nur eins übrig: Der Genosse Kautsky nahm am 26. April an, daß die Milizidee in der Marine dank der Unmöglichkeit der Verkürzung der Dienstzeit versagt, aber am 28. Juni bekehrte er sich zur sokratischen Weisheit: ich weiß nur soviel, daß ich nichts weiß.[Anmerkungen 16] Er läßt die Frage der Dienstzeit bei der Marine offen.
Ich überlasse den Genossen das Urteil darüber, welchen Wert eine auf so sehr »sich entziehende Kenntnis« sehr wichtiger faktischer Unterlagen beruhende allgemeine Auffassung des Rüstungsproblems beanspruchen kann und erkläre auf Grund eines reichen mir zur Verfügung stehenden Materials,[Anmerkungen 17] daß wir absolut keine Ursache haben, Herrn Tirpitz die Fragwürdigkeit der Möglichkeit, die Dienstzeit zu verkürzen, zu bezeugen: eine namhafte Verkürzung der Dienstzeit in der Marine ist möglich, und da die Abschaffung der Militärjustiz in der Marine natürlich ebenso möglich ist wie im Heere, so bleibt als wichtigster Einwand gegen die Möglichkeit der Demokratisierung der Marineverfassung die Tatsache der Abgeschlossenheit der Marinesoldaten, die durch das Leben an Bord verursacht wird.
Wenn man aber bedenkt, daß trotz dieser Abgeschlossenheit in der französischen Marine immer wieder Revolten ausbrechen, ja wenn man die Rolle der Matrosen in der russischen Revolution berücksichtigt, dann ist es klar, daß diese Abgeschlossenheit, wenn die Dienstzeit verkürzt wäre, das sozialistische Seelenleben der Matrosen, die sich teilweise aus der Mannschaft der Handelsmarine, den Schiffern, teilweise aus den gut qualifizierten Industriearbeitern rekrutieren, also der sozialistischen Agitation zugänglich sind, nicht ertöten könnte. Der Gedanke der Demokratisierung der Heeresverfassung ist ebenso bei der Flotte wie beim Landheer zu verwirklichen. Der Milizgedanke steht vor uns als ganzer Gedanke da, der das ganze Rüstungsproblem erfaßt: methodologisch und politisch einheitlich. Methodologisch, weil die Demokratisierung des Heeres keine zwecks größerer Symmetrie des Parteiprogramms oder dank ihrer Vorzüge aus der Luft gegriffene platonische Forderung ist, sondern weil sie sich auf die reellen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus stützt. Politisch, weil der Milizforderung ein Ziel leuchtet: die Stärkung des Einflusses der Arbeiterklasse auf die wichtigsten Organe des Imperialismus, zwecks Schaffung der Bedingungen in ihrem Innern, unter welchen sie bei den entscheidenden Kämpfen zwischen Arbeiterklasse und Imperialismus versagen, also die soziale Revolution beschleunigen müssen. Damit soll natürlich keineswegs gesagt werden, daß das Maß der Demokratisierung der Flottenorganisation dasselbe sein kann und muß, wie das des Landheeres. In der Flotte spielt die Bedienung moderner Maschinen die größte Rolle. Der Fabrikproletarier kann dies in kurzer Zeit erlernen, die Verkürzung seiner Dienstzeit ist also möglich; je länger er aber dient, desto routinierter handhabt er die Maschinen. Darum ist die Kürzung der Dienstzeit in der Flotte wohl möglich, aber von der Entwicklung der Flotte selbst nicht erfordert. Auch die Bedeutung der Demokratisierung der Flotte ist für die ganze soziale Entwicklung nicht so groß, wie die des Heeres. Weder kann die Flotte so stark in die Klassenkämpfe eingreifen, wie jenes, noch käme in den entscheidenden Kämpfen in ihr der Geist, der die Massen des Proletariats belebt, so zutage, wie im Landheer. Dies darum, weil die Marinesoldaten nicht in großen Massen auftreten, zusammenleben und in der Seeschlacht das tote Element der Maschine eine größere Rolle spielt als im Landheer. Diese Momente werden es wohl sein, die zum Beispiel auch den Genossen Lensch dazu geführt haben, sich der Behauptung des Genossen Kautsky anzuschließen, als versage der Milizgedanke bei der Flotte. Für uns ist die Berücksichtigung dieser Momente nur eine Warnung vor der schablonenhaften Bewertung des Milizgedankens beim Landheer und der Marine. Da wir aber die Möglichkeit der Verkürzung der Dienstzeit auch bei der Marine annehmen, wie anderer auf die Demokratisierung ihrer Organisation hinzielender Maßnahmen, da wir diese Demokratisierung auch der Flottenorganisation für einen antiimperialistischen Faktor halten, glauben wir an dem Milizgedanken festhalten zu können und zu müssen, auch in der Flotte. Die Abrüstungsidee, die Kautsky als Ergänzung der Milizidee betrachtet, ist der Milizidee methodologisch und politisch schnurstracks entgegengesetzt. Die Milizidee ist zu verwirklichen auf dem Boden der Entwicklung des Heereswesens. Sie knüpft an die von der Entwicklung geschaffenen Tendenzen an. Die Abrüstungsidee soll eine gänzliche Abkehr von dieser Entwicklung darstellen und trotzdem auf dem Boden des Kapitalismus bleiben. Da, wie wir schon gezeigt haben, Kautsky keinen Schatten eines Beweises vom Bestehen irgendwelcher gegen das Rüsten sich kehrender bürgerlicher Tendenzen erbringen konnte, so stellt seine Abrüstungsidee eine Erfindung im besten oder ärgsten Sinne des Wortes dar. Angesichts dessen könnte man sie ihrem eigenen Schicksal überlassen, hätte sie nicht in den letzten Jahren eine gewisse Verbreitung gefunden. Wir wollen sie also etwas näher untersuchen. Methodologisch widerspricht sie – wie gesagt – dem Wege, auf dem eine solche programmatische Forderung aufgestellt werden kann: sie ist kein Resultat der Analyse der wirklichen Entwicklungstendenzen, sondern entspringt einer Spekulation über die Sünden und Irrtümer des Kapitalismus in der Vergangenheit und alle möglichen und unmöglichen Wege, die er einschlagen könnte, wenn eine Revolution so gütig wäre, mit der kapitalistischen Sonderstaaterei aufzuräumen, ohne dem Kapitalismus den Garaus zu machen.
Dieser, ihrer methodologischen Fehlgeburt entspricht ihr politischer Charakter. Sie ist nämlich nicht zu verwirklichen, nicht nur weil die Bourgeoisie nichts von ihr wissen will, sondern weil in der von Gegensätzen zerrissenen kapitalistischen Gesellschaft keine Tendenzen wirken, die diese Gegensätze aufheben, die die Quellen verstopfen könnten, aus denen die Rüstungswellen schlagen. Nicht, weil die Bourgeoisie sie nicht will, ist die Abrüstung unmöglich, sondern weil sie sie nicht wollen kann. Wenn dem so ist, so ist es gleichgültig, wie Kautsky die Vorzüge dieser Idee darstellt. Ob sie die finanziellen Lasten, die die Massen tragen müssen, lindert oder nicht, das kann ihr zur Lebensfähigkeit nicht verhelfen. Aber wenn es wahr ist, daß die Sozialdemokratie für sie eintreten müßte, weil sie den Massen eine große wirtschaftliche Erleichterung bringen kann, warum dann bei der Flotte Halt machen? Kostet das Heer wenig, und ist es ausgeschlossen, daß neue große Umwälzungen auf dem Gebiete des Schießwesens usw. – Kautsky möge in der militärischen Presse die jetzt diskutierte Frage von der Einführung des Selbstladegewehrs verfolgen – Hunderte von Millionen in nahester Zeit erfordern werden? Aber noch mehr: die Abrüstung auf dem Gebiete des Flottenwesens wäre nach den Äußerungen Kautskys darum durchführbar, weil es möglich ist, an Stelle des imperialistischen Wettstreits die Aussöhnung der kapitalistischen Staaten herbeizuführen. Wenn das der Fall ist, dann verliert auch das Landheer eine seiner Funktionen: die des Kampfesorganes nach außen, da doch die jetzigen Gegensätze der kapitalistischen Staaten untereinander trotz ihrer alten historischen Form – Revancheidee in Frankreich usw. – imperialistischer Natur sind. Also fort mit der Miliz, es lebe die Abrüstung auf der ganzen Linie.
Man könnte einwenden, daß das Landheer noch eine zweite Funktion hat: die der Niederhaltung der Arbeiterklasse. Aber nach der Meinung, die Kautsky im Jahre 1898 in seiner Polemik gegen Schippel verfochten hat, verschwindet diese Funktion mit der Umwandlung des jetzigen Heeres in eine Miliz. Diese Auffassung hat Kautsky bis jetzt nicht revidiert; er muß also aus ihr Konsequenzen ziehen. Verschwindet also der Imperialismus und kommt die Miliz an die Stelle des Militarismus, dann verliert das Kapital jedes Interesse an ihr. Aber selbst wenn sich Kautsky unter dem Einfluß der interessanten Ausführungen des Genossen Grimm[Anmerkungen 18] über die Miliz in der Schweiz (Neue Zeit Nr. 37/38) zu der Meinung gemausert hätte, daß die Bourgeoisie auch nach der Umwandlung der stehenden Heere in eine Miliz die Aussicht hätte, diese eine Zeitlang zur Niederhaltung des Proletariats zu gebrauchen, wie könnte Kautsky bei der Aufstellung einer Programmforderung sich darum kümmern? Schreibt er doch mit Recht:
»Das Proletariat stellt seine Forderungen nicht nach den Bedürfnissen der Kapitalistenklasse, sondern nach seinen eigenen, und diese eigenen erheischen die Abrüstung.«
Nun also! Revidieren Sie, Genosse Kautsky, das Parteiprogramm, merzen Sie die Forderung der Miliz aus. Sie hat mit Ihrer Auffassung nichts zu tun und fristet ihr Leben nur dank Ihrer Anhänglichkeit an alte bewährte Ideen. Aber Ideen sind wie reißende Wölfe, denn sie vertragen sich nicht, selbst wenn der Besitzer sie friedlich beieinander lassen möchte: die neue, weil sie einer neuen Situation entsprechen soll, die alte – ja, weil man nicht in den Ruf eines Revisionisten nach rechts, links oder in die Lüfte kommen will.
Das Resultat unserer Untersuchung ist also, daß es sich hier nicht um die Ergänzung und Begrenzung zweier Losungen handelt, die, obwohl in verschiedenen historischen Situationen entstanden, demselben Ziele dienen: dem Kampfe gegen den Imperialismus. Die beiden Ideen bilden die Konsequenz zweier verschiedener Auffassungen des Imperialismus, die auf verschiedenen Wegen erlangt sind. Wir wollen jetzt die politischen Konsequenzen der einen wie der andern prüfen, aber zuerst ist es nötig, noch einem Versuch entgegenzutreten, durch Verschiebung der Streitfrage sie zu verdunkeln.
Die Rüstungsbeschränkungen.
Es ist ein Versuch zur Verwischung dieses Gegensatzes, wie er in letzter Zeit oft in der Parteipresse und den Versammlungen unternommen wurde, wenn manche Genossen erklärten: Eine allgemeine Abrüstung ist unmöglich, aber eine teilweise, vorübergehende wäre für das Proletariat von Nutzen. Im Gefühl, daß seine Beweisführung der Möglichkeit einer Ersetzung der heutigen imperialistischen Politik durch ein allgemeines Übereinkommen der imperialistischen Staaten zwecks gemeinsamen Vorgehens in den kolonialen Ländern fehlgeschlagen ist, klammert sich Kautsky in seinem heurigen Maiartikel an diesen Versuch und schreibt (S. 108 der »Neuen Zeit« von 1912):
So wenig der Unternehmerverband die Konkurrenz für immer ausschalten kann, so wenig ist eine Vereinbarung zwischen den kapitalistischen Regierungen, die alle Konfliktstoffe für alle Zeiten zwischen ihnen aus dem Wege räumte, möglich. Es ist daher auch keine Abmachung zwischen ihnen denkbar, die eine völlige Entwaffnung herbeiführte. Aber es wäre bereits unendlich viel gewonnen, wenn es gelänge, aus dem jetzigen Stadium herauszukommen, das den Weltkrieg und zwar in nächster Zeit unvermeidlich macht; wenn man an dessen Stelle einen Zustand setzte, der den Krieg wohl nicht mit Sicherheit für immer ausschließt, aber ihn doch mindestens zurückschiebt. Dies könnte sogar bedeuten, daß damit dem Kriege europäischer Großstaaten untereinander für immer ein Ende gemacht wird, denn mit jedem Jahr steigt die Macht des europäischen Proletariats, die gegen einen solchen Krieg in die Wagschale fällt.
Kautsky bemerkt dabei nicht, daß sich seine Befürwortung einer Änderung der jetzigen imperialistischen Politik in eine friedliche im Nu in eine Anerkennung eben dieser Politik verwandelt, denn wenn dieser sein Satz irgendwelchen Sinn hat, dann nur einen: wenn es nichts zu erlangen gibt, dann wollen wir uns einstweilen begnügen mit Bündnissen kapitalistischer Staaten, die die Kriegsgefahr aus einer täglichen in eine seltener auftretende verwandeln würden. Daß er an diese »momentane« Aussöhnung mit der kapitalistischen Bündnispolitik die Hoffnung anknüpft, daß inzwischen das Proletariat so stark wird, daß es die Kriege zwischen den Großmächten unmöglich machen wird (und ein Kolonialkrieg gegen China, wie wäre es damit?), so zeugt das zwar vom hoffenden Herzen des Genossen Kautsky, aber nicht minder von einer horrenden Begriffsverwirrung.
Was hat diese Frage von der Möglichkeit imperialistischer Abkommen mit der Frage der Abschaffung des Imperialismus in dem Rahmen des Kapitalismus zu tun? Und was hat die Frage von der Abrüstung zu tun mit der von einem Zustand, von dem Kautsky sagt, daß er »den Krieg zwar nicht mit Sicherheit für immer ausschließt, aber ihn doch mindestens zurückschiebt«. Daß »ein solcher Zustand« nichts mit der Abrüstung zu tun hat, sondern die Frage von den Rüstungsbeschränkungen aufwirft, ist klar. Aber dies ist eine ganz andere Frage. Imperialistische Abkommen zwischen den Mächten sind nicht nur möglich, sondern gehören gerade zum Wesen des Imperialismus. Weil das Kriegsrisiko im Zeitalter des Kapitalismus ungeheuer ist, räumen die Mächte mit ihren kleineren Gegensätzen auf, konzentrieren sich auf die hauptsächlichsten Gegensätze, zu deren friedlicher oder kriegerischer Lösung sie rüsten. Die Rüstungsübereinkommen können in diesem diplomatischen Aufmarsch einmal eine zu Rüstungen aufstachelnde, das zweite Mal eine für eine Zeitlang verschleppende Bedeutung haben, aber immer sind sie, um mit dem vorigen Maiartikel Kautskys zu sprechen, »Palliativmittelchen« …, die jeden Moment durchbrochen werden können. Ihr Palliativcharakter hängt ebensosehr ab von den wirtschaftlich-politischen Umwälzungen, die das Verhältnis der Staaten zueinander ändern, wie von der Entwicklung der Rüstungstechnik. Es ist selbstverständlich, daß, wenn eine Regierung, auf Grund eines Abkommens mit einer anderen Macht, ihr Rüstungstempo auf eine Zeitlang einschränkt, wir es begrüßen werden. Aber wir werden dabei der Arbeiterklasse den Palliativcharakter dieser Maßregel, die Momente, die sie über den Haufen zu werfen drohen, aufzeigen. In jedem solchen Falle werden wir die Verantwortung für eine solche vorübergehende Maßregel ablehnen und sie den besitzenden Klassen zuweisen.
Dieses Hervorschieben einer anderen Frage an die Stelle derjenigen, die uns hier beschäftigt hat, einer simplen, parlamentarischen Tagesfrage an Stelle der prinzipiellen von dem Charakter unserer auswärtigen Politik, ist aber keine Zufälligkeit und verdient noch eine kurze Untersuchung. Kautsky spitzt die Streitfrage einige Male auf die Formel zu: er sei ein Anhänger der Reformen, auch auf dem Gebiete des Imperialismus, seine Gegner seien Revolutionäre, die alles oder nichts wollen. Und eben die Übereinkommen der kapitalistischen Staaten sollen diese Reform des Imperialismus bedeuten. Wäre das in der Wirklichkeit der Fall, würden solche Abkommen ein Anfang vom Ende des kriegerischen Imperialismus sein, so würde Kautsky endlich einen Boden unter den Füßen gewinnen. Da aber die Abkommen nur ein Mittel bilden, die kleinen Gegensätze zurückzustellen, um Kräfte zu sammeln zum Kampfe um die großen, so wäre es eine gänzliche Verkennung ihres Charakters, in ihnen eine Abkehr vom Imperialismus zu sehen. Sie sind die Praxis des Imperialismus.
Der letzte rettende Sprung Kautskys aus den Wolken stellt einen Sprung auf den Boden des Imperialismus dar. Und was Kautsky als Reform des Imperialismus ansieht, das ist seine Stärkung. Während aber gewöhnlich die vom Proletariat erkämpften Reformen es stärken, so könnte die Bündnispolitik der Großmächte kein Ziel des Proletariats bilden, ohne es zu schwächen. Würde das Proletariat zweier Länder, um einen Augenblick Atem schöpfen zu können, gemeinsam auf eine »Aussöhnung« der beiden imperialistischen Regierungen wirken wollen, so könnte dies nicht geschehen, ohne daß es sich auf ihren gemeinsamen Standpunkt stellen würde. Die imperialistischen Abkommen sind koloniale Schachergeschäfte. Ohne sie zu akzeptieren, kann die Arbeiterklasse nicht den » ehrlichen Makler« zwischen den Regierungen spielen, um das unbewußt diese Politik am besten verurteilende Wort des Genossen Ledebour zu gebrauchen – er gebrauchte es in seiner Reichstagsrede zum Etat des Auswärtigen Amtes im Mai dieses Jahres –, denn wo ein Makler da ist, muß er den beiden Seiten ein Objekt anbieten, das für sie einen Wert hat. Das Resultat einer solchen Politik könnte nur die Anerkennung der Kolonialpolitik bilden, das heißt die Akzeptierung des kapitalistischen Standpunktes durch das Proletariat, denn man kann nicht die »Aussöhnung« befürworten und den einzigen unter den gegebenen Umständen zu ihr führenden Weg ablehnen.
Wenn aber eine Reform das Proletariat abführt vom Wege des Klassenkampfes, dann ist sie keine Reform, die das Proletariat annehmen oder gar befürworten kann. Sie ist eine gelbe Reform, um das Wort Rappaports gegen Millerand zu gebrauchen. Daß Kautsky sie akzeptiert, das ist angesichts seines allgemeinen Standpunktes noch ein Beweis mehr, daß er die Tragweite der jetzigen Streitfragen nicht übersieht und nicht mehr übersehen kann, dank der Konsequenzen seiner in den letzten Jahren eingeschlagenen Politik.
Die Quellen und die Folgen.
Die Untersuchung der Differenz, die in den Fragen unserer auswärtigen und Rüstungspolitik zwischen einem Teile der Radikalen und dem Genossen Kautsky besteht, zeigte, daß es ein Unterschied in der Anwendung der marxistischen Methode ist, der ihr zugrunde liegt. Aber es wäre sehr unrichtig, anzunehmen, daß dieser Unterschied die letzte Wurzel dieser Differenzen bildet. Wir wollen hier nicht untersuchen, ob Kautsky unsere Gegenwartspolitik immer in dieser spekulativen Weise untersuchte und begründete, weil es sich doch nicht um eine persönliche Auseinandersetzung handelt, obwohl Genosse Kautsky die Quellen der Differenz in meinem Eifer eines unglücklichen Erfinders und in der Tatsache sieht, daß es mir gelungen ist, eine so unschuldig-ahnungslose Landpomeranze wie Paul Lensch zu verführen. Die Tatsache, daß Kautsky den Imperialismus früher mit etwas anderen Augen ansah, und daß Genossen für seinen Standpunkt in diesen Fragen eintreten, von denen wir vortreffliche Analysen der Triebkräfte des Imperialismus besitzen, wie solche, die, ohne sich mit der Theorie abzugeben, aus rein politischen Gründen für die Abrüstung eintreten, zeigt, daß die eigentlichen Quellen der Differenz an anderer Stelle anders liegen. Sie sind auf dem Gebiet der allgemeinen taktischen Differenzen zu suchen, die in den letzten Jahren im Lager des deutschen Marxismus entstanden sind. Die Kautskysche Methode brachte nur klarer den Charakter und die Konsequenzen der ihm und einem Teile der Radikalen gemeinsamen, allgemeinen taktischen Position zum Ausdruck, wie wieder die Eigenarten des deutschen Imperialismus, den ich in meinem Artikel »Zu unserem Kampfe gegen den Imperialismus« in der » Neuen Zeit« darzustellen suchte, dem Standpunkt Kautskys in dieser Frage Freunde gewinnen bei einem Teile der Genossen, die in den allgemeinen taktischen Fragen mit seiner Position nichts zu tun haben wollen.
Was in unserer Position bei Kautsky am meisten Anstoß erregt, ist dieses, daß sie die Lage zur Formel zuspitzt: Hie Imperialismus – hie Sozialismus, daß sie im Imperialismus die letzte Phase des absterbenden Kapitalismus sieht, daß sie alle Illusionen über die Möglichkeit der Reform des Imperialismus leugnet, daß sie als eine Hauptaufgabe der Arbeiterklasse Massenaktionen gegen die imperialistische Praxis betrachtet, in Momenten, wo diese die Massen wirklich aufwühlt. Dieser Politik stellt er eine andere gegenüber: den Kampf gegen den Imperialismus, gegen das Wettrüsten, aber nicht als Kampf der nur auf sich angewiesenen Arbeiterklasse, sondern zusammen mit dem Kleinbürgertum, ja zusammen mit einem Teile der Bourgeoisie, die in dieser Frage vom Leben und Tod des Kapitalismus gemeinsame Interessen mit dem Proletariat haben soll. Was ist das anderes als die Losung: Gegen den schwarz-blauen Block, als die politische Grundlage des Stichwahlabkommens, die Genosse Kautsky in diesem Winter mit demselben Eifer auf Kosten der Methode und der Tatsachen verteidigte, wie die Abrüstungslosung. Der Politik, die die Hebung der Aktivität der Masse angesichts der Gefahren der imperialistischen Politik als die einzige Aufgabe der Sozialdemokraten in dieser Frage sieht, stellt Kautsky zwar keine prinzipielle Ablehnung der Massenaktionen gegenüber, ja, er erklärt sogar, (Neue Zeit XXIX, 2, S. 103), der Erfolg eines Massenstreiks in einer solchen Situation sei nicht ausgeschlossen, aber einige Sätze weiter erklärt er:
Ist es einmal soweit gekommen, daß die Bevölkerung nicht in der eigenen Regierung, sondern in der Bösartigkeit des Nachbarn, die Kriegsursache erblickt – und welche Regierung versuchte es nicht, mit Hilfe ihrer Presse, ihrer Parlamentarier, ihrer Diplomaten, der Masse der Bevölkerung diese Anschauung beizubringen, – kommt es unter solchen Umständen zum Kriege, dann entbrennt in der ganzen Bevölkerung auch einmütig das heiße Bedürfnis nach Sicherung der Grenze vor dem bösartigen Feinde, nach Schutz vor seiner Invasion.
Da werden zunächst alle zu Patrioten, auch die international Gesinnten, und wenn einzelne den übermenschlichen Mut haben sollten, sich dagegen auflehnen und hindern zu wollen, daß das Militär zur Grenze eilt und aufs reichlichste mit Kriegsmaterial versehen wird, so brauchte die Regierung keinen Finger zu rühren, sie unschädlich zu machen. Die wütende Menge würde sie selbst erschlagen.
Der politische Massenstreik ist ein ungeheures Unternehmen, das nur zustande kommen und gelingen kann, wenn eine ganze Reihe außerordentlich günstiger Umstände zusammentrifft. Den Massenstreik anwenden zu wollen als Mittel, die Verteidigung der Grenze gegen eine auswärtige Invasion zu hindern, heißt ihn dann zustande bringen wollen, wenn alle Umstände ohne Ausnahme ihn unmöglich machen, wenn er im besten Falle nichts anderes sein kann als ein heroischer Wahnsinn.
Welche Regierung wird nicht versuchen, in einem Konflikt mit der anderen sich als unschuldiges Lämmchen darzustellen? Daß jede Regierung so handeln wird, gibt selbst Kautsky zu. Während welchen Kriegen wird der Feind nicht an den Grenzen stehen? Und wer glaubt wirklich daran, daß eine kapitalistische Regierung imstande wäre, in einer Situation, in der sie in den Augen des Volkes den Anschein des Rechts entbehren könnte, »leichtsinnig« loszuschlagen? Es gibt keinen Krieg, in dem nicht alle Bedingungen fehlten, um den Massenstreik aussichtlos zu machen, wenn es um die Sache so bestellt wäre, wie Kautsky annimmt, wenn die Klassengegensätze im Moment des Krieges aus dem Bewußtsein der Massen verschwinden, die vierzigjährige Arbeit der Sozialdemokratie, wenn auch nur vorübergehend – weggeblasen werden könnte, ja müßte.
Wir wollen hier diese Frage nicht ausführlich behandeln, dies tut Pannekoek,[Anmerkungen 19] denn es handelt sich bei uns nicht um ihre Widerlegung, sondern nur um ihre Feststellung. Es ist nämlich klar, daß, wer befürchtet, daß jede Massenaktion gegen imperialistische Gefahren elend zusammenbrechen muß, der muß sich gegen eine theoretische Analyse des Imperialismus richten, die die ganze Hilflosigkeit der parlamentarischen Aktion dem Imperialismus gegenüber feststellt, indem sie die letzte Karte des Kapitalismus sieht. Obwohl wir keinesfalls der Meinung sind, daß die Massen sich in jeder kriegerischen Situation zu einer Abwehraktion aufraffen können, und obwohl wir nicht der Meinung sind, daß jede Abwehraktion erfolgreich sein muß, so sehen wir es für die Aufgabe der Sozialdemokratie an, in ihrer ganzen täglichen Agitation gegen den Imperialismus in den Massen die Erkenntnis zu verbreiten: Die ganze Bourgeoisie ist für den Imperialismus alles; was von ihm kommt, dient dem Imperialismus, es gibt kein Mittel gegen ihn als die Aktion der Arbeiterklasse, die in allen Positionen sich verschanzt, auch in der Festung des Imperialismus, im Heere, das auch, soweit es geht, im Interesse des Kampfes gegen den Imperialismus demokratisch auszubauen ist.
Dieser Standpunkt scheint Kautsky eine Agitation für den »heroischen Wahnsinn« zu sein, und das ist die Quelle seiner Bemühungen, nicht zu sehen, was ist. Weil er die Konsequenz der Analyse des Imperialismus im Interesse der »Ermattungsstrategie« befürchtet, revidiert er hier ebenso seine Auffassung des Imperialismus, wie er vor zwei Jahren aus Rücksicht auf die Ermattungsstrategie seine Theorie des Massenstreiks revidiert hat.
Daß er Lensch, der diese Revision für jeden Unbefangenen bewiesen hat, als einen sehr schlechten Burschen darstellt, das ist nur ein Gegenstück zu seiner Behauptung, die Genossin Luxemburg habe Zitate gefälscht, um seine Abkehr von seinen alten Auffassungen über den Massenstreik zu beweisen. Wenn wir diese etwas komische Seite erwähnen, so nur darum, weil sie zu der sehr ernsten politischen Frage über die Konsequenzen der Kautskyschen Politik führt.
Mit der Politik der Sozialdemokratie ist es wie mit jeder anderen: wer nicht nach vorwärts geht, der geht zurück. Wer aus Angst (sie muß nicht bewußt sein) vor den Konsequenzen einer Konstatierung dessen, was ist, die Augen davor schließt, der wird nicht nur seine sozialdemokratische Pflicht, zu sagen, was ist, nicht erfüllen, er wird genötigt sein, zu sagen, was in der Wirklichkeit nicht existiert, Illusionen zu verbreiten. Jede Verkennung der Wirklichkeit führt aber zur Konfusion.[Anmerkungen 20] Daß sie sich bei einem einzelnen in dem Bemühen äußert, zu beweisen, daß nicht er, sondern die anderen sich geändert haben, ist noch nicht so wichtig; bei der Partei aber würde sie zu einer Wackeltopfpolitik führen, sie würde ihre agitatorische Kraft schwächen.
Das müßten in erster Linie unsere praktisch tätigen Genossen in Betracht ziehen, die erklären: die Abrüstung ist unmöglich, aber sie ist eine zündende agitatorische Losung; und ein Rüstungseinschränkungsabkommen wäre zwar eine vorübergehende Maßregel, aber als konkretes erreichbares Ziel wäre es besser imstande, auf die Massen zu wirken, sie in Bewegung zu bringen, als eine allgemeine, an sich noch so richtige Agitation. Wir lassen die Tatsache beiseite, daß der Kampf um die Demokratisierung der Heeresreform, in konkreter Form geführt, ein noch reelleres Ziel stellt, an das wir in unserem täglichen Kampfe gegen den Imperialismus anknüpfen können, und daß die imperialistischen Gefahren ein immer konkretes Angriffsziel bieten. Wir wollen nur feststellen, daß die Sozialdemokratie ihre Agitation niemals an die Illusionen der Masse anpassen darf, sie muß umgekehrt diese Massen von allen Illusionen zu befreien suchen, indem sie ihnen bei jeder Aktion sagt, was ist. Aber die Praktiker, die annehmen, daß in den Massen der Glaube an die Möglichkeit der Abrüstung, an den Nutzen der Bündnisse der kapitalistischen Regierungen eingebürgert ist, sind schlechte Beobachter. Nichts läßt die Massen in den Versammlungen so kalt, wie die Ausführungen von dem Bündnis mit den »Kulturnationen«, von der Möglichkeit der Einschränkung der Rüstungen, und nichts löst in ihnen solchen Beifall aus, als der Appell an die solidarische Aktion des Proletariats gegen die Politik jener »Kulturstaaten«, die dem Lena-Zaren die Hand drücken, damit er ihnen helfe, sich gegenseitig die Hälse abzuschneiden. Nichts weckt einen größeren Enthusiasmus in den Massen, als die Feststellung, daß der Imperialismus den Kapitalismus an den Abgrund führt, und daß es die historische Rolle der Arbeiterklasse ist, ihn dort hinunterzustoßen. Daß es so sein muß, ist klar, weil es in der in der Arbeiterklasse instinktiv sich den Weg bahnenden, auf Grund ihrer ganzen Kampfesnatur erklärbaren Erkenntnis basiert, daß keine Klasse zurücktritt oder ihre Natur ändert, ohne alles gewagt zu haben, weil sie in dem Gefühl basiert, daß in der Arbeiterklasse die Macht zum Siege über den Kapitalismus mit jedem Jahre wächst. Darum würde die Abrüstungsparole und alles, was drum und dran hängt, die ein Teil der Praktiker aus agitatorischen Gründen befürwortet, alles andere tun, als die Agitation stärken.
Darum sind wir auch sicher, daß, wenn auch auf dem Parteitag in Chemnitz angesichts des noch wenig geklärten Charakters des Problems die Mehrheit der Partei sich für den Standpunkt der Fraktion erklären würde, dem Kautsky eine theoretische Begründung gibt, der Sieg sehr kurzlebig sein würde. Mit Phantasien macht man Gedichte, mit Spekulationen schlechte Philosophie; aber der Kampf erfordert ein Schwert, und Eisen wächst nur in dem schwarzen Boden der Wirklichkeit.
Kapitalistisches Wettrüsten, Volksheer und Sozialdemokratie.
Die neuen Militärvorlagen und was weiter?
Deutschland greift zu neuen Rüstungen, nachdem erst vor zwei Jahren im Quinqennatsgesetz die Heeresstärke um 11 000 Mann, die Militärkosten um 140 Millionen Mark, nachdem erst im vorigen Jahre die Heeresstärke um 29 000 Mann, die Militärkosten um 650½ Millionen Mark vergrößert worden sind. In jähem Sprung soll jetzt das Heer um über 150 000 Mann vergrößert werden, was eine Milliarde einmaliger und eine Viertel-Milliarde dauernder Kosten verursachen soll – zu der 1 576 326 000 Mark des bisherigen Militär- und Marineetats hinzukommen. Zirka 800 000 Mann (samt den Offizieren) sollen dauernd unter Waffen stehen.
Dem von Deutschland gegebenen Signal folgen alle anderen Staaten; Frankreich schraubt seine militärische Entwicklung zurück, revidiert das Gesetz vom Jahre 1905, das die zweijährige Dienstzeit eingeführt hat, führt die dreijährige Dienstzeit mit all ihren ungeheuren Lasten an Gut und Blut wieder ein, um nur ja, trotz seiner über ein Drittel schwächeren Bevölkerung dem Laufschritt des deutschen Militarismus folgen zu können. Der Verbündete Frankreichs, Rußland, wird ihm folgen müssen, sei es in der Aufstellung neuer Armeekorps oder in der besseren Ausrüstung der bisherigen. Österreich, die Konkurrenzmacht Rußlands auf dem Balkan, wird nicht im Hintertreffen bleiben; und obwohl es vor kurzem seine Heeresmacht um über 60 000 Mann erhöht hat, will es sie wieder um 30 000 Mann anschwellen lassen. Das wird Italien, seine verbündete Macht, auch zu neuen Rüstungen nötigen, denn die freundschaftlichen Verhältnisse erfordern in der kapitalistischen Welt, ebenso wie in der feindlichen, das stete Rüsten, während ihr Ziel bei gespannten Verhältnissen das Sich-nicht-erdrücken lassen bildet, müssen »befreundete« Mächte rüsten, damit der Wert der »Freundschaft« eines jeden gleich bleibe.
So beginnt ein Rüstungstanz von schwindelerregendem Anblick. Nach sehr niedrig eingesetzten Schätzungen des offiziösen »Nauticus« verschlangen die Rüstungskosten in den letzten zehn Jahren in den »zivilisierten« Ländern über 65 Milliarden Mark: über 10 Milliarden in Deutschland, über 12 in England, über 9 in Frankreich, über 11 in Rußland, über 4½ in Österreich, über 3½ in Italien, über 10 in Amerika, über 2½ in Japan; wobei die Schädigung der Wirtschaft durch die Entziehung der Arbeitskräfte gar nicht mitgerechnet ist. Die Kosten eines Jahres des bewaffneten Friedens berechnet Professor Kobatsch[40] nur für Europa auf 18 Milliarden Mark: 7 Milliarden Mark die direkten Rüstungsausgaben, 5 Milliarden Mark Entgang der aktiv Dienenden (5 Millionen Mann à 1000 Mark), 6 Milliarden Mark der Dienst der Schuldenzinsen. In dem hochgepriesenen Zeitalter der Sozialpolitik beträgt das Verhältnis aller Wohlfahrtsausgaben, von dem bißchen Wissen, das dem Volkskind zuteil wird bis zum Sterbegeld des invaliden Proletariers in Deutschland 1/28 der Rüstungsausgaben. (Nach einer Enquete des französischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten.)
Und das Resultat dieser ungeheuren Ausgaben, die, auf dem Wege der indirekten Steuern aus der Volksmasse herausgeholt, ihr Aufwärtsstreben vom Leben des Arbeitsviehs zu dem des Menschen gewaltig zurückdrängen, sie aller Kulturmöglichkeiten berauben? Sie sollen den Frieden sichern! Aber wie es selbst um diesen armseligen Frieden der in Knechtschaft und Not Lebenden dank den Rüstungen bestellt ist, das hat am 8. März dieses Jahres, bezugnehmend auf die bevorstehenden Rüstungen, ein Rüstungspatriot, der frühere Diplomat und jetzige nationalliberale Parlamentarier Rath mit folgenden Worten im »Tag« erklärt:
» Es läßt sich nicht leugnen, daß die ungeheure Steigerung der militärischen Macht eine Gefahr für den Frieden bedeutet, daß die Lehre von der Versicherungsprämie in Gestalt der Rüstungskosten erschüttert wird, wenn die militärischen Anstrengungen ein gewisses Maß übersteigen. Die Schwere der Rüstung kann eines Tages unerträglich werden und zur kriegerischen Entscheidung drängen.«
Wachsende Not, wachsende Kriegsgefahr, das ist die Bilanz der Rüstungen. Auf Jahre hinaus werden junge Volkssöhne, oft Ernährer der Familien, in der Zeit, wo sie am meisten lernen können, in der Zeit, wo selbst ihrer ärmlichen Jugend das Leben das Beste schenken kann, in die Kasernen gesteckt, jahrelang mit geisttötender Plackerei gedrillt, mit Roheit behandelt, damit sie, wenn es gilt, auf Vater und Mutter oder ausländische Arbeitsbrüder schießen und selbst Kanonenfutter bilden. Alles bäumt sich im Proletariat instinktiv gegen diese Verschwendung an Gut und Blut, gegen die Gefahr der Verwandlung der zivilisierten Menschheit in Horden sich gegenseitig abschlachtender Barbaren auf. Nichts ist natürlicher als die Sehnsucht nach einem Ende dieser in den Abgrund treibenden Entwicklung. Das Herz und Gehirn der arbeitenden Volksmassen, ihre klassenbewußte Vorhut, die Sozialdemokratie, kann nicht ruhig, mit verschränkten Armen, diesem militaristischen Taumel zusehen, sie kann sich nicht mit seiner Kritik begnügen, sie muß einen Kampf gegen das Rüsten organisieren, die Kräfte des Volkes zu diesem Kampfe mobilisieren.
Gibt es aber ein Mittel zur Milderung dieser die Menschheit bedrohenden Verhältnisse und zu ihrer endgültigen Durchbrechung? Die Sehnsucht und die Erkenntnis der Massen weist auf den Sozialismus, der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, also auch die Konkurrenz der Ausbeutenden untereinander, ihren Kampf, zu dessen Mitteln die Rüstungen und der Krieg gehören, abschaffen wird. Als Weg zu diesem endgültigen Ziel aber zeigt die Sozialdemokratie auf das Volksheer. Indem sie auf dieses Ziel, als dem aus der Entwicklung des Militarismus sich ergebenden, Schritt für Schritt im Rahmen des Kapitalismus Verwirklichbare, bis es bei seiner vollständigen Verwirklichung diese Rahmen sprengen wird, hinweist, stellt sich die Sozialdemokratie nicht nur in einen Gegensatz zu den Fanatikern des Militarismus, sondern auch zu den bürgerlichen Friedensaposteln, die, Bourgeois bis in die Knochen, den Kapitalismus mit seiner Knechtschaft des Volkes erhalten und nur seine reifste Frucht, die der Kriegsbarbarei, beseitigen wollen.
»Es gibt eine Anzahl von Ideologen bürgerlicher Herkunft und Denkart, die sich vom Egoismus ihrer Klasse frei wähnen und einen ehrlichen Haß gegen den Moloch in sich nähren, die sich durch eifrige Propaganda für die Abschaffung der stehenden Heere oder wenigstens für eine weitgehende Abrüstung betätigen. Sie glauben, daß es möglich ist, auf diese Weise den Würgengel des Krieges aus dem Paradiese unserer Kultur zu jagen und einen Zustand zu begründen, wo Machtfragen nicht mehr durch Blut und Eisen, sondern durch friedsame internationale Schiedsgerichte gelöst werden. Wenn nun an das Proletariat die Frage gestellt wird, ob es diesen Bestrebungen seine Unterstützung leihen soll, so kann es darauf nur die Antwort geben: Nein!« – schreibt Hugo Schulz, der sozialdemokratische Geschichtsschreiber des Kriegs und Heereswesens.[41]
Und zwar erfolgt diese Weigerung aus mehrfachen Gründen. Die Arbeiterklasse ist in dem Kriege, unter dem sie vor allem zu leiden hat, und der selbst dann, wenn er eine Aktion notwendiger nationaler Verteidigung ist, mit seinen etwaigen günstigen Ergebnissen ihre Interessen weit weniger fördert als die der herrschenden Klassen, natürlich nicht weniger abhold als die utopischen Friedensfreunde. Sie wird sich aber dennoch sorgsam vor allem »Abschaffungs-Wahn« hüten und, geführt von dem ihr eigenen historischen Sinn, den Weg einschlagen, den ihr die klare Erkenntnis der geschichtlichen Zusammenhänge und Notwendigkeiten weist. Dieser Weg führt allerdings zu einem Ziele, hinter dem der Alpdruck der Kriegsfurcht nicht mehr auf der Menschheit lasten wird; denn: wenn einmal die sozialistische Organisation unserer Kulturwelt beendet sein wird, dann werden die Interessen der einzelnen Organisationsgebilde nur mehr parallel laufen; jedes sozialistische Gemeinwesen wird bei vollentwickelten Produktivkräften in sich selbst die Gewähr seiner Machtentfaltung finden und an keinem Punkt genötigt sein, die Wege des Nachbars zu kreuzen. Bis zur vollen Erfüllung dieser im Entwicklungsgange unserer Kultur gelegenen Tendenzen aber wird uns das Erbübel des Krieges noch erhalten bleiben, und das Interesse der Arbeiterklasse geht nur dahin, mit aller Macht jeden einzelnen Ausbruch des Geschwürs zu verhindern. Tatsachen von so eindringlicher Wucht und von so tiefer historischer Begründung wie die, als die uns der moderne Militarismus erscheint, lassen sich nicht abschaffen, sondern nur im Kampfe überwinden.
Es sei nur ganz nebenbei erwähnt, daß der Sehnsucht nach Abschaffung der großen Massenheere und nach Rückkehr zu den kleinen Söldner- oder Konskriptionsheeren auch eine gut bürgerliche Erwägung zugrunde liegt. Die herrschenden Klassen sind, wie bei all ihrem Tun auch damit, daß sie sich mittels der allgemeinen Wehrpflicht auch ein volkstümliches Bollwerk wider das Volk geschaffen haben, in eine Sackgasse geraten: sie brauchen wohl ihre Riesenarmeen, fürchten aber zugleich die demokratischen Geister, die in ihnen schlummern und nur zu erwachen brauchen, um das enge Gehäuse einer feudal-hierarchischen Organisation, in das sie gebannt sind, zu sprengen. Es gibt heute hohe Generäle, die es ganz offen aussprechen, daß die allgemeine Wehrpflicht die alte Kriegsherrlichkeit des privilegierten Soldatentums zugrunde richte und zur Demokratisierung der Armee führe.
Das aber ist eben, was die Arbeiterklasse anstrebt. Und die schwache Stelle ihres Systems, die die Bonzen des Molochs selbst mit klarem Auge erkennen, ist der archimedische Punkt, wo die Sozialdemokratie ihren Hebel ansetzen muß, um die Trutzburg der Klassenherrschaft aus den Angeln zu heben. Nicht Abschaffung der Armee, sondern Demokratisierung der Armee ist ihre Parole. Nicht Abrüstung der Massenheere und Rückkehr zu den kleinen Eliteheeren der Vergangenheit, die zwar kein so umfängliches, dafür aber ein um so präziseres, zuverlässigeres Instrument der Machthaber sind, kann unser Ziel sein, sondern wir wollen alle Konsequenzen aus der allgemeinen Wehrpflicht ziehen. Und wir wollen nicht nur, sondern es muß so kommen; seine eigene innere Dialektik bringt den Militarismus in Widerspruch mit sich selbst und löst ihn allmählich auf: Mit innerer Notwendigkeit bildet sich unter dem zersetzenden Einfluß der in ihm wirkenden Kräfte – jener Geister, die es einst rief, um sie nimmer los zu werden – das herrliche Heer des Monarchen, des sporenklirrenden Junkertums, der um ihre Schätze zitternden Bourgeoisie, zur Miliz um, zum herrlichen Heere des Gesamtvolkes, das in ihm und über ihn herrscht. Diese Entwicklung ist es, die wir zu fördern haben. Wir sind darum nicht weniger friedliebend, nicht weniger mit Abscheu von aller militärischen Gloriole erfüllt, als die utopischen Friedensfreunde. Wir ziehen es nur vor, statt in den blauen Himmel hineinkonstruierte Luftschlösser zu ersinnen, auf dem Boden des historisch Gegebenen und historisch Notwendigen zu wandeln, statt in unserer Phantasie den Kriegsgott zu entthronen, eine Wirklichkeit zu schaffen, die sich gegen seine bösen Zauber zu wappnen weiß.
Dieser trefflichen allgemeinen Charakteristik des Standpunktes der Sozialdemokratie zufolge – in der Schulz nur das ausdrückt, was auch immer unser Altmeister Engels, ein Fachmann auf diesem Gebiete, was Mehring, ein ausgezeichneter Kenner der älteren Militärgeschichte, was Bebel, ihr überzeugter Anhänger, vertraten, – gilt es, unsere Milizforderung zu begründen, nicht als eine aus der schöpferischen Phantasie oder Spekulation gewonnene sogenannte »nützliche« Forderung, sondern historisch, das heißt: sie zu begründen als notwendige Folge der Entwicklung des Militarismus im Rahmen der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung. Zu dieser Begründung finden wir Bausteine nicht nur in den Arbeiten der genannten Vorkämpfer der Sozialdemokratie, deren Darstellung der Milizfrage zwar in den Grundfragen hieb- und stichfest ist, in einzelnen Argumenten aber nicht ganz dem jetzigen Zustand des Militarismus und dem Charakter des Imperialismus entspricht, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur des Militarismus selbst, beginnend bei ihren großen modernen Vertretern: von Clausewitz, Gneisenau, Scharnhorst, in ihren Denkschriften durch die bürgerlichen Milizvertreter Schulz-Bodmer, Rüstow, bis zu den heutigen Verfechtern des Militarismus, den Generälen von Schlieffen, von der Golz, v. Bernhardi und den Göttern minderen Ranges des militärischen Olymps.
Die Entstehung der modernen Heeresorganisation.
1. Das Söldnerheer.
»Nichts ist abhängiger von ökonomischen Bedingungen als gerade Armee und Flotte. Beschaffung, Zusammensetzung, Organisation, Taktik und Strategie hängen vor allem ab von der jedesmaligen Produktionsstufe und den Kommunikationen. Nicht die »freien Schöpfungen des Verstandes« genialer Feldherren haben hier umwälzend gewirkt, sondern die Erfindung besserer Waffen und die Änderung des Soldatenmaterials; der Einfluß der genialen Feldherren beschränkt sich im besten Falle darauf, die Kampfweise den neuen Waffen und Kämpfern anzupassen.«
(Friedrich Engels im Anti-Dühring.)
»Die sozialen Verhältnisse jeder historischen Periode beeinflussen ausschlaggebend nicht nur den Kriegsorganismus jeder Nation, sondern auch den Charakter, die Fähigkeiten und Bestrebungen der Militärpersonen.«
(Oberstleutnant Rousset, Professor an der höheren Kriegsschule in Paris, in seinen »Les Maîtres de la Guerre«.)
Die stets dem Staate zur Verfügung stehenden Massenheere sind ein Kind nicht nur der Neuzeit, sondern sozusagen der jüngsten Zeit, sie sind nicht viel älter als ein Jahrhundert. Sie entstanden als Waffe der Völker, aber nachdem die Söldnerheere als Waffen der Fürsten versagt hatten, lernten die Fürsten das Volk in Waffen als Waffe gegen das Volk gebrauchen, indem sie die demokratische Institution der allgemeinen Wehrpflicht in die antidemokratische Organisation des stehenden Heeres hineinpferchten und dem Volksheere den Geist der fürstlichen Soldateska aufzupfropfen suchten. Im modernen Heere, wie es sich seit dem Jahre 1871 in allen europäischen Ländern entwickelt hat, finden wir darum die Züge der Volksmilizen der französischen Revolution, mit denen der friderizianischen, durch den Stock zusammengehaltenen Söldlinge, Tendenzen revolutionären und reaktionären Charakters, miteinander vermischt. Ihre gegenseitige Stärke, ihren Einfluß auf die allgemeine Entwicklungstendenz des Militarismus unserer Tage kann man nur dann voll würdigen, wenn man die Gründe kennt, die die Regierungen nötigten, das Söldnerheer in ein Volksheer zu verwandeln.
Das Söldnerheer war eine Schöpfung des modernen Absolutismus. Es entstand aus den Ruinen des mittelalterlichen Feudalismus. Das Mittelalter kannte überhaupt keine der Staatsgewalt stets zur Verfügung stehenden Heere. Die Staatsgewalt in der Person eines mittelalterlichen, souveränen Herrschers war sehr schwach. Über die ihr untertänigen Länder konnte sie schon wegen der sehr schwachen Verkehrsmittel und der dünnen, weit zerstreuten Bevölkerung nicht selbständig herrschen. Diese regierte sich selbst: in den noch auf der Stufe der Naturalwirtschaft stehenden Dörfern wie in den schon Warenwirtschaft treibenden Städten herrschte die Demokratie. Nur Naturalabgaben an die großen Grundbesitzer, die der Arbeit der Ackerbauern den Waffenschutz verliehen, bildeten den Anfang des Herrschafts- und Untertänigkeitsverhältnisses. Wenn auch diese Abhängigkeit des Volkes mit der Steigerung der Produktivität der Arbeit wuchs, weil dadurch die großen Grundbesitzer erst wirklich mächtig wurden und die Möglichkeit bekamen, einen Teil der Arbeitskraft oder des Arbeitsproduktes des Volkes sich anzueignen, stieg die Macht des Herrschers nur insoweit, als er als einer der größten Großgrundbesitzer von der allgemeinen Entwicklung profitierte. Als Staatsherrscher blieb er wie im Anfang von seinen Vasallen abhängig. Die Kriege, die die Herrscher des Mittelalters miteinander führten, waren, wie es Prof. Delbrück glänzend in seinem Werke über das Kriegswesen des Mittelalters bewies, klein, mit den modernen Kriegen gar nicht vergleichbar, da an ihnen im besten Fall nur ein paar tausend Menschen teilnahmen. Sie wurden durch die Vasallen-Ritter ausgefochten, die zu Pferde auf die Bitte des Herrschers erschienen, – oder auch nicht erschienen. Auch das geschah oft, weil das Abhängigkeitsverhältnis nur sehr lose war. Es gab also weder stehende, noch absolut der Staatsgewalt gehorchende Heere, und was das Wichtigste war, das Volk war der Pflicht des Kämpfens für die Interessen der herrschenden Ritterschicht und ihres gekrönten Oberhauptes gänzlich enthoben.
In diesen Verhältnissen trat im Laufe der letzten Jahrhunderte des Mittelalters, – im 13., 14., 15. Jahrhundert – eine allmähliche Änderung ein. Sie war bedingt durch die weiter fortschreitende wirtschaftliche Entwicklung. Die wachsende Produktivität der Arbeit der Volksmassen in Stadt und Land bildete einen Anreiz für die Ritter, breiter und tiefer in die Verhältnisse der Volksmassen einzugreifen, sie mehr auszubeuten. Diesem edel-ritterlichen Bestreben leisteten die Volksmassen, wo ihnen die geographischen und anderen Verhältnisse es erleichterten, einen erbitterten Widerstand, und in den daraus entstehenden Kämpfen des 13. und 14. Jahrhunderts unterlagen ihm in Böhmen, in der Schweiz und in Flandern die Ritterheere schmählichst. Ihre auf den Turnieren in so schönen Farben glitzernde Uniform, in so hohen Tönen besungene Kriegskunst zerstob wie Spreu vor dem Winde vor den mit Eisen beschlagenen Knüppeln, Äxten und Spießen der Bauern und Handwerkermassen, die für ihre eigene Sache kämpften. In derselben Zeit, in der die Bauern so das Ansehen der Ritterheere aus der Welt schafften und die Bedeutung des in Kriegskunst ungelernten Fußvolkes in das richtige Licht rückten, begannen die Herrscher (Könige und Fürsten) den Kampf mit der Ritterschaft. Sie suchten, wie die Ritter, denselben Entwicklungsprozeß, die Stärkung ihrer Gewalt, auszunützen. Sie gewährten den Städten Schutz gegen die Ritter und bekamen dafür von den Städten, in denen die Geldwirtschaft schon entwickelt war, Geldmittel, für die sie Fußvolk mieteten, mit dieser Macht die Selbständigkeit des Adels in den verschiedenen Staatsteilen zu brechen und eine zentrale Staatsgewalt zu bilden, ein allgemeines Gerichts- und Abgabewesen einzuführen suchten.[Anmerkungen 21] Sie schafften natürlich die Vorrechte des Adels der Volksmasse gegenüber nicht aus der Welt, aber sie machten sich den Adel botmäßig. Diese Politik gelingt im Laufe des 15. bis 18. Jahrhunderts in verschiedenen Staaten in verschiedenem Grade, je nach der besonderen Höhe der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse. In Frankreich führte sie schon im 15. Jahrhundert zur Bildung eines zentralistisch und despotisch regierten Staates; in Deutschland nach langen Kämpfen von der Reformation bis zum Dreißigjährigen Kriege zur Ausbildung einer Reihe von ebenso regierten Territorial-Staaten. Es ist hier nicht der Ort, diesen Prozeß darzustellen; es sei nur gesagt, daß dieses Resultat in Deutschland dadurch bedingt wurde, daß die wirtschaftlichen Interessen des Südens und Nordens, des Ostens und Westens Deutschlands nach verschiedenen Richtungen gingen, daß das Kaiserhaus Habsburg, das in Spanien, Ungarn, Österreich, den Niederlanden gleichzeitig herrschen wollte, seine Kraft zu dem Kampf gegen die deutsche Ritterschaft und die Teilfürsten nicht zusammenfassen konnte; schließlich kam noch die Änderung der Handelswege vom Mittelmeer und der Ostsee zum Atlantischen Ozean, die die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands auf Jahrhunderte hinaus hemmte, und so die zentralisierenden Tendenzen schwächte.[Anmerkungen 22] Aber im Rahmen der im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts entstandenen deutschen Staaten entwickelte sich das Heerwesen in derselben Richtung, die in Frankreich im Jahre 1445 unter Karl VII. durch die Bildung eines kleinen Söldnerheeres, das zu halten nur der König das Recht hatte, und dessen Kosten durch eine dauernde Steuer (denarius perpetunis) durch den Adel bewilligt wurden, zum Ausdruck kam. Auch der deutsche Reichstag beschloß im Jahre 1654, »daß jedes Kurfürsten und Standes Landsassen, Untertanen und Bürger, verpflichtet seien zu Besetz und Erhaltung der nötigen Festungen, Plätze und Garnisonen ihren Landesfürsten, Herrschaften und Obern mit hülflichen Beitrag an Hand zu gehen«.[42]
Inwieweit die Fürsten in Wirklichkeit fähig waren, ein Söldnerheer zu schaffen, das hing ab von der Macht, mit der sie imstande waren, die Junker an die Wand zu drücken. In Deutschland gelangte das Söldnerheer in Preußen zur größten Entfaltung. Zwar hatte der Große Kurfürst im Jahre 1640 erst 3600 Fußsoldaten und 2500 Reiter – nicht viel mehr als der Kaiser heute bezahlte Lakaien hat – und erst im Jahre 1663 bewilligte der Adel die Kosten zum Unterhalt der Söldner auf sechs Jahre, aber er hinterließ bei seinem Tode schon 30 000 Söldner, und Friedrich Wilhelm I. drang im Jahre 1717 schon mit der Abschaffung der letzten Überreste alter Lehensdienste der Junker durch, wofür sie ihm Geld bewilligen mußten. Er hinterließ schon 80 000 Söldner. Diese Resultate ließen sich nur im zähen Kampfe gegen die Junker erreichen; denn diese sahen mit sehr scheelen Augen auf die Stärkung der königlichen Gewalt. Nur insoweit die preußischen Fürsten den Junkern volle Freiheit in der Ausbeutung der Bauern gaben, soweit sie zu Söldnerführern nur die proletarisierten Junker (Krippenreiter) und die Söhne der kleinen Junker machten, gelang es ihnen, durchzudringen, wobei ihnen noch der Umstand zugute kam, daß die Junker mit der Entwicklung des Getreidehandels zwischen Deutschland, England und den Niederlanden es für profitabler hielten, mit den Bauern herumzuackern, als auf hohem Rosse ihren Wanst auf den Schlachtfeldern schütteln zu lassen. Dieselbe Entwicklung, die die Königsmacht stärkte, schuf ihre Herrschafts- und Ausbreitungsmittel, die Söldnerheere. Das junkerliche Bauernlegen jagte Massen besitzlosen Volkes in die Städte, wo sie Unterkunft in den Manufakturen, beim Handel usw. suchten. Handwerksburschen, die in den zusammenschrumpfenden Zünften keinen »goldenen Boden« fanden, durch die Kriege zerlumpte kleine Junker und ähnliches Volk, suchte Gelegenheit zum Morden und Plündern, ohne die Gefahr des Galgens zu achten.
»Den Herrn wöllen wir suchen,
Der uns Geld und Bescheid soll geben« –
sangen sie. Diese Herren waren eben die Fürsten aller Länder, die vermittels der in Kriegen erfahrenen Christen sich das Lumpenpack aus allen Ländern sammelten. Die eigentlichen Unternehmer waren zuerst die Obristen selbst. Ihnen vermietete sich der Landsknecht, von ihnen bekam er Geld, ihnen schwor er den Treueid. Wem sie dienten, für welche Sache sie stritten, das kam noch nicht einmal in hundertster Linie in Betracht. Sie waren eben Handwerker des Krieges, und wie es den Manufakturarbeiter wenig kümmerte, wer das von ihm produzierte Totenhemd tragen werde, so wenig kümmerte es den Söldner, wem er den Tod bringen oder von wessen Hand er ihn in der Ausübung seines Handwerks finden werde. Nur allmählich, durch schwere Erfahrungen gewitzigt – die Landsknechte streikten oft während des Feldzuges – suchten die Landesfürsten den selbständigen Unternehmer, den Obristen, in einen vom König eingesetzten Offizier, und den Söldner in den dem König direkt unterlegenen Soldaten zu verwandeln, um beide fester in der Hand zu haben. Erst im Jahre 1656 leisteten die Söldner dem Kurfürsten den Treueid. Je mehr die Obristen sich aus inländischen Junkern rekrutierten, desto mehr wuchs ihre direkte Abhängigkeit von dem König. Sie wurde schließlich, als die Fürsten die wachsenden Kosten der Werbung fremder Söldner nicht mehr bestreiten konnten, die einerseits von immer mehr Seiten angeworben wurden, während andererseits mit der Stabilisierung der Verhältnisse der Zuwachs abenteuerlichen Volkes abnahm – zur Werbung der Landeskinder mit Gewalt und List und seit dem Jahre 1733 allgemein zu ihrer Aushebung. Seit dieser Zeit, wo die Soldaten aus der ärmsten Landesbevölkerung »gesetzlich« durch den Staat geholt werden, kann man von einem wirklichen stehenden Fürstenheere reden, dessen Anführer Diener der Könige waren. Daß sie und ihre Vettern im Lande dabei auf ihre Rechnung kamen, dafür sorgte die im Interesse der Junker ausgestaltete Organisation dieses Heeres. Die zuerst fürs ganze Leben, dann für zwanzig Jahre ausgehobenen Landeskinder befanden sich nach dem kurzen Drill nur sehr kurze Zeit unter den Waffen; den größten Teil des Jahres schufteten sie bei ihren Junkern auf dem Lande, denn ihre Erhaltung in den Kasernen würde zuviel Kosten verursacht haben; den Sold steckten die Offiziere ein. Aber auch die fremden Söldner wurden als »Freiwächter« zur Arbeit in die Garnison geschickt, damit der Beutel der junkerlichen Offiziere dank der Ersparnis ihrer Unterhaltskosten anschwellen konnte.
So waren die stehenden Armeen des Despotismus geschaffen: Mit Gewalt und List angeworbene arme Teufel, oder »gesetzlich« ausgehobene Lumpenproletarier und Leibeigene, genötigt, für ihnen ganz fremde Interessen zu kämpfen, bildeten die Armee. Wegen der Mißhandlungen und Diebereien oft desertierend, wurden sie mit Stockhieben für den Krieg abgerichtet und mit Stockhieben in den Kampf getrieben. Wie groß diese durch die Fuchtel zusammengehaltenen, zu einem absoluten Kadavergehorsam genötigten Heere waren, zeigen einige Ziffern, die wir dem schon zitierten Buche Sombarts (Seite 43) entnehmen: Österreich hatte im Frieden 297 000, im Kriege 363 000 Mann, Rußland 224 000, Preußen 190 000, Frankreich 182 000, Spanien 85 000, Schweden 47 000, Dänemark-Norwegen 74 000, die Niederlande 36 000, Kursachsen 24 000, Bayern 17 000, Hessen-Kassel 15 000, Sardinien 25 000, der »Heilige Vater« 5 000, die kleinen »Vaterländer« ganz beiseite gelassen.
Welchen militärischen Wert aber diese mißhandelten Sklaven hatten, das soll in dem folgenden Artikel gezeigt werden, der ihren Zusammenstoß mit den Volksarmeen der Revolution darstellen wird.[Anmerkungen 23]
2. Die Armeen der Revolution.
»Amerikanische und französische Bauern haben die Strategie des 19. Jahrhunderts erfunden.«
(Mehring in der Lessinglegende.)
Die friderizianischen Söldnerheere galten in ganz Europa als staunenswertes Muster einer unüberwindlichen Armee; die Stockprügel galten als das beste militärische Erziehungsmittel, als jenseits des Atlantischen Ozeans die nordamerikanischen Farmer den Kampf um ihre Unabhängigkeit begannen. Sie wollten sich nicht vom englischen Reederei- und Industriekapital plündern lassen. Zwei Millionen arbeitstüchtiger Männer glaubten der ausbeuterischen Obhut Englands entwachsen zu sein. England sandte gegen sie die Söldner, die aus aller Herren Länder zusammengeworfen waren, denn den englischen Bürgern konnte man unmöglich zumuten, selbst den amerikanischen Bauernmilizen entgegenzutreten, um so weniger, als auch England im Innern nur über eine Söldnertruppe verfügte. Nach dem Siege der durch den Großgrundbesitz bedrohten Bauernmilizen[Anmerkungen 24] unter Cromwell (die Milizen der »Freeholders«) wurde die Miliz in England nicht weiter ausgebaut, sondern entsprechend der konterrevolutionären Richtung des nachrevolutionären England das feudale Europa auf militärischem Gebiete nachgeahmt. Die nach den Vereinigten Staaten entsandten Söldnertruppen wurden von den Amerikanern geschlagen. Besser als lange historische Ausführungen erklärt ein Brief des deutschen Dichters Joh. Gottfried Seume die Gründe der Niederlage der englischen Söldner. Seume wurde auf einer Durchreise durch Kassel von den Häschern aufgefangen und an England als Söldner verkauft Auf dem Schiff, das ihn im Jahre 1782 nach Amerika bringen sollte, befanden sich 1500 Mann, von denen ein guter Teil nur an die Flucht dachte, »weil es niemand behagen wollte, sich so ohne sein gegebenes Gutachten mit den armen Teufeln von Amerikanern zu schlagen, denen wir alle herzlich gut waren und alles mögliche Glück wünschten.« Den Zustand des Heeres charakterisiert Seume weiter in folgenden Worten: »So leben wir hier ein Leben, das der Galeerensklave gar nicht beneiden wird … Überhaupt bin ich der Meinung, schlimmer als bisher könne es schwerlich gehen.«[43] Und der dies schrieb, war kein Jammerlappen, sondern trotz seiner Jugend ein wetterharter Charakter. Ein Heer von Galeerensklaven mußte einem Heere von Männern, die um eigene Interessen kämpfen, unterliegen, selbst wenn die Bedingungen des Kampfes für beide Seiten gleich gewesen wären. Aber in dem Kampfe der englischen Söldner gegen amerikanische Freiheitskrieger wiederholte sich derselbe Vorgang, der in den Bauern- und Kleinbürgerkriegen des 14. und 15. Jahrhunderts den Niedergang der feudalen Ritterheere bewirkte. Das sozial neue Soldatenmaterial schuf eine neue Kampfesweise.
Die den Söldnerheeren entsprechende Taktik war die Lineartaktik. Da die Söldner und die mit gewöhnlicher oder gesetzlicher Gewalt in das Heer hineingepreßten armen Teufel jeden Augenblick zur Desertion bereit und nicht zahlreich genug waren, um in zusammengeballten Massen gegen den Feind geschleudert zu werden, mußten sie in langen Linien aufgestellt und gegen den Feind geführt werden, durften sie ferner nicht in selbständigen Truppenteilen auftreten und mußten aus Magazinen verpflegt werden. »Eine Änderung der Schlachtordnung während des Gefechts war unmöglich – schreibt Engels – und Sieg oder Niederlage wurden, sobald die Infanterie einmal im Feuer war, in kurzer Zeit mit einem Schlag entschieden.« Dabei konnten die langen Linien sich nur in der freien Ebene bewegen. Wozu das Volksmassen gegenüber führen muß, zeigte eben der amerikanische Unabhängigkeitskrieg.
»Diesen unbehilflichen Linien traten im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Rebellenhaufen entgegen, die zwar nicht exerzieren, aber desto besser aus ihren gezogenen Büchsen schießen konnten, die für die eigensten Interessen fochten, also nicht desertierten, wie die Werbetruppen und die den Engländern nicht den Gefallen taten, ihnen ebenfalls in Linie entgegenzutreten, sondern in aufgelösten, rasch beweglichen Schützenschwärmen und in deckenden Wäldern. Die Linie war hier machtlos und erlag den unsichtbaren und unerreichbaren Gegnern. Das Tiraillieren war wieder erfunden – eine neue Kampfweise infolge eines veränderten Soldatenmaterials.«
Die Bedeutung dieser neuen Kampfesweise wurde nur wenig in Europa beachtet, als die französische Revolution ausbrach und von dem feudalen Europa bedroht, genötigt wurde, die amerikanische Taktik noch einmal zu erfinden.
Frankreich hatte vor der Revolution ein Söldnerheer, gebildet aus angeworbenen fremden Söldnern und gepreßten Leibeigenen, in dem dieselbe, wenn nicht noch größere, Junkermißwirtschaft wie im preußischen Heere herrschte. Die Revolution löste diese Armee auf. Bedrängt durch die Feudalmächte, mußte Frankreich eine neue Armee schaffen, was besonders schwierig zu sein schien, weil durch die Behandlung der Soldaten im Söldnerheere die Institution des Heeres im Volke verhaßt war. Aber da die Volksmassen sich durch die Frankreich drohenden Gefahren in ihren Interessen bedroht sahen, – den Bauern brachte die Revolution Freiheit und Grundbesitz und das städtische Proletariat und Kleinbürgertum hatte noch den Glauben, daß sie auch ihm Befreiung aus der Not bringen werde – so gelang dem Konvent das Werk. Im Jahre 1792 und den folgenden Jahren fanden Aushebungen (Konskriptionen) statt, und im Jahre 1795 verfügte Frankreich schon über eine ungeheure Armee von 829 000 Mann Infanterie, 96 000 Mann Kavallerie und 93 000 Mann Artillerie. Diese Rekrutenmassen, fast ohne ausgebildete Offiziere, schlugen sich mit jedem Feldzuge besser gegen die Heere der Koalition, indem sie ihre eigene Kampfesweise instinktiv erfanden, während die Reglements ihnen die alte Lineartaktik vorschrieben. »Den geübten Werbeheeren der Koalition hatte sie (die Revolution) ebenfalls nur schlecht geübte, aber zahlreiche Massen entgegenzustellen, das Aufgebot der ganzen Nation. Mit diesen Massen aber galt es, Paris zu schützen, also ein bestimmtes Gebiet zu decken, und das konnte nicht ohne Sieg in offener Massenschlacht geschehen. Dies bloße Schützengefecht reichte nicht aus; es mußte eine Form auch für die Massenverwendung gefunden werden, und sie fand sich in der Kolonne. Die Kolonnenstellung erlaubte auch wenig geübten Truppen, sich mit ziemlicher Ordnung zu bewegen, und das selbst mit einer größeren Marschgeschwindigkeit (100 Schritte und darüber in der Minute), sie erlaubte, die steifen Formen der alten Linienordnung zu durchbrechen, in jedem, also auch in dem der Linie ungünstigen Terrain zu fechten, die Truppen in jeder irgendwie angemessenen Art zu gruppieren und, in Verbindung mit dem Gefecht zerstreuter Schützen, die feindlichen Linien aufzuhalten, zu beschäftigen, zu ermatten, bis der Moment gekommen, wo man sie am entscheidenden Punkt der Stellung mit in Reserve gehaltenen Massen durchbrach. Die neue auf die Verbindung von Tirailleurs und Kolonnen und auf die Einteilung der Armee in selbständige, aus allen Waffen zusammengesetzte Division oder Armeekorps beruhende, von Napoleon nach ihrer taktischen wie strategischen Seite vollständig ausgebildete Kampfweise war demnach notwendig geworden vor allem durch das veränderte Soldatenmaterial der französischen Revolution.[44]
Wenn man noch bemerkt, daß diese selbständig sich bewegenden Massen nicht nur von der Magazinverpflegung abhängig waren, daß sie vom Lande durch Requisition (zwangsweise Eintreibung der Lebensmittel) lebten, ja leben mußten, so sind alle Momente ihres Übergewichts über die Söldnerheere genannt: die größere Zahl, die leichtere Ausnutzung des Terrains und, was am wichtigsten war, die moralische Überlegenheit, über die noch einige Worte zu sagen sein werden.
Das Interesse der Volkmassen an den Abwehrkriegen gegen den Feudalismus, dann die durch diese Kriege geschaffene Ideologie, die noch nachwirkte, als Napoleon schon der Republik den Garaus gemacht hatte, erlaubte es, ohne Gewalt Volksmassen unter die Waffen zu rufen. Als die Revolution ausbrach, wußte man nichts von allgemeiner Wehrpflicht. Dieser Gedanke widersprach gleichsam der Ideologie der führenden bürgerlichen Schichten, die von friedlichem Erwerb träumten, wie dem oben erwähnten Haß der Volksmassen gegen den Heeresdienst. Und obwohl die siegreiche Bourgeoisie nach den ersten Konskriptionen die allgemeine Wehrpflicht verfälschte durch die Einführung des Stellvertretungsrechts (im Jahre 1798), das den Söhnen der Bourgeoisie erlaubte, sich von der Dienstpflicht loszukaufen, so verlor dadurch Napoleons Heer in den Augen der Volksmassen, denen selbst seine Herrschaft, verglichen mit der alten absolutistischen, als Himmel galt, nicht den Charakter des Volksheeres. Sie fühlten sich als solches, und darin lag die Quelle ihrer Kraft. Napoleon war sich dieser Ursache seiner Überlegenheit so sehr bewußt, daß er die Truppen niemals als Söldner behandelte, ihren Mannesstolz nährte, die »Freiheit des Rückens« schonte, immer für die Bearbeitung ihrer Meinung in seinem Sinne durch Proklamationen, Bulletins, sorgte. Durch die Abschaffung aller ständischen Vorrechte in der Armee, die Freimachung der Bahn für jedes Talent – jeder Soldat trägt den Marschallstab im Tornister – spornte er den Ehrgeiz der Soldaten an. So sah die napoleonische Armee aus. Sie war mit einer Ausnahme kleiner Bestandteile nicht einmal eine ausgebildete Milizarmee, sondern eine sich immer wieder ergänzende Rekrutenarmee, die erst im Feuer der Kämpfe das Kriegshandwerk erlernte. Die durch den Drill den Söldnerheeren beigebrachten Exerzierkünste waren ihr ganz fremd. Und doch schlug sie in Hunderten Schlachten die Söldnerheere. Und die Ursache ihrer Siege war so stark mit ihrer sozialen Eigenart verbunden, daß sich die napoleonische Taktik gar nicht von den Söldnerheeren nachahmen ließ. Auch in der begrenzten französischen Form konnte die allgemeine Wehrpflicht außerhalb Frankreichs solange nicht angewendet werden, als dort die Massen nicht fühlten, daß es sich im Kampfe gegen Napoleon um ihre Lebensinteressen handelte. Dieser Moment trat ein, als Napoleon, um durch die Überlastung Frankreichs mit Kriegskosten seine Lage nicht zu gefährden, die Aussaugung der Länder, die in seine Hände gerieten, übermäßig betrieb und so in den Augen der Volksmassen dieser Länder, die in ihm zuerst den Erlöser aus feudalen Banden gesehen hatten, zum Feind und Unterdrücker wurde. Erst der gegen Napoleon auflodernde Haß der Volksmassen erlaubte den geschundenen feudalen Fürsten, deren Söldnerheere Napoleon gegenüber gründlich versagten, das von der französischen Revolution ins Leben gerufene demokratische Wehrprinzip zum Kampfe gegen den Erben der französischen Revolution anzuwenden. Preußen wurde von Napoleon am stärksten zu Boden geworfen, und darum mußte es am radikalsten das rettende Prinzip anwenden, um den Kampf gegen Napoleon wagen zu können. Den Befreiungskämpfen, die jetzt von der Bourgeoisie mit desto größerem Lärm gefeiert werden, je kleiner bei ihr das Verständnis für sie ist, gehört in der Geschichte der Wehrverfassung ein besonderes Kapitel.
3. Die allgemeine Wehrpflicht in Preußen im Jahre 1813.
»Ein Grund hat Frankreich besonders auf diese Stufe von Größe gehoben: die Revolution hat alle Kräfte geweckt und jeder Kraft einen ihr angemessenen Wirkungskreis gegeben. Dadurch kamen an die Spitze der Armee Helden, an die ersten Stellen der Verwaltung Staatsmänner und endlich an die Spitze eines großen Volkes der größte Mensch aus seiner Mitte … Die Revolution hat die ganze Nationalkraft des französischen Volks in Tätigkeit gesetzt, dadurch die Gleichstellung der verschiedenen Stände und die gleiche Besteuerung des Vermögens, die lebendige Kraft im Menschen und die tote der Güter zu einem wuchernden Kapital umgeschaffen und dadurch die ehemaligen Verhältnisse der Staaten zueinander und das darauf beruhende Gleichgewicht aufgehoben. Wollten die übrigen Staaten dieses Gleichgewicht wieder herstellen, dann mußten sie sich dieselben Hilfsquellen eröffnen und sie benutzen. Sie mußten sich die Resultate der Revolution zueignen und gewannen so den doppelten Vorteil, daß sie ihre ganze Nationalkraft einer fremden entgegensetzen konnten und den Gefahren einer Revolution entgingen, die gerade darum für sie noch nicht vorüberging, weil sie durch eine freiwillige Veränderung einer gewaltsamen nicht vorbeugen wollen.«
(Gneisenau in der Denkschrift vom Juli 1807. »Als Poesie gut!« Friedrich Wilhelm III.)
Das preußische Heer war zertrümmert, der Staat am Rande des Abgrunds. »Die erste und wichtigste aller Ursachen der Niederlage war das Fehlen einer großen einheitlichen Anstrengung bei hoch und niedrig zur Behauptung der Selbständigkeit und des alten Ruhms gewesen – die Gleichgültigkeit der großen Masse der Mannschaft im Heere und die Teilnahmslosigkeit der Gesamtheit gegenüber dem Staate« – schreibt der Feldmarschall Colmar v. d. Golz,[45] der Beschöniger der Junkerherrschaft in Altpreußen. »Da der Feind stärker gewesen, versagte jetzt der Fundamentalsatz der alten Armee, daß der Mann den Offizier mehr als ihn fürchten müsse, seine Wirkung. So wich der Geist aus ihr, der sie belebt hatte. Das war ihr Untergang. Jetzt rächte sich die Vernachlässigung der moralischen Triebfeder« – schreibt der Historiker des preußischen Heeres, der Oberstleutnant von der Osten-Sacken,[46] nachdem er das Seinige getan, um den junkerlichen Mohren reinzuwaschen. Die Ursache dieses »Verschwindens des Geistes« ist selbst diesen Verteidigern des Junkertums trotz alles Sträubens gegen die Erkenntnis klar: die französischen Tirailleure zerschossen die Fuchtel, ohne welche die Sklaven der Söldnerheere keine Ursache hatten, sich selbst todesmutig für eine verlorene Sache zu schlagen, wie es Rebellen tun. Und wenn die offiziösen Militärhistoriker als zweiten Grund der Niederlage die verknöcherten militärischen Ansichten der preußischen Heeresleiter angeben, so weisen sie im Grunde genommen nur zum zweiten Male auf dieselbe Ursache, auf das Söldnerheer, denn die Theorie der Feldherren ist gewöhnlich nur die Widerspiegelung der Praxis der Soldaten, und auf dem verdorrenden, wurmstichigen Baum des Söldnerheeres konnten nicht frische Blumen der militärischen Schlagkraft und Initiative erblühen, die das Wesen der napoleonischen Taktik bildeten. Und daß es sich bei diesem Zusammenbruch nicht um Zufälligkeiten handelte, das wußten die Befürworter der tief eingreifenden Reformen auf allen Gebieten im Jahre 1813, und das wissen – was bewunderungswerter ist – selbst die heutigen Militärhistoriker. Die Erbuntertänigkeit erschwerte die Hebung des moralischen Elements im Heere, dessen Vernachlässigung eine der Hauptursachen des Zusammenbruches war. So war eine gründliche Reform ausgeschlossen, wenn nicht gleichzeitig eine solche des gesamten Staatswesens erfolgte – schreibt v. d. Osten-Sacken.[47] Aber weil es eben so um die Sache bestellt war, widersetzten sich alle Nutznießer des alten Systems der militärischen Reform, die Junker wie die Generalität, während für sie nur eine kleine Schar weitsehender, tapferer Offiziere, die teils bürgerlicher Abkunft waren, teils als Ideologen sich über die Schranken der Junkerklasse hinwegsetzten, kämpften. Und der König, ein Schwächling in allem, nur nicht in der Vertretung junkerlicher Interessen, widersetzte sich mit der ihm sonst fremden Ausdauer der Forderung Scharnhorsts auf Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht. Fünfmal lehnte er die Vorschläge des genialen Reorganisators, der sie jedesmal in anderer Form durchzuschmuggeln suchte, ab. »Der König wollte eine Abschaffung der ökonomischen Mißbräuche (Kompagniewirtschaft) und ebenso aufrichtig eine bessere Behandlung der Soldaten und deshalb eine neue Organisation des Heeres, doch immer nur hauptsächlich in den Kreisen einer gut exerzierten und nach seinem Geschmack wohlgekleideten Linienarmee; alles das, was Landesbewaffnung oder außerhalb des Herkommens liegende Entwicklung eines freieren kriegerischen Geistes beabsichtigte, hatte bei ihm kein Zutrauen oder fand sogar an ihm einen entschiedenen Gegner« – schreibt das damalige Mitglied der Reorganisationskommission, Major Boyen, der spätere preußische Kriegsminister, in seinen Erinnerungen. »Überdem hatte der König eine solche Vorliebe für die seinem Geschmack zusagenden russischen Kriegseinrichtungen gewonnen, daß er von diesen, soviel sich nur irgend machen ließ, einzuführen, strebte.« Also oberflächliche Reformen im westeuropäischen Sinne, mit Änderungen im Sinne der halbasiatischen russischen Soldateska, das war das Ideal des Königs. Dazu kam die strenge Aufsicht Napoleons gegen die preußische »Soldatenspielerei«, die Leere im Staatssäckel und das Fehlen alles dessen, was an Ausrüstung für das zu schaffende Heer nötig war.
Es ist klar, daß unter diesen Umständen an die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht nicht zu denken war. Und es ist ein ehernes Dokument des Geistes und Charakters Scharnhorsts und seiner Freunde, daß sie nicht verzagten, sondern alles taten, was unter den gegebenen Verhältnissen zu erreichen war.
Die negative Arbeit des Aufräumens brauchte nicht erst geleistet zu werden. Von den 258 alten Regimentern verblieben nur 8. In erster Linie zerstoben die ausländischen Söldner, und für neue Werbungen gab's kein Geld. So war man auf Landeskinder angewiesen. Angesichts der gänzlich erschütterten Autorität der Junkerherrschaft war ans Prügeln im alten Umfange nicht zu denken, und wenn es auch nicht mit einem Schlag verschwinden konnte, so wurde es doch in seinen entehrendsten Formen abgeschafft. Der Aushebung waren dadurch enge Rahmen vorgeschrieben, daß Napoleon nur einen Stand von 42 000 Mann zuließ. In seinem Bestreben, trotzdem eine möglich große Anzahl von Soldaten militärisch durchzubilden, kam Scharnhorst, obwohl er prinzipieller Anhänger der stehenden Heere war, auf den Gedanken, das stehende Heer von 42 000 Mann im geheimen als Cadres zur Ausbildung einer Miliz zu gebrauchen. Er verwirklichte den Gedanken dadurch, daß er die eingestellten Soldaten nach ihrer Ausbildung immer wieder beurlaubte und die Ausgehobenen, aber ins Heer nicht Eingereihten, zu einem monatlichen Dienst berief. So gelang es ihm, bis zum Jahre 1813, wo der Kampf auf Leben und Tod mit Napoleon beginnen sollte, nicht 42 000, sondern 128 000 ausgebildete Mannschaften bereit zu haben.
Das war noch keine Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht, weil die besitzenden Schichten – speziell die städtischen – fast ganz von ihr befreit waren; weil weiter die finanziellen und politischen Schranken es nicht einmal erlaubten, das ganze »niedere« Volk auszubilden. Aber es war auch kein stehendes Heer, das Scharnhorst schuf. Die monatliche oder mehrmonatliche Abrichtungszeit, in der jeder Ausgehobene zum Soldaten gemacht wurde, erlaubte ihm nur, ihnen die allernotwendigsten Handgriffe beizubringen, nötigte ihn nicht nur, auf jeden Paradeplunder zu verzichten, sondern selbst auf vieles, was zur Ausbildung einer Miliz nötig gewesen wäre. Daß Scharnhorst trotzdem auf die so ausgebildeten Truppen als auf einen Machtfaktor rechnen konnte, war dadurch bedingt, daß gleichzeitig das Oktoberedikt vom Jahre 1807 die Erbuntertänigkeit der Bauern aufhob; wenn es auch die alten Lasten bestehen ließ und dem Junkertum ein Freibillett zum Bauernlegen gab. Jedenfalls ging ein revolutionärer Hauch durch die preußischen Lande, der ein anderes Soldatenmaterial schuf. Und wenn das noch ein zu schwaches Umbildungselement gewesen wäre, so sorgte Napoleon durch eine unermeßliche Ausbeutung des Landes dafür, daß in dem blutigen Haß der ganzen Bevölkerung gegen ihn sich das stärkste moralische Element der mangelhaft ausgebildeten Truppen entwickelte.
Als Napoleons Heere in den Schneewüsten Rußlands zugrunde gingen und sich der Wille zur Heimzahlung aller der Leiden, die es durch Napoleons deutsche Wirtschaft erlitt, wie ein Lauffeuer durch das preußische Volk verbreitete und der König mit seinem Junkerhof noch zauderte, da schrieb Ende Februar 1813 der englische Diplomat v. Ompteda an seine Regierung: »Wenn der König länger zaudert, so sehe ich die Revolution als unvermeidlich an«. Die Stimmung des nach 1806 gereinigten, mit bürgerlichen Elementen durchsetzten jungen Offizierkorps, das Murren des Volkes, ja, das Drängen der ostpreußischen Junker, die unter Napoleons Herrschaft auch mächtig litten und jetzt ein Ende mit Schrecken für besser hielten als ein Schrecken ohne Ende: alles das hatte eine genügende Stoßkraft, um alle Widerstände des Königs gegen die allgemeine Wehrpflicht zu brechen. Um sie der bürgerlichen Jugend zu erleichtern, wurden die bürgerlichen und junkerlichen Söhnchen in besondere Jägerbataillone eingereiht, die sich selbst ihre Offiziere wählten; es wurden ihnen Aussichten auf Ehre und Offiziersposten eröffnet. Bald darauf wurde die Landwehr geschaffen, der alle Männer vom 17. bis 40. Jahre, die in das stehende Heer nicht eingereiht waren, angehörten. Der Landwehr wurde das Recht der Offizierswahl nicht gegeben, ja, man hatte trotz des Hasses gegen die Fremdherrschaft, der in weitesten Kreisen der Bevölkerung loderte, so wenig Vertrauen zu ihr, daß man in der Landwehr scharfe Disziplinarstrafen einführte. Es war ein Beweis des schlechten Gewissens der Junker, die nicht recht glauben wollten, daß sich das von ihnen so lange geschurigelte Volk für ihre Herrschaft schlagen konnte. Die Landwehr bestand aus 118 000 Wehrmännern.
Die Armee, die Preußen von der Fremdherrschaft befreite, war ein rein milizartiges Gebilde. Sie siegte, weil Frankreichs Volk schon ermüdet war von den Opfern, die ihm die napoleonische Herrschaft auferlegte, und wenn es gegen ihn noch nicht rebellierte, so ging es zum größten Teil ohne Elan in den Kampf. »Wir sahen oft Abteilungen ungeschlachter Bauern, die sich nach Schlesien begaben, durch unsere Bataillone marschieren, – ohne Ordnung, ohne Waffen und ohne Führer. Sie stießen Freudenschreie aus und betrachteten mit drohenden Blicken unsere Soldaten. Eine solche Begeisterung, wie sie die Liebe zum Vaterland einflößt, ist der passiven Kraft überlegen, die oft nur widerwillig der Gewalt gehorcht, die sie beherrscht« – schrieb der damals in der Mark stehende französische General Labaume in seinen Erinnerungen. Und ein begeistertes besiegt ein ohne das eigene Interesse kämpfendes Volksheer.
In der junkerlichen Militärliteratur setzte nach den Befreiungskriegen eine eifrige Arbeit zur Minderung der Verdienste der Landwehr ein, die bis zum heutigen Tage andauert. Über ihren historischen Wert entscheidet schon die Tatsache, daß auch das sogenannte stehende Heer gar nicht stehend und sehr wenig ausgebildet war. Das übrige über diese Hetze gegen die Landwehr zur höheren Ehre der Institution der stehenden Heere sagt Treitschke, wahrhaftig kein Gegner des Militarismus:
»Die Wehrmänner hatten noch eine Zeitlang mit den natürlichen Untugenden ungeschulter Truppen zu kämpfen; beim ersten Angriff hielten sie nicht leicht stand, wenn ein unerwartetes Bataillonsfeuer sie in Schrecken setzte: kam es zum Handgemenge, dann entlud sich die lang verhaltene Wut der Bauern in fürchterlicher Mordgier; nach dem Siege waren sie wieder schwer zu sammeln, da sie den geschlagenen Feind immer bis an das Ende der Welt verfolgen wollten. Nach einigen Wochen wurde ihre Haltung sicherer, und gegen den Herbst hin begann Napoleons Spott über »dies Gevölk schlechter Infanterie« zu verstummen. Die kampfgewohnten Bataillone der Landwehr waren allmählich fast ebenso kriegstüchtig geworden wie das stehende Heer, wenngleich sie weder mit der Disziplin noch mit der stattlichen äußeren Haltung der Linientruppen wetteifern konnten und immer unverhältnismäßige Verluste erlitten: eine in der Kriegsgeschichte beispiellose Tatsache, die nur möglich ward durch den sittlichen Schwung eines nationalen Daseinskampfes«.[48]
Im Kampfe gegen die napoleonische Fremdherrschaft wurde zum erstenmal die allgemeine Wehrpflicht rücksichtslos verwirklicht in einer, obwohl von reaktionären Elementen durchsetzten, so doch milizartigen Form. Das Junkertum stand nach dem Siege vor der Aufgabe, den Folgen der Differenz zwischen der demokratischen Heeresform und der reaktionären allgemeinen Staatsform vorzubeugen, und die Frucht seiner Bemühungen ist die jetzige Gestalt der Heeresform, das stehende Heer der allgemeinen Wehrpflicht: das Volk in Waffen als Waffe gegen das Volk.
4. Das stehende Heer der allgemeinen Wehrpflicht
»Das Heer soll ferner während des äußeren Friedens die gefährdete Ordnung im Innern und aus naheliegenden Gründen gewöhnlich gleichzeitig auch bei den Nachbarn erhalten und zwar, wie es Baden und Sachsen gezeigt haben, nicht allein bei den schwachen Nachbarn …
Will man daher nicht in jedem einzelnen Fall der Störung der Ordnung Reserven und Landwehr einziehen, so muß das stehende Heer eine angemessene Stärke haben.«
(General von Griesheim: »Lebensfragen der Landwehr. 1860«.)
Die Revolutions- und Befreiungskriege haben dem Militarismus eine neue Bahn gewiesen, die der Ausnutzung der allgemeinen Kräfte der Nation zum Heeresdienst. Sie eilten der wirtschaftlichen Entwicklung voraus, die auch ohne sie zu dem allgemeinen Heeresdienst führen mußte. Denn da der komplizierte Mechanismus der kapitalistischen Gesellschaft sich durch keine Kabinettsregierung leiten läßt, sondern eine mehr oder weniger demokratische Regierung erfordert, so war es auf die Dauer undenkbar, daß die sich demokratisch regierenden Völker eine Institution dulden könnten, die wie Söldnerheere von Haus aus ein Instrument der herrschenden Cliquen gegen das Parlament und die Demokratie überhaupt wäre. Daß aber die allgemeine Wehrpflicht in erster Linie in dem verhältnismäßig so wenig kapitalistisch entwickelten Lande wie Preußen zur Durchführung kam, hatte seine guten Gründe. Zwar bestand in Preußen eine Partei, die die Rückkehr zu den alten Verhältnissen forderte; sie bestand aus jenen, die »durch eine Verewigung der damaligen Wehreinrichtungen ihre Gerechtsame und Interessen bedroht sahen und deshalb trotz der schweren Lehren der letzten acht Jahre die Beseitigung der neuen Einrichtungen wünschten« – schreibt der Historiker des preußischen Heeres.[49] War nun diese Partei auch nur klein, so war sie doch einflußreich und das um so mehr, als ihr im Grunde des Herzens auch der König angehörte. An den traurigen Finanzen, die die Schaffung eines Söldnerheeres nicht erlaubten, scheiterten jedoch die Pläne der Besten der Nation, und am 3. September 1814 wurde die Wehrordnung veröffentlicht, die aus den Lehren der letzten Jahre die nötigen Schlüsse zog. Sie war ein Werk des Kriegsministers Boyen, des Freundes Scharnhorsts. Sie baute sich auf dem Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht auf. Gleichzeitig führte sie die dreijährige Dienstzeit ein, da die Freiheitskriege gezeigt haben, daß eine Durchbildung des Heeres auch bei dem größten Enthusiasmus der Soldaten notwendig ist. Im Prinzip richtig, war diese neue Institution der Ausbildung der auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht Ausgehobenen durch die lange Dienstzeit den Ängsten des Junkertums gegen das Volk in Waffen angepaßt. Nach dreijähriger Dienstzeit wurde der Soldat auf sechs Jahre der Landwehr ersten Aufgebots zugezählt, die während des Friedens eine völlig selbständige Organisation besaß und zusammen mit den stehenden Truppen die Feldarmee bildete. Nach sechs Jahren sollte der Soldat wieder der Landwehr des zweiten Aufgebots auf sechs Jahre angehören, deren Aufgabe im Kriege der Besatzungsdienst (Festungen usw.) bildete. Das Vorrecht der Gebildeten wurde auch verewigt, indem ihnen das Recht auf einjährige Dienstzeit und das Recht auf Offizierstellen in der Landwehr eingeräumt wurde. Auch die am 21. November des Jahres 1815 eingeführte Landwehrordnung war reaktionär: ihre Offiziere wurden gewählt durch die Kreisbehörden und Kreisausschüsse, in welchen die Junker oder Geldsäcke den Ausschlag gaben, aus ausscheidenden aber noch landwehrpflichtigen Offizieren des stehenden Heeres, aus Einjährig-Freiwilligen, die sich die Befähigung zum Offizier schon erworben hatten, aus Unteroffizieren, die freie Grundbesitzer waren, oder aus Landwehrleuten, die ein Vermögen von 10 000 Talern oder ein entsprechendes Einkommen hatten.
Die Heeresorganisation Boyens war also eine Verkoppelung der demokratischen Wehrpflicht mit reaktionären Institutionen, die den Durchbruch der demokratischen Ideen im Heere hemmen sollten. Kaum war der Sieg gewonnen, als die Restauration, in allen Teilen des Staatswesens, so auch in bezug auf das Heer sich von neuem breit machte – schrieb W. Rüstow,[50] ein früherer preußischer und späterer Schweizer Offizier, der dort zum Rang des Oberstbrigadiers gelangte und in den sechziger Jahren als einer der hervorragendsten deutschen Militärschriftsteller galt. Er bewies in seiner auch jetzt noch sehr lesenswerten Schrift, daß, während auf 2½ Millionen Menschen der besitzenden Schicht in Preußen, aus der sich selbst in einem nichtdemokratischen Staat die Offiziere rekrutieren müßten, nur 68 000, der sechsunddreißigste Teil, auf den Adel fällt, also von 12 000 Offizieren nur 333 dem Adel angehören müßten, sie in Wirklichkeit aber sechzehnmal stärker waren, wobei die bürgerlichen Offiziere in erster Linie in der Landwehr dienten und für höhere Stellungen gar nicht in Betracht kamen. Und das junkerliche Offizierskorps hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Exerzier- und Paradeplackereien der alten Armee in die neue Armee zu verpflanzen, was schon dadurch erklärbar ist, daß es sonst nichts in den drei Jahren der Dienstzeit zu tun hatte. Es genügt, einen Blick in die Broschüren, die massenweise in der Zeit des Kampfes um die Reorganisation der Armee (in den Jahren 1859 bis 1865) erschienen sind, zu werfen – wir nennen hier von vielen[Anmerkungen 25] nur die anschaulichen Schilderungen in der Schrift: »Das preußische Volk in Waffen und die neue Militärorganisation« (Berlin 1861) oder das Buch des biederen liberalen Hauptmanns P. J. Wilcken: »Deutsches Heer und Deutsches Volk« (Leipzig 1862) –, um zu sehen, wie schnell der Spiritus der Freiheitskriege verflogen war und öder Drill seinen Platz einnahm. Hand in Hand damit ging die Züchtung der Soldateska, die in der Form der Kapitulanten den Rekruten den kärglichen Platz im stehenden Heere schmälerten, indem sie sie unausgebildet in die Landwehr abschob und den Wert der Landwehrtruppen herabminderte. Dazu kam noch das Verkommen der fast gar nicht geübten Landwehr, das später als Argument für die Verstärkung des stehenden Heeres dienen sollte. Als wegen der verschlechterten Finanzlage im Jahre 1832 die Dienstzeit bei der Infanterie auf zwei Jahre verkürzt wurde, hatte dies keine weiteren günstigen Folgen für die Entwicklung des Heeres in der Richtung der Demokratie, weil der allgemeine Schlendrian, der im ganzen Heerwesen herrschte, überhaupt jede Entwicklung des Heeres hemmte.
Eine Änderung trat erst ein, als durch die schnellere wirtschaftliche Entwicklung in der Ära der Konterrevolution, durch die Aufrollung der italienischen Frage, wieder Leben in die europäische Bude kam. Die Revolution des Jahres 1848 hat die Frage der Einigung Deutschlands nicht gelöst. Das Bürgertum war damals zu schwach und zu ängstlich, um den revolutionären Kampf um die Einigung Deutschlands, der in einen Krieg gegen Rußland ausmünden mußte, auf seine Schultern zu nehmen. Die Reaktion fühlte anfangs der sechziger Jahre, als der Puls der politischen Entwicklung schneller zu schlagen begann, daß die Reihe an sie kam. Sie hatte zwar noch keinen bestimmten Plan, aber das wußte sie: mit der Schlamperei, durch die sie sich bei der Mobilisation vor ganz Europa kompromittiert hatte, ging es nicht weiter. Vom Jahr 1815, wo Preußen erst 10 Millionen Einwohner hatte, bis 1859, wo die Zahl derselben auf 18 Millionen stieg, begnügte man sich mit der Aushebung von 40 000 Mann. Im Jahre 1859 entschloß sich die Regierung, diese Zahl auf 63 000 zu erhöhen, was, wie Rüstow[51] und Engels[Anmerkungen 26] bewiesen, bei weitem nicht hinreichte, um die allgemeine Wehrpflicht zu verwirklichen. Aber mit diesem Fortschritt verband sie durch und durch reaktionäre Schritte. Die Dienstzeit der Infanterie wurde wieder auf drei Jahre erhöht; 36 Landwehrregimenter wurden in Linienregimenter verwandelt. Das erste Landwehraufgebot wurde überhaupt aufgehoben: nach dreijähriger Dienstzeit unter den Fahnen trat der Soldat auf vier Jahre in die Reserve ein, den Rest der Dienstzeit verbrachte er bei dem zweiten Landwehraufgebot, das nur als Besatzungstruppe diente. Das bedeutete die Verdoppelung des stehenden Heeres bei der Infanterie und seine Vergrößerung um die Hälfte bei der Kavallerie und Artillerie.
Die liberale Bourgeoisie, die im preußischen Landtag das Heft in Händen hatte, merkte, wie hier der Hase lief. Die Einverleibung der Landwehr in das stehende Heer, die Steigerung seiner Gefügigkeit in den Händen der Regierung durch Verlängerung der Dienstzeit, bedeutete eine Stärkung der Macht der Regierung und der hinter ihr stehenden bureaukratisch-junkerlichen Schichten. Aber da die Bourgeoisie auf den selbständigen Kampf um die Vereinigung Deutschlands schon lange verzichtet hatte und seit den sechziger Jahren nicht mehr für das einige Deutschland, sondern für das größere Preußen unter dem Zepter der Hohenzollern schwärmte, so war ein Kampf gegen die Ausrüstung der preußischen Regierung zur Erfüllung ihrer Aufgaben von vornherein für sie verlorene Liebesmüh. Für die Bourgeoisie bestand nur die Möglichkeit, auf dem Boden der Erweiterung der preußischen Heeresmacht gegen ihre reaktionäre Form zu kämpfen. Da der Regierung sehr an der Unterstützung der Bourgeoisie gelegen war, hätte ein solcher Kampf sehr gute Aussichten gehabt. Aber die Bourgeoisie führte ihn so direktionslos, daß sie der Regierung ermöglichte, sie beiseite zu schieben und gegen sie die Roonsche Reform durchzuführen. Im Jahre 1866, nachdem Preußen dank den durch die Bourgeoisie abgelehnten Rüstungen Österreich besiegte, kroch die Bourgeoisie zu Kreuze und erteilte der Regierung Indemnität.
So wurden die Grundlagen des heutigen deutschen Militarismus geschaffen; denn das Reichsgesetz dehnt die Roonsche Armeeorganisation mit nur kleinen Änderungen auf ganz Deutschland aus. Ein Produkt der allgemeinen Wehrpflicht, verleugnet der heutige Militarismus seine demokratische Herkunft: er hält das Volk lange über die notwendige Ausbildungszeit hinaus unter Waffen, um es gegen den inneren Feind auszubilden; er beraubt das Volk in dem Moment, wo es dem Staate das größte Opfer bringt, des Rechtes auf Selbstregierung, indem es ihm Offiziere aufoktroyiert, die nur von der Regierung abhängig sind; aber gleichzeitig ist die Armee nur das, was das Volk ist, denn auf die Dauer läßt sich der Inhalt des Volkslebens nicht durch die militaristische Form erdrücken; sie kann ihn nur verhüllen. Die Entwicklung der modernen Heeresorganisation, die mit dem Söldnerheere begann, endet mit einer Formation, die die tiefsten Widersprüche enthält, Widersprüche, die im Laufe der hier skizzierten Entwicklung schon hart aufeinander stießen. Der Widerspruch zwischen dem Söldnertum und der Milizidee, wie sie sich in den brandenden Wogen der französischen Revolution gezeigt hat, ist nicht aufgehoben. Umgekehrt ist er in eine Organisation übergegangen, in der er auch zur Austragung kommen wird. Bevor wir jedoch zur Schilderung des Kampfes dieser Gegensätze im Kapitel über »Die Entwicklungstendenzen des modernen Militarismus« kommen werden, gilt es zuerst die hier gegebene historische Darstellung durch eine Analyse der Begriffe der Miliz und des stehenden Heeres zu vertiefen, wozu sich am besten die Schilderung des Verhältnisses der Bourgeoisie zu Miliz und Militarismus eignet, für die eben die Zeit der siebziger Jahre, bei der wir angelangt sind, am geeignetsten ist, denn in der Zeit vom Kampfe um die Armeereform bis zur Gründung des Deutschen Reiches (1860 bis 1871) vollzieht sich die Schwenkung der liberalen Bourgeoisie von der Miliz zum Militarismus.[Anmerkungen 27]
Bourgeoisie, Miliz und Militarismus.
1. Das bürgerliche Milizideal.
Die 25 Jahre an der Schwelle des 19. Jahrhunderts, die die Zertrümmerung der stehenden Söldnerheere, den Sieg von Volksaufgeboten, das Entstehen des Heeres, der allgemeinen Wehrpflicht, sahen, mußten natürlich aufs tiefste sowohl die Ansichten der Berufsmilitärs wie der breiteren Kreise der politisch denkenden Öffentlichkeit beeinflussen. Karl von Clausewitz, der geniale Theoretiker, der in seinem im Jahre 1832 erschienenen Werk »Vom Kriege« das Fazit dieser Umwälzung auf dem ganzen Gebiete des Kriegswesens zog, schrieb, Preußen habe im Jahre 1813 gezeigt, »daß plötzliche Anstrengungen die gewöhnliche Stärke einer Armee auf dem Wege der Miliz versechsfachen können.[52] Er stellte gegen alle, die in der Volksbewaffnung ein revolutionäres, also verabscheuenswertes Mittel sahen, fest, daß, wer das Requisitionssystem, das System der Massenheere, wie sie während der Revolutionskriege entstanden sind, als historisch gegeben betrachtet, »in dieser Richtung nun auch der Aufruf des Landsturms oder die Volksbewaffnung liegt. Sind die ersten dieser neuen Hilfsmittel eine natürliche und notwendige Folge niedergeworfener Schranken und haben sie die Kraft dessen, der sich ihrer zuerst bedient hat, so gewaltig gesteigert, daß der Gegner mit fortgerissen wurde und sie auch ergreifen mußte, so wird dies auch der Fall mit dem Volkskriege sein. Im allgemeinen würde dasjenige Volk, welches sich desselben mit Verstand bedient, ein verhältnismäßiges Übergewicht über diejenigen bekommen, die ihn verschmähen.«[53] So Clausewitz. Und der österreichische Feldherr Radetzky schrieb im Jahre 1828 in seiner »Militärischen Betrachtung« über die Lage Österreichs:[54]
»Die stehenden Heere haben in dem neueren Europa den Glanz der Landwehren gänzlich verdunkelt. Dadurch sind in neuester Zeit alle Erfahrungen, die uns bei Beurteilung des Wertes von Landwehren leiten könnten, verloren gegangen. Und doch beruht die zuverlässigste Stärke eines Staates auf zweckmäßig gebildeten Landwehren. Diese Einrichtung ist die natürlichste und deshalb auch die beste. Sie liefert dem Staat im Verhältnis seiner Bevölkerung die größte Anzahl Streiter; sie erhält im Volk das Bewußtsein lebendig, daß es sich selbst verteidigt, eben dadurch also einen kriegerischen Geist, der nicht leicht ausarten wird, weil diejenigen, welche er erlebt, niemals aufhören, Bürger zu sein. Ein solcher Geist auf einer solchen Höhe aber macht ein Volk unüberwindlich. Man wird es nicht unterjochen, viel weniger ausrotten können.«
Dieser Auffassung der hervorragenden Theoretiker wie Praktiker des Kriegswesens entsprach die Auffassung des Bürgertums, soweit es in der Stille der Restaurationszeit über diese Fragen nachdachte. Da es überhaupt in sehr geringem Grade die Möglichkeit hatte, die konkreten Staatseinrichtungen einer Kritik zu unterziehen, so äußerte sich diese Auffassung bis zum Jahre 1848 nicht so sehr in dem Aufdecken des immer mehr überwuchernden Geistes der Soldateska im neuen Heeressystem, als in der Bewertung der Landwehr als des wichtigsten Teiles des Wehrsystems. Als im Jahre 1848 das Heer der allgemeinen Wehrpflicht sich als Stütze des Absolutismus bewährte, der Sieg der Konterrevolution jedoch nicht mehr imstande war, die Friedhofsruhe der vormärzlichen Zeit wieder herzustellen, fanden die Auffassungen des Bürgertums ihren Ausdruck in einer weitverbreiteten Agitations- und wissenschaftlichen Literatur über die Fragen der Heeresorganisation. Die Agitationsliteratur popularisiert die Gedanken, daß das Heer mit langer Dienstzeit eine Waffe in der Hand des Absolutismus werden kann, selbst wenn es nicht aus angeworbenen Söldnern, sondern aus Volkskindern besteht, die ihre Wehrpflicht erfüllen; sie beweist, daß die lange Dienstzeit gar nicht geeignet ist, die militärische Tüchtigkeit des Heeres zu heben und sieht die Quelle derselben im kriegerischen Volksgeist, er ausbricht, wenn die Interessen des Volkes vom Feinde angetastet werden. Die Stärkung dieses Volksgeistes und des Volkskörpers durch körperliche Jugendausbildung, durch Turnvereine,[55] die Übung der Kriegsbereitschaft durch Schützenvereine, das sind die Hauptargumente dieser Agitationsliteratur. In welcher Form aber die Organisation dieser Kriegsbereitschaft im Frieden stattfinden soll, tritt in dieser Literatur oft nicht mit genügender Klarheit hervor, was gewissermaßen den Ausspruch berechtigt, das Bürgertum der fünfziger und sechziger Jahre habe dem Bürgergardistenideal gehuldigt, dem Ideal jener vorübergehenden, zufälligen Organisationen, die während der Revolution oft entstanden als Mittelding zwischen einer freiwilligen Polizei, Feuerwehr und Barrikadenkämpferarmee. Aber in der wissenschaftlichen Literatur, in der die Milizidee fachmännische Vertreter fand, wie Rüstow, in dessen Werken[Anmerkungen 28] sie den Charakter eines absoluten Begriffs verliert und geschichtlich begründet wird, verschwinden diese Mängel. Rüstow unterscheidet das Milizheer, das stehende Heer und das Cadresheer. Beim ersten gilt es nur, »im Frieden die Männer auszuwählen, welche im Kriege das Heer bilden sollen, sie für diesen Beruf durch Übung tüchtig zu machen, sie aber nicht beständig als Heer versammelt zu haben, sondern nur in bestimmten Zeiten und für kurze Dauer zusammenzuberufen.« Das zweite, wenn »soviele Truppen, als sie den regelmäßigen Bedürfnissen der Kriegführung entsprechen, beständig als Heer versammelt sind« …
»Mitten zwischen diesen beiden Extremen steht das Cadresheer. Dieses soll den Bedürfnissen einer teilweisen beständigen Kriegsbereitschaft und der Einübung der bewaffneten Mannschaft zugleich entsprechen. Eine verhältnismäßige große Anzahl von Männern wird also beständig bei den Fahnen gehalten; nach einer gewissen Dienstzeit, deren Dauer sehr verschieden ist, in der Regel zwischen 3 bis 15 Jahren, werden die Leute von den Heeresverbänden entlassen, während an die Stelle der jedesmal ausscheidenden neue – Rekruten – treten; die Entlassenen sind aber der Heerespflicht nicht gänzlich ledig, sondern werden beim drohenden Ausbruche eines Krieges einberufen und verstärken nun das Heer. Dies System herrscht jetzt in den meisten Staaten Europas.[Anmerkungen 29]
Rüstow teilt also die Heeresformen nach ihrem Zweck: beim stehenden Heere ist er sofortige Kriegsbereitschaft der ausgebildeten Soldaten, bei der Miliz die Ausbildung der Soldaten zum zukünftigen Krieg, bei den Cadresheeren ist er die Vereinigung beider Ziele durch Ausbildung der Soldaten, die eine Zeitlang nach ihr noch bei den Fahnen bleiben, um so die Kriegsbereitschaft zu erhöhen, während andere ausgebildet werden, die aber auch nach der Entlassung aus dem Dienste zum Kriege gebraucht werden können. Aber der begreifliche Unterschied zwischen dem Miliz- und Cadresheere verwandelt sich bei ihm nicht in eine steife, hölzerne Scheidung der Cadresheere und der Miliz, wie er zwischen der Miliz und dem alten stehenden Heere bestand. Je kürzer die Dienstzeit bei dem Cadresheere ist, desto mehr nähern sie sich der Miliz: »Je kürzer die Dienstzeit, je ausgedehnter das Beurlaubungssystem, je öfter das Heer sich aus dem Volke erfrischt und in das Volk ausgebildete Krieger entsendet, desto mehr soldatischer Sinn, Kenntnis der Erfordernisse des militärischen Lebens, Geschick und Mut zum selbständigen militärischen Organisieren wird sich in dem Volke finden,« – was alles in voller Ausbildung eben das Resultat der Miliz ist. Das Milizsystem und das Cadressystem mit kurzer Dienstzeit und starker Beurlaubung bilden also für Rüstow keine absoluten Gegensätze. »Das Ideal, dem in dieser Richtung die Cadresheere zustreben müssen, ist das Milizheer mit seinen temporären Dienstübungen für kurze Dauer.
Aber es wäre falsch, anzunehmen, daß Rüstow das Milizheer mit den unausgebildeten Volksaufgeboten gleichstellt:
»Es ist ebenso gefährlich, die Notwendigkeit der militärischen Bildung zu unterschätzen, als sie zu überschätzen. Diejenigen, welche das letztere tun, glauben, daß nur in einer langjährigen Dienstzeit der Mann die erforderliche Ausbildung zum Soldaten erlangen könne. Ihre Staaten haben fast alle Mannschaften, welche überhaupt für das Waffenhandwerk bestimmt sind, bei den Fahnen; einen kleinen Bruchteil der Nation. Dieser zieht in den Krieg, erliegt zum größten Teil den Beschwerden der Märsche und Lager, den Waffen des Feindes. Ergänzung wird unvermeidlich, sie kann aber, da die Waffenübung des größten Teils der Nation verabsäumt ward, nur in ungeschulten Rekruten bestehen. Mit welchem Vertrauen werden nun dieselben Männer, welche so große Ansprüche an die Ausbildung des Soldaten erhoben, diese Stoffe in die Schlacht führen? Werden sie nicht den Sieg verloren geben, ehe sie versuchten, ihn zu erringen?
Diejenigen aber, welche die Notwendigkeiten der militärischen Bildung unterschätzten, behaupten, daß es genüge, dem Manne eine Waffe in die Hand zu geben, um ihn zum Soldaten zu machen. Für sie ist alle Waffenübung überflüssig, sie sehen bei einem feindlichen Einbruch bewaffnete Scharen von Hunderttausenden aus dem Boden erstehen und siegreich in der Verteidigung des Heimatlandes kämpfen. Welcher Irrtum! Wer hat denn jemals zu behaupten gewagt, daß es gleichgültig sei, ob man die Schneide oder den Rücken des Messers gebrauche? Aber selbst mit dem Aufstehen nur jener Hunderttausende, abgesehen davon, welchen Gebrauch sie von ihren Waffen machen, welche Erfolge sie erzielen, wird es sehr schlimm bestellt sein, wenn es an soldatischem Geiste in der Nation, wenn es an den Einrichtungen fehlt, welche allein ihn schaffen könnten.«
So sieht die militärische Seite der Begriffe Miliz, stehendes Heer und Cadresheer bei dem führenden bürgerlichen Theoretiker der Milizidee aus. Sie ist klar durchdacht und gibt nicht den geringsten Anlaß zu dem Gespött, das sich die Kasernenhoffachmänner ihr gegenüber erlauben. Das Milizideal Rüstows steht auf dem Boden der Wirklichkeit und ist keine Spekulation, sondern ein Entwicklungsziel. Mochte Rüstow zu wenig die politischen Hemmungen des Siegesganges der Milizidee übersehen haben, militärisch hatte er recht, wenn er schrieb: »in allen Staaten der kultivierten Welt ist tatsächlich die Tendenz vorhanden, dem Beurlaubungs-, d. h. dem Milizsystem eine immer weitere Ausdehnung zu geben.«
Daß diese Tendenz für eine Zeitlang zurückgeworfen wurde und überhaupt je länger, desto mehr sich nur sehr widerspruchsvoll, in Stößen und Gegenstößen äußerte, das hängt in erster Linie von der Änderung der Haltung des Bürgertums dem Junkerstaate gegenüber und von dessen Umwandlung in den kapitalistischen Staat ab, die sich eben in der Zeit vollzog, in der Rüstow seine Werke schuf. Der Widerspruch zwischen dieser Entwicklung und dem Milizgedanken wird klar zutage treten, wenn wir die Ausführungen Rüstows über den politischen Charakter der Miliz mit der politischen Situation der siebziger Jahre in Deutschland vergleichen.
2. Die Bourgeoisie gegen die Miliz.
»Der wesentliche Unterschied zwischen dem Milizsystem und dem stehenden Heere, sowie zwischen allen, die in der Nähe des einen oder des anderen stehen, ist die größere Ausgiebigkeit, die größere Leichtigkeit neuer Organisationen, namentlich für den Verteidigungskrieg bei dem ersteren, die größere Unabhängigkeit der Staatsgewalt in der Verfügung über die Streitkräfte bei dem letzteren. Kleinere Staaten haben nur in dem Milizsystem die Möglichkeit, den größeren annähernd gleiche Heere entgegenzustellen, also ihre Selbständigkeit zu verdienen. Damit aber diese Stärke, welche das Milizsystem ihnen gibt, nicht illusorisch werde, muß die Staatsgewalt eine durchaus volkstümliche sein, darf ihre eigenen Bahnen nicht gehen, wenn dieselben von denen des Volkes abweichen«,[56] heißt es bei Rüstow. Während aber Rüstow dies niederschrieb, rüstete die preußische Regierung zur Lösung der deutschen Frage mit Blut und Eisen. So sehr auch die Volksmassen für die Vereinigung Deutschlands waren, so waren sie gleichzeitig gegen den Bruderkrieg. Diese Stimmung hat die preußische Regierung, die wie jede andere ganz- oder halbabsolutistische Regierung das Maß der Widerstandskraft des Volkes unterschätzte oder überschätzte, aber niemals richtig einzuschätzen wußte, zu hoch angeschlagen. Sie konnte also das zur guten Hälfte aus Landwehren zusammengesetzte Heer, mochte es sich auch noch so gut in einem Verteidigungskrieg gegen einen nationalen Feind schlagen, nicht als genügend zuverlässiges Kampfmittel gegen Österreich betrachten. Die Heeresorganisation Roons lieferte die Massen mehr in die Hand der Regierung. Aber selbst, wenn diese militärische Erwägung nicht in Betracht kommen würde, so um so mehr die politische; selbst bei dem mit reaktionären Elementen durchsetzten Landwehrsystem würde ein Krieg eine politische Durchrüttelung des Volkes bedeuten, die dem Liberalismus zugute kommen mußte. Ein Volksenthusiasmus, wie im Jahre 1813, würde bei dem im Jahre 1860 viel höheren Bildungsgrade des Volkes, seiner höheren wirtschaftlichen Entwicklung, schon anders dafür sorgen, daß der innere Feind, das Junkertum, samt dem äußeren die Zeche zu bezahlen habe, als es im Jahre 1813 der Fall war.
Die Regierung hielt an der Militarisierung Deutschlands fest, sie wollte sich eben in ihrer Politik von der Bourgeoisie unabhängig machen.
Und die Bourgeoisie? Ihre demokratischen Elemente agitieren in kleinen Broschüren für das Milizsystem, sie sehen in der Frage von Militarismus und Miliz die »wichtigste der sozialen Fragen«,[57] sie glaubten, daß der Aufhebung des stehenden Heeres allgemeiner Wohlstand, dem Verschwinden des Junkermonopols auf Offiziersstellen die Demokratie folgen wird. Aber die ausschlaggebenden Elemente der Bourgeoisie ließen schon vor dem Jahre 1871 das Milizsystem fahren. Aus diesen Kreisen wurde an Rüstow geschrieben:
»Wenn Sie glauben, daß Ihre Milizideen in Preußen schon Grund und Boden haben, so befinden Sie sich in einem gewaltigen Irrtum. Sie könnten es daher wohl unterlassen, diese Dinge vorzutragen, mit denen Sie ja doch nichts nützen. Den Abgeordneten wäre es jedenfalls viel lieber, wenn Sie ihnen eine Anweisung gäben unter Beibehaltung des Systems im allgemeinen, nur etwa mit Führung der zweijährigen Dienstzeit, die Alles in Preußen befriedigen würde, einzelne Ersparnisse zu beantragen.«
Es entsprach dem Willen der führenden Schichten der Bourgeoisie, die preußische Regierung bei der Lösung der deutschen Frage, die revolutionär zu lösen das Bürgertum verpaßt hatte, nicht zu stören. Ihr ganzer Kampf gegen die Roonsche militaristische Reorganisation, die die Milizelemente aus dem preußischen Heereswesen ausmerzte, war nur ein Kampf um politische Entschädigungen, wegen welcher die liberalen Führer durch den Herzog von Koburg, dem »Schützenfürsten«, mit dem Hofe verhandelten.[58] Da sie aber auf einer Seite den Kampf nicht offen unter der richtigen Flagge führten – um nicht in Gegensatz zu der demokratischen Anhängerschaft zu geraten – auf der andern Seite in der Sache selbst auf ihn sofort verzichteten, indem sie provisorisch die Kosten der Reorganisation bewilligten, mußten sie ihn verlieren. Am charakteristischsten für diesen Kampf ist, daß während der Konfliktsperiode, selbst in der Hitze des Gefechts niemals, im Landtage das Kampfobjekt auf die Parole: Hie Miliz – hie Militarismus! zugespitzt wurde. Nachdem der Bourgeoisie die Felle weggeschwommen waren und der durch den inneren wie äußeren Sieg gestärkte Absolutismus sie verächtlich zu behandeln begann, konnte sie nicht mehr gegen seine wichtigste Stütze, den Militarismus, auftreten, wurde er doch auch ihre Stütze.
Die alten Demokraten verlangten die Miliz, weil das Cadresheer mit dreijähriger Dienstzeit und junkerlichem Offizierkorps eine Waffe des Absolutismus und Junkertums gegen das Volk war, sie sich aber als Vertreter des Volkes fühlten. Anders die liberale Bourgeoisie nach dem Jahre 1866. Der junkerliche Staat begann sich in den kapitalistischen zu verwandeln, indem er unter der Kleinstaaterei, der Reaktion auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik, aufräumte, und so der Bourgeoisie ein einheitliches Ausbeutungsgebiet schuf. Gleichzeitig entwickelte sich die selbständige Arbeiterbewegung und weckte in der Bourgeoisie das Bewußtsein ihres Gegensatzes zum arbeitenden Volke. Nicht gegen den Absolutismus, gegen die Junker, sondern umgekehrt, mit dem konstitutionell ausgeschmückten, auch bürgerliche Interessen vertretenden Absolutismus und mit dem Junkertum, gegen das Volk – das wurde die neue politische Orientierung des Bürgertums, die erst nach dem Jahre 1871 zur vollen Entfaltung kam. Ihren Ausdruck fand sie in der Nationalliberalen Partei, die in den Zutreiberdiensten für den Militarismus, in der Verteidigung seiner reaktionärsten Konsequenzen mit den Junkern konkurrierte. Der kleinbürgerliche Teil des Liberalismus sprach zwar von der »Umgestaltung des Heereswesens im volkstümlichen Geiste«, aber im Kampfe gegen den Militarismus wußte er nichts weiter, als über seine Kosten zu jammern. Die Milizidee verschwand gänzlich aus seiner Literatur und fand nur noch Befürworter in krausen Eingängern wie Carl Bleibtreu.[59]
Wenn diese Frontänderung der breiten Kreise des Bürgertums durch die allgemeine Änderung seiner sozialen und politischen Kampfposition bestimmt war, so kamen für die wirtschaftlich führenden Kreise der Bourgeoisie noch das Industrie- und Bankkapital als direkte wirtschaftliche Momente in Betracht. Der Militarismus wurde zu einem Massenwarenabnehmer des Kapitalismus und durch die immer weiter fortschreitende Vergrößerung der Staatsschulden ein Mittel der Schröpfung der Volksmassen zugunsten des kapitalistischen Publikums, das in ihm die sichere Anlage sah, und des Bankkapitals, das aus der Vermittlerrolle große Verdienste zog.
Ohne jeden inneren Gegner – die Arbeiterklasse war schwach und an Händen und Füßen durch das Sozialistengesetz gefesselt – konnte der deutsche Militarismus ungehindert seine Flügel ausbreiten. Die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht in Rußland nach dem Krimkriege und der Bauernbefreiung in Frankreich im Jahre 1874 gibt ihm einen Ansporn. Früher hieß es: es gilt zu rüsten zum Kampf um die Vereinigung Deutschlands; jetzt ist die Verteidigung Elsaß-Lothringens der Schlachtruf. Dazu kommt eine Reihe von Umwälzungen auf dem Gebiete der Kriegstechnik, die zusammen mit politischen Verschiebungen immer eine wichtige Quelle der Rüstungen bildete. Das Zündnadelgewehr, das den Deutschen Krieg im Jahre 1866 zum guten Teil herbeiführte, macht auf Grund der Erfahrungen des Jahres 1871 dem Gewehrmodell 71 von 11 mm-Kaliber im Jahre 1875 Platz; es tritt die Einteilung in Feld- und Festungsartillerie ein, die Kavallerie bekommt einen Karabiner; es werden Telegraphen- und Eisenbahnabteilungen geschaffen; technische Änderungen, die nicht nur große Kosten, sondern auch organisatorische Änderungen erfordern, die sich schließlich immer mit der Vergrößerung der Soldatenzahl ändern. Die Änderungen im Festungsbau, die der Betonzement und die Panzerung verursachten, wirkten in derselben Richtung. Der durch den Deutsch-Französischen Krieg erweiterte Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich, wie die technischen Umwälzungen im Kriegswesen sorgten für ein ununterbrochenes Rüsten, als in den letzten zwei Jahrzehnten ein neues Moment hinzukam, das den Militarismus in Deutschland mächtig stärken mußte. Es ist der Imperialismus. Obwohl sein eigentliches Instrument zur Beherrschung der Meere und der überseeischen Länder die Flotte ist, die er mit großer Energie schuf, und über deren Verhältnis zu den uns hier beschäftigenden Fragen wir noch kommen werden, so bildet er in kontinentalen Ländern eine Quelle der Rüstungen zu Lande. Zum Teil, damit die sich im Kampfe um Kolonien, um weltpolitischen Einfluß in den Haaren liegenden Staaten als Kontinentalmächte vermittels der Landheere die weltpolitischen Händel auskämpfen können, zum Teil, weil die Bündnisse der Staaten untereinander dafür sorgen, daß ein Gegensatz zu einem nur vermittels der Flotte erreichbaren Gegner das Verhältnis zu einem kontinentalen Nachbarn verschärft. Aber nicht nur in der Notwendigkeit, die Heeresmassen zu vergrößern, d. h. die allgemeine Wehrpflicht immer schärfer durchzuführen – was auch eine revolutionäre Seite hat – äußert sich der Einfluß des Imperialismus auf das Heerwesen. »Großmächte und große Handelsstaaten« – schrieb schon vor über sechzig Jahren Rüstow – »welche einen Welteinfluß suchen, werden wenigstens für einen Teil ihrer Truppen immer das System des stehenden Heeres oder eines ihm angenäherten annehmen müssen, weil sie oft gezwungen sind, zu demonstrieren und notwendig Staatszwecke zu verfolgen haben, welche, wenn auch keineswegs unvernünftig, doch der Masse des Volkes ferner liegen, namentlich muß auf einen Teil der Flotte das System des stehenden Dienstes angewendet werden.« Wir lassen diese Frage einstweilen beiseite, wie wir hier nicht nötig haben, zu beweisen, daß die Kolonialpolitik, die vom Standpunkte des bürgerlichen Demokraten – wie Rüstow, trotz seiner Feindschaft mit Lassalle, einer war – zwar vernünftig, vom Standpunkte des Proletariats jedoch zu bekämpfen ist. Es genügt für uns, festzustellen, daß die imperialistischen Staaten ebenso angesichts dessen, daß ihre imperialistischen Ziele, die Ausbeutung fremder Länder, im Proletariat einen ernsten Feind gefunden haben, alles zu tun suchen, um die demokratischen Tendenzen im Heere zurückzudämmen und die reaktionären zu stärken, was die Gegnerschaft des Bürgertums zum Milizgedanken noch vergrößert, und das Proletariat im Kampfe für die Miliz noch mehr vereinsamt.
Aber eine Prüfung des Gesamtcharakters des Militarismus, wie er sich seit dem Jahre 1871 gestaltet hat, wird zeigen, daß er trotz alledem in der Richtung auf die Demokratisierung treibt.
Die Tendenzen des modernen Militarismus.
1. Die Folgen der allgemeinen Wehrpflicht.
Seit dem Deutsch-Französischen Kriege eroberte sich die allgemeine Wehrpflicht ein Land nach dem andern. Keines konnte hinter dem andern zurückbleiben, weil dies die Minderung des politischen Einflusses nach sich ziehen würde. Selbst halbagrarische Länder wie Österreich und Rußland mußten mitmachen, obwohl die finanzielle Last der allgemeinen Wehrpflicht zu schwer war für ihre schwachen Schultern. Am energischsten holte Frankreich das Versäumte nach. Bei seinen 38 Millionen Einwohnern brachte es im Jahre 1910 die Aushebungsquote von 256 000 Mann auf. Und wie sehr diese Quote die militärische Kraft Frankreichs überstieg, das zeigt die Tatsache, daß in diesem Jahre 28 273 ausgehobene Rekruten wegen ihrer mangelhaften Körperbeschaffenheit wieder entlassen werden mußten, daß 18 738 Mann wegen derselben Ursache nicht zu dem Dienst unter Waffen, sondern zu den Hilfsdiensten beordert wurden, gar nicht davon zu reden, daß 16 000 Mann sich nach der Aushebung und vor der Einstellung durch Desertion entzogen haben, was als Beweis dafür gelten muß, daß durch die Aushebungsbehörden der Bogen überspannt wurde. Die Ansprüche, die Frankreich an die Diensttauglichkeit stellt, sind viel niedriger als in Deutschland, weshalb auch die Gesundheitsverhältnisse dort viel ärger sind als hier. Die allgemeine Dienstpflicht wird in Frankreich so aus dem Mittel, die ganze Wehrkraft des Landes dienstbar zu machen, zu einem Mittel, seine Wehrmacht durch Arsenikeinspritzungen momentan zu beleben, die Wehrkraft aber dauernd zu schädigen. Deutschland hat bisher das Beschreiten dieses Weges vermieden. Sein viel größeres Menschenmaterial erlaubte ihm durchschnittlich, nur wirklich ganz Taugliche einzustellen. Nach der »Übersicht der Ergebnisse des Heeresergänzungsgeschäftes für das Jahr 1911« waren dienstpflichtig 1 271 000 Mann, davon 563 000 im Alter von 20 Jahren, endgültig wurden davon 565 000 abgefertigt. Von diesen wurden 826 als Zuchthäusler usw. nicht eingestellt, 35 500 als dauernd untauglich ausgemustert, d. h. 6,28 Prozent; 141 759 dem Landsturm I als dauernd mindertauglich oder als bedingt tauglich zugewiesen, 85 193 der Ersatzreserve einverleibt. Von 302 242 Tauglichen wurden 292 155 eingestellt, d. h. 51,7 Prozent aller Dienstpflichtigen und 96,7 Prozent aller Tauglichen. Nach den Berechnungen des Infanteriegenerals v. d. Boeck, des Verfassers des bekannten Werkes über Deutschlands Landmacht, werden in Deutschland jährlich wirklich militärisch ausgebildet 241 000 Mann, während es in Frankreich nur 176 000 sind (»Tag« vom 4. Oktober 1912). Das Gegengewicht davon auf Frankreichs Seite ist die 11-jährige Dienstzeit in der Reserve, während Deutschland nur eine 7-Jährige besitzt, und die sorgfältigere Ausbildung der Reserven. Jetzt schreitet Deutschland dazu, zirka 70 000 Rekruten jährlich mehr einzustellen, die sonst der Ersatzreserve zufallen würden, und Frankreich will zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts seine Truppen drei Jahre bei den Fahnen halten. Während die Maßregel Frankreichs einen rein reaktionären Schritt darstellt, wird die Vermehrung des Rekrutenstandes in Deutschland einen solchen Schritt nur dann bedeuten, wenn es sich zeigen würde, daß auch Deutschland, um diese Vermehrung des Friedensstandes der Armee zu ermöglichen, nicht ganz taugliches Material zur aktiven Dienstpflicht herbeizieht. Aber wenn es diesmal auch nicht geschehen sollte, kommen wird es zu dieser Überspannung der Wehrpflicht auch in Deutschland, wenn Rußland dem französisch-deutschen Rüstungsringen folgt und mit finanzieller Hilfe Frankreichs seine Dienstschraube scharf anzieht. So sehen wir, daß die Tendenz zur Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht schon überspannt wird und zur Einstellung eines Menschenmaterials zu führen beginnt, das die Schlagkraft der Armee schließlich mindern wird.
Jedenfalls muß man jetzt, wenn man vom Heere spricht, als fundamentale Tatsache im Auge behalten, daß durch seine Cadres alles hindurchgeht, was in einer Nation wehrfähig ist. Der Militarismus sucht in die Linie neben den sich unter den Waffen befindenden nur die jüngsten gedienten Elemente für den Kampf hineinzuziehen; da er aber diese Elemente bis zum letzten Mann heranziehen müßte, so würden während eines Krieges alle anderen bis in die letzten Jahrgänge im Lande unter Waffen stehen. So verwirklicht der moderne Militarismus die Parole: Das Volk in Waffen! vollauf. Was früher nur Tendenz war, ist jetzt Tatsache.
Was bedeutet diese Tatsache, welche Folgen muß sie haben? »Die allgemeine Wehrpflicht – beiläufig die einzige demokratische Institution, welche in Preußen, wenn auch nur auf dem Papier besteht – ist ein so enormer Fortschritt gegen alle bisherigen militärischen Einrichtungen, daß, wo sie einmal, wenn auch nur in unvollkommener Durchführung bestanden hat, sie auf die Dauer nicht wieder abgeschafft werden kann«, – schrieb Friedrich Engels im Jahre 1865 in seiner schon einmal angeführten Schrift »Die preußische Militärfrage und die deutsche Sozialdemokratie«. Und 28 Jahre später, im Jahre 1893, schrieb er in seiner Artikelserie »Kann Europa abrüsten?«: »Nun besteht gerade die moderne, die revolutionäre Seite des preußischen Wehrsystems in der Forderung, die Kraft jedes wehrfähigen Mannes für die ganze Dauer seines wehrfähigen Alters in den Dienst der nationalen Verteidigung zu stellen. Und das einzig revolutionäre, das in der ganzen militärischen Entwicklung seit 1870 zu entdecken ist, liegt eben darin, daß man – oft genug wider Willen – sich genötigt gesehen hat, diese bisher nur in der chauvinistischen Phantasie erfüllte Forderung mehr und mehr wirklich durchzuführen«.[Anmerkungen 30] Worin der militärische Fortschritt der allgemeinen Dienstpflicht bestand, glauben wir durch die bisherigen Ausführungen schon genügend gezeigt zu haben. Worin die revolutionäre Bedeutung dieses Fortschrittes besteht, läßt sich leicht erklären. Solange das Heer aus Söldnern bestand, für die der Kriegsdienst Lebensaufgabe war, kümmerte sich das Heer gar nicht um die Ursachen und Ziele des Krieges. Auch das Volk kümmerte sich um ihn nur auf dem begrenzten Landstrich, auf dem er sich abspielte. Es wurde zwar für die Kriegskosten geschröpft, was aber als normale Erscheinung nicht aufrüttelnd wirkte, aber es fehlte das Moment, das jetzt in erster Linie ins Gewicht fällt: daß jede Familie ein Mitglied auf dem Kampffelde hat. Der Wunsch Friedrichs II., »der friedliche Bürger soll es gar nicht merken, wenn sich die Nation schlägt: wurde zu einer reaktionären Utopie«. Die Nation fühlt den Krieg in allen Gliedern, und ihr Verhältnis zum Kriege, d. h. das ihrer einzelnen Klassen, schafft den Geist, der das Heer erfüllt. Von der Bedeutung dieser Tatsache legte Bismarck Rechnung ab, als er davon sprach, daß der Krieg jetzt nur wegen hoher nationaler Ziele geführt werden kann. Wir werden später zu der Frage zurückkehren, ob jetzt noch nationale Ziele, d. h. solche existieren, die mehr oder weniger im gleichen Interesse aller Klassen liegen, ob es also einen Krieg, der den allgemeinen Enthusiasmus erweckt, im kapitalistischen Europa geben kann. Hier handelt es sich um die Feststellung der Tatsache, daß die allgemeine Wehrpflicht die Volksstimmung zum ausschlaggebenden Faktor macht. Das wissen die Vertreter des modernen Militarismus vortrefflich. General v. Bernhardi sagt darüber in seinem Werke, einem Standard-work nicht nur des deutschen Militarismus: » Dieses Massenaufgebot hat zur nächsten Folge, daß der kriegerische Wert der Heere sehr viel mehr wie früher durch den Charakter und das Wesen der Nationen selbst bedingt wird. Je weitere Schichten der Bevölkerung in der Kriegsarmee eingestellt werden, desto mehr wird der Geist der so gebildeten Truppen bestimmt werden durch die physische Kraft, wie durch den politischen und sozialen Geist des Volkes selbst«.[60]
Das Volk aber, dessen Geistesverfassung so ausschlaggebend ist, ist ein ganz anderes als das des Jahres 1813, in dem die allgemeine Wehrpflicht in Preußen zuerst durchgeführt wurde; und die Aufgaben, die die herrschenden Klassen Deutschlands eventuell auf kriegerischem Wege durchzuführen hätten, sind ebenfalls ganz anders geartet, als die, die ihnen bis zum Jahre 1871 bevorstanden. Das Volk ist von der Scholle weggerissen und in die Großstädte getrieben worden. Die Hungerprügel des Kapitals sind zwar nicht minder schmerzlich als die Stockprügel, mit denen der Junker sein Gesinde bearbeitet hatte, nur daß sie ganz andere Gefühle in den in Fabriken und Mietskasernen zusammengepferchten Massen wecken, nicht Gefühle der Unterwürfigkeit und Hilflosigkeit, sondern die des proletarischen Hasses gegen die Unterdrücker, die der proletarischen Solidarität der Unterdrückten. Aus ihnen entspringt ein Kampf, der immer gewaltiger und schärfer wird und sich gegen alle herrschenden Schichten und ihre Herrschaftsorgane richtet. Er ist organisiert, um zweckmäßiger geleitet werden zu können, wo ihm aber die Organisation fehlt oder genommen wird, brandet er nur wilder auf, denn er beruht auf den tiefsten Interessen und Regungen der Volksmassen, auf dem instinktiven Fühlen von Millionen, auf dem klaren Wissen von Hunderttausenden, daß die Reife der ökonomischen Verhältnisse die Änderung der menschenunwürdigen Lage des Proletariats erlaubt. Je mehr die allgemeine Wehrpflicht durchgeführt wird, desto mehr wächst das Übergewicht dieser Massen des Industrieproletariats im Heere. Im Jahre 1910 war das Verhältnis schon folgendes: 82 310 neu Eingestellter waren im landwirtschaftlichen, 203 195 in anderen Berufen tätig. Unter den aus der Landwirtschaft stammenden gehörte ein größerer Teil den proletarischen und halbproletarischen Schichten an. Darum sagt auch der Generalmajor v. d. Lippe mit Recht in seinem zwar konfusen, aber sehr charakteristischen Buche: »Gedanken über eine neue Wehrverfassung«: »Die sozialistische Propaganda kann sich gar nichts Besseres wünschen als die Kaserne, um ihre Lehren ohne Druckkosten im Lande zu verbreiten«.[61]
Und welche Aufgaben stellt die Bourgeoisie diesem so gearteten Heer der allgemeinen Dienstpflicht? Es soll im Frieden – je mehr sich die Klassengegensätze verschärfen und die Klassenkämpfe an Umfang gewinnen – als Garde des Kapitals zur Niederwerfung der kämpfenden Brüder dienen. Mansfeld und das Ruhrgebiet zeigen, wohin der Marsch geht. Und ähnlich ist es mit den äußeren Aufgaben des Heeres. Die Massen, die sich in den Kriegen von 1866 und 1871 schlugen, waren entweder gefügige Bauernmassen oder städtische Volksmassen, die dumpf fühlten, daß aus der Misere der damaligen Verhältnisse der Weg nur durch die Vereinigung Deutschlands führe. Gab es doch in jener Zeit in einem Teile selbst des sozialistischen Proletariats preußischen Patriotismus. Die Einigung Deutschlands sollte die Herrschaft der Bourgeoisie verwirklichen, ohne diese gab es keinen Fortschritt, auch für die Arbeiterklasse nicht. Wie anders ist jetzt die Lage. Deutschland wird, wenn es sich mit dem, was es hat, begnügt, von niemandem bedroht. Der einzige Grund der sich verschärfenden Gegensätze unter den Staaten ist der Appetit auf koloniale Gebiete. Die Verteidiger des Kapitalismus können dem Proletariat mit Engelszungen die wundertätigen Einflüsse der Kolonialpolitik schildern, alles das zerschellt, wie die Meereswoge am Granitfelsen, an dem Bewußtsein, daß selbst in der größten Prosperitätsperiode eine immer größere Teuerung Platz greift; an der Erkenntnis, daß die Kartelle und Trusts mit allen Kräften den Aufstieg der Arbeiterklasse hemmen. Und sollte der Arbeiter sich durch eine koloniale Fata Morgana auf einen Augenblick irreführen lassen, so stellt ihn die erste diplomatische Spannung vor die Frage: wirst du Kanonenfutter werden, dein Leben und das deiner Brüder auf die Hoffnung hin opfern, daß für dich ein Knochen vom Tische der Mächtigen abfällt, wo doch die Ernte reif ist und den Schnitter erwartet, um seine Arbeit reichlich zu belohnen? Und wer diese Gedanken noch nicht selbständig erzeugte, dem sagt es die in Millionen Exemplaren verbreitete sozialdemokratische Presse, dem sagen es die Arbeitskollegen.
Die allgemeine Wehrpflicht gewinnt also die Tendenz, das Heer sozial zur Erfüllung der Aufgaben, vor die es der Kapitalismus jetzt stellt, immer untauglicher zu machen. Es büßt auf die Länge die Fähigkeit ein, ein Mittel der kolonialen Expansion und der Niederhaltung des Volkes zu werden. Wie sich dagegen der Kapitalismus wehrt, ergibt sich aus der Untersuchung der Fragen der militärischen Dienstzeit.
2. Die Absonderung des Heeres vom Volke.
Das moderne Heer besteht in seiner überwältigenden Mehrheit aus Volkskindern. Es soll aber zur Niederhaltung der Volksmassen im Innern und zum Kampfe nach außen, also volksfeindlichen Interessen, dienen, Interessen, die in letzter Linie auf die Verlängerung der Kapitalherrschaft und Volksknechtschaft hinauslaufen. Darum sucht das Kapital den Zusammenhang des Heeres mit dem Volke zu zerstören und in ihm die Erinnerungen an alle die Objekte, um welche und gegen welche das Volk kämpft, auszulöschen. Dieselben Mittel, durch die das Volksheer in eine Knüppelgarde des Kapitals im Innern umgewandelt werden soll, sollen es auch zu einem Söldnerheer degradieren, das gedankenlos um alles kämpft, was die besitzenden Klassen des Massenmordes für wert halten.
Als solches Mittel kommt in erster Linie eine lange Dienstzeit in Betracht. Je länger, desto angenehmer wäre sie ihnen. In den Kasernenmauern soll der Arbeiter vergessen, daß er je gegen die überlange Arbeitszeit und den kargen Lohn gestreikt hat. Schickt man ihn mit Maschinengewehren gegen Streikende, so soll er nicht auf den Gedanken kommen: womit heute diese Hungerleider niedergeknüppelt werden, damit werde ich morgen niedergerungen, wenn ich das bunte Tuch ablege. Schickt man ihn mit gefälltem Bajonett gegen die Massen, die für ein demokratisches Wahlrecht demonstrieren, so soll er nicht daran denken, daß auch er, der bereit sein muß, für das »Vaterland« zu sterben, morgen, wenn er die Kaserne verläßt, ein entrechteter Helot sein wird. Vergißt er das alles, so wird er sich auch auf dem Schlachtfelde nicht erinnern, daß es höhere Ziele gibt, für die es wert ist, Blut zu verspritzen, als der Kampf des deutschen Kapitals um die Ausbeutungsmöglichkeit in fremden Ländern.
Aber dieser Wunsch des Kapitals nach einer möglichst langen Dienstzeit kann nicht restlos erfüllt werden. Eine Dienstzeit, wie sie im Söldnerheere herrschte, wäre eine offene Sklaverei, gegen die die Massen rebellieren würden. Aber selbst eine vier- und fünfjährige Dienstzeit läßt sich wegen der enormen Kosten nicht lange halten. Ein halbasiatischer Staat wie Rußland, der keine Funktionen eines modernen Staates, wie Sozialpolitik, Bildungswesen, hygienische Maßregeln usw. kennt, kann alles dem Volke abgepreßte Geld dem Militarismus in den Rachen werfen. Der entwickelte kapitalistische Staat jedoch muß – schlecht oder recht – für die Schulen und für die Arbeiter sorgen; denn bei der Intelligenz der Arbeiter, bei ihrer Rührigkeit brennt ihm die sozialdemokratische Gefahr auf den Nägeln. Wie sehr auch der kapitalistische Staat alle diese notwendigen Tätigkeiten vernachlässigt, sie erfordern trotzdem Hunderte von Millionen. Er hat trotz des besten Willens nicht die Möglichkeit, die Dienstzeit über alle Grenzen hinaus auszudehnen. Eine dreijährige Dienstzeit erklärten darum die Verfechter des Militarismus für genügend. Aber unter dem Druck der arbeitenden Massen und dank der Notwendigkeit, die allgemeine Wehrpflicht immer schärfer durchzuführen, mußten sie sich schließlich mit der zweijährigen Dienstzeit begnügen. Sie wurde in Deutschland im Jahre 1893, in Frankreich 1905, in Österreich im Jahre 1911 (trotz vieler Lücken) durchgeführt.
»Die Einführung der zweijährigen Dienstzeit stieß sogleich auf eine heftige Gegnerschaft, und zwar gerade dort, wo man zumeist die Wurzeln der staatserhaltenden nationalen Kraft zu suchen hat« –, schreibt der alte Haudegen, der Generalleutnant von Bogueslawski.[62] Trotzdem zeigte sich, daß darunter die Ausbildung der Mannschaften gar nicht gelitten hat, denn sonst könnten die hohen Herren Militärs mit der Schlagfertigkeit der deutschen Armee nicht so prahlen, wie sie es tun.
Gegen die weitere Verkürzung der Dienstzeit wehren sie sich aber mit Händen und Füßen. Jeder, der sie fordert, wird als Hetzer, Trottel oder weltfremder Idealist dargestellt, denn zwei Jahre sind nach ihrer Meinung für die Ausbildung absolut notwendig. Auf die fachmännischen Beschwörungen der Verfechter des deutschen Militarismus ist aber verteufelt wenig zu geben. Erklärten sie doch seinerzeit die Einführung der zweijährigen Dienstzeit für den Anfang vom Ende der Welt, und selbst gegen die unschuldigsten Reformen, wie das Tragen des zusammengerollten Mantels am Tornister, wehrten sie sich jahrelang wie besessen.
Heutzutage ist es jedermann geradezu unverständlich, warum nicht schon früher die jetzt übliche Tragweise des Mantels, um den Tornister gelegt nämlich, eingeführt wurde. Wieviel Papier ist verschrieben worden, und welche Mühe hat es einsichtige Offiziere und Truppenärzte gekostet, ihre praktischen Vorschläge durchzusetzen. »Ich selbst erinnere mich noch ganz deutlich, daß ich wegen meiner, damals als fortschrittlich bezeichneten Ansichten, ganz gehörig gerüffelt wurde,« schreibt der Hauptmann M. Schneesieber in seiner barmherzigen Schrift über die Lage der Soldaten.[63] Ja, lange Kämpfe gab es, bis der Soldatenstiefel dem viel bequemeren Schnürschuh Platz machte, wobei es jedoch die Knasterbärte nicht übers Herz bringen konnten, daß die Schuhbekleidung der Soldaten der eines jeden Menschenkindes gleiche, was schließlich zu dem Unikum der an der Seite zu schließenden Schnürstiefel führte. Angesichts solcher Blüten des »fachmännischen« Geistes braucht man die absoluten Urteile der Militärs nicht tragisch zu nehmen.
Zu welcher Zeit man die Soldaten eines auf gewisser Bildungshöhe stehenden Volkes ausbilden kann, das zeigt die Schweiz. Die Infanteristen und Geniesoldaten werden dort in 65, die Artilleristen in 75, die Kavalleristen in 90 Tagen ausgebildet, nachdem die Schule dafür sorgte, ihren Leib durch Gymnastik geschmeidig zu machen, nachdem ihnen in der Jugend die staatlich unterstützten Schützenvereine das Schießen beigebracht haben. Nach dieser kurzen Ausbildung hat der Artillerist, Infanterist und Geniesoldat noch 7, der Kavallerist 8 Jahre hindurch Waffenübungen zu machen, und zwar je 11 Tage, worauf der Soldat in der Landwehr noch zu 11 Tagen Waffenübung verpflichtet ist. Also alles zusammengenommen lernt der Soldat in der Schweiz das Kriegshandwerk in der Infanterie in 173, in der Artillerie in 183 und in der Kavallerie in 198 Tagen. Und daß trotz dieser kurzen Ausbildung der Schweizer Soldat in nichts jenem Milizsoldaten aus den »Fliegenden Blättern« gleicht, der jahrzehntelang die Herzen des Bürgertums erfreut, das bewiesen die vorjährigen Schweizer Manöver, an denen der Kaiser teilnahm. Aus der Masse der Urteile der stramm militaristisch-patriotischen Presse, die den Leistungen der Schweizer Miliz ihre Anerkennung aussprechen mußte, greifen wir nur das Urteil des offiziellen Militärwochenblatts heraus, das in seiner letzten Septembernummer vorigen Jahres schrieb:
»Unbestreitbar bleibt, daß es das schweizerische Milizsystem fertig gebracht hat, daß, rein äußerlich betrachtet, schweizerische Miliz in ihren Manöverleistungen den Vergleich mit verschiedenen Kaderheeren, gemischt mit Reservisten, sehr wohl und oft nicht zu ihrem Nachteil, aushalten kann. Die Leistungen der Truppen waren ausgezeichnet. Die Infanterie zeigt sich im Angriff wie in der Verteidigung gut ausgebildet. Ihre äußere Haltung und die Besorgung des inneren Dienstes ließen wenig zu wünschen übrig. Die Artillerie ist eine gut disziplinierte Gruppe … Die Kavallerie, die in ihrer Einzelausbildung auf einer durchaus befriedigenden Stufe steht, trat in diesem Manöver als Gefechtstruppe aus verschiedenen Gründen sehr wenig in Erscheinung. Sapeure und Telegraphenpioniere zeigten sich als zuverlässige Truppen ihren Aufgaben gewachsen. Erwähnung verdient noch die kriegsmäßige Organisation und Führung des Trains, dessen Ordnung allgemeine Anerkennung fand.« So das Organ des deutschen Offizierkorps. Kann man eine schärfere Verurteilung der zweijährigen Dienstzeit mit dem Paradeschritt, dem Drill und allem Plunder, der im Krieg absolut unanwendbar ist, und nur beibehalten wird, um dem Paradesinn der besitzenden Klassen zu frönen, um den Geist im Soldaten zu ertöten, wünschen? Wie die besitzenden Klassen auf diesen öden Kram nicht verzichten wollen, so auch nicht auf die anderen Mittel der Trennung des Volksheeres vom Volke. Dies sind seine Abgeschlossenheit in der Kaserne, wodurch der Verkehr mit den früheren Arbeitskollegen erschwert wird. Ein Soldat, der im Lokal seiner Gewerkschaft, beim Feste seiner Arbeitsbrüder, bei der Lektüre seines Gewerkschaftsblattes, in dem er nach dem Austritt aus dem Militär die wichtigste Lebensstütze findet, ertappt wird, müßte schwer dafür büßen. Und weil kein bürgerliches Gericht ihn dafür verurteilen würde, muß eine besondere militärische Gerichtsbarkeit existieren, die den Offizieren das Recht gibt, hinter verschlossenen Türen über die Soldaten zu Gericht zu sitzen. Hinter diesen verschlossenen Türen wird er verurteilt für jedes Aufmucken gegen das Drillsystem, das ihn zur Maschine zu machen sucht. Wenn der Generalleutnant von Bogueslawski in der zitierten Schrift feststellt, daß sich nach der Einführung der zweijährigen Dienstzeit die Zahl der beim Militär Bestraften gemindert hat, so ist dies nur auf das Konto der Minderung der Drillzeit durch Kürzung der Dienstzeit zurückzuführen. Daß eine Unmasse von Sünden gegen das Volk immer noch im Heere bestehen, zeigen alle Schilderungen aus dem Soldatenleben, wie die publizierten militärischen Gerichtsverhandlungen.
Die Bourgeoisie muß aber an all den Folgen der langen Dienstzeit festhalten, weil sie fürchtet, ein Heer der allgemeinen Wehrpflicht, das nur kurze Zeit in den heiligen Kasernenräumen weilt, würde keine gefügige Waffe in ihren Händen bilden. Aber diese Tendenz zur Absonderung des Heeres vom Volke, die zur langen Dienstzeit führt, ist weit entfernt, das Ziel zu erreichen, das sich die Bourgeoisie steckt. Abgesehen davon, daß der Drill den Soldaten mit einem grenzenlosen Grimm gegen das System erfüllt – was in ernster Stunde für die herrschenden Klassen sehr gefährliche Erscheinungen zeitigen kann – so widerspricht er den Bedingungen, unter welchen der Soldat im Kriege seine Aufgaben zu lösen hat.
Das beweist einen Blick in den Charakter des heutigen Krieges.
3. Die Bedingungen des modernen Krieges.
Das Heer ist ein Kriegsinstrument. Dies ist keine Einsicht, die man erst auf dem Wege tiefer Studien zu erringen hätte, und trotzdem fehlt sie besonders den Vertretern des Militarismus sehr oft. Der lange Friede nach dem Deutsch-Französischen Kriege weckte auch im Offizierskorps ein Gefühl der Sicherheit. Die Spannungen in dem Verhältnis zu Frankreich und Rußland, wie sie in den Jahren 1878 und 1885 bestanden, verscheuchten es auf einen Augenblick; aber so recht glaubten auch die nicht an die Möglichkeit eines Krieges, die ihn immer wieder an die Wand malten. In einer solchen Geistesverfassung muß natürlich die innere Funktion des Heeres, seine Bedeutung als Unterdrückungsorgan, Oberhand gewinnen über seine Aufgabe im Kampfe nach außen hin. Seit dem französisch-russischen Bündnis, das den deutschen »Patrioten« einen mächtigen Schrecken einjagte, und noch mehr seit dem Beginn der imperialistischen Ära, verschwindet dies Gefühl der Ruhe und macht einem entgegengesetzten Gefühl Platz: das Offizierkorps rechnet mit der Möglichkeit kriegerischer Erschütterungen. Die Marokkokrisen von 1905, 1907, 1911, die Balkankrisen von 1909 und 1912 halten das Gefühl wach. Ja, bei den jüngeren, unternehmungslustigen Elementen des Offizierkorps beginnt sich schon das Gefühl durchzusetzen: je eher, desto besser!
In dieser Situation wenden die Militärs ihre Aufmerksamkeit in viel höherem Maße als sonst den Bedingungen des modernen Krieges und den Schlüssen zu, die aus ihnen auf die Ausbildung des Soldaten gezogen werden müssen.
Friedrich Engels hat im Anti-Dühring die taktische Änderung, mit der jetzt in erster Linie zu rechnen sein wird, folgendermaßen dargestellt:
»Im Deutsch-Französischen Krieg traten zuerst zwei Heere einander gegenüber, die beide gezogene Hinterlader führten, und zwar beide mit wesentlich denselben taktischen Formationen wie zur Zeit des alten glattläufigen Steinschloßgewehrs. Nur daß die Preußen in der Einführung der Kompagniekolonne den Versuch gemacht hatten, eine der neuen Bewaffnung angemessenere Kampfform zu finden. Als aber am 18. August bei St. Privat die preußische Garde mit der Kompagniekolonne Ernst zu machen versuchte, verloren die am meisten beteiligten 5 Regimenter in höchstens 2 Stunden über ein Drittel ihrer Stärke (176 Offiziere und 5114 Mann), und von da an war auch die Kompagniekolonne als Kampfform gerichtet, und minder als die Bataillonskolonne und die Linie; jeder Versuch wurde aufgegeben, fernerhin irgend welche geschlossene Truppe dem feindlichen Gewehrfeuer auszusetzen, und der Kampf wurde deutscherseits nur noch in jenen dichten Schützenschwärmen geführt, in die sich die Kolonne bisher unter dem einschlagenden Kugelhagel schon regelmäßig von selbst aufgelöst, die man aber von oben herab als ordnungswidrig bekämpft hatte; und ebenso wurde nun im Bereich des feindlichen Gewehrfeuers der Laufschritt die einzige Bewegungsart. Der Soldat war wieder einmal gescheiter gewesen als der Offizier; die einzige Gefechtsform, die bisher im Feuer des Hinterladers sich bewährt, hatte er instinktmäßig gefunden und setzte sie trotz des Sträubens der Führung erfolgreich durch«.[64]
Der Russisch-Japanische Krieg zeigte, wie sehr dank der viel größeren Schußweite des Gewehrs wie der Geschütze die Entwicklung die Auflösung der Militäreinheiten in der Schlacht bewirkt. Der jüngst verstorbene Chef des deutschen Generalstabes, von Schlieffen, entwirft auf Grund eben dieser Erfahrungen folgendes Bild der Schlacht:
»Es ist nicht möglich, wie im 18. Jahrhundert in zwei Linien gegeneinander aufzumarschieren und bei nicht allzu großer Entfernung Salven auf den Feind abzugeben. Innerhalb einiger Minuten würden beide Armeen durch Schnellfeuer vom Erdboden vertilgt sein. Es ist ausgeschlossen, napoleonische Kolonnen, so tief wie breit, gegen die feindlichen Stellungen anstürmen zu lassen. Ein Schrapnellfeuer würde sie zerschmettern. Es ist auch nicht angebracht, wie noch vor kurzem beabsichtigt wurde, durch das Feuer direkter Schützenschwärme den Feind überwältigen zu wollen. Die Schützenschwärme würden baldigst niedergemacht werden. Nur unter Benutzung von Deckungen, von Bäumen und Häusern, von Mauern und Gräben, von Erhöhungen und Vertiefungen vermag der Infanterist an den Feind heranzukommen, bald liegend, bald knieend, bald stehend muß er suchen, eine neue Deckung zu gewinnen … Um eine genügende Deckung zu gewinnen, muß der Infanterist Ellenbogenfreiheit haben – etwa ein Mann auf das Meter … Eine unmittelbare Folge der verbesserten Schußwaffe ist also eine größere Ausdehnung der Gefechtsfront«.[65]
Den daraus zu ziehenden Schluß formulierte General von Bernhardi in folgenden, dem Militarismus unheilverkündenden Worten:
»Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Anforderungen des modernen Gefechts, der beiden Hauptwaffen, und zwar vor allem in der Kampfart, die die Entscheidung gibt, im Angriff, ohne den ein Sieg kaum denkbar ist: in weit aufgelösten Linien geht die Infanterie vor. Der Einfluß der Führer, so weit er durch Befehle vermittelt wird, ist gering. Die Ausdehnung ist viel zu groß, der Gefechtslärm zu stark, die zitternde Erregung aller Nerven zu gewaltig, als daß die Stimme sich Geltung verschaffen könnte. Mühsam von Mann zu Mann werden die nötigsten Weisungen in den langen Linien weiter gerufen. Auf den näheren und entscheidenden Gefechtsentfernungen wirkt nur noch das Beispiel der Vorgesetzten. Aber die feindlichen Geschosse halten eine fürchterliche Auslese, denen vor allem die Führer zum Opfer fallen, die sich am meisten bloßstellen müssen. Da versagt jede Einwirkung auf die Mannschaften, die Verbände vermischen sich, jeder steht auf sich allein; der Mann als solcher tritt in die Erscheinung, nicht mehr der Mann, der zum Siege geführt wird, sondern der Mann, der selber siegen will.
Fast für die gesamte Gefechtstätigkeit ist er auf sich selbst angewiesen. Er muß selbst die Entfernungen schätzen, er muß selbst das Gelände beurteilen und benutzen, das Ziel wählen, das Visier stellen; er muß wissen, wohin er vorgehen soll, welchen Punkt der feindlichen Stellung er zu erreichen hat; mit unerschütterlichem eigenen Entschluß muß er diesem zustreben. In der feindlichen Stellung angekommen, muß er wissen, was er zu tun hat. Stockt der Angriff, ist es nicht möglich, gegen das feindliche Feuer vorwärts zu kommen, so muß er sich selbst Deckung schaffen. Kommt es zum Rückzuge, so muß er sich fechtend auf das Zäheste an das Gelände anklammern. So gut wie niemals kann er darauf rechnen, von Vorgesetzten Anweisung zu erhalten. Was aber für den gemeinen Mann gilt, das gilt um so mehr für alle niederen Führer. Auf Befehle können sie mitten im Kampfe nicht rechnen. Unmöglich ist es meistens, Weisungen von rückwärts her an die vordere Gefechtslinie zu bringen. Auf eine zuverlässige Verbindung durch Zeichen von rückwärts nach vorwärts zu rechnen, ist eine Einbildung, der sich kein ernster Soldat hingeben sollte. Sobald die Truppe einmal in den Bereich des wirksamen feindlichen Feuers eingetreten ist, hört alle zusammenhängende und zusammenfassende Befehlserteilung auf. Aller Erfolg beruht ausschließlich auf der zielbewußten Tätigkeit der einzelnen Gruppen und Leute, auf dem Beispiele der Führer oder derer, die sich zum Führen berufen fühlen. Das ist das Bild des modernen Infanteriegefechts; Selbständigkeit ist alles. In den letzten Stadien des Infanterie-Nahkampfes ist das in den letzten Kriegen zwar auch schon so gewesen. In Zukunft wird aber dieser Zustand der Selbständigkeit viel früher eintreten als bisher und von vornherein in viel ausgesprochenerer Weise.
Ähnliches wird sich auch im Artilleriekampf zeigen. Solange die Batterien versteckt stehen, indirekt schießen, und nur dem Streufeuer des Gegners ausgesetzt sind, wird sich allerdings eine geordnete Befehlführung auch in größeren Verbänden aufrecht erhalten lassen. Wenn sie aber offen auffahren müssen und unter beobachtetes Feuer genommen werden können, wird nicht nur eine einheitliche Verwendung größerer Verbände, sondern auch die Befehlserteilung in den Batterien selbst sehr bald unterbrochen und unter Umständen unmöglich werden. Züge und einzelne Geschütze werden selbständig feuern müssen, wie das schon 1870/71 sehr oft der Fall war, denn die Stimme des Batteriechefs wird nicht gehört werden, ein Weitersagen der Befehle wird in dem Lärm des Kampfes ebenfalls unmöglich und bald werden zahlreiche Vorgesetzte gefallen sein. Es ist meiner Überzeugung nach eine Selbsttäuschung, wenn man unter solchen Umständen an die Möglichkeit eines schulmäßig geleiteten Feuers glaubt. Die Selbständigkeit der einzelnen Unterführer und Leute, nicht die gemeinsame Leitung wird in letzter Linie den Ausschlag geben«.[66]
Die Untersuchung der Bedingungen des modernen Krieges fordert also von den Militärs die möglichste Entwicklung der Selbständigkeit des Soldaten. Soweit sie überhaupt zu erreichen ist, kann sie nur bei Weglassung aller unnützen Paraden und Drillplackereien, bei völliger Konzentration auf kriegsmäßige Ausbildung erlangt werden. In dieser militärischen Notwendigkeit liegt die stärkste Tendenz zur Ausnutzung der Dienstzeit zu rein militärischer Ausbildung der Soldaten, die die Verkürzung der Dienstzeit nicht nur ermöglicht, sondern direkt erfordert. Aber der Verzicht auf den Drill fällt den Offizieren nicht leicht. Darum suchen sie mit allerlei psychologischen Mätzchen zu beweisen, daß eben angesichts der schrecklichen Bedingungen der modernen Schlacht die kriegsmäßige Ausbildung des Soldaten mit dem Drill vereinigt werden muß. Generalmajor von Zeppelins Arbeit: »Die Bedeutung des moralischen Elements in Heer und Flotte«[67] wie er im Deutsch-Französischen Kriege in den gefährlichsten Situationen, als angesichts der näher rückenden Gefahr eine dumpfe, unsichere Stimmung die Soldaten zu ergreifen begann, ihre Aufmerksamkeit durch schlechte Witze und Exerzieren abzulenken suchte, und der Major Moraht, der an Stelle des Obersten Gaedke dem linksliberalen Bourgeois die Notwendigkeiten des Militarismus im »Berliner Tageblatt« plausibel macht, schrieb aus Anlaß der schweizerischen Manöver:
»Unbestreitbar ist es, daß Drill und Erziehung in jeder für den Krieg vorhandenen Armee in Friedenszeiten deshalb zur Anwendung kommen müssen, um die moralische Kraft derart zu festigen, daß die Soldaten den Eindrücken des Schlachtfeldes nicht erliegen«.[68]
Darauf antwortet mit Recht Bleibtreu:
»Was man hierbei auskünsteln möchte, geht im Wirrwarr des Ernstkampfes sofort verloren, wo der Kämpfer – gerade so wie der Lebenskämpfer den Ballast der Schule – erst allen ihm eingepaukten Unsinn verlernen muß, ehe er sich praktisch zurecht findet … Gerade für das aufgelöste Gefecht müßte der ›Mann‹ jahrelang gedrillt werden, um nicht der Hand der Führer zu entfallen? Frommer Wunsch! Bei Nervenzerrüttung und Todesgefahr versagt jede äußere Disziplin, kein Offizier reißt in Krisen die Mannschaft vom Boden auf, wenn sie nicht innerem Impuls gehorcht, nun vollends, wenn die meisten Offiziere gefallen«.[69]
Eben die Sorge um diese selbständigen Impulse ist es, die den Militärs keine Ruhe läßt. In ihr äußert sich dumpf das Gefühl, daß die politischen Bedingungen eines imperialistischen Krieges ganz anders sind als die eines Kampfes, von dessen Notwendigkeit der Soldat überzeugt ist. Und darum wird der Militarismus trotz der offenkundigen Aufforderungen des Krieges vom Drill nicht lassen. Aber eine solche Notwendigkeit, die in den grundsätzlichen Aufgaben des Heeres begründet ist, wird sich in dieser oder jener Form demnach den Weg bahnen.
So sehen wir den modernen Kapitalismus von einem Gegensatz beherrscht, wie er sich schärfer nicht denken läßt. Die Aufgaben des Heeres als Knechtungs- und Kampforgan stehen sich schroff gegenüber. Die eine fordert den weiteren demokratischen Ausbau des Volksheeres, die andere das krampfhafte Festhalten an den Überbleibseln des Söldnerheeres. Sich allein überlassen, würde der Kampf der beiden Tendenzen unausgefochten bleiben, würde der Gegensatz verkleistert werden. Aber der Militarismus ist kein Gebilde für sich. In den inneren Kampf seiner Tendenzen greift von der einen Seite das Gespenst des Krieges, von der anderen Seite der Klassenkampf des Proletariats ein. Indem das Proletariat die Losung der Miliz mit der vollen Energie in den Mittelpunkt der Erörterung rückt, unterstützt es die auf die Demokratisierung der Armee hinauslaufenden Tendenzen im Militarismus.
Die proletarische Milizforderung ist also keine auf dem Wege der Spekulation errungene, oder aus der Rumpelkammer der kleinbürgerlichen Illusionen mitgenommene Idee, sondern die sich aus der Entwicklung des Militarismus ergebende Formel seiner weiteren Entwicklung. Sie in ihrer Bedeutung zu zeigen, sie von dem illusionären Beiwerk ihrer kleinbürgerlichen Periode zu säubern, wird die Aufgabe der letzten Artikelserie sein.
Die Sozialdemokratische Milizforderung.
2. Miliz, Demokratie und Klassenkampf.
Die Behandlung der Milizforderung als der Zusammenfassung der Tendenzen zur Demokratisierung der Heeresorganisation, die sich aus der allgemeinen wie aus der Militärentwicklung ergeben, ist von großer Bedeutung zunächst für die Erfassung der Miliz als einer Heeresform, die sich organisch aus der heutigen entwickelt. Von diesem Standpunkte aus läßt sich die allgemeine Milizforderung in der Agitation verwirklichen als Forderung militärischer Jugenderziehung, kurzer Dienstzeit, Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit, mit einem Worte: die Forderung der Miliz wird durch diese ihre Behandlung vom Himmel der Abstraktion auf den Boden der praktischen Agitation gestellt. Von demselben historischen Standpunkt gesehen, enthüllt die Miliz uns ihr rätselhaftes politisches Antlitz.
Die Miliz ist die demokratische Form der Heeresorganisation, wie das Parlament des allgemeinen Wahlrechts mit verantwortlicher Regierung die demokratische Form der Regierung eines Landes ist. Aber nur kleinbürgerliche Demokraten aus der alten Zeit, wo ihnen die schmutzige Praxis der kapitalistischen Politik den Selbstbetrug demokratischer Illusionen nicht in den bewußten Betrug anderer verwandelt hat, glaubten, daß im Kapitalismus volle Demokratie möglich ist, daß die Demokratie die Klassenherrschaft aufhebt. Und wie sie von der Demokratie diese Wunderwirkungen erwarteten, so auch von ihrer Teileinrichtung, von der demokratischen Wehrorganisation: der Miliz. Die Miliz sollte dem Volke mechanisch die Entscheidung über die innere und äußere Politik des Landes geben. Die Regierung würde dank der Miliz zu einem wirklichen Ausführungsorgan der Mehrheit des Volkes. Sie könnte nichts gegen das Volk im Innern vornehmen, weil sie in der Miliz auf einen unüberwindbaren Widerstand gestoßen sein würde. Sie müßte auf jede Eroberungspolitik verzichten, denn die Miliz ließe sich nicht zur Unterdrückung anderer Völker gebrauchen. Sie würde sich desto weniger mißbrauchen lassen, da doch in einem demokratischen Staate die Entscheidung über Krieg und Frieden beim gesamten Volke liegen würde, das kleinbürgerliche Volk sich aber für ein Lämmlein hielt, das niemandem das Wasser trübt. Diese kleinbürgerliche Auffassung der Miliz war in den Anfängen der Arbeiterbewegung auch von ihr akzeptiert, denn, obwohl äußerlich sich von der kleinbürgerlichen Demokratie schon trennend, war die damalige sozialdemokratische Arbeiterschaft noch stark durch die kleinbürgerliche Ideologie beeinflußt. Wie frei von ihr in der Milizfrage damals auch schon ein Engels war, die Masse der sozialdemokratischen Arbeiterschaft schöpfte ihre Auffassung über die Milizfrage nicht aus den aphoristisch durch Engels hingeworfenen Andeutungen, aus denen erst eine marxistische Auffassung der Milizfrage zu entwickeln war, sondern aus den bürgerlichen Milizschriften. Und wie wenig sie sich des Gegensatzes zu ihnen bewußt war, beweist das Referat Liebknechts, das er auf dem fünften Vereinstag der deutschen Arbeitervereine zu Nürnberg im Jahre 1868 über Wehrfragen hielt. Das Referat begann mit der Feststellung der Gleichartigkeit der Milizforderung bei der bürgerlichen und Arbeiterdemokratie:
»Sie werden nicht von mir verlangen« – führte Liebknecht aus – »daß ich die vorliegende Frage nach allen Seiten hin theoretisch erschöpfend behandle. Es ist dies in neuerer Zeit von der demokratischen Tagespresse in Broschüren und in Volksvertretungen so gründlich geschehen, daß man mit Recht sagen kann: Die Wehrfrage ist theoretisch entschieden und bedarf nur noch der praktischen Lösung«.[70]
Gemäß dieser Einleitung bewegt sich das ganze Referat Liebknechts in rein demokratischen Gedankengängen, es fehlt in ihm auch der leiseste Hinweis auf das Verhältnis des Kapitalismus zur Milizfrage. Als Gegner der Miliz werden nur der Absolutismus und die Junker genannt.
Aber die soziale Entwicklung schritt über diese kleinbürgerlichen Illusionen hinweg. Die Bourgeoisie wurde zu einem rabiaten Verfechter des Militarismus als der Waffe gegen das Volk, und die Praxis der demokratisch entwickeltsten Staaten zeigte, daß das Kapital der demokratischen Entwicklung Schranken zu setzen und die bestehenden demokratischen Institutionen in seine Herrschaftsmittel zu verwandeln weiß. Die Politik der kapitalistischen Klassen in demokratischen Staaten beweist, daß der Kapitalismus jeden konsequenten Ausbau der Demokratie, der den Massen eine ruhige Entscheidung über ihre Geschicke überlassen würde, nicht vertragen kann. Wie er in Deutschland das allgemeine Wahlrecht bedrohte für den Fall, daß die Arbeitermasse zum ausschlaggebenden Faktor im Reichstag werden könnte, wie er in England und Frankreich in Oberhaus und Senat ein Gegengewicht gegen das Parlament schafft und der konsequenten Demokratisierung des Parlamentswahlrechts entgegentritt, so wird der Kapitalismus bis aufs äußerste den Tendenzen auf volle Demokratisierung des Heeres, auf die Verwirklichung der »unverfälschten« Demokratie sich widersetzen. Die Miliz als Wehrorganisation, die auch formell dem Volke die Entscheidung über Krieg und Frieden gibt, ist im Rahmen des Kapitalismus ebensowenig zu verwirklichen, wie die volle Demokratie überhaupt. Und es ist eben der Glaube an die Vereinbarkeit der Demokratie mit dem Kapitalismus, der Bestandteil einer kleinbürgerlich-demokratischen Ideologie, die unserem französischen Genossen Jean Jaurès seine Milizauffassung diktiert hat. Wenn er in seinem äußerst interessanten Werke »L'armee nouvelle«[71] die Milizidee mit der völligen Abkehr Frankreichs von den Bahnen der imperialistischen Politik verknüpft, an die Möglichkeit einer nicht nur prinzipiell friedlichen, sondern reinen Verteidigungspolitik Frankreichs glaubt, so hat diese Auffassung der Miliz nichts mit der kapitalistischen Wirklichkeit zu tun. Sie ist eine Utopie, denn der französische Kapitalismus wird ebenso an der imperialistischen Politik festhalten, wie jeder andere, bis das Proletariat ihm das Ruder aus den Händen nimmt. Wenn wir aber mit Engels die unverfälschte Miliz auf die Zeit des Zukunftsstaates verschieben, für den sie auch nur als Übergangsmaßregel in Betracht kommt, da eine stabilisierte sozialistische Gesellschaft, die nur international möglich ist, keine Wehrorganisation braucht, so bedeutet das keinesfalls einen Verteidigungsnihilismus, keinen Verzicht auf die Milizforderung, als eine heute schon zu verwirklichende Forderung. Es steht um sie ebenso, wie um andere unserer im Rahmen des Kapitalismus verwirklichbaren Forderungen. »Es sind lauter Forderungen, die, soweit sie nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben, bereits realisierbar sind« – sagt Marx.[72] Die Bourgeoisie wird niemals die konsequente Durchführung der Miliz zulassen, solange sie die Macht in den Händen hat, aber sie wird nicht umhin können, unter dem Druck der Massen und der militärischen Notwendigkeiten sie stückweise zu verwirklichen und so den entscheidenden Einfluß der Massen zu steigern. »Soweit sie nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben«, ist die Milizforderung verwirklichbar.
Ihre Folgen werden aber ganz andere sein, als sich die demokratischen Illusionisten sie vorgestellt haben. Sie hofften, daß die Miliz die ruhige Abkehr der Staaten von der Reaktion im Innern und der Eroberungspolitik nach außen hin herbeiführen wird. Diese Hoffnung ist trügerisch. Die Bourgeoisie findet immer Mittel, eine demokratische Institution zu mißbrauchen. Es genügt ihr, im Innern die Milizen aus wenig entwickelten, also reaktionären Gegenden zu verwenden, – worauf schon im Jahre 1898 Genosse Schippel in seiner interessanten Auseinandersetzung mit Kautsky hinwies – was die Praxis der Schweizer Bourgeoisie trefflich bestätigt. Sie wird bei der Demokratisierung des Heeres gleichzeitig sich Polizeisöldnertruppen schaffen, was ihr von bürgerlichen Milizanhängern schon zugestanden wird, die, durch militärische Notwendigkeiten zur Verfechtung der Milizforderung getrieben, gleichzeitig nach Garantien gegen das Volk suchen. Was die äußere Politik betrifft, so wird die Bourgeoisie selbst bei der weiteren Demokratisierung der Heeresorganisation am Imperialismus festhalten. Erstens hofft sie dabei auf die Einwirkung der nationalistischen Idee, dieser letzten Lebenslüge des Kapitals. Zweitens: wie sehr sie auch den Moment des Kriegsausbruches fürchtet, so hofft sie durch das Herrschen des Kriegsterrorismus über ihn hinwegzukommen, und im Kriege rechnet sie auf den Selbsterhaltungstrieb der Soldaten, der jeden von ihnen angesichts der Todesgefahr zur höchsten Anstrengung aller Kräfte führen wird. Über die Haltung des Volkes im Lande selbst, über die Haltung der Soldaten in den langen Stockungen, die ein Krieg z. B. gegen die französischen Festungsgürtel verursachen muß, über die Haltung des ganzen Volkes nach dem Weißbluten im Kriege, wie über die Möglichkeit der Massenaktionen vor dem Kriege setzt sie sich hinweg, und sie würde sich selbst bei dem weiteren Ausbau des Heeres in der Richtung der Demokratie darüber hinwegsetzen, weil sie es muß. Keine Klasse verzichtet von selbst auf ihre Politik. Welche Bedeutung besitzt angesichts dessen die Milizforderung? Dieselbe, wie alle unsere demokratischen Forderungen. Sie bewirken keine Milderung der Klassengegensätze, sie schaffen keinen einzigen Gegensatz der kapitalistischen Gesellschaft aus der Welt; aber sie steigern die Macht des Volkes. Je mehr die Armee demokratisiert ist, je mehr sie sich mit den wehrhaften Männern des Volkes deckt, desto mehr nötigt sie das Kapital, solange es sich nicht um seine Lebensinteressen handelt, dem Volke Zugeständnisse zu machen, und wo es aufs Biegen oder Brechen ankommt, dort hebt sie die Fähigkeit des Volkes, dem Klassengegner die Spitze zu bieten. Je mehr die Demokratisierung des Volkes fortgeschritten ist, desto mehr werden die Großmächte auf das Aufbauschen jedes kleinen Gegensatzes verzichten; wo sie aber hart auf hart aneinander geraten, wird bei allen den günstigen Momenten, die die Bourgeoisie in ihrem Selbsttäuschungsdrang übersehen muß, die jedoch der Arbeiterklasse die Möglichkeit des Vorstoßes gewähren, die Macht der Arbeiterklasse, des Volkes in Waffen, zum Kampfe für ihre Interessen wachsen. Nicht eine ruhige Entwicklung, ein Hineinwachsen in alle Wohltaten der Demokratie, sondern die Verschärfung der Klassenkämpfe bis zum heißesten Kampf um die Macht wird die Folge der Demokratisierung des Heeres sein.
3. Die Miliz und der Kampf um die Macht.
Die Milizforderung hat die Sozialdemokratie von der bürgerlichen Demokratie geerbt, und trotzdem hat Karl Kautsky recht, wenn er einmal behauptet, daß bei keiner Forderung des Minimalprogramms der Sozialdemokratie so der ganze Gegensatz der Arbeiterklasse zum Kapital zutage tritt, als im Kampfe für die Miliz. In dieser Tatsache drückt sich das Gefühl der besitzenden Klassen aus, daß ihre Herrschaft mit der fortschreitenden Entwicklung immer weniger auf ökonomischer Notwendigkeit, immer mehr auf reiner Gewalt beruht. Aber diese Gewalt, auf die sich die Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse stützen will, ruht in den Händen der Arbeiterklasse, die als Heer gegen sich selbst kämpfen soll. Alle Zauberkünste, die das Kapital aus den Traditionen des Söldnerheeres schöpft und dem Volksheere aufzupfropfen sucht, werden nicht genügen, um die Arbeiterklasse dauernd zu ihrem eigenen Gefängnisaufseher zu machen. Wie die Tatsache, daß die gesellschaftliche Produktion immer mehr von der Person des Kapitalisten unabhängig wird, der als Aktienbesitzer zum bloßen Verzehrer des Arbeitsproduktes wird, während die Arbeiterklasse immer mehr zum einzig entscheidenden Faktor der Produktion wird, immer mehr den Klassengegensatz zuspitzt, so bringt die Tatsache, daß die Masse der Arbeiterklasse immer mehr zum entscheidenden Faktor im Heere wird, das Moment immer näher, wo das Heer als Mittel zur Beherrschung der Arbeiterklasse versagen muß. Die von der Bourgeoisie organisierte Gewalt wird zur Gewalt gegen die Bourgeoisie. Das wird kommen, ob die Bourgeoisie sich dem demokratischen Ausbau des Heeres widersetzt oder nicht. Denn schließlich läßt sich in zweijähriger Dienstzeit bei allem Drill das Volksbewußtsein der Masse im bunten Tuch nicht ausrotten. Die Demokratisierung der Armee ist nur ein Mittel zur Beschleunigung dieser Entwicklung, die auch ohne sie kommen muß. Da aber der Arbeiterklasse am möglichst schnellen Abwerfen des Joches gelegen sein muß, gewinnt für sie die Forderung der Miliz und der Kampf um sie mit jedem Jahre, mit dem die Herrschaft des Kapitals unerträglicher, weil historisch immer weniger notwendig wird, eine größere Bedeutung.
Jahrzehntelang war diese Bedeutung der Miliz als Kampfobjekt des Proletariats in unserem Bewußtsein zurückgedrängt. Keine einzige Forderung unseres Programms wurde so wenig in der sozialdemokratischen Literatur begründet, in der sozialdemokratischen Agitation berücksichtigt. Das hat seine sehr wichtigen historischen Gründe. Nach dem Jahre 1871 schien, trotz des fortdauernden Rüstens, der europäische Friede gesichert. Nur an den Grenzmarken der kapitalistischen Zivilisation donnerten die Kanonen. Das Militärwesen entwickelte sich langsam ohne Sprünge, was die Bedeutung der Heeresorganisationsfragen zurückdrängte. Und wie die Entwicklung des Militarismus, so schien auch die der Arbeiterbewegung zu sein. Allmähliches Kräftesammeln und Vordringen war ihr Charakter; weit und breit kam der Gedanke zum Durchbruch, ihr Sieg sei nur noch als allmählicher Aufstieg denkbar. Die Fragen des Kampfes um die Macht, von denen eben die Milizfrage einen Teil bildet, mußten an Bedeutung verlieren. Aber die kapitalistische Entwicklung zerschlug diese Illusionen. Staat gegen Staat, Klasse gegen Klasse – so heißt jetzt die Parole. Je mächtiger der Drang des Kapitals nach dem Profit, desto schärfer auf dem Weltmarkt, desto schärfer der Kampf um neue Ausbeutungsgebiete. Der Imperialismus hat die Gefahr eines europäischen Krieges akut gemacht. Er hat das Tempo der Rüstungen so beschleunigt, daß die Frage nach dem Kampfe gegen sie zur wichtigsten Frage der internationalen Arbeiterbewegung wurde. Gleichzeitig steigerte sich der Kampf des Kapitals und der der Arbeiterklasse immer mehr: den mächtigen Arbeiterorganisationen stehen mächtige kapitalistische Organisationen gegenüber. Der kapitalistische Staat wirft auf die Schale der kapitalistischen ökonomischen Machtmittel die Gewalt des Heeres. Sollen wir uns als Kanonenfutter gebrauchen lassen wegen afrikanischer und asiatischer Kolonien? Sollen wir uns als Büttel gegen unsere Brüder gebrauchen lassen? Diese Fragen tauchen immer hartnäckiger, immer stärker auf, und die Blicke der Arbeiterklasse wenden sich den Heeresfragen zu. Die Haltung der besitzenden Klassen zeigt ihnen, daß diese, solange sie am Ruder bleiben, auf das Rüsten nicht verzichten werden. Es gilt also, auf dem Boden der Rüstungen die Macht der Arbeiterklasse zu stärken. Ist das möglich? Das Studium der Heeresgeschichte zeigt die starke, dem Militarismus innewohnende Tendenz zur Demokratisierung, was nichts anderes ist als die Tendenz zur Stärkung der Macht des Volkes im Heere. Diese Tendenz mit allen Kräften unterstützen, heißt den Kampf um die Miliz führen. Die Demokratisierung des Heeres bedeutet nicht die Eindämmung der Rüstungen, nicht die Abschaffung der Möglichkeit der Niederhaltung des Volkes vermittels der Gewalt; aber sie wird das Nahen des Momentes beschleunigen, wo die Bajonette, auf denen die Bourgeoisie sitzt, sich zu rühren beginnen. Indem die Milizforderung so den Weg zur Macht zeigt, bildet sie unsere trefflichste Losung im Kampfe gegen den Imperialismus, das Losungswort des Kampfes unserer Tage. Das Kapital sucht den Kampf um neue Ausbeutungsgebiete in den Kampf um nationale Interessen umzulügen. Immer, wenn es durch seine imperialistischen Interessen in Gegensatz zu anderen kapitalistischen Mächten geraten ist, appelliert es an das Volk: verteidige deinen heimatlichen Boden! Die Forderung der Miliz wirft diesen Schwindel über den Haufen. Wir haben keinen heimatlichen Boden, weil wir besitzlose Proletarier sind, antworten die Verfechter der Milizidee. Aber gut, wir wollen der Bourgeoisie glauben, daß eine fremde Bourgeoisie uns noch ärger ausbeuten würde. Wir wollen also alle Wehrkräfte des Volkes mobilisieren: deshalb her mit der Miliz, die allein imstande ist, das zu bewirken! Aber die Bourgeoisie kämpft aus Leibeskräften gegen die Milizforderung. Und dadurch erlaubt sie uns, dem Volke an offenkundigen Tatsachen zu zeigen, daß es sich für sie nicht um die Verteidigung des heimatlichen Bodens, sondern um den Raub fremden Bodens handelt. Es gibt keinen besseren Probierstein für den Imperialismus als die Milizforderung.
Der Kampf für die Miliz bedeutet für das Proletariat den Übergang von der Verteidigung zum Angriff. Den Protesten gegen die Rüstungen wird der Angriff gegen die Rüstungspolitik folgen. Indem die Sozialdemokratie die Forderung der Miliz auf ihr Banner schreibt, gibt sie dem Proletariat ein greifbares, den Massen verständliches, nächstes Ziel. Miliz bedeutet nicht nur Protest gegen Rüstungen, sondern Kampf für einjährige Dienstzeit, Kampf gegen die militärische Justiz, gegen den menschentötenden Drill, gegen das Elend des Soldatenlebens. Wie sollten da nicht die Energien der Volksmassen im Kampfe für solche Ziele wachsen! Und da die Milizforderung gänzlich auf dem Boden der wirklichen Entwicklung ausgefochten wird, wie sie sich in den Rüstungen äußert, erlaubt sie, in alle Dunkelkammern und Schlupfwinkel des Kapitalismus hineinzuleuchten, die Fenster seiner Kasernen weit aufzureißen und dem Proletariat den Weg zum Kampfe um die Macht zu zeigen. Die Miliz wird zur Lösung der uns bevorstehenden Kämpfe. Diese Kämpfe aber werden nicht im Geiste der fruchtlosen, sentimentalen Utopistereien der nervenschwachen friedliebenden Teile der Bourgeoisie ausgefochten, sondern im Geiste des proletarischen Kampfes um den Sozialismus, im Sinne der kampfesmutigen Klasse der Zukunft, für die der kapitalistische Friede kein geringerer Greuel ist als der kapitalistische Krieg.
Gegen die Demokratie.
Hans Delbrück: Regierung und Volkswille. Berlin 1914. Verlag Stilke. 203 S. Martin Spahn: Deutsche Lebensfragen. München 1914. Verlag Kösel. 203 S.
Seit dem Beginn des preußischen Wahlrechtskampfes verschwinden die Verfassungsfragen nicht mehr aus den Spalten der politischen Presse. Der Kampf um das preußische Wahlrecht richtet sich gegen einen Pfeiler der heutigen Verfassung, die formell die Herrschaft des Junkertums und in Wirklichkeit die des gesamten Großkapitals bedeutet. Die theoretische Begründung dieser Herrschaft ist demnach keine akademische Frage mehr, sie hat eine aktuell-politische Bedeutung bekommen. Die Herrschenden fühlen, daß es nicht genügt, zu erklären: ich liebe und besitze, laßt mich schlafen! – sie fühlen, daß es nötig ist, den unentschiedenen Elementen klar zu machen, diese Herrschaft sei die einzig mögliche und die beste. Aber die, die sie ausüben, sind zu schwerfällig, um diese »Aufklärungsarbeit« zu leisten. Sie mieten dazu Söldner in der Art des Reichsverbandes, die dem Volke die Unübertrefflichkeit aller reaktionären Institutionen, aller reaktionären Maßregeln beweisen sollen. Und der Reichsverband besorgt diese Arbeit im Schweiße seines Angesichts. Über die von ihm erreichten Erfolge mögen sich seine Geldgeber Illusionen machen. Vielleicht glauben sie wirklich, daß man dem »Volke« alles weismachen kann, wenn man nur gehörig brüllt und fälscht. Denn sie glauben von den Volksmassen wahrhaftig, daß sie jedem Demagogen zum Opfer fallen. Der Siegeszug der Sozialdemokratie ist ihnen doch nichts anderes als der Siegeszug der »Aufwiegler«, »Hetzer« usw. Jedenfalls fühlen die gebildeteren Elemente der herrschenden Klassen, daß man bei geistig regsamen Schichten auf diesem Wege wenig erreichen kann. Sie beginnen also auf eigene Faust einen Krieg gegen die Demokratie, der »höheren Ansprüchen« entsprechen soll. Die beiden Bücher der Berliner und Straßburger Professoren verdanken ihr Entstehen diesem Gefühl der Notwendigkeit eines Geisteskampfes. Das Buch Delbrücks ist breiter und systematischer angelegt als das Spahnsche. Es stellt sich eine hohe Aufgabe. Herr Delbrück will erstens die Unmöglichkeit der Demokratie überhaupt, und dann ihre Überflüssigkeit in Deutschland beweisen. Den zweiten Teil seiner Ausführungen könnte er sich sparen, wenn der erste gelungen wäre. Daß er ihn trotzdem geschrieben hat, ist nicht zu bedauern, weil dabei sehr interessante Streiflichter auf die politische Verfassung Deutschlands fallen und obendrein ein sehr guter Einblick in die Geistesverfassung der Kreise gewährt wird, zu deren Leuchten Delbrück unzweifelhaft gehört. Professor Spahn stellt die deutschen politischen Verhältnisse direkt in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Da er zum rechten Flügel der Zentrumspartei gehört, bilden sie eine Ergänzung der Delbrückschen Arbeit, indem sie zeigen, wie gering der Unterschied zwischen der politischen Auffassung der Freikonservativen und denen der katholischen Bourgeoisie ist. Herr Delbrück entledigt sich seiner Aufgabe in einer etwas zu leichten Weise. Als Historiker eilt er mit Sieben-Meilen-Stiefeln die ganze geschriebene Geschichte der Menschheit von der der antiken Staaten bis zu der der bürgerlichen Demokratie Englands, der Vereinigten Staaten und Frankreichs, um bei jeder Etappe seiner Wanderung triumphierend zu fragen: wo ist denn hier die Demokratie? Und obwohl man an jeder seiner historischen Darlegungen Korrekturen vornehmen könnte, die beweisen würden, wie wenig dieser Kriegshistoriker befähigt ist, durch die äußere Schale hindurch in den Kern der historischen Vorgänge zu dringen, so kann man ihm ohne weiteres zustimmen: jawohl, alles, was bisher den Namen Demokratie trug, war Oligarchie, die Herrschaft einer kleineren oder geringeren Schicht über große unterjochte Volksmassen. Aber abgesehen von der Tatsache, daß, je größer die Schicht war, desto geringer ihre politischen Taten waren, was uns die athenische Demokratie heute noch bewundern läßt, beweist diese Beweisführung nichts, absolut nichts gegen die Demokratie, und sie bereichert unsere Erkenntnis des Problems um keinen Deut. Sie beweist nur, daß die Demokratie bisher sozial unmöglich war. Daß dies der Fall war, dazu bedarf es aber wirklich nicht erst gelahrter Abhandlungen. Jeder, der in der Geschichte kein Sammelsurium zufälliger Vorkommnisse, die vermieden werden könnten, sieht, sondern notwendige Entwicklungsreihen, wußte das auch ohne Herrn Delbrück. Die athenische Pseudodemokratie basierte auf Sklavenarbeit. Ihre große geistige Entwicklung war unmöglich, ohne daß eine kleine Schicht die Arbeit von hunderttausenden Sklaven ausbeutete, denn bei den damaligen Produktionsverhältnissen würde die Beschäftigung aller im Wirtschaftsleben ihnen keine intensive geistige Arbeit erlauben: die Entwicklung der Produktivkräfte war zu gering, als daß sie erlauben könnte, in kurzer Zeit die notwendige physische Arbeit zu leisten und Muße für geistige Beschäftigung übrig zu lassen. Oder wie konnte die Rede sein von einer Entscheidung der wichtigsten Angelegenheiten durch das Volk in dem Deutschland des 17. Jahrhunderts, in dem sich das wirtschaftliche Leben zum guten Teil in provinziellen Rahmen abspielte, also die Volksinteressen zersplittert waren, und diese auch bei dem damaligen Zustand der Verkehrswege unmöglich in gleichem Maße zum Bewußtsein der Mehrheit von Volksgenossen gelangen konnten. Um irgendwelche Schlüsse von früheren auf die heutigen Verhältnisse zu ziehen, müßte Herr Delbrück schon den Beweis führen, daß eben wie in vergangenen Zeitaltern, so auch jetzt in dem Zeitalter der National- und Weltwirtschaft, der ungeheuren Entwicklung des Verkehrs- und Nachrichtenwesens es unmöglich ist, daß die breitesten Volksmassen Verständnis für ihre wichtigsten Angelegenheiten gewinnen. Statt das zu tun, berufen sich die Herren Delbrück und Spahn auf die nackte Tatsache, daß die modernen Demokratien die Herrschaft kleiner Cliquen bedeuten. Delbrück geht weiter und sucht unter Berufung auf das Werk des früheren Sozialdemokraten Michels (Zur Psychologie des Parteiwesens in der Demokratie 1910) zu beweisen, daß selbst in der Arbeiterbewegung, die sich die Eroberung der Demokratie zum Ziel steckt, keineswegs die Demokratie herrscht, daß starke bureaukratische Tendenzen in ihr bestehen. Auch diese Beweisführung ist höchst oberflächlich. Herr Delbrück scheint nicht zu wissen, daß die modernen »demokratischen« Staaten keineswegs demokratisch organisiert sind. In Frankreich und Amerika gewährt die Verfassung der Bureaukratie, in Amerika dem Senat usw. die Möglichkeit, sich dem »Volkswillen« zu widersetzen. Aber auch wenn das nicht der Fall wäre, so gibt die wirtschaftliche Abhängigkeit des Proletariats vom Kapital demselben die Möglichkeit, den Willen der Volksmassen zu fälschen, zu korrumpieren; das durch die Herrschaft des Kapitals verursachte Elend der Volksmassen erschwert es ihrer Mehrheit, die Bildung zu erobern, die nötig ist zur selbständigen politischen Betätigung, was auch der in der Arbeiterbewegung entstehenden Bureaukratie erlaubt, selbstherrlich die Partei des Proletariats zu beherrschen. Alles das spricht also nicht gegen die Demokratie, sondern für ihren Ausbau und für die von der Sozialdemokratie immer verfochtene Auffassung, daß ohne Aufhebung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln keine wirkliche Herrschaft im Staate möglich ist: denn dieselbe Masse, die im wirtschaftlichen Leben durch das Kapital beherrscht wird, kann nicht im Staate das Kapital beherrschen.
Da die Beweisführung Delbrücks nichts als historisch betünchte Sophistik darstellt, die ganz unhistorisch ist, könnte man sich jedes Eingehen auf seine Beweise, unter gegebenen Umständen sei also die deutsche »unparteiische« Regierung die beste, sparen. Und wir wollen auch nicht auf diese Darstellung eingehen, da dies doch jeden Tag in der sozialdemokratischen Presse geschieht, indem sie den bürgerlichen Lobsängen von der Herrlichkeit die deutsche Wirklichkeit gegenüberstellt. Eine Frage nur wollen wir noch aufwerfen. Selbst wenn die politischen Verhältnisse der demokratischen Staaten ganz so aussehen würden, wie es Herr Delbrück darstellt, so würde das mitnichten gegen den Kampf der deutschen Arbeiterklasse um die Demokratie sprechen. Denn erstens bietet der demokratische Staat ganz verschiedene Bedingungen für den Kampf der Arbeiterklasse, abhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung des betreffenden Landes. Würde die amerikanische Arbeiterklasse nicht jahrzehntelang unter dem Einfluß der Tatsache gestanden haben, daß jeder energische Arbeiter die Aussicht hatte, selbständiger Farmer zu werden, so würde sie heute nicht aus national und kulturell so sehr verschiedenen Massen bestehen, ihr Einfluß auf die Staatsgeschäfte wäre ganz anders, die nordamerikanische Republik wäre also anders. Würde das Monopol auf dem Weltmarkt und andere Umstände, die wir hier nicht darstellen können, die englische Arbeiterklasse nicht dem Einfluß der Bourgeoisie ausgeliefert haben, so würde die englische Demokratie auch ganz anders aussehen. Dasselbe wäre der Fall, wenn die französische Arbeiterklasse eine kompakte Fabrikarbeiterschaft darstellen würde. Also: man kann nicht die Resultate selbst der bürgerlichen Demokratie, wie gewisse soziale Bedingungen sie zeitigen, auf ein Land mit anderen sozialen Verhältnissen übertragen. Daß die Eroberung selbst der bürgerlichen Demokratie in Deutschland etwas andere Folgen haben würde, als wir sie in den bestehenden demokratischen Staaten sehen, braucht nicht erst bewiesen zu werden. Das beweisen doch am besten die besitzenden Klassen in Deutschland selbst, indem sie sich der Entwicklung zur Demokratie so sehr mit Händen und Füßen widersetzen. Aber das ist nur die eine Seite der Frage, warum die Arbeiterklasse den Ratschlägen der Herren Delbrück und Spahn kein Gehör schenken wird. Die andere Seite bildet die Tatsache, daß die Arbeiterklasse nicht anders um den Sozialismus kämpfen kann, als indem sie für den Ausbau der Demokratie kämpft. Der Sozialismus ist keine Frucht, die von einem auf einmal ausbrechenden Volkssturm vom Baume der Entwicklung reif heruntergeschüttelt werden kann. Der Volkssturm muß immer wieder entfacht, organisiert werden, bis er allgemein wird, die Arbeiterklasse muß im täglichen Kampfe selbst reif werden zur Leitung der Gesellschaft, bis diese für eine sozialistische Organisierung reif wird. Und das, wogegen die Masse ankämpfen kann, sind eben all die Bedrückungen, die ihr seitens der »besten« deutschen Staats- und Wirtschaftsverfassung zuteil werden. Aber das sind für Herrn Delbrück und Spahn schon böhmische Dörfer, denn sie glauben daran, daß die Massen niemals reif werden können. Und gegen den Glauben hilft nichts. Er macht selig und blind.
Die beiden Bücher sind letzten Endes gegen die Arbeiterbewegung gerichtet. Trotzdem werden politisch geschulte Arbeiter sie mit Nutzen lesen, denn es ist gut, mit dem Gegner selbständig die Klinge zu kreuzen.
Wofür sollen wir bluten?
Die Entscheidung naht.
In diesen Stunden oder Tagen wird die Entscheidung darüber fallen, ob Europa sich demnächst in ein Schlachtfeld verwandelt. Rußland hat schon gegen Österreich mobilisiert. Jeden Augenblick erwartet man, daß auch die Mobilisation an den Grenzen Deutschlands beginnt. In Berlin beraten die höchsten Stellen den Ernst der Lage. Heute tritt der Bundesrat zusammen. Wie sehr man mit der Wahrscheinlichkeit der deutschen Mobilisation rechnet, zeigt die Tatsache, daß der halboffiziöse »Lokal-Anzeiger«, der in engster Fühlung mit der Regierung steht, Extrablätter mit der Ankündigung der Mobilisation bereit hält. Gestern mittag gelangte ein Teil von ihnen auf die Straßen Berlins, worauf der »Lokal-Anzeiger« zugeben mußte, daß er die Nachricht von der Mobilisation gedruckt auf Vorrat hält. Die Mobilisation ist zwar noch kein Krieg, aber ein bedeutsamer Schritt zum Weltkriege. Dann stehen die Heere an den Grenzen und dann kann nur ein Wunder – wie die »Vossische Zeitung« sagt – den Frieden retten. Denn dann würde Deutschland losschlagen, um den Vorsprung auszunützen, den es durch die Schnelligkeit seiner Mobilmachung vor Rußland voraus hat. Und was sonst noch höchst beachtenswert ist, die Stimme des Diplomaten wird durch die des Militärs verdrängt. Mars regiert die Stunde!
Arbeiter! In der ernstesten Stunde eures Lebens sprechen wir zu euch. Vielleicht nicht lange mehr werden wir frei und frank zu euch sprechen können. Denn der Mobilisierung wird die Knebelung der Presse folgen, wie es in Österreich schon eingetreten ist. In dieser Stunde vor der Entscheidung wollen wir mit euch zusammen die Frage beantworten: Wie war es möglich, daß alles so kam, warum sollen wir mündigen Menschen die Entscheidung darüber, ob wir unser Leben opfern wollen und wofür wir es opfern sollen, nicht selbst fällen?
Wer entscheidet über unser Leben?
»Die Entscheidung über Leben und Wohlfahrt von 300 Millionen Menschen wird im geheimnisvollen Dunkel von einer kleinen Zunft getroffen, von deren Tätigkeit nur immer Bruchstücke bekannt werden, und die Elemente zur Beurteilung dessen, was voraussichtlich kommen wird, sind nur Wenigen zugänglich«, so schildert ein bürgerliches Blatt, die »Frankfurter Zeitung«, die Lage. Nicht nur die Arbeiter Rußlands, des Landes des Absolutismus, die Arbeiterklasse des zivilisierten Deutschlands, die des republikanischen Frankreichs soll dulden, daß eine Handvoll bornierter Diplomaten und Militärs, denen sie mit dem tiefsten Mißtrauen gegenübersteht, über die Geschicke der Volksmassen entscheiden. Schon diese einzige Tatsache genügt, um zu beweisen, daß es nicht unsere Lebensinteressen sind, die die Gefahr des Weltkrieges heraufbeschworen haben. Würden wirklich die Interessen der breiten Volksmassen den Krieg erforderlich machen, dann würden die Regierungen uns nicht zumuten, daß wir uns auf einen Befehl von oben wie eine Herde Schafe in den Krieg treiben lassen.
Erfordern die »Lebensinteressen der Nation« den Krieg?
Es sind die Interessen der Ausbeuter, die diese größte Kriegsgefahr herbeigeführt haben. Das sieht jeder, der sehen kann und will. Die gesamte bürgerliche Presse sucht aber die Sache darzustellen, als handle es sich um die Lebensinteressen der Nation. Sie hat dabei den Schein für sich. Als einer der Gegner, mit dem wir zu ringen hätten, steht der russische Zarismus da. Der Haß, den wir Vorkämpfer der Freiheit gegen diesen blutbefleckten Würger der russischen Arbeiterklasse fühlen, diesen heiligen Haß nützen jetzt die journalistischen Hausknechte der Bourgeoisie aus. Weil es gegen den Zarismus geht, darum fordert angeblich das Lebensinteresse der Nation den Krieg. Weiter. Als es bei der Marokkokrise sich um die Interessen von ein paar Kapitalisten mit den Mannesmännern an der Spitze, handelte, war es jedem Arbeiter klar: wegen kapitalistischer Interessen sollte er sein und der französischen Brüder Blut vergießen. Wo sind diese kapitalistischen Interessen jetzt? höhnen die »Patrioten«. Es handelt sich um keinen Kolonialraub, um keine Konzessionen für die Banken, es handelt sich um die Erhaltung Österreichs, lassen wir den Bundesgenossen ohne Hilfe, dann wird er von Rußland zerschmettert; dann würde der Zarismus eine solche Gewalt in Europa gewinnen, daß wir in unserem eigenen Hause vor ihm nicht mehr sicher wären. Das alles ist nicht wahr, das sind Redensarten, die den rein kapitalistischen imperialistischen Kern des Konflikts verhüllen.
Warum bedroht Rußland Österreich?
Die russische imperialistische Presse sagt: aus Gerechtigkeitsgefühl, aus Solidarität mit der slawischen Sache. Das ist unwahr: die ganze Geschichte Serbiens ist die Geschichte des Verrats Rußlands an Serbien. »Die serbische Nation wurde in den letzten zweihundert Jahren zwischen dem russischen Hammer und dem österreichischen Amboß gehalten«, schreibt der frühere serbische Ministerpräsident Vladen Georgewitsch im Jahre 1909, Bosnien und die Herzegowina befinden sich in den Händen Österreichs, nur dank Rußland, von dem diese Länder an Österreich verschachert wurden. Also warum ist Rußland in der letzten Zeit immer bereit, es wegen Serbien zum Weltkrieg kommen zu lassen? Will es Serbien selbst haben? Nein! Die Serben wie die Bulgaren würden sich gegen die russische Herrschaft noch verzweifelter verteidigen als gegen die österreichische, weil sie demokratische Bauernvölker sind und wissen, wie die zarische Knute über den Rücken der Bauern saust. Rußland hat schon lange jeden Anspruch auf die Balkanherrschaft aufgegeben. Die Ansprüche des russischen Zarismus gehen nicht auf eine Besetzung des Balkans, sondern auf die Besetzung großer Teile am Stillen Ozean in China, auf die Eroberung Persiens, Armeniens, auf den Zutritt zum Persischen Meerbusen, auf die Eroberung Konstantinopels. Der Feind, der sie daran zu hindern sucht, ist das deutsche und englische Kapital. England hält sich aber in der letzten Zeit mit seiner Feindschaft etwas zurück, es sucht Handhaben gegen Rußland zu gewinnen durch die Besetzung Südpersiens und durch diplomatische Manöver. Und es braucht nicht allzusehr in den Vordergrund zu treten, denn das besorgt schon das deutsche Kapital. Es hat Hunderte von Millionen in die Bagdadbahn gesteckt, die an Armenien vorübergeht, es hofft, daß es in Mesopotamien vermittelst seiner Gründungen Millionen über Millionen aus dem türkischen Bauern herauspressen wird. Als im vorigen Jahr Rußland in Armenien einzurücken suchte, da erklärte der deutsche Botschafter in Konstantinopel: das wäre Kriegsfall. Rußland ließ seine Pläne ruhen und begann eifrig zu rüsten.
Nun ist Deutschland mit Österreich verbunden. Österreich hat 7 Millionen serbischer Bauern als »Untertanen«. Es gönnt ihnen keine Selbstverwaltung, läßt sie durch seine Beamten schikanieren und kujonieren, überläßt sie der Ausbeutung des Budapester und Wiener Kapitals. Da gärt es unter dieser Bevölkerung, und sie richtet ihre Blicke über die Donau nach Serbien, wo es ihren Brüdern viel besser geht. Serbien, das nur 4½ Millionen Einwohner hat, würde im Abfall der 7 Millionen österreichischer Serben die Erfüllung seiner nationalen Träume sehen, denn dadurch würde es zur ausschlaggebenden Macht des Balkans. Die serbischen Bauern ließen sich für diese Träume gewinnen, weil die agrarische Politik der österreichischen Junker ihre Viehausfuhr nach Österreich nicht zuläßt. Rußland unterstützt diese Bestrebungen, obwohl es bei sich zu Hause so hochstehenden Nationen, wie den Polen, jede Selbstverwaltung verweigert und sogar ihre Sprache unterdrückt. Rußland unterstützt Serbien, weil es weiß, daß die österreichische Bureaukratie aus Angst um seine Herrschaftsinteressen nicht gewillt ist, die österreichischen Serben durch Zugeständnisse zu befriedigen, wie die österreichischen Agrarier in ihrer Gier nicht willens sind, von dem handelspolitischen Kriege gegen Serbien abzusehen, und so der großserbischen Bewegung auch im Königreich Serbien die Sympathie der Volksmassen zu nehmen. Weil die Herrschafts- und Ausbeutungsinteressen die österreichische Bureaukratie und das Junkertum zu einer Gewaltpolitik der serbischen Bevölkerung gegenüber antreiben, muß Österreich die Hälfte seiner Kriegsmacht im Süden bereit halten. Und weil Österreich deshalb gegen Rußland nur die Hälfte der Kriegsmacht bereit hat, eilt ihm Deutschland zu Hilfe. Es schaut immer wieder nach seiner Ostgrenze, ob Rußland nicht auch gegen uns mobilisiert, und tritt das ein, dann muß Deutschland gleichzeitig auf Frankreich, den Verbündeten Rußlands acht geben. Auf diese Weise teilt Rußland durch seine Unterstützung Serbiens die österreichischen Heereskräfte, bindet die deutschen Heereskräfte an die französische und russische Grenze und hindert das deutsche Großkapital, seine Ausbeutungspolitik in Kleinasien zu in sich verstärkender Form zu treiben. Und nicht nur dort ist das deutsche Kapital an der Raubpolitik gehindert durch diese russische Wendung gegen Österreich. Es kann sich auch in Afrika nicht frei bewegen, weil seine Konkurrenten, England und Frankreich, es immer an die russische Gefahr erinnern.
Wir sollen wegen der kapitalistischen Interessen bluten.
Jetzt sind wir beim Kern der Frage. Nicht aus »Nibelungentreue« zum Verbündeten legt Deutschland die Hand ans Schwert, wenn es unten im Süden drauf und drüber geht und Rußland gegen Österreich und für Serbien einzugreifen droht. Deutschland könnte zu Österreich sagen: willst du Ruhe mit den Serben haben, gebe deinen serbischen Bauern Selbstverwaltung, halte deine Beamten im Zaum, damit sie die Bauern nicht bis aufs Blut reizen, schütze diese durch entsprechende Agrargesetze vor der Ausbeutung durch den Kapitalismus, und sie werden nicht nach Belgrad schauen. Die deutsche Regierung könnte ferner zu Österreich sagen: den Bauern aus dem Königreich Serbien erlaube freie Viehausfuhr nach Österreich, da werden sie auf die Hetzer nicht hören. Aber Deutschland kann leider diesen Rat Österreich nicht geben. Denn würde Österreich die serbischen Bauern nicht schurigeln und ausbeuten, dann brauchte es nichts von Rußland zu befürchten, und dann hätte es keinen Anlaß, an dem Bund mit Deutschland festzuhalten, und Deutschland würde allein gegen die russischen Raubpläne in Kleinasien kämpfen müssen. So sehen wir: Deutschland unterstützt die österreichische Ausbeutungspolitik im Süden der schwarzgelben Monarchie, um seine Unterstützung zu genießen in der eigenen Ausbeutungspolitik in Kleinasien, wo es hart mit Rußland zusammenstößt. Wenn Deutschland bei einem Konflikt Österreichs mit Rußland wegen Serbien bereit ist, euch unter die Waffen zu rufen, so nur um das deutsche Großkapital von dem Druck Rußlands zu befreien und ihm zu ermöglichen, ohne den russischen Feind im Rücken mit dem englischen und französischen Kapitalisten um den Anteil an der Weltbeute zu konkurrieren.
Arbeiter! So steht die Sache! Nicht um die Freiheit eurer Nation willen sollt ihr bluten, sondern um die Ausbeutungsfreiheit des deutschen Kapitals. Es handelt sich um dieselben schmutzigen kapitalistischen Interessen, die im Jahre 1911 bald zu einem Krieg mit Frankreich geführt hätten. Sie sind es, die die Kriegsgefahr heraufbeschwören, obwohl sie nicht so grell beleuchtet im Vordergrund stehen.
Dessen seid euch bewußt, ihr Arbeiter, in diesen vielleicht wenigen Tagen, die euch noch für den Kampf gegen den Völkerbund übrig bleiben. Gelingt es euch nicht, die Gefahr durch mutigen Kampf abzuwenden, dann müßt ihr binnen kurzem der Mobilisierungsorder folgen. Müßt dann bluten, weil das Kapital es so will, das euch von Kindesbeinen an bis zum Grabe ausbeutet.
Marxismus und Kriegsprobleme.
I.
Nach dem Kriegsausbruch wurden in der Arbeiterpresse vielerorts einzelne Aussprüche von den Altmeistern des wissenschaftlichen Sozialismus angeführt zur Begründung der Haltung der Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktionen in diesem Kriege. Von einer Seite, die sonst die Orientierung der Arbeiterpolitik nach den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels als eine orthodoxe Zeilenanbeterei immer verabscheute, wurden Stellen aus den Marxschen Schriften als heiliges Vermächtnis herumgetragen. Dagegen legte schon der Historiker der deutschen Sozialdemokratie Verwahrung ein, indem er darauf hinwies, daß dabei die historischen Umstände ganz außer acht gelassen wurden, unter denen Marx und Engels zu Kriegsfragen Stellung nahmen, historische Umstände, die den jetzigen ebenso ähnlich oder unähnlich sind, wie die Nachtigall einer Eule. Wir wollen hier in kurzen Strichen darlegen, worum es sich bei Marx und Engels bei ihrem Urteil über Kriegsfragen gehandelt hat. Zuerst muß darauf hingewiesen werden, daß die Altmeister des wissenschaftlichen Sozialismus ihre Methode natürlich auch bei der Behandlung von Kriegsfragen nicht verleugnet haben. Ihre Methode, d. h. die Art ihrer wissenschaftlichen Untersuchung, bestand darin, daß sie alle Erscheinungen des sozialen Lebens in ihrer geschichtlichen Entwicklung, aus der Entwicklung der Produktionskräfte erklärten. Auf den Krieg angewandt, bestand sie darin, die besondere Bedeutung eines jeden Krieges im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu untersuchen. Keine Grausamkeit des Krieges konnte sie dazu verleiten, ihm nur jammernd und stöhnend zu folgen. Sie fragten immer, welcher Art die Quellen dieses Krieges waren, ob er nicht in seiner gewaltigen, raschen Art ein altes morsches Gebäude niederriß, ob aus den von ihm hinterlassenen Ruinen nicht neues Leben erblühen werde. Wo der Menschenfreund ohne jeden historischen Blick nur Blut und Greuel sieht, ein unnützes Dahinmetzeln, dort erspähten sie oft die Wege des menschlichen Fortschrittes, neue Bedingungen des Klassenkampfes. Dieses ihr Verfahren müssen natürlich auch wir dem jetzigen Kriege gegenüber anwenden. Wir müssen an der Hand der uns von unseren Altmeistern und ihren Schülern erschlossenen Kenntnis der jetzigen Wirtschaftsweise die großen wirtschaftlichen Gegensätze kennenlernen, die zum Weltkriege geführt haben. Würden die sozialdemokratischen Parteien der kriegführenden Länder an dieses Vermächtnis unserer Lehrer gedacht haben, sie wären heute einig in der Beurteilung des Charakters des Krieges; und diese geistige Einigkeit würde den Zusammenbruch des gegenseitigen Vertrauens der sozialdemokratischen Parteien verhütet haben, selbst wenn die Volksmassen außerstande wären, den Kriegsausbruch zu verhindern, und wenn sie auf die Schlachtfelder ziehen müßten. Hier zeigt sich, welche große praktische Bedeutung die marxistische Theorie besitzt, wenn man sie nicht als ein Sammelsurium von Zitaten, Schlüsseln, als ein Koch- und Rezeptbuch betrachtet, sondern als eine geistige Anleitung, die erlaubt, sich in dem Wirrwarr von Tatsachen zurechtzufinden.
Anders steht es mit der Stellungnahme von Marx, Engels und ihren Schülern zu einzelnen Kriegen. Es ist von größtem Interesse, wie sie einzelne Kriege beurteilen, weil wir dabei sehen, wie sie selbst ihre Methode anwandten. Aber auch die kürzeste Prüfung ihres Standpunktes in jedem konkreten Falle zeigt, wie unmöglich es ist, diesen Standpunkt als auch heute maßgebend zu betrachten. Während des »tollen Jahres« 1848 traten Marx und Engels eifrig für einen deutsch-russischen Krieg ein. Womit begründeten sie ihre Stellungnahme. Sie wiesen auf die Kräfte der feudalen Reaktion, die Deutschland beherrschten, auf die Schwäche der Bourgeoisie, die nicht imstande war, ihre Herrschaft zu brechen. Die breite Masse des Volkes bildete das Kleinbürgertum, eine Klasse, die schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht imstande war, energisch, bewußt um die Demokratie zu kämpfen. Daß das Proletariat unter diesen Umständen keinen starken, selbständigen Faktor bilden konnte, ist klar. Der revolutionäre Aufschwung Deutschlands versumpfte: weder die Vereinigung Deutschlands zu einem Nationalstaat war unter diesen Bedingungen im inneren politischen Kampfe zu erreichen, noch der demokratische Umbau des Staates. Rußland, damals der Hort der Reaktion – jetzt existiert der Zarismus, wie unsere »nationale« Presse behauptet, doch nur dank der Unterstützung des französischen Kapitals – unterstützte auch den Feudalismus in Deutschland wie in Österreich. Ein Krieg gegen Rußland wäre also, nach der damaligen Überzeugung von Marx, ein Krieg gegen dieselben Mächte, die in Deutschland die Revolution niederhielten, und in diesem Kriege würde – so hofften sie – die nationale Gefahr das Kleinbürgertum zu revolutionären Taten anspornen. Ja, wie Engels es später, im Jahre 1859, in einem Briefe an Lassalle aus Anlaß des italienischen Krieges offen erklärte, hatte er (und Marx) die Hoffnung, daß der Krieg gegen Rußland und Napoleon III. Deutschland vor Aufgaben stellen würde, unter denen die bürgerliche Demokratie zusammenbrechen müßte, worauf die entschiedenen revolutionären Elemente ans Ruder kommen würden.
Wie lag die Sache im Jahre 1870? Alle Hoffnungen auf eine Einigung Deutschlands auf revolutionärem Wege hatten sich als nichtig erwiesen. Je mehr das Bürgertum wirtschaftlich erstarkte, desto mehr ging es politisch nach rechts. Die Arbeiterschaft war der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit Deutschlands gemäß noch schwach, unfähig, selbst die politischen Bedingungen ihrer weiteren Entwicklung herzustellen. »Siegt Deutschland, so ist der französische Bonapartismus jedenfalls kaput, der ewige Krakeel wegen Herstellung der deutschen Einheit endlich beseitigt, die deutschen Arbeiter können sich auf ganz anderem nationalen Maßstab als bisher organisieren, und die französischen, was auch für eine Regierung dort folgen mag, werden sicher ein freieres Feld haben als unter dem Bonapartismus« – so schrieb Marx am 15. August 1870 an Engels. »Bismarck« tut jetzt, wie 1866, immer ein Stück von unserer Arbeit, in seiner Weise und ohne es zu wollen, aber er tut es doch« – schrieb er weiter. Und obwohl er sich in diesem Privatbrief, der eine persönliche Aussprache bildete, so offen über die historische Notwendigkeit des Krieges von 1870 aussprach, der angesichts der Unfähigkeit der Bourgeoisie zum revolutionären Kampfe und der Schwäche des Proletariats der einzige Weg war, auf dem die Vorbedingungen für den Fortschritt der Arbeiterklasse erfochten werden konnten, nennt er unter den Pflichten der Sozialdemokratie öffentlich: »die Interesseneinheit der deutschen und französischen Arbeiter, die den Krieg nicht billigen, und die sich auch nicht bekriegen, fortwährend hervorzuheben«.
Diese kurzen Auszüge zeigen schon, daß die Haltung von Marx und Engels zu dem Kriege von 1870 eine ganz andere war, als im Jahre 1848. Damals eine offene Agitation für den Krieg mit Rußland, der der Revolution die Wege bahnen sollte, hier eine Stellungnahme zu schon vollzogenen Tatsachen, die man nicht billigt, aber von denen man sagen muß, daß sie, obwohl in reaktionärer Form, die Bedingungen des Aufstiegs der Arbeiterklasse schaffen werden. Und trotz dieser objektiven Beurteilung des Krieges von 1870 fällt es Marx nicht ein, sich mit einer der kriegführenden Parteien solidarisch zu erklären, da er weiß, daß Bismarcks Methoden, historische Notwendigkeiten zu verwirklichen, nicht die der klassenbewußten Arbeiterschaft waren. In beiden Fällen wird die Haltung Marxens durch den verschiedenen Grad der sozialen Entwicklung verschieden bestimmt, wobei noch zu bemerken ist, daß weder im Jahre 1848, noch im Jähre 1870 das Proletariat eine größere Macht besaß.
Man mag von der Haltung Marxens im Jahre 1848 und 1870 denken, was man will – daß sie nichts mit einem nationalen Gefühlsdusel und nichts mit einer opportunistischen Angst um die bisherigen Erfolge zu tun hat, braucht man nicht zu beweisen. Es war eine politische Stellungnahme unter konkreten politischen Bedingungen, bei der Marx keinen Augenblick über den Tag die zukünftigen Kämpfe vergaß. Wer den Standpunkt Marxens vom Jahre 1870 als ein so schönes Bild betrachtet, daß er es kopieren will, den muß man erstens fragen: warum nicht den Standpunkt vom Jahre 1848? Warum soll man jetzt nicht die Hoffnung hegen, daß die Herren Kopsch und Wiemer im Kriege gegen Rußland die Revolution machen werden, indes der Genosse Pfannkuch die Rolle Marats spielen wird? Wer auf diese Frage aber mit dem Hinweis aufwarten würde, daß sich seit jener Zeit die sozialen und politischen Verhältnisse geändert haben, dem dürfte man die zweite Frage stellen, ob sich die sozialen Verhältnisse seit dem Jahre 1870 nicht auch geändert haben, ob jetzt dieselben Aufgaben vor Deutschland stehen, wie vor vier Jahrzehnten? Die Antwort auf all diese Fragen kann nur die eine sein: die sozialen und politischen Verhältnisse haben sich seit dem Jahre 1870 gründlich geändert; von den Aufgaben, die damals vor Deutschland standen und die Haltung der Sozialdemokratie (in ganz verschiedener Weise, nebenbei bemerkt) beeinflußten, ist jetzt keine Rede. Der Standpunkt der Sozialdemokratie dem Weltkriege 1914 gegenüber läßt sich nur aus dem Charakter dieses Weltkrieges selbst und aus gegenwärtigen Aufgaben des proletarischen Klassenkampfes bestimmen. Der Marxismus gibt dem Proletariat die geistigen Waffen dazu, indem er uns lehrt, den Weltkrieg historisch aus den Gegensätzen des reifen Kapitalismus zu begreifen und die Aufgaben des Proletariats kennenzulernen, das im Produktionsprozeß eine so mächtige Rolle spielt. Die Stellungnahme Marxens zu den Kriegen der Vergangenheit kann man nicht starr auf die jetzige Zeit übertragen. Wer das tut, der zeigt nur, daß es sich ihm nur um Entlehnung von Argumenten handelt, die er auf eigene Kosten nicht aufbringen kann. Man mag dafür Verständnis haben, denn Not kennt kein Gebot, wie der Reichskanzler sagte. Billigen kann man diesen Unfug nicht. Wie aber vom Standpunkt des Marxismus die jetzigen Zusammenhänge zu beurteilen sind, darüber im Folgenden.
II. Im Zeitalter der Weltwirtschaft und Weltpolitik.
Die Frage, die seit Jahrzehnten vor der kapitalistischen Welt steht, lautet: wie kann der Kapitalismus auf kürzesten Wegen, in gründlichster Weise sich die noch nicht kapitalistische Welt botmäßig machen? Der Lösung dieser Frage diente die enorme Entwicklung der Verkehrsmittel, ihr diente die Ausfuhr des Kapitals, ihr diente das Wettrüsten, der diplomatische Kampf, in ihren Dienst stellten sich die Sprach-, die geographische, die geschichtliche, die medizinische und technische Wissenschaft, ja, selbst die kirchlichen Institutionen. Im Jahre 1800 schätzte man die Ausfuhr und Einfuhr aller zivilisierten Länder auf 6 Milliarden Mark, im Jahre 1850 auf 17, bis 1870 etwa auf 45, im Jahre 1900 auf 90, im Jahre 1910 auf 150 Milliarden Mark. Da die Einfuhr und Ausfuhr je besonders gezählt und auch die Durchfuhrmengen nicht abgesondert werden, so schätzt Prof. K. Wiedenfels auf Grund dieser Angaben den Wert der Welthandelsmengen auf 70 Milliarden Mark. Den überwiegenden Teil dieser ungeheuren, in den Welthandel geworfenen Mengen bilden wohl noch Produkte, die, in kapitalistischen Staaten erzeugt, in andere kapitalistische Staaten eingehen. Aber immer größer werden die Massen der Produkte, die von den hochentwickelten kapitalistischen Staaten in die weniger entwickelten oder noch ganz zurückgebliebenen ausgeführt werden, und immer mehr wachsen an Zahl und Bedeutung die Produkte, die von agrarischen Ländern in die kapitalistisch-industriellen gelangen. Von der ersten Tatsache zeugen die 13 Milliarden Ausfuhr nach Asien und Afrika, zeugt das Wachstum der Eisenbahnen, deren Länge im Jahre 1890 in Asien 33 774, in Afrika 9386, im Jahre 1912 aber in Asien 107 230, in Afrika 47 707 km betrug, ganz zu schweigen von der wachsenden Bedeutung halb kapitalistischer Länder, wie Australien, Kanada, Südamerika. Die Bedeutung der Einfuhr aus den agrarischen, industriell unentwickelten Ländern äußert sich grell in der Tatsache, daß 26 Prozent der deutschen Einfuhr in Lebensmitteln, 55 in Industrie-Rohstoffen und Halbfabrikaten bestehen, daß Englands Einfuhr zu 42 Prozent aus Lebensmitteln, zu 35 Prozent aus Rohstoffen besteht, daß Frankreich über 60 Prozent seiner industriellen Rohstoffe bezieht und daß auch in der Einfuhr der Vereinigten Staaten Amerikas 25 Prozent die Lebensmittel, 32 Prozent die industriellen Rohstoffe ausmachen. Je mehr sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der kapitalistischen Länder hinsichtlich der Produktionsweise untereinander ausgleichen, desto mehr wächst der Drang der kapitalistischen Staaten nach nichtkapitalistischen Absatzgebieten. Und je mehr der Kapitalismus in den zivilisierten Ländern die Industrie auf Kosten der Landwirtschaft entwickelt, ihr auf Kosten der Landwirtschaft Arbeitskräfte zuführt, das Land entvölkert, desto mehr sucht er sich die Lebensmittelzufuhr aus agrarischen Ländern zu sichern, wo dieser Prozeß noch nicht Platz gegriffen hat, ganz abgesehen davon, daß er auch Rohstoffe braucht, die in Europa und Amerika gar nicht produziert werden können, oder in denen bisher die Vereinigten Staaten ein für das europäische Kapital drückendes Monopol besitzen. Der europäische Kapitalismus wird immer mehr auf die nichtkapitalistischen Länder angewiesen. Würde er auf ihre Entwicklung verzichten, seine Entwicklung würde angesichts des langsam wachsenden Absatzes verlangsamt, er müßte zu einer zielbewußten Änderung der Einteilung der Produktionskräfte zugunsten der Landwirtschaft greifen, müßte einstweilen auf eine Reihe von Produktionszweigen verzichten, die unmöglich sind ohne Rohstoffe, deren Zufuhr aus Afrika und Asien sich mindern, vielleicht gänzlich stocken würde. Die Verlangsamung der kapitalistischen Entwicklung auf ihrer jetzigen Stufe würde aber in den Volksmassen die Frage wecken, ob nicht durch eine zweckmäßige Organisation der Produktion das Elend, das über sie diese Stagnation bringen würde, zu beseitigen wäre. Während bei einem schnellen Tempo der kapitalistischen Entwicklung der Zustrom immer neuer, aus den kleinbürgerlichen Schichten sich rekrutierender unaufgeklärter Proletarier zwar das Rekrutierungsfeld der sozialistischen Armee ausbreitet, aber momentan ihre Aktionskraft schwächt, während sie bei einem schnellen Tempo der kapitalistischen Entwicklung den Arbeitern größere Aussichten auf Besserung ihrer Lage auf dem Boden des Kapitalismus bietet, bedeutet die Verlangsamung der kapitalistischen Entwicklung auf ihrer jetzigen Stufe die steigende Verschärfung des Klassenkampfes, den Beginn der sozial-revolutionären Massenkämpfe. Der Kapitalismus muß vorwärts, wenn er nicht zugeben will, daß seine Rolle beendet ist.
Aber es bedurfte nicht einmal dieser Erwägungen, die ganz gewiß außerhalb der Betrachtungen der einzelnen Kapitalisten liegen und hier nur gemacht wurden, um die objektive Notwendigkeit der weltwirtschaftlichen Expansion für den Kapitalismus zu beweisen; die Ausfuhr der Waren in die kapitalistisch nicht entwickelten Länder, wie die Einfuhr ihrer landwirtschaftlichen Produkte, der Eisenbahnbau in diesen Ländern, die Anleihen usw., alle diese Mittel der weltwirtschaftlichen Expansion geben den führenden Schichten des Kapitals Gelegenheit zu einem Profit, wie sie sonst auf dieser und jener Welt zusammen keinem noch so frommen Christen zuteil wird. Deswegen beginnen sie gewöhnlich Beziehungen zu den unentwickelten Ländern anzuknüpfen, bevor noch die Volkswirtschaft eines kapitalistischen Landes die Notwendigkeit der weltwirtschaftlichen Beziehungen wirklich als Lebensfrage zu empfinden beginnt. Andererseits aber verbreitet sich in den letzten Jahren unter dem Einfluß der weltwirtschaftlichen Entwicklung auch in den Ländern des jungen Kapitalismus die Erkenntnis der zukünftigen Unumgänglichkeit des Hinausgehens in die ferne Welt, und sie bildet einen Ansporn zur politischen Sicherung des Raumes für die weltwirtschaftliche Expansion.
Der Kapitalismus kann sich ohne Beherrschung agrarisch nichtkapitalistischer Gebiete nicht in dem bisherigen schnellen Tempo weiter entwickeln. Er sucht in den letzten Jahrzehnten ganz Asien und Afrika sich botmäßig zu machen. Durch seine Warenausfuhr und Bahnbauten sucht er die alten wirtschaftlichen Verfassungen dieser Gebiete zu sprengen, diese Völker zu Warenproduzenten zu machen, Warenproduzenten, die die Produkte der europäischen Industrie teuer bezahlen und ihre eigenen Produkte billig verkaufen. Wir haben hier nicht die Möglichkeit, die kolonial- und finanzpolitischen Mittel darzustellen, vermittelst deren das Kapital dieses sein Bestreben verwirklicht. Es genügt, zu sagen, daß die weltwirtschaftliche Entwicklung des Kapitalismus nicht nur die ungeheure Ausbreitung seiner profitfördernden Tätigkeit bedeutet, sondern auch ihre rücksichtsloseste Steigerung. Und deswegen muß die weltwirtschaftliche Entwicklung nunmehr wieder zur Gewaltanwendung schreiten. Selbst wenn die kapitalistischen Staaten unter sich den unentwickelten Teilen der Welt einig gegenüberstehen würden, würde die weltwirtschaftliche Entwicklung nicht ohne die größten Zusammenstöße, Welterschütterungen vor sich gehen. Hunderte Millionen der chinesischen, indischen Bevölkerung, durch die kapitalistische Entwicklung in Bewegung gebracht, würden auch dann die Welt erschüttern, wenn das internationale Kapital ihnen mit vereinten Kräften entgegenträte.
Die kapitalistische Welt stellt jedoch keinen einheitlichen Organismus dar. Sie ist in nationale Sonderorganismen gespaltet, gemäß den historischen Wegen, auf denen der Kapitalismus in die einzelnen Länder Europas eindrang. Jeder kapitalistische Staat möchte einen Teil der Erde in seine Hände bekommen. Sie kämpfen untereinander seit Jahrzehnten um noch freie Gebiete: um China, um die Türkei, um Persien. Starke kapitalistische Staaten, die zu spät an diese Ausbreitungspolitik gingen, schauen gierig auf kleine, wie Portugal, Holland, die aus früheren Zeiten große Kolonien besitzen. Alte, mächtige Kolonialreiche, wie England, befürchten, daß andere kapitalistische Staaten Unruhen in ihren Kolonien ausnützen könnten, um ihnen einen Teil der Beute zu entreißen.
Seit dreißig Jahren steigern sich diese Gegensätze zwischen den kapitalistischen Staaten um den Anteil an der Welt. Sie haben den Krieg zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten Nordamerikas, den Russisch-Japanischen Krieg verursacht, ihnen verdanken wir das immer wütendere Wettrüsten zu Land und See. Gleichzeitig erzeugt dieser Kampf Kolonialaufstände, er erzeugt die Gefahr von Völkererhebungen, wie sie die Welt nicht gesehen hat. Aus all diesen Gegensätzen hat sich der völkervernichtende Weltkrieg des Jahres 1914 ergeben. Er ist ein Krieg um die Weltmacht, ein Krieg um die Frage, welchen kapitalistischen Staaten der größte Anteil an ihr zufallen wird. Daß dem so ist, bekunden alle Schriften über den Weltkrieg, die die Verfechter dieser Politik zur Anfeuerung des Bürgertums zum Durchhalten um jeden Preis herausgeben. Unsere Stellungnahme zu dem Weltkrieg ist also unmöglich ohne Beantwortung der Frage: hat das Proletariat ein Interesse an der weiteren Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise? Nur wer auf diese Frage eine klare Antwort gibt, nimmt eine klare Stellung gegenüber den ungeheuren historischen Ereignissen, die wir erleben, ein. Keine Zitate aus Marx, keine Deklamationen können eine Antwort auf diese Frage erübrigen. Wir wollen sie geben. –
III.
Als die moderne Wirtschaftsform des Kapitalismus in der Form des Handelskapitals vor Jahrhunderten ihren Lauf begann, beutete sie die Völker des Orients aus. »Wenn Westeuropa eine so starke kapitalistische Entwicklung erlebt hat« – schreibt Professor Sombart, ganz gewiß kein Sozialist – »so ist dies gewiß nicht zuletzt daraus zu erklären, daß die Westeuropäer mehr als irgend ein anderes Volk sich früher fremde Völker tributpflichtig machen konnten und machten. Man sollte nicht vergessen, daß Westeuropas wirtschaftliche Entwicklung die Ausplünderung dreier Erdteile zur notwendigen Voraussetzung gehabt hat, daß der Wohlstand unzähliger blühender und reicher Völker der Alten und Neuen Welt erst die Mittel geschaffen hat, die den europäischen Kapitalismus ins Leben riefen. Der Reichtum der italienischen Städte ist ebenso undenkbar ohne die Auspowerung der übrigen Mittelländer, wie Portugals, Spaniens, Hollands, Frankreichs und Englands Blüte nicht denkbar ist ohne vorherige Vernichtung der arabischen Kultur, ohne die Ausraubung Afrikas, die Verarmung und Verödung Südasiens und seiner Inselwelt, des fruchtbaren Ostindiens und der blühenden Staaten der Inkas und Azteken.« (Moderner Kapitalismus, Bd. I, 326.) Indem aber der Kapitalismus die Naturalwirtschaft zurückdrängte und an ihre Stelle die Geldwirtschaft setzte, ermöglichte er den Feudalherren, auch die Ausnutzung der Bauern ins Ungemessene zu steigern: denn mit der Möglichkeit, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu verkaufen, bekam die Übervorteilung der Bauern, die Steigerung der Robote, das Bauernlegen erst den rechten Sinn. Dem Handwerk nahm das Kapital den goldenen Boden. Und als das moderne Fabriksystem aufkam, brachte das Kapital die proletarisierten Bauern- und Handwerkermassen erst recht unter seine Botmäßigkeit. Indessen in all den vielen Jahrhunderten, von der Entstehung des Handelskapitals sozusagen in den Ritzen und Winkeln der feudalen Gesellschaft bis zu seiner offenen Thronbesteigung war sein Weg auch durch den rücksichtslosen Kampf der verschiedenen kapitalistischen Gruppen untereinander gezeichnet. Sie führten Kriege um die Abgrenzung des Herrschaftsgebietes, was zur Bildung der nationalen Staaten führte. Sie kämpften um überseeische Gebiete untereinander. Und in all den Kriegen war es das Volk, das die Krieger stellte. Es bäumte sich oft dagegen auf, suchte die Räder der Geschichte aufzuhalten, aber umsonst. Denn der Kapitalismus steigerte das Interesse des Kapitalisten am Ertrag der Arbeit, er spornte sie zu Erfindungen an, die die Ausgiebigkeit der menschlichen Arbeit ungeheuer erhöhten. Die Masse der Werte, die der Kapitalismus in immer größerem Umfange anhäufte, gab ihm große Machtmittel in die Hand. Sie erlaubte ihm, trotz der Steigerung der Intensität der Ausbeutung die Volksmassen an einer gewissen Kultur teilnehmen zu lassen, und diese Kulturmittel, die Schule, die Kanzel, die Presse, das Buch, alles predigte dem Volke, es sei nichts ohne die Kapitalisten, jeder Fortschritt sei nur dank den Kapitalisten möglich. Und wenn einmal die Massen die ihnen so von Kindheit an eingeimpfte Demut mit jähem Ruck beiseite schoben, dann wandte der Kapitalismus seine mächtigen Gewaltmittel gegen sie an, bis sie wieder zu Kreuze krochen.
Doch war es keine sinnlose Qual. Sie ermöglichte dem Kapital die Eroberung der ganzen europäischen Welt, eine solche Steigerung der menschlichen Arbeitsfähigkeit, daß jetzt selbst bei einem achtstündigen Arbeitstag noch Riesenprofite gemacht werden können. Das Kapital hat dem Menschen die Natur in einem Maße untertänig gemacht, wie sie es niemals zuvor war, es beherrscht das Wasser, die Luft, das Innere der Erde. Nachdem es dies getan, brachen seine dialektischen Widersprüche durch. Der Stand der Wissenschaft erlaubt jetzt, die Ergiebigkeit des Bodens zu steigern. Aber das Kapital bevorzugt die Industrie, weil es sich in ihr viel schneller vermehren kann. Unzählige Erfindungen werden der Allgemeinheit vorenthalten, weil ein einzelner sie aufgekauft hat. Kapitalistische Verbindungen – Trusts und Kartelle – regeln die Produktion nicht nach den Bedürfnissen der Gesamtheit, sondern nach ihren Kalkulationen. Ein immer größerer Teil der menschlichen Arbeitskraft muß alljährlich der Produktion entzogen werden, um das Waffenhandwerk zu erlernen zur Sicherung der Nationalstaaten. Die Orientvölker wachen auf, wenden sich den Kulturerrungenschaften Europas zu, aber dieses kann sie ihnen ohne Zerstörung ihrer heimischen, veralteten Wirtschaftsform nicht geben.
Immer besser verstehen die Arbeitermassen der modernen Staaten diesen Zusammenhang, immer stärker wächst ihre Opposition: die moderne sozialistische Arbeiterbewegung. Diese wendet sich nicht mehr gegen die Errungenschaften des Kapitalismus, gegen seine Technik, denn sie weiß gut, daß diese dem Volke Heil bringen, wenn sie von der Allgemeinheit verwaltet, im Interesse der Allgemeinheit verwandt werden. Nicht die Wiederkehr zu vorkapitalistischen Zeiten des Zunfthandwerks, des Feudalismus stellt sich die sozialdemokratische Vorhut der Arbeiterklasse als Ziel, sondern eine Organisation der Produktivkräfte, wie sie die Interessen der ganzen Menschheit erfordern. Aber die geistig aufgeweckten, aufgeklärten Elemente bilden in der Arbeiterschaft nur eine Minderheit. Sie sind nicht imstande, allein ihr Ziel zu erringen. Gegen sie stehen noch große Massen von Arbeitern, die noch keine Möglichkeit einer anderen Organisation der Wirtschaft sehen, oder die zermürbt durch die alltägliche Arbeitsqual, in sich keine Kraft zu ihrer Durchführung fühlen. Inzwischen geht der Kapitalismus weiter an die Eroberung neuer Erdteile, die bisher abseits von der modernen Entwicklung standen. Dort hofft er, neue Arbeitermassen zu bekommen, neue Reichtümer zu sammeln. Welche Stellung hat der bewußte Teil der Arbeiterschaft demgegenüber einzunehmen? Er weiß, daß man die wirtschaftliche Entwicklung nicht aufhalten kann. Er lehnt es ab, dies durch reaktionäre Maßregeln zu versuchen. Aber er macht sich keineswegs zum Verfechter dieser Entwicklung. Vielmehr sucht er den Übergang zu höheren Produktionsformen möglichst schmerzlos zu gestalten. Der Imperialismus ist eine Politik, die mit Hilfe der staatlichen Gewalt die noch unentwickelten Länder dem modernen Kapitalismus zuführen will. Das Proletariat hat diese Politik aufs schärfste bekämpft. Nicht nur, weil es wußte, daß sie zu einem Weltkrieg führen kann, sondern weil es auch den unentwickelten Völkern den Übergang zu höheren Wirtschaftsformen ohne Greuel und Elend ermöglichen will. Ein Förderer der kapitalistischen Entwicklung kann das seiner historischen Aufgabe bewußte Proletariat nicht sein, weil es die Menschheit schon heute für reif zu höheren Lebensformen hält. Aus diesen Tatsachen erklärt sich die grundsätzliche Gegnerschaft des Proletariats zu diesem Weltkriege. Es gab in der Vergangenheit Kriege, die ein notwendiges Glied in der wirtschaftlichen Entwicklung darstellten. Vielen von ihnen stand das Proletariat ohne irgendein selbständiges Verständnis gegenüber, weil es damals noch kein sozialistisches Bewußtsein hatte. Die Kriege, die zur Bildung des Deutschen Reiches führten, waren auch notwendig, weil auf deutschem Boden die moderne Wirtschaftsform sich unter der Leitung eines einheitlichen Staates am besten entwickeln konnte. Aus diesem Grunde erklärte ein Teil der Führer der damals aufkommenden sozialistischen Bewegung jenen Krieg auch vom Standpunkt der Arbeiterklasse für notwendig, wie kritisch sie sich auch den Machthabern gegenüber verhielten, die den Krieg führten. Ein zweiter Teil aber protestierte gegen den Krieg in den schärfsten Formen, und es ist kein historischer Zufall, daß in dem dankbaren Gedächtnis der Arbeiterklasse dieser Protest einen dauernden Ehrenplatz behielt.
Historische Parallelen.
Man sucht nach der historischen Formel für den Weltkrieg. Was bedeutet er, von der Warte der Weltgeschichte gesehen? Man greift zu den Handbüchern, erinnert sich an die holländisch-spanischen, englisch-spanischen, englisch-holländischen und englisch-französischen Handels- und Kolonialkriege und erklärt: es ist der Krieg Deutschlands, des jungen, rüstigen kapitalistischen Staates, der gegen die Seesuprematie des Fafners des Kapitalismus, England, Sturm läuft. So sagen es anklagend die englischen, stolz die deutschen Politiker und Historiker. Aber die Geschichte spielt sich nicht in dieser Weise ab, daß immer neue Partner dieselbe Schachpartie spielen. Die Handelskriege der Epoche der ursprünglichen Akkumulation hatten die Tatsache zur Quelle, daß das junge Handelskapital gierig nach den Kolonien griff, um die dort geraubten Schätze zur industriellen Produktion anzuwenden. Es wurde erst dank dem kolonialem Raub zu einer größeren wirtschaftlichen Macht, konnte sich erst dank ihr auf die Ausbeutung der Produktionskräfte im Mutterlande werfen. Diese Kriege bildeten die Vorbedingungen der Entwicklung des Kapitalismus. Der siegreiche Staat entwickelte wirklich Produktivkräfte, indem er an Stelle des Handwerks zuerst das Verlagssystem, dann die Manufaktur einführte, Arbeiterarmeen sammelte, sie disziplinierte, ihre Arbeitsfähigkeit steigerte. Und siegreich blieb derjenige Staat, der dank seiner geographischen Lage, dank seinen Reichtümern an Naturschätzen, dank seiner eigenartigen Geschichte die besten Bedingungen für die Rolle des Weckers der Produktivkräfte in sich trug. Das war nicht Spanien, in dem der Feudalismus die industrielle Arbeit verachtete und niedertrampelte, nicht Holland, in dem der Händler Übergewicht hatte über den Fabrikanten, nicht Frankreich, in dem das Königtum den Feudaladel mit Hilfe des Handelskapitals zuerst niederrang, um sich dann im Kampfe gegen das Bürgertum auf ihn zu stützen. England war es, in dem der Adel früh gelernt hat, sich mit dem bürgerlichen Kapital zu vereinigen, in dem das Kapital den industriellen mit dem Handelsprofit zu verbinden wußte, und in dem zuerst in der Arbeit der industriellen Arbeiter die Quelle des Wertes erkannt wurde. Der Sieg Englands, das wirtschaftlich einen großen Vorsprung am Anfange des 19. Jahrhunderts hatte, bedeutete momentan zwar die Aufrichtung eines Weltmonopols, aber das eines Staates, der durch die Entwicklung der modernen Industrie die Produktivkräfte der Menschheit mächtig entwickelt hat. Die Handelskriege des jungen Kapitalismus bedeuteten nicht nur eine Verschiebung in der Verteilung der Produktivkräfte, sie waren ein starker Faktor ihrer Entwicklung.
Da aber die Grundlagen der modernen Industrie: Dampfkraft, Maschinerie, überall herstellbar sind, wo es Kohle gibt, war das Monopol Englands auf dem Weltmarkt unhaltbar. Der Kapitalismus entwickelte sich auf dem europäischen Kontinente, in Amerika, in Asien, Australien, und so viel kapitalistische Staaten es gibt, so viel Konkurrenten erwuchsen dem englischen Kapitalismus. Es suchte sich durch die Beherrschung der Seewege, der entscheidenden strategischen Punkte der Welt die besten Bedingungen zu sichern, um für den Fall einer Neuverteilung der kapitalistisch unentwickelten Länder das größte Stück zu bekommen. Es ist eine ausgesprochen konservative Politik, die der englische Imperialismus den anderen kapitalistischen Staaten gegenüber treibt. »Wir dagegen kämpfen um die Freiheit der Meere«, erklären darum die Vertreter des deutschen Imperialismus, für die Politik der offenen Tür, d. h. der freien Konkurrenz auf dem Weltmarkt. So erhebt der deutsche Imperialismus den Anspruch, daß er den wirtschaftlichen Fortschritt darstellt. Wie ist es damit bestellt? Auch England verschließt den anderen kapitalistischen Staaten den Zutritt zu seinen Kolonien nicht, denen es überhaupt Freiheit in der Erledigung ihrer Handelsangelegenheiten überläßt. Auch England fordert von China, der Türkei usw. kein ausschließliches Recht auf Kapitalanlage. Es braucht weder in seinen Kolonien noch in den Staaten, die es zu Kolonien machen möchte, die Tür zu schließen. Es begnügt sich damit, daß es in den Gegenden, in denen sein Kapital in erster Linie auftritt, auch die Möglichkeit hat, tatsächlich den größten Teil des Nutzens an sich zu reißen. Und tut Deutschland etwas anderes? In den deutschen Kolonien schöpft das deutsche Kapital den Rahm ab, insoweit man dort von Rahm überhaupt sprechen kann. In den freien Ländern, in denen das deutsche Kapital eine große Rolle spielt, wie in der Türkei, sucht es für sich besondere Konzessionen zu gewinnen. Die offene Tür Deutschlands gleicht der Englands wie ein Ei dem andern. Englands Kapital hat eine größere Macht, weil es früher über die Meere ging. Das ist alles. Aber daraus folgt nicht, daß das deutsche Kapital dem englischen gegenüber einen historischen Fortschritt repräsentiert. Es kann keine neuen Produktivkräfte entwickeln, die England nicht ebenfalls entwickeln würde.
Der historische Fortschritt ist heute an die Entwicklung keines kapitalistischen Staates gebunden. Umgekehrt: die imperialistische Politik ist nur möglich und notwendig, weil alle modernen Staaten den gegenwärtigen Wirtschaftszustand zu erhalten streben. Warum streben sie nach den Kolonien? »Weil der Lebensmittelbedarf der kapitalistisch entwickelten Staaten durch ihre Landwirtschaft nicht gedeckt wird. Die Vereinigten Staaten Amerikas, Rußland, die ihn jetzt decken helfen, werden selbst allmählich zu Industriestaaten. Da müssen die kapitalistischen Staaten nach neuen Agrarländern streben.« So erklären die Imperialisten und weisen damit auf eine der Quellen des Imperialismus hin. Ist aber die europäische Landwirtschaft wirklich aus natürlichen Gründen nicht imstande, mehr Lebensmittel zu beschaffen? Nein! Angesehene Agronomen haben bewiesen, daß die Ergiebigkeit der Landwirtschaft noch um vieles gesteigert werden kann. Wenn das nicht geschieht, so deshalb, weil das Kapital viel lieber in die Industrie strömt, wo es sich schneller umsetzt, größere Profite abwirft, weil so die Bauern keinen billigen Kredit zur Einführung der modernen Wirtschaftsweise bekommen, weil der Privatbesitz an Grund und Boden überhaupt die Entwicklung der Landwirtschaft hemmt. – »Wir müssen Waren exportieren, da der innere Markt immer enger wird«, erklären die Imperialisten weiter. – Warum wird aber der innere Markt immer enger? Weil die Volksgenossen ihre Bedürfnisse nicht genügend zu befriedigen in der Lage sind. Man produziert Lokomotiven für Afrika, weil man nicht gute, lichte Wohnungen für die Volksmassen bauen, zu wenig Kleider für sie produzieren kann. Welches Argument des Imperialismus man auch prüft – wir haben die ersten besten herausgegriffen – immer zeigt es sich, daß die Quellen des Imperialismus darin bestehen, daß der kapitalistische Charakter der Produktion bewahrt werden soll, daß die Produktion den Bedürfnissen des Konsums nicht angepaßt werden kann.
Der Kapitalismus hat in den zivilisierten Ländern die Bedingungen des Sozialismus bereits entwickelt. Weil aber die kapitalistischen Schichten die Entwicklung zum Sozialismus nicht wünschen können, müssen sie den Gegensatz zwischen den nach vorwärts drängenden Produktivkräften und dem Privateigentum an Produktionsmitteln auf anderem Wege zu lösen suchen. Der Imperialismus ist ein solcher Ausweg. Er ist also eine konservative Kraft, er soll das Leben des Kapitalismus verlängern. Und der Weltkrieg des Imperialismus ist darum ein Krieg gegen den Sozialismus.
Nur unter diesem Gesichtspunkt verstanden, läßt sich der Weltkrieg voll würdigen. Der Imperialismus will und kann die Produktivkräfte der Gesellschaft nicht zur vollen Entwicklung entfalten. Er erstrebt nur eine längere Lebensfrist für den Kapitalismus, und deswegen läßt sich der heutige Weltkrieg keinesfalls mit den Handelskriegen des 17. und 18. Jahrhunderts vergleichen; denn wie blutig und grauenhaft sie auch waren, so führten sie doch zu einer Entfaltung neuer Produktivkräfte. Dieser Weltkrieg dagegen ist auf einer Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung ausgebrochen, auf der die kapitalistische Welt schon so große Produktivkräfte entwickelt hat, daß eine planmäßige Organisation der Gesamtwirtschaft möglich ist.
Die Entwicklung der Internationale.
I.
Der Krieg hat die internationalen Beziehungen unterbrochen, aber »der Menschheit Geist« ist nicht ausgelöscht, und nach dem Kriege wird es nötig sein, von neuem einen Bund der Völker zu errichten. So und ähnlich hört man heute oft die offiziellen Vertreter der sozialdemokratischen Parteien sich äußern. Ja, es finden sich Theoretiker, die beweisen, daß nur derjenige, der die Grenzen der Internationalität nicht genügend beachtet hat, der seine Wünsche für Wirklichkeit nahm, von einem Zusammenbruch sprechen kann. Die internationale Solidarität sei eben nur im Frieden möglich, die Internationale sei ein Friedensinstrument. Der Krieg schafft die nationale Solidarität in der Verteidigung des Bodens, auf dem die Arbeiterbewegung jedes Landes aufwächst. Ist er zu Ende, dann kommen die gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse wieder zum Worte und die Internationale wird auferstehen. Nur soll man durch gegenseitige Anklagen dies nicht erschweren. So Kautsky. Und Victor Adler, der Führer der österreichischen Sozialdemokratie, mahnt sogar die Führer der Arbeiterparteien, sich nach dem Kriege nicht an die Worte zu erinnern, die sie im Kriegsdelirium geschrieben haben!
Aber die Wirklichkeit kehrt sich nicht einmal an die Wünsche von Parteileitungen. Die Arbeitermassen sind nicht in der Lage, nach dem Operettenrefrain zu handeln: Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist. Es handelt sich für sie nicht um die »Bestrafung der Schuldigen«, zu denen sie doch selbst gehören. Ein Vergessen ist unmöglich, wenn die Massen für die Zukunft vom Kriege lernen wollen. Und es ist undurchführbar, weil die nationale Bourgeoisie bei dem ersten Versuch, die alten Melodien wieder anzustimmen, die Führer an die neuen Lieder erinnern würde, die sie während des Krieges mitgesungen haben. Ein Jahr des Weltkrieges läßt sich aus dem Buch der Geschichte, aus dem Bewußtsein der Volksmassen nicht ausreißen. Nicht gegenseitiges Vergessen, sondern kühle Untersuchung des Zusammenbruchs der zweiten Internationale bildet die Voraussetzung für die Bildung der dritten. Das Proletariat übernahm den Gedanken der internationalen Solidarität von den Ideologen der revolutionären Bourgeoisie Frankreichs, die, von den Heeren der Feudalmächte bedrängt, den Bund der Völker im Kampfe gegen den feudalen Absolutismus proklamierte. Zu der Zeit aber, als das Proletariat diese Losung übernahm, begann die Bourgeoisie schon auf den revolutionären Kampf gegen den Feudalismus zu verzichten, und eine neue soziale Frage drängte sich an die Tagesordnung der Geschichte, bevor noch die Trümmer des Feudalismus aufgeräumt waren: der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Diese Frage wurde zur Triebkraft der internationalen Solidarität des Proletariats. Es vergaß natürlich nicht den Kampf gegen den Feudalismus, die Unterstützung der um bürgerliche Freiheiten kämpfenden Nationen. Ja, die ersten internationalen Kundgebungen der englischen und französischen Proletarier entstanden als Proteste gegen die Unterdrückung der Polen durch Rußland, der Italiener durch Österreich. Aber je mehr die nationalen Einheitsbestrebungen verwirklicht wurden, desto mehr wurde das Proletariat zum einzigen Hüter des Gefühls der internationalen Einigkeit. Die Internationale Arbeiterassoziation, die im Jahre 1864 zum ersten Male gebildete größere internationale Vereinigung des Proletariats, begann mit einer Protestversammlung gegen die Niederwerfung des Polenaufstandes im Jahre 1863, aber ihren Hauptinhalt bildete die Vereinigung, Vereinheitlichung und Förderung des proletarischen Befreiungsstrebens. Sie entstand, als die Arbeiterbewegung nur in England und Frankreich größeren Umfang hatte, als die deutsche Arbeiterklasse durch Lassalle erst in einem sehr winzigen Teile aufgerüttelt war. In Österreich, Italien, den skandinavischen Ländern, Amerika war der Kapitalismus noch so jung, daß sein Produkt und Gegner, die moderne Arbeiterbewegung, erst im Entstehen begriffen war. Nirgends hatte die Arbeiterbewegung schon so großen Umfang angenommen, sich so sehr an die bestehenden staatlichen Rahmen angepaßt, daß sie keine Leitung oder Regelung von außen hätte vertragen können. Ja, in vielen Ländern war die national-staatliche Absonderung noch nicht einmal beendet, weswegen auch die junge Arbeiterbewegung über die Grenzen ihres Landes schaute, dorthin, wo die Geschicke ihres Landes besiegelt werden sollten. Die Verhältnisse ermöglichten nicht nur, sie erforderten eine zentrale internationale Leitung. Die junge Arbeiterbewegung stand da ohne Kenntnis des Weges, den sie zurückzulegen hatte. Marx, Engels und ihr Freundekreis kannten die Geschichte der englischen und französischen Arbeiterbewegung bis in alle Einzelheiten. Kenner der kapitalistischen Gesellschaft und der sie bewegenden Gesetze, konnten sie aus den bisherigen Erfahrungen der Arbeiterbewegung Lehren schöpfen, die den weiten Weg zu kürzen imstande waren. Sie sahen weiter als die Arbeiterführer der verschiedenen Länder, und so suchten sie die junge internationale Arbeiterbewegung von einem Orte her zu leiten, ihr, entgegen den Unterschieden, die sich aus der verschiedenen Geschichte der einzelnen Länder ergaben, eine einheitliche Richtung zu geben. Das gelang dank der Klugheit von Marx und Engels, die ihre Lehren der Arbeiterschaft nicht aufdrängten, sondern die Massen zu ihnen zu bringen suchten. Aber es konnte nur so lange gelingen, als die Arbeiterbewegung Deutschlands und Frankreichs nicht stark genug war, um gemäß den verschiedenen Bedingungen ihrer Länder den eigenen Weg zu gehen. Als der Französisch-Deutsche Krieg die Epoche der Kämpfe um die nationale Einigung Westeuropas abgeschlossen hatte, als die Staaten abgesondert dastanden mit ihren besonderen Gesetzen, die auf Jahrzehnte hinaus den Boden des Klassenkampfes absteckten, als die dank der Entwicklung des Kapitalismus erstarkende Arbeiterklasse in jedem Lande besonders gegen ihre eigene Bourgeoisie operieren mußte, da war eine zentrale Leitung der Internationale unmöglich. Die erste Internationale war tot. Sie entstand nach fünfzehn Jahren wieder, aber in ganz anderer Form, mit ganz anderen Aufgaben. Sie entstand, weil die Arbeiter in allen Ländern, trotz der Grenzen, trotz der besonderen Kampfbedingungen es empfanden, daß ihre Interessen dieselben sind. Ihre Lage war trotz aller Unterschiede gleichartig. Das Vorschreiten der Arbeiterklasse jedes Landes ermutigte ihre ausländischen Kameraden. Bei jeder Forderung, die die Arbeiter eines Landes erhoben, entgegnete ihnen ihre Bourgeoisie mit dem Hinweis auf das Ausland. Sie bezeichnete die Forderung nach Verkürzung der Arbeitszeit, nach Arbeiterschutz als Anschläge gegen die Konkurrenzfähigkeit der eigenen Industrie auf dem Weltmarkte. So brachte die Bourgeoisie dem Proletariat die Notwendigkeit bei, die zweite Internationale zu gründen. Wenn aber z. B. die englischen Verhältnisse einen Kampf um die Arbeitslosenversicherung erlaubten, konnten sie in Deutschland dafür eben am ungünstigsten liegen. Der Kampf um Koalitionsfreiheit in Deutschland konnte zwar die Sympathie des Proletariats aller anderen Länder, aber keine gleichartige und gleichzeitige Bewegung hervorrufen, weil seinerzeit in England diese Frage bereits erledigt war. Da wurde die Internationale zur Internationale der gemeinsamen Demonstration der Aufstellung gemeinsamer Losungen.
Am charakteristischsten ist in dieser Beziehung die Geschichte des Maifeiergedankens. Die Arbeiter aller Länder steckten sich das gemeinsame Ziel: den Achtstundentag zu erobern. Sofort entstand die Frage, ob die Demonstration dafür wirklich am 1. Mai stattfinden müsse, ob es nicht besser wäre, je nach den Verhältnissen eines jeden Landes sie eventuell auf den Sonntag nach dem ersten Mai zu verlegen. Und da der Kampf um den Achtstundentag nicht auf einmal ausgefochten werden konnte, da hierzu vielmehr ein mühevoller, Jahrzehnte dauernder Gewerkschaftskampf erforderlich war, so teilte er sich in eine große Anzahl besonderer Kämpfe, und die Maidemonstration wurde zur allgemeinen Demonstration für den Sozialismus, mit besonderer Betonung der jeweilig wichtigsten Fragen. Während die erste Internationale die gemeinsame Einleitung des Klassenkampfes war, ward die zweite Internationale zur Organisation der Verständigung über die gemeinsamen Ziele und der Demonstration für sie.
II.
Während die Arbeiterbewegung in der Epoche der zweiten Internationale sich in engster Weise an die staatlichen Grenzen und die in jedem Staate herrschenden Gesetze anpaßte, ging die kapitalistische Entwicklung über die Rahmen der einzelnen Staaten hinaus. Es entstand die Weltwirtschaft, die alle Staaten voneinander abhängig machte. Aber der Kapitalismus bedeutet Konkurrenz, Kampf der kapitalistischen Gruppen untereinander. So suchte die Bourgeoisie eines jeden Staates ein möglichst großes Stück der Welt für sich auszuschneiden, um von den übrigen Staaten unabhängig zu bleiben. Sie wollte alle zur Produktion notwendigen Rohstoffe und Lebensmittel aus selbständigen Quellen besitzen, ihr eigenes Wirtschaftsgebiet allein beherrschen. So entstand der wilde Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkte, das Bestreben, eigene Kolonien zu erobern, das Bestreben, den nationalen Markt zu monopolisieren. Während die Weltwirtschaft die Nationen verband, teilte die imperialistische Politik sie; sie schuf die Gefahr der Weltkriege. Diese Entwicklung bahnte sich schon in den neunziger Jahren an; seit dem großen Aufschwung des Kapitalismus nach dem Jahre 1893 schlug sie ein schnelles Tempo ein. Aber ihre Bedeutung, ihre Gefahren waren dem Proletariat lange unbekannt, obwohl einzelne Theoretiker sie zu würdigen wußten. Erst seit der Marokkokrise des Jahres 1905, der bosnischen Krise des Jahres 1909, der Verschärfung des deutsch-englischen Gegensatzes begannen weitere Kreise des Proletariats Pulver zu riechen. Man protestierte gegen die Kriegsgefahr, aber mit Protesten kann man sie nicht bannen. Trotzdem blieb es bei den bloßen Protesten, weil der Kampf gegen die Kriegsgefahr eine Änderung der Taktik des Proletariats erforderte. Das Parlament, in der zweiten Epoche der Internationale das wichtigste Betätigungsmittel der Arbeiterklasse, war hier ohnmächtig. Es hat eine bürgerliche Mehrheit, und das Bürgertum ist imperialistisch. Würde aber die Möglichkeit bestehen, daß die Arbeiterklasse in ihm die Mehrheit erlangt – die Gewalten, die um die Neuaufteilung der Welt zu kämpfen wagen, würden sich vor einer sozialdemokratischen Parlamentsmehrheit nicht fürchten. Der Widerstand gegen die Gefahren eines drohenden Weltkrieges erfordert das Aufgebot der sozialen Macht des Proletariats außerhalb des Parlaments, was natürlich die Notwendigkeit der parlamentarischen Tätigkeit nicht aufhebt. Die Arbeiterparteien konnten sich nicht leicht den neuen Anforderungen der Lage anpassen. Die neue Taktik verlangte, die bisherigen Errungenschaften aufs Spiel zu setzen. Zu einem solchen verantwortungsvollen Entschluß rafften sich die Führer nicht auf, da auch sie sich ganz der Epoche des langsamen Fortschrittes angepaßt haben. Sie »dämpften«, was die Neuorientierung der Volksmassen, die von Hause aus schwer beweglich sind und nur unter dem Druck der Ereignisse ihre Haltung ändern, noch erschwerte. So tröstete man sich, daß die Gefahr nicht so groß sei, daß auch im Bürgertum Friedenstendenzen vorhanden sind usw. Das war der politische Sinn der Kautskyschen Theorie, daß der Imperialismus eigentlich auch für das Bürgertum keine Notwendigkeit darstelle, daß es gelte, die Friedensbestrebungen im Bürgertum zu unterstützen.
Wenn aber die sozialdemokratischen Parteien in einzelnen Ländern nicht vermochten, zu einem wirklichen Widerstand gegen die imperialistische Gefahr überzugehen, so war die zweite Internationale noch weniger dazu fähig. War sie doch eine Organisation zur Demonstration gemeinsamer Grundsätze und Forderungen. Das wußten die Regierungen sehr gut. So schrieb ein aktiver deutscher Diplomat vor dem Kriegsausbruche: »Im allgemeinen kann man sagen, daß die Regierungen in allen Fragen, in denen sie an das Nationalgefühl appellieren können, auf den Internationalismus ihrer sozialistischen Parteien keinerlei Rücksicht zu nehmen brauchen, daß bisher kein nationaler Krieg mit Rücksicht auf die Kriegsfeindlichkeit des Sozialismus unterblieben ist, noch in Zukunft aus solchen Gründen unterbleiben wird. Die Regierungen mögen durch die Rücksicht auf die Friedenstheorien des Sozialismus vielleicht veranlaßt sein, bei ihren Unternehmungen sorgfältig auf die Deckung durch das nationale Gefühl bedacht zu sein, wobei sich nichts in der Sache, sondern nur manches in der Form und der Technik ändert, deren sich die moderne Politik zu bedienen hat.« ( J. J. Ruedorfer: Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart, S. 178, Berlin 1914.)
Als der Weltkrieg aus den Gegensätzen der kapitalistischen Entwicklung geboren wurde, zeigte sich die vollkommene Ohnmacht der zweiten Internationale. Ohne Widerstand übergab sie die Positionen, rollten die Fahnen zusammen und ging mit kleinen Ausnahmen an die nationale Arbeit. Wie kann sie wieder auferstehen? Auf Grund gegenseitiger »Verzeihung«? Aber wer kann dem Proletariat zumuten, noch einmal Proteste und Erklärungen anzuhören, die nach den Erlebnissen des Jahres 1914/15 als hohle Deklamationen, wenn nicht gar als bewußter Betrug der Massen klingen müssen! Oder kann die Internationale etwa existieren, wenn sie die Kriegspraxis zu ihrer dauernden Politik macht, wenn sie erklärt: machen wir uns keine Illusionen, eine solidarische Aktion gegen die Gefahren des Imperialismus ist unmöglich, die Solidarität kann nur im Frieden betätigt werden? Auf dieser Basis kann man vielleicht Kartelle der Gewerkschaften zur Erfüllung besonderer praktischen Zwecke bilden, aber nicht eine sozialistische Internationale zur Erinnerung des Sozialismus, die doch nicht eine Ferienarbeit zwischen zwei Kriegen sein kann. Die dritte Internationale wird dort anknüpfen müssen, wo die zweite versagt hat, bei den Fragen der außerparlamentarischen Tätigkeit. Wird sie sie nicht in zeitgemäßer Form lösen, dann wird sie nicht existieren oder nur eine Scheinexistenz führen. Deswegen sind all die altklugen Betrachtungen, daß wir uns schwächer, die Gegenseite sich stärker gezeigt hat, daß niemand, der offene Augen hat, nach dem Kriege mit den alten Diskussionen über die Massenbewegung kommen kann, entweder ein Gerede von Menschen, die ihren Katzenjammer für die einzige Änderung in der Weltgeschichte halten, oder sie sind ein Verzicht auf die Internationale. Ist denn aber dieser Katzenjammer nicht berechtigt? Hat es sich nicht in der Tat gezeigt, daß die Arbeiterklasse viel schwächer, die Gegenseite viel stärker war? Sind die Philippiken gegen die Illusionisten, die vor dem Kriege »den Mund voll nahmen«, nicht vollkommen am Platze? Was die Verfechter der neuen Formen der Aktion anbetrifft, so brauchen sie sich ihrer früheren Haltung nicht zu schämen. Sie haben beim Anbruch der imperialistischen Periode anerkannt, daß sie das Proletariat vor die Alternative stellten wird: Aktion oder Verzicht auf sozialistische Politik. Sie suchten die Partei zum ersten Teil der Alternative zu bewegen. Aus Rücksicht auf die angeblichen Interessen der Organisationen haben sich die Mehrheiten der offiziellen Parteien gegen eine solche Politik gewandt. Sie haben Illusionen im Volke gesät, die bei ihm ein Gefühl der Sicherheit hervorgerufen hatten. Die Folgen zeigen sich jetzt. Werden die proletarischen Parteien nach dem Kriege sich im alten Geleise bewegen können? Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Mehrheit der Parteiführer sich die Sache so vorstellt, ja daß das Irrlicht einer Hoffnung auf Zugeständnisse sie zu noch größeren Feinden einer aktiven Politik machen wird, daß sie also eine grundsätzlich reformatorische Politik befürworten werden. Aber der Weltkrieg und seine Folgen werden die Volksmassen aufs tiefste aufrütteln. Wie es schon jetzt keinem Zweifel mehr unterliegen kann, wird dieser Weltkrieg nicht im mindesten zur Milderung der Gegensätze, die ihn geboren haben, beitragen. Er wird nur eine Änderung der Mächtegruppierungen herbeiführen. Neue Verwicklungen, neue Gefahren wird er heraufbeschwören. Dabei wird die verschärfte wirtschaftliche Lage nach dem Kriege im Bewußtsein der Arbeiterklasse ganz klar als Folge des Weltkrieges und der Triebkräfte, die ihn hervorgerufen haben, erscheinen. Weder gegen die Folgen des jetzigen noch gegen die Aussichten eines neuen Weltkrieges wird die parlamentarische Aktion genügen. Die neue Praxis, zu der die Volksmassen in den nationalen Rahmen werden greifen müssen, wird die Vorbedingungen zu internationaler Tätigkeit schaffen. Nicht platonische Wünsche, nicht die Sucht, sich über die Lage der Gegenwart hinwegzutrösten, sondern eine kühle Untersuchung der Änderungen, die der Krieg bringen muß, erlauben die feste Zuversicht in die Zukunft der Internationale als der Organisation der Tätigkeit, die, wenn sie auch vielleicht keine genügende Kraft haben sollte, um der Geschichte ihren Willen zu diktieren, jedenfalls verhüten wird, daß die Arbeiterbewegung zu fremden Zielen mißbraucht wird.
In die Richtung der internationalen Betätigung werden die Ereignisse die Arbeiterschaft aller kapitalistischen Länder drängen. Je mehr wir uns die Richtung der Entwicklung klarmachen und zielbewußt auf sie hinarbeiten, desto schneller wird sie sich vollziehen. Jeder Versuch der Galvanisierung der alten Internationale durch Versöhnungskomödien der Sozialpatrioten bedeutet eine Verzögerung dieser Entwicklung. Darum gilt es, allen Phrasen von Menschheitswerten, die gerettet werden sollen, von alten Grundsätzen, die nicht aufgehoben seien durch eine Katastrophe, die niemand von uns gewollt hat, von der aber alle mitgerissen wurden, die Frage entgegenzustellen: Wozu soll sie dienen, die neue Internationale, was soll sie tun? Das ist des Pudels Kern.
Einheit oder Spaltung der Partei.
Sozialdemokratie und Sozialimperialismus.
Als die große Krise über den internationalen Sozialismus hereinbrach, glaubte mancher, es handle sich um eine vorübergehende Epidemie: man sprach von Kriegspsychose. Man hoffte, daß sie unter dem Einfluß der Folgen des Krieges bald vorübergehen würde. Jetzt geht schon das zweite Kriegsjahr zu Ende. Von einer Umkehr ist nicht das geringste zu bemerken. Immer größer wird der Zusammenbruch der offiziellen Parteiinstanzen, in allen Parteien der Internationale.
Beginnen wir mit England. Die Führer der Labour Party, der Vertretung der Millionen gewerkschaftlich organisierter Arbeiter, sind in die Regierung eingetreten. Sie können nicht, wie die Franzosen sagen, sie hätten es getan, nur weil der Feind vor den Toren der Hauptstadt stand. Sie haben also eine andere Ausrede. Die Arbeiterschaft müsse helfen, den preußischen Militarismus niederzuwerfen. Und sie helfen dazu, indem sie entgegen dem Beschluß der Konferenz der eigenen Partei darauf hinarbeiten, den Militarismus … in England einzuführen. Sie stimmen der Aufhebung des Streikrechts zu und helfen die Streiks niederwerfen. Sie protestieren nicht gegen den Aushungerungskrieg gegen Deutschland, sie protestieren nicht gegen die Greuel in Irland, sie protestieren nicht einmal gegen die Verfolgung der Sozialisten. Ja, sie beginnen schon jetzt den Wirtschaftskrieg gegen Deutschland in der zukünftigen Friedenszeit zu propagieren, zu welchem Zwecke sich die konsequentesten von ihnen mit dem Schutzzoll, den die englische Arbeiterklasse bisher immer bekämpft hat, aussöhnen. Das alles tun sie, um die Stellung des englischen Kapitals in der Welt, das heißt seinen Anteil an der Welt, zu verteidigen. Die konsequentesten von ihnen sagen es auch klar, daß die »Bedeutung des englischen Namens« in der Welt nicht gemindert werden darf.
In Frankreich sitzen 3 Vertreter der Sozialdemokratie in der Regierung. Einer von ihnen ist Munitionsminister: er spornt die Arbeiter an, möglichst viel Mordgeschosse zu produzieren. Mit Zustimmung seiner sozialistischen Ministerkollegen, der Guesde und Sembat, stattet dieser Thomas dem Hängezaren einen Besuch ab. Die Partei protestiert dagegen nicht. Im Lande herrscht die Polizei. Die demokratischen Rechte (Preß-, Versammlungs- und Streikrechte) sind aufgehoben. In den Fabriken herrscht der weiße Terror. Auf den Schlachtfeldern verblutet Frankreich. Aber die Partei wehrt sich mit Händen und Füßen gegen jede Friedensaktion, bis der deutsche Imperialismus ein für allemal vernichtet ist. Und wer glauben würde, daß es sich für die Führer nur um eine vorübergehende Politik handelt, der lese die Artikel Hervés, die Reden von Thomas, Jouhaux, Sembat, in denen die Solidarität der Klassen auch in Zukunft propagiert wird.
In Deutschland unterstützt die Mehrheit der Parteiführer den Imperialismus nicht nur, sondern sie hat sich in dem Junibeschluß des Parteiausschusses von 1915 ein imperialistisches Programm zugelegt. Sie hat den politischen wie gewerkschaftlichen Kampf vollkommen aufgegeben und begnügt sich mit Eingaben und Verhandlungen. Wenn angesichts dessen ein Cunow den Arbeitern im » Hamburger Echo« (vom 12. Juni) vorhält, »die Wahrnehmung (der Klasseninteressen) könne gar nicht inhibiert werden, da sie ein Lebenselement der heutigen Gesellschaft seien«, so ist das wahr, nur handelt es sich darum, daß die offiziellen Partei- und Gewerkschaftsinstanzen diese Wahrnehmung der Arbeiterinteressen »inhibiert« haben, so daß sich ihrer andere annehmen müssen. Denn wenn er unter Berufung auf die parlamentarischen Proteste der Sozialpatrioten gegen die Teuerung usw. sagt, nicht der Klassenkampf, sondern nur »bestimmte Formen« seien einstweilen aufgegeben, so trifft das nicht zu. Wenn man jeden Druck der Arbeitermassen auf ökonomischem und politischen Gebiete ausschaltet, ja ihm entgegenwirkt, so sind die Proteste im Parlament auch kein Klassenkampf. Und wieder erklären die konsequentesten Vertreter der Mehrheit – die Führer der Partei wie der Gewerkschaften – es handle sich nicht um eine vorübergehende Kriegspolitik, sondern der Krieg habe das Wesen der Partei ans Licht gebracht. Sie sei schon früher eine reine Reformpartei gewesen, nur habe sie sich die radikalen Phrasen nicht abgewöhnen können. Nach der Praxis der zwei Kriegsjahre werde sie jedoch einsehen müssen, daß man nur durch ein Zusammengehen mit dem Liberalismus, nur durch eine ruhige parlamentarische und gewerkschaftliche Reformarbeit vorwärts kommen könne, wobei das Proletariat sich mit der Bourgeoisie dem Auslande gegenüber als ein einig Volk von Brüdern fühlen und somit allen imperialistischen Notwendigkeiten (Rüstungen, Kolonialpolitik) zustimmen müsse.
Selbst in Rußland, was man am Anfang des Krieges für unmöglich gehalten hätte, hat ein Teil der sog. Menschewiks (so die bekannten Parteischriftsteller Maslow, Potresow, Wera Sassulitsch, Plechanow) alles getan, um einen Teil der Arbeiter in die Kriegskomitees zu treiben, wo jetzt die Gwozdieffs nicht nur dafür sorgen, daß der Zar möglichst viel Munition bekommt, sondern Huldigungstelegramme an die Generäle absenden. Alles das natürlich in der Hoffnung, daß man es durch eine derartige Politik leichter haben werde, irgendwelche Zugeständnisse zu ergattern. Die Freiheit, die die russischen Arbeiter im Kampfe gegen die zarischen Bajonette bisher nicht erobert haben, hofft man durch Fabrikation der Bajonette zu ergattern. In dem Sammelwerk, das diese Politik begründet und das » Selbstverteidigung« heißt, erklären die Führer, daß, wenn die westeuropäischen Arbeiter, die 50 Jahre Sozialisten sind, sozialpatriotische Politik treiben, so wäre es eine Anmaßung, wenn die junge russische Arbeiterbewegung dies als Verrat am Sozialismus bezeichnen würde.
So sieht die Politik der Sozialpatrioten und Sozialimperialisten in den hauptsächlichsten kriegführenden Ländern aus. Ihre gemeinsamen Kennzeichen sind: 1. vollkommenes Aufgeben des Klassenkampfes, 2. Unterstützung des Krieges unter der Losung der Landesverteidigung, obwohl man weiß, daß man im Falle des Sieges keine Kraft haben wird, den imperialistischen Expansionsdrang einzudämmen, 3. die wachsende Erkenntnis, daß es sich nicht um eine vorübergehende Abirrung von der bisherigen Politik handelt, sondern um den Anfang einer neuen Politik des Zusammengehens mit der Bourgeoisie. Da die Politik des Sozialpatriotismus im Widerspruch steht mit den Grundsätzen des Sozialismus, die nach einem genialen Worte von Engels nichts anderes darstellen, als die »Lehre von den Bedingungen der Befreiung des Proletariats«, so hat sich dieser Politik ein Teil der Internationale auch in den kriegführenden Ländern entgegengestemmt. So die Unabhängige Arbeiterpartei Englands, die italienische Sozialdemokratie, die serbischen und bulgarischen Genossen, die polnische Sozialdemokratie, die russischen radikalen Sozialdemokraten (Bolschewiks). Aber auch in der deutschen und französischen Arbeiterbewegung gab es unter der Führerschaft selbst an dem historischen Tag des Zusammenbruches einen Teil, dem es klar war, daß die neue Politik das Ende des Sozialismus bedeutet. Verblüfft, durch den Zusammenbruch der Partei vollkommen überrumpelt, haben sie sich ihm am 4. August nicht entgegengestemmt. Sie haben dadurch den Prozeß des Wiedererwachens der Partei überall verlangsamt. Aber ein Teil von ihnen suchte den Schaden gut zu machen, indem er sich sofort an die Massen wandte und sie gegen die Mehrheit der Führer aufzurütteln versuchte. So haben sich allmählich zu den dem Sozialismus treugebliebenen Parteien Minoritäten von gleichgesinnten Genossen in den Ländern gesellt, in denen die Mehrheit der Parteiführer die Bourgeoisie unterstützt. Sie haben sich später in Zimmerwald zu einer internationalen Aktionsvereinigung zusammengeschlossen. In England führen die beiden sozialistischen Parteien den Kampf weiter. In Frankreich besteht eine aus den revolutionären Gewerkschaftlern und Sozialdemokraten gebildete Aktionsgemeinschaft. In Italien kämpft die Partei als Ganzes. Die Lage in Deutschland ist den Lesern bekannt. Wir brauchen nicht zu beweisen, daß die Partei in praktisch zwei Lager zerklüftet ist und daß die Opposition in der Partei mit jedem Tage wächst. In Rußland sind die Bolschewiks tätig.
Diese Sachlage bedeutet: sachlich besteht schon heute die Spaltung, im internationalen, wie im nationalen Maßstabe. Was kann die radikale russische Sozialdemokratie oder die italienische Partei gemeinsam mit dem deutschen oder französischen Parteivorstand unternehmen? Nichts. Sie treiben entgegengesetzte Politik. Die einen kämpfen gegen ihre Regierungen, die anderen bilden deren politische Stütze. Und ebenso ist es in den einzelnen Parteien, in denen die Politik der »Oppositionen« im strikten Gegensatz zu denen der offiziellen Instanzen steht. Diese Tatsache wird verhüllt dadurch, daß die Menschen noch nicht überall und nicht mit genügender Schärfe die Sprache der Tatsachen verstehen. Ein Teil der an Zimmerwald angeschlossenen Parteien glaubt noch, daß sich die »irrenden Brüder« zurechtfinden. Diese Parteien fordern immer wieder den Zusammentritt des bankerotten Internationalen Sozialistischen Bureaus im Haag, um durch eine Aussprache eine Verständigung der Sozialpatrioten herbeizuführen. Gleichzeitig hofft ein Teil der Opposition – in Deutschland und Frankreich, den ausschlaggebenden Ländern wird es wohl die Mehrheit der oppositionellen Führer sein – daß die sozialdemokratischen Parteien als Ganzes sich noch zurechtfinden werden. Die Folgen des Krieges werden schließlich auch die Führer zum Umschwenken zwingen. Wer von ihnen so sehr »umgelernt« hat, daß ihm der Rückweg verlegt bleibt, der wird eben draußen bleiben: aber das wird nur eine unbedeutende Absplitterung sein. Andere wieder sehen zwar klar, daß die Spaltung unvermeidlich ist, aber sie halten es für verfrüht, dies auszusprechen, um die Massen, die an der Einheit der Organisation hängen, nicht vor den Kopf zu stoßen, bevor ihnen die eigenen Erfahrungen die Unmöglichkeit der organisatorischen Einheit mit den Sozialpatrioten beweisen. Wir halten die Spaltung (im nationalen wie internationalen Maßstabe) nicht nur für unvermeidlich, sondern für eine Vorbedingung des wirklichen Wiederaufbaues der Internationale, des Wiederaufwachens der proletarischen Arbeiterbewegung. Wir halten die Vorenthaltung dieser unserer tiefen Überzeugung den Arbeitermassen gegenüber für unzulässig und schädlich. Wir wollen unsere Überzeugung in den folgenden Artikeln begründen und fordern unsere Gegner auf, uns nicht mit moralischen Beschwörungen oder Verwünschungen zu kommen, sondern unsere Darstellung der Frage sachlich Punkt für Punkt zu widerlegen.
Wir beginnen mit der Frage von dem sozialen Hintergrund der Spaltungen in der Arbeiterbewegung überhaupt, wie der jetzigen Spaltung der Internationale.
Die Spaltung in der Arbeiterbewegung.
Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist voll von Spaltungen. Die deutsche Sozialdemokratie, der es vergönnt war, vierzig Jahre lang eine Organisation aufrechtzuerhalten, hat sich gewöhnt, auf die gespaltenen Bruderparteien herabzusehen und ihre erbitterten organisatorischen Kämpfe als Kinderkrankheiten zu betrachten. Es war eine etwas sonderbare Methode, die französische Arbeiterbewegung bis in das Jahr 1905, in dem die Vereinigung der sozialistischen Fraktionen Frankreichs erfolgte, während die Gewerkschaften weiterhin feindlich der Partei gegenüberstanden, im Kindesalter zu wähnen. Es ist lächerlich, anzunehmen, daß die russischen »Gruppen und Grüppchen« – in Wirklichkeit handelt es sich um zwei Parteien – die hohe Weisheit nicht verstehen, daß es besser ist, wenn die sozialistischen Arbeiter einig sind. Nun, jetzt, da die deutsche Partei trotz ihres hohen Alters und ihrer großen Organisation es nicht hat verhüten können, daß ihre parlamentarische Vertretung, ihre Organisationen in sich bekämpfende Teile zerfallen sind, ist es Zeit, sich nach den Wesen der Spaltungen zu fragen, über die die Geschichte des Sozialismus klare Auskunft gibt.
Überall, wo die sozialistische Arbeiterbewegung sich spaltete, lagen den ideologischen Gegensätzen, um die äußerlich gekämpft wurde, soziale Gegensätze zugrunde. Die erste große moderne Arbeiterbewegung, auf deren Grund Marx sich seine taktischen Ansichten bildete, die Chartistenbewegung in England, zerfiel in zwei Teile: der eine wollte die Befreiung der Arbeiterklasse auf dem Wege der moralischen Überzeugung der Bourgeoisie erreichen, der andere proklamierte die Gewalt als den Weg zum Ziele. Die gesamte Praxis der Chartistenbewegung hallte von diesem Gegensatz wider. Die Untersuchungen von Beer, Pumpiansky, Schlüter hellten die Quellen dieses Gegensatzes auf. Auf der einen Seite stand die große Masse des Fabrikproletariats aus dem englischen Norden, der unerhörten Ausbeutung unterworfen, die Engels in seiner »Lage der arbeitenden Klassen in England« so klassisch darstellt, rücksichtslos von der Staatsgewalt niedergehalten, sobald sie sich nur rührte. Ihre Kraft sah sie nur in ihrer großen Masse. Wie konnte sie da anders auf den Sieg hoffen, als durch Einsetzung ihrer physischen Macht? Auf der andern Seite standen die Arbeiter des Londoner Handwerks, verhältnismäßig gebildet, in ihren Klubs in ununterbrochener Fühlung mit den Führern des radikalen Kleinbürgertums. Eine geschlossene Macht, die durch ihre Zahl wirkte, stellten sie nicht dar; trotzdem ist es ihnen oft gelungen, die bürgerlichen radikalen Herren nach links zu treiben. Aus dieser Sachlage ergab sich ihre Überzeugung, das Hindernis liege in der mangelnden Bildung der Arbeiter, die es zu fördern gelte, wonach man durch Einwirkung auf die bürgerlichen Radikalen als ihre Bundesgenossen zum Ziele gelangen könne. Der Chartismus ging zugrunde, bevor die wirtschaftliche Entwicklung die soziale Quelle der Spaltung der Chartisten, den Unterschied zwischen der Lage der qualifizierten Handwerks- und der qualifizierten Fabrikarbeiter, verschüttet hatte.
Woran ging die erste Internationale zugrunde? An den Intrigen Bakunins, einer »politischen Verbrechernatur«, erklären Freunde politischer Kinostücke. An dem Gegensatz zwischen Marxismus und Anarchismus, sagen die andern. Aber was war die Quelle dieses Gegensatzes? Es genügt, die ganz gewiß nicht sehr tief schürfenden Arbeiten von Jaeckh, Steklow, Brupbacher, kritisch zu lesen, und man sieht diese Quelle. Wie konnten sich die Lumpenproletarier Spaniens, Italiens, Arbeiter aus Ländern, in denen der Kapitalismus erst seine zerstörende Arbeit begonnen, aber noch keine Fabriken geschaffen hatte, die qualifizierten Uhrenarbeiter der stillen Juraberge, die Kunsthandwerker von Paris, die Intelligenzen dieser Länder, wie konnten diese sich befreunden mit der Lehre, die den unaufhaltsamen Konzentrationsprozeß des entwickelten Kapitalismus zur Grundlage hatte, der Lehre, die nur in dem an Zahl und Geschlossenheit mit jedem Tag zunehmenden Proletariat die Kraft sah, die die Staatsgewalt der Bourgeoisie in langem, systematischem Kampfe besiegen konnte, um die konzentrierten Kräfte in ihren Dienst zu stellen. Die Konzentration der Produktion war für Italien, Spanien, einen Teil der Schweiz, Frankreich ein Märchen aus Tausend und eine Nacht. Deswegen mußte auch der Gedanke an die zentralisierte sozialistische Produktion für die Arbeiter dieser Länder willkürlich scheinen, als ein Irrwahn des preußischen »Staatssozialisten« Marx, der Bismarcks Politik auf die Internationale übertrug. Nein, freie Genossenschaften freier Arbeiter, wie sie die Handwerker dieser Zeit oft bildeten, das war das Ziel, oder bestenfalls sozialistische Gemeinden ohne jede zentralisierte Gewalt, die als reine Tyrannei galt. Und wie das Ziel, das Marx der modernen Arbeiterbewegung steckte, so mußten auch die Kampfesmethoden, die er empfahl, unbrauchbar erscheinen. Für das Lumpenproletariat gibt es nur ein Hinvegetieren im Elend oder eine Revolte, wovon in den romanischen Ländern auch das Kleinbürgertum Beispiele in Hülle und Fülle gab. Für die Handwerksarbeiter war die Genossenschaft der Kampfesweg. Dem systematischen politischen Kampfe überhaupt, dem parlamentarischen Kampfe als seinem wichtigsten Mittel, mußten die genannten Arbeiterschichten fremd gegenüberstehen: sie waren zu schwach, um an einen allgemeinen Aufstieg zu glauben, zu schwach, um am politischen Kampfe mit Erfolg teilzunehmen. Und weil sie zu schwach waren, wurden sie bei jedem Versuch der Teilnahme an Wahlen usw. von kleinbürgerlichen Demagogen übers Ohr gehauen. Deshalb sahen sie in den von Marx empfohlenen Kampfmitteln Illusionen oder Trugbilder und hofften auf einen Aufstand aller Unterdrückten, Ausgebeuteten, vom Kleinbauern bis zum Dieb und der Prostituierten. Auf ihn galt es zu warten, ihn zu propagieren; und da er nicht kam, suchten sie ihn durch Putsche zu beschleunigen, Putsche, die natürlich resultatlos verliefen. Während so ein großer Teil der damaligen Arbeiterbewegung die Marxsche Politik ablehnen mußte, sammelten sich die Teile, die sie später durchführen sollten, sehr langsam.
Die erste Internationale zerfiel. Und es vergingen zwanzig Jahre, bis die kapitalistische Entwicklung in Frankreich, Italien, der Schweiz, Deutschland große Massen der Arbeiterbewegung schuf, deren Klassenlage sie für den Marxismus empfänglich machte.
Und was lag dem Kampf der Lassalleaner und Eisenacher zugrunde? Lange bestand in der Partei die Legende, die Eisenacher seien die »Marxisten« gewesen, die Lassalleaner aber hätten eine »Sonderpolitik« entweder aus einer religiösen, sektenhaften Anbetung des Lassalleandenkens getrieben, oder weil sie der schlechte Schweitzer verhetzte, der obendrein dafür den Judaslohn von Bismarck empfing. Nach den Arbeiten Mehrings, Laufenbergs, G. Maiers ist diese Legende verflogen. Jeder weiß jetzt, was die verschiedene Haltung verschiedener Teile der Arbeiterklasse zur Frage der Einigung Deutschlands verursachte. In den kapitalistisch am meisten entwickelten Teilen Deutschlands, in Berlin, Rheinland-Westfalen usw. empfand die Arbeiterschaft die Notwendigkeit des Aufräumens mit der Kleinstaaterei am lebhaftesten. Als sich die preußischen Bajonette zu lösen begannen, sagte sie – mit Recht oder Unrecht –: gut oder schlecht, der Schutt wird weggeräumt, wer es auch tun mag.
In Sachsen, Süddeutschland war der Partikularismus dank der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit dieser Länder noch sehr groß. Er ward auch genährt durch das Bestehen der kleinbürgerlichen Demokratie, mit der man vorwärts zu kommen hoffte, wogegen in Preußen nicht nur der Absolutismus viel stärker, sondern auch der Liberalismus viel verlotterter war. Während sich bei den Lassalleanern dank der geschilderten Lage ein gewisses Hinneigen zu Kompromissen mit der Staatsgewalt, die Deutschland in ihrer Weise zu einigen suchte, mit einem viel schärferen Klassenbewußtsein der Bourgeoisie gegenüber verband, ging bei den Eisenachern der Partikularismus mit einer demokratisch-revolutionären Stimmung Hand in Hand. Obwohl der Deutsch-Französische Krieg die aktuelle Streitfrage, das Verhältnis zur Einigung Deutschlands, erledigte, vergingen noch viele Jahre bis zur Einigung der Eisenacher und Lassalleaner, weil die Verschiedenheit des Milieus, in dem beide Fraktionen wirkten, lange noch das Sichfinden erschwerte.
Um mit dem Ausflug in die Geschichte des Sozialismus zu enden, der naturgemäß nur sehr kurz sein konnte, alle Übergänge fortlassen, die Fragen kraß herausarbeiten mußte, erinnern wir uns, was die Grundlage der opportunistischen Politik in der zweiten Internationale bildete, die in England, Frankreich, Italien, Bulgarien usw. direkt zur Spaltung der Partei geführt hat. Hier können wir uns ganz kurz fassen, weil den Lesern die Ereignisse frisch in Erinnerung sind und sie sie auch in dem ausgezeichneten Büchlein von Pannekoek: »Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung« beleuchtet finden können. Wer trat für die Politik des Opportunismus ein? Entweder waren es kleinbürgerliche Elemente der wirtschaftlich weniger entwickelten Länder (in Deutschland Bayern und Baden), die den unüberbrückbaren, sich immer mehr verschärfenden Gegensatz zum Kapitalismus nicht so scharf empfanden, oder es waren Intelligenzler, die kraft ihrer sozialen Lage, ihrem Berufe als Schriftsteller, Rechtsanwälte, der Bourgeoisie näher stehen und an die Möglichkeit der Mitarbeit mit ihrem linken Flügel glauben, oder es war die Arbeiterbureaukratie, die dank ihrer Arbeit in den politischen und ökonomischen Vertreterkörperschaften im Kleinkampf aufging und infolge ihrer zwar nicht glänzenden, aber gesicherten sozialen Lage in scharfen Kämpfen eine Störung ihrer ruhigen, »einzig aussichtsvollen Arbeit« empfand. Die Proletariermassen der industriellen Zentren standen auf radikaler Seite, wo sie nicht, wie z. T. in Rheinland-Westfalen, noch in großen Massen frisch vom Dorfe eingewandert waren. Der Gegensatz der auf Verschärfung des Klassenkampfes hinzielenden proletarischen und der auf eine Annäherung an die Bourgeoisie hinarbeitenden opportunistischen Taktik – der in der verschiedenen sozialen Struktur der verschiedenen Bestandteile der Arbeiterbewegung begründet war – sprengte überall die Hülle der einheitlichen Arbeiterorganisation, wo nur eine der Tendenzen sich voll entwickeln konnte. In Frankreich, Italien erlaubten die demokratischen Einrichtungen den Opportunisten, direkt oder indirekt an der Regierungsgewalt teilzunehmen. Der radikale Flügel konnte die Verantwortung dafür nicht übernehmen, wenn er vor den Massen die Verantwortung für die Politik der Bourgeoisie nicht tragen konnte. Nur dort, wo, wie in Deutschland, Österreich, die politische Zurückgebliebenheit gepaart mit den schärfsten sozialen Gegensätzen, den Opportunisten nicht erlaubte, an der Regierung teilzunehmen, kam es zu keiner Spaltung. Der Krieg hat auch hier eine Änderung der Bedingungen verursacht, über die wir demnächst sprechen werden. Einstweilen unterstreichen wir zwei Schlüsse, die sich aus unseren Ausführungen ergeben: 1. die verschiedenen Richtungen in der Arbeiterbewegung waren immer in einer sozialen Verschiedenheit ihrer Bestandteile begründet, die zu Spaltungen führte; 2. diese Spaltungen konnten niemals in kurzer Zeit überwunden werden, der Einigungsprozeß war immer ein langer Kampfprozeß.
Die Politik des 4. August.
Die Politik des 4. August, die Politik des Burgfriedens mit der Bourgeoisie und der Unterstützung ihrer imperialistischen Unternehmungen, ist, wie wir im ersten Artikel gezeigt haben, eine internationale Erscheinung. Und sie ist nicht nur eine grausam harte Tatsache zweier Jahre, sie ist auch ein Programm der Zukunft. Eine Politik, die gleichzeitig getrieben wird von London bis Petersburg, von Paris bis Wien muß schließlich gleichen Quellen entströmen. Welches sind diese Quellen?
In seinem letzten Buche »Die Sozialdemokratie, ihr Ende und Glück«, das alle Erkenntnisse des Linksradikalismus mit imperialistischen Auffassungen vereinigt, um aus ihnen eine Begründung der Politik des 4. August zu fabrizieren, erklärt Paul Lensch die Haltung der englischen Trade-Unionisten und der Labour-Party in folgender Weise:
»Diese Herrschaft (Englands auf dem Weltmarkt), die in den letzten Jahrzehnten nicht mehr völlig unerschüttert war, hatte allen in Betracht kommenden Gesellschaftsschichten Großbritanniens Vorteile gebracht, nicht zum mindesten auch der Arbeiterklasse. Ihre privilegierte Minderheit, das heißt die Gewerkschaftswelt, steckte den größten Teil ein, aber auch die große unorganisierte Masse hatte dann und wann vorübergehend ihr Teil. Hier haben wir den Schlüssel zum Geheimnis, daß die englischen Gewerkschaften die stärksten Stützen der englischen Kriegspolitik wurden. Sie wußten sehr wohl, worum es geht, und daß sie nur ihre eigenen Privilegien, ihre eigene Ausnahmestellung in der internationalen Gewerkschaftswelt verteidigen, wenn sie Englands Weltherrschaft verteidigen. Ihre gegen kontinentale Verhältnisse immer noch beträchtlich höheren Löhne und durchschnittlich besseren materiellen Lebensverhältnisse fußten auf dieser Weltherrschaft, wer diese angriff, der griff sie selber an.«
Die Auffassung von Lensch ist zwar nicht neu – sie ist eine seiner bekannten Anleihen bei den radikalen Sozialdemokraten – aber sie ist ohne Zweifel richtig. Die Politik der Trade-Unions war immer die Politik der Arbeiteraristokratie, und sie bestand immer in einem Haschen nach den Brocken, die vom Tische der weltbeherrschenden englischen Bourgeoisie fielen. So hat sie Marx, so hat sie Engels auch bewertet. Es ist klar, daß sich die englische Arbeiteraristokratie beim Ausbruch des Krieges nicht aus kurzsichtigen Nutznießern der privilegierten Lage der englischen Bourgeoisie in einen von Idealismus erfüllten Stand verwandelt hat, die für die Befreiung der »kleinen Nationen« blutet. Aber wie kommt es, daß dieselbe Politik von der deutschen Sozialdemokratie und den deutschen Gewerkschaften getrieben wird, die bisher in der Welt als der strikte Gegensatz der englischen Trade-Unionisten galten? Wo liegt der Schlüssel zu diesem Geheimnis? Dieses Geheimnis wurde schon lange vor dem Kriege entschleiert, und Lensch half einst dabei, es täglich zu tun. Der Unterschied zwischen den englischen Gewerkschaften und der deutschen »sozialdemokratischen« Arbeiteraristokratie bestand schon vor dem Kriege nur in der verschiedenen politischen Phraseologie.
Die Oberschicht der deutschen Arbeiterschaft, die dank der stürmischen Entwicklung der deutschen Industrie verhältnismäßig hohe Löhne bekam, der staatliche und gewerkschaftliche Versicherungseinrichtungen eine verhältnismäßig sichere Lebenslage boten, die gewissermaßen an der bürgerlichen Kultur teilnahm, hat durch den Mund der Revisionisten und Gewerkschaftsführer seit gut fünfzehn Jahren immer häufiger erklärt, sie habe mehr als Ketten zu verlieren, ihr langer Kampf habe bereits Erfolge gezeitigt. Im revisionistischen Lager spielten zwar die kleinbürgerlichen Elemente aus dem Süden eine bedeutende Rolle, aber die wachsende Macht des Revisionismus im Parteileben bestand eben darin, daß die Gewerkschaftsführer sich zu denselben kleinbürgerlichen Idealen bekannten.
Die Politik der Arbeiteraristokratie ist schließlich eine rein kleinbürgerliche, weil sie an den Grundlagen des Kapitalismus nicht rüttelt, sondern möglichst viel von seinen Vorteilen zu erhaschen sucht. Natürlich bekannten sich die deutschen Gewerkschaftler und Revisionisten zum Sozialismus; denn im Gegensatz zu den englischen Trade-Unionisten, die in liberalen Auffassungen aufgewachsen sind, sind sie in sozialistischen Auffassungen erzogen worden und – was noch wichtiger ist – die breiten Arbeitermassen waren in Deutschland von der sozialistischen Ideologie durchtränkt. Aber der Sozialismus ward ihnen zu einem fernen Ideal oder nur zur Phrase. Ihre tägliche Arbeit erschöpfte sich in dem Kampf um kleine Vorteile. Von diesem Standpunkt beurteilen sie auch die Politik: sie stemmen sich jedem Versuch einer Massenbewegung, die breiten Kreisen der Arbeiterschaft politische Rechte und Besserung der Lebenslage bringen sollte, entgegen. Sie begründeten ihren Protest gegen die »Revolutionsromantik« zwar mit der angeblichen Unmöglichkeit solcher Aktionen, aber in Wirklichkeit handelte es sich um die Angst vor der Gefährdung der bisherigen Errungenschaften der Arbeiteraristokratie. Nicht um ihre Verallgemeinerung durch diese Massenbewegung, sondern um ihre Steigerung handelte es sich für die Arbeiterbureaukratie, die sich aus der Arbeiteraristokratie rekrutierte und ihre Interessen vertrat. Deswegen waren sie alle Anhänger der revisionistischen Politik der Annäherung an die Bourgeoisie, die den »ruhigen, sachlich vorgehenden« Elementen Zugeständnisse machen sollte, während sie durch die »radikalen Phrasen« nur erschreckt und in die Arme der Reaktion getrieben wird. Auch hatten die Gewerkschaftsführer und die Revisionisten nichts dagegen, wenn die Bourgeoisie ihnen die Zugeständnisse auf Kosten der Volksmassen anderer Länder machen würde. Die Gewerkschaftsführer und die Revisionisten waren durch die Bank Anhänger der Kolonialpolitik, die nichts anderes ist, als die Verwendung fremder Volksmassen zu kapitalistischen Zwecken. Bewiesen sie nicht, daß die Kolonialpolitik im Interesse der deutschen Arbeiter liege? Wenn es sich um die Massen der Arbeiter handelt, um die Arbeiterklasse als Ganzes, so stimmte die Rechnung zwar nicht, aber eine kleine Schicht der qualifiziertesten Arbeiter ergattert Abfälle von den Riesenprofiten der Unternehmer. Diese Abfälle sind nicht nur das Ideal der deutschen Gewerkschaften in der Zukunft, sondern sie bildeten schon vor dem Kriege – ebenso wie in England – die Butter auf dem Brot der deutschen Arbeiteraristokratie, nur daß sie in Deutschland eine kleinere Schicht erhielt als in England. Denn das deutsche Kapital näherte sich mit Riesenschritten der Lage, die das englische Kapital bereits erobert hat: durch seinen Industrieexport, der dem englischen fast gleicht, durch seinen mit jedem Jahre wachsenden Kapitalexport, hatte sich das deutsche Kapital schon vor dem Kriege, nach England, den größten Anteil an der Weltbeute gesichert. Und auch die deutsche Arbeiteraristokratie hatte sich den Platz dicht neben der englischen erobert. Wie die deutsche Bourgeoisie in diesem Kriege versucht, durch die Erringung der »Freiheit der Meere«, durch die Gründung Mitteleuropas wenigstens die gleiche Lage wie die englische zu gewinnen, träumen die Gewerkschaften von den Fleischtöpfen Ägyptens.
Wie in England, so sind auch in Deutschland Arbeiteraristokratie und -bureaukratie die Träger der Politik des 4. August. In Frankreich, Italien und Rußland sind diese Schichten schwächer entwickelt, wie auch diese Länder weit hinter Deutschland und England auf dem Weltmarkt hertrotten. Aber auch in Frankreich stand die organisierte Arbeiteraristokratie hinter den sozialpatriotischen Führern, deren Patriotismus, wie Hervé schon in seinem Buche »Das Vaterland der Reichen« (1907) einwandfrei bewiesen hat, in der Angst vor dem Verlust der Mandate bestand, deren Erlangung von dem Kleinbürgertum abhängig ist. Das Interesse der Politikaster, die die Abgeordnetenstellung weit über ihre bisherige soziale Lage erhebt, verbindet sich mit dem ihrer Klientel, der sie kleine Beamtenstellen, Läden der Monopolverwaltung usw. zuschanzen. Den Köder für die Massen aber bildet die größere politische Freiheit in Frankreich, wie ihre revolutionären Traditionen. In Italien und Rußland ist der Kreis der bevorrechteten Arbeiter sehr klein, weswegen dort die große Mehrheit der Partei dem Sozialismus treu geblieben ist. Aber selbst in diesen Ländern gruppiert sich um die Sozialpatrioten – die Reformisten und Mussolianer in Italien, die Gruppe der »Selbstverteidigung« in Rußland – ein Kern qualifizierter Arbeiter, der rein reformistisch denkt und deswegen mit der Bourgeoisie geht.
Die Politik des 4. August stellt die Krönung der Politik des Opportunismus dar, wie er sich in der zweiten Internationale entwickelt und unter dem Namen des Revisionismus und Reformismus auftrat. Schon im Jahre 1903 nannte der damals auf der Höhe seines Radikalismus stehende Parvus diese Politik der Arbeiteraristokratie nationalliberale Arbeiterpolitik; denn ebenso wie die Nationalliberalen die Ziele der Bourgeoisie im Bündnis mit den Junkern, nicht im Kampfe gegen sie zu erreichen suchten, so sucht die Arbeiteraristokratie und Bureaukratie ihre Ziele im Bündnis mit der Bourgeoisie zu erreichen. Daß diese Politik unvereinbar mit dem Sozialismus ist, wußten wir schon vor dem Kriege. Aber wir glaubten, daß es sich bei dieser Politik nur um Illusionen der Führer handelt, die unter dem Druck der sich verschärfenden Klassengegensätze verflattern werden. Die Erfahrung zeigte, daß wir uns geirrt haben. Erstens war diese Politik nicht nur die der Führer. Es stand hinter ihr ein Stamm von Arbeitern, der nichts anderes als die Führer wollte. Und es wäre eine verhängnisvolle Illusion, wenn wir uns einreden wollten, daß jetzt hinter diesen Führern keine Massen ständen, oder wenn sie hinter ihnen stehen, daß sie dies nur tun, weil sie nicht genügend aufgeklärt sind. Die Spaltung geht durch die Arbeitermassen selbst; überall hält ein Teil der Arbeiter zu den Sozialpatrioten, und er tut dies nicht aus mangelnder Aufklärung, sondern weil er nur Reformen will. Ohne daß man dies erkennt, ist man verurteilt, eine illusionäre Parteipolitik zu treiben, weil man die Kraft des Gegners unterschätzt.
Nun unterliegt es keinem Zweifel, daß sich die Träume der Sozialpatrioten nicht erfüllen werden: die Kosten des Krieges, der nach ihm einsetzende Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkte, die Konzentration des Kapitals, die wachsende politische Reaktion wird in keinem Lande die Bourgeoisie geneigt machen, der Arbeiteraristokratie irgendwelche bedeutenderen Zugeständnisse zu machen. Die Tragikomödie des Sozialimperialismus besteht darin, daß er den Sozialismus verriet, um durch ein Bündnis mit der Bourgeoisie Reformen zu erlangen; zu diesem Zwecke unterstützt er sie im Kriege. Aber der Krieg zerstört alle Illusionen des Sozialimperialismus.
Nun könnte man schließen: obwohl der Sozialimperialismus den Verrat am Sozialismus darstellt, werden Arbeiteraristokratie und -bureaukratie nach dem Kriege einsehen müssen, daß sie sich geirrt haben, und sie werden von neuem den Weg des Kampfes betreten. Laßt uns also nur ihre Illusionen kritisieren, wodurch wir ihr Ende beschleunigen; aber brechen wir nicht mit ihr, spalten wir die Arbeiterbewegung nicht; denn der Gang der Ereignisse wird uns recht geben und so die ganze Arbeiterschaft in geschlossenen Kolonnen in den Kampf führen.
Diese Schlüsse sind unrichtig. Das wollen wir demnächst beweisen.
Für die Spaltung!
Die Sozialpatrioten und Sozialimperialisten repräsentieren die Politik der Arbeiteraristokratie, jener Schicht, die sich im letzten Vierteljahrhundert dank der wirtschaftlichen Prosperität vermittels der gewerkschaftlichen und politischen Organisation und Aktion eine verhältnismäßig hohe und sichere Lebenslage errungen hat. Aber dieselbe Entwicklung, die dieser Schicht die Besserung ihrer Lebenslage gebracht hat, wird ihr die Grundlage dafür auch wieder entziehen. Die Vervollkommnung der Technik, die Rationalisierung des Betriebes (Taylor- und verwandte Systeme) werden bei wachsender Konzentration des Kapitals, bei wachsender Masse der von Osten stammenden »Hände«, bei wachsender Frauenarbeit die Lage der Arbeiteraristokratie gefährden. Die unmittelbaren Wirkungen des Krieges werden das übrige tun. Der Sieg des Sozialismus erforderte das Vorhandensein einer intelligenten, physisch nicht gänzlich aufgeriebenen Arbeiterschaft, die die Führerin der gesamten Arbeiterschaft im Kampfe sein muß. Der Aufstieg aber dieser bevorrechteten Arbeiterschaft führte zu ihrer Verspießerung. Dieser Gegensatz wird durch die kapitalistische Entwicklung in der Weise aufgehoben, daß sie die verbürgerlichte Arbeiterschicht in soziale Lebensverhältnisse versetzt, in denen diese ihre kleinbürgerlichen Methoden des Kompromisses mit der Bourgeoisie aufgeben, zum grundsätzlichen Klassenkampfe greifen muß, wenn sie nicht auf die niedrigste Stufe der Gesellschaft, zu ihren Parias, geschleudert werden will. Und somit wird dieselbe imperialistische Entwicklung, die den Sozialimperialismus geboren hat, ihm auch ein Ende bereiten.
Aber diese Entwicklung kann sich nicht in einem Jahre oder Jahrzehnt vollziehen. Eine Ideologie, die durch ein halbes Jahrhundert der Geschichte sich in einer Schicht festsetzte, die eine lange Vorgeschichte hat, die durch die bürgerliche Umgebung in der Arbeiterschaft genährt wird, eine solche Ideologie hat an und für sich schon ein zähes Leben. Dabei kommt noch in Betracht, daß die Bourgeoisie sehr gut weiß, was sie im Sozialimperialismus hat. Sie hat es sich in der ganzen Welt jahrzentelang Opfer genug kosten lassen, um sich in den christlichen, liberalen, gelben Arbeiterorganisationen eine Truppe zu erziehen, die die Aufgabe haben, die selbständigen Bewegungen des Proletariats im Interesse des Kapitals zu durchkreuzen. Wie die Arbeiter vom Geiste des Sozialismus durchdrungen waren, hat das alles nicht viel genützt, weil sie das Ziel aller dieser »Arbeiterbewegungen« nur zu leicht erkannten. Der Sozialimperialismus aber entstand inmitten der sozialistischen Bewegung selbst; an seiner Spitze stehen Männer, die sich in jahrzehntelanger Arbeit klingende Namen in der sozialistischen Arbeiterwelt erworben haben. Die Bourgeoisie hofft, daß es den Scheidemann und Legien besser gelingen wird, die Arbeiterbewegung in einem für sie günstigen Sinne zu beeinflussen, als es den Lebius und Stegerwald gelang. Darum findet die Politik der Scheidemann und Legien ihren vollen Beifall und ihre volle Unterstützung.
In parlamentarisch regierten Ländern werden die sozialimperialistischen Führer zur Regierung, in Ländern wie Deutschland werden sie zu verschiedenen Magistraten, zu verschiedenen hohen Beiräten zugelassen; kleinere Führer erhalten Verwaltungsposten. Schon jetzt kennzeichnet sich diese Entwicklung mit aller Deutlichkeit. Der frühere radikale bremische Parteisekretär Wellmann bekommt vom Bremer Staat die Stelle des Geschäftsführers der Massenspeisungen; der Führer der Konsumgenossenschaften, Dr. August Müller, sitzt mit Batocki und dem General Braun im Lebensmittelbeirat. So wird die Bourgeoisie noch viele der bisherigen Arbeiterführer für sich gewinnen. Sie werden dann, wie es Müller schon jetzt in den »Sozialistischen Monatsheften« tut, versuchen, ihre in der Arbeiterbewegung, also im Kampfe gegen die Bourgeoisie errungene Autorität, auszunutzen, um die Arbeiter für die Interessen der Bourgeoisie zu gewinnen. Aber das wird natürlich die breiteren Kreise ihrer Anhänger nicht befriedigen können. Hier müssen politische Konzessionen helfen.
Eine »Neuorientierung« in dem Sinne, daß den Forderungen der Vorderreihen der Arbeiterschaft Genüge geschähe, wird nicht vorgenommen werden können; aber Zugeständnisse von der Art der letzten Gewerkschaftsnovelle, der Art eines Pluralwahlrechts in Preußen nach sächsischem Vorbild, werden immerhin gemacht werden. Dann werden die sozialimperialistischen Führer jede ähnliche Reform, deren Zweck die Befriedigung eines Teils der Arbeiter, also die Zerklüftung der Arbeiterklasse ist, als einen »verheißungsvollen Anfang« darstellen und so den Prozeß der Abbröckelung ihrer eigenen Anhänger aufhalten. Und je weniger Zugeständnisse die Bourgeoisie machen wird, desto inbrünstiger werden die Führer der Sozialimperialisten gegen die radikalen »Krakehler« eifern, die die Bourgeoisie mit ihren Redensarten schrecken, desto eifriger werden sie ihren Anhängern »Mäßigung« und »Besonnenheit« predigen. Und Jahre werden vergehen, bevor sie vollkommen abwirtschaften. Wer das im Auge behält, der läßt sich nicht von Hoffnungen betören, daß, wenn einmal der Krieg zu Ende ist, wenn man wieder frei reden kann, wenn die Masse selbst wieder entscheidet: daß wir dann die Sozialimperialisten mattsetzen werden; wenn nicht auf dem ersten, so doch sicher auf dem zweiten Parteitag. Abgesehen davon, daß wir heute noch im Kriege reichlich zu tun haben, und daß wir zu dieser Arbeit eine Zentralisation unserer Kampfmittel bitternötig gebrauchen, abgesehen davon, daß wir heute noch gar nicht wissen, wie es in den verschiedenen Ländern mit der Freiheit des Wortes und der Schrift auch nach dem Kriege bestellt sein wird, abgesehen davon, daß die Arbeitermassen selbst auch nach der »Klärung« gespalten sein werden, abgesehen von alledem vergißt man bei dieser schönen Rechnung noch zwei wichtige Umstände. Man vergißt zunächst die Tatsache, daß die Mehrheit der Partei- und Gewerkschaftsbureaukraten auf der Seite des Sozialimperialismus steht, daß sie die Mehrheit der Parteipresse in der Hand hält, daß sie der Demokratisierung des Parteikörpers den verzweifeltsten Widerstand entgegensetzen und damit die Vorderreihen der Arbeiterklasse lange Zeit hindern wird, das Ruder der Partei in die eigene Hand zu bekommen. Und zweitens vergißt man etwas noch Wichtigeres: Die Aufgaben der Partei. Unsere Aufgabe kann doch nicht nur darin bestehen, daß wir mit den Sozialimperialisten kämpfen. Vielmehr fassen wir den Kampf mit ihnen nur als Vorbedingung des allgemeinen Klassenkampfes auf, da der Sozialimperialismus die Schutztruppe des Kapitalismus ist. Wenn also die formelle Einheit der Partei erhalten bleibt, und die Sozialimperialisten die Partei und ihre Politik beherrschen, so sind wir entweder genötigt, jahrelang den wirklichen Kampf gegen unsere Klassengegner aufzugeben, oder wir führen ihn ohne Rücksicht auf die Parolen der imperialistischen Instanzen. Im ersten Falle, wenn wir den wirklichen Kampf gegen die äußeren Gegner aufgeben und uns mit der Kritik an den Sozialimperialisten begnügen, verliert diese Kritik jede Bedeutung: sie wird durchkreuzt, vernichtet durch die Taten, die wir dann gemeinsam mit den Sozialimperialisten im Reichstage, in der Gewerkschaftsbewegung zu verrichten genötigt sind; durch das Fehlen der Aktion, die den Arbeitermassen die Richtigkeit unserer Kritik beweist. Im andern Falle aber werfen die Sozialimperialisten uns kurzerhand aus der Partei hinaus: denn, wie auf die Länge hin keine Parteimehrheit eine geschlossene Gruppe ertragen kann, die ihre Politik als einen Verrat an den Parteigrundsätzen geißelt, so kann sie es noch weniger dulden, daß diese Gruppe jede ihrer Aktionen durchkreuzt und die Masse zu Taten in entgegengesetzter Richtung auffordert. Eine Partei mit zwei sich bekämpfenden Reichstagsfraktionen, mit Parteigruppen, die sich allerorts scharf entgegenstehen, kann auf die Dauer nicht bestehen.
Aber gesetzt den Fall, daß es uns gelingt, entgegen all den genannten Momenten, auch auf dem Parteitag die Mehrheit zu gewinnen. Was dann? Wollen wir die Politik des 4. August durch eine bloße Resolution verdonnern, radikale Richtlinien annehmen, wie schon so oft, und ihre Ausführung den Scheidemanns und Legiens anvertrauen? Zwar ist nicht ausgeschlossen, daß diese »gewandten Politiker« oder irgendwelche ihrer Handlanger diese Aufgabe übernehmen würden, um das Ruder der Partei in der Hand zu behalten, wie die Revisionisten in Dresden die radikale Resolution, die die Politik des Revisionismus ablehnte, annahmen, um die revisionistische Politik desto ungestörter ausführen zu können.
Jeder Arbeiter, der sah, wie der auf die Dresdener Resolution verpflichtete Parteivorstand und die Reichstagsfraktion am 4. August die in ihr festgelegten Grundsätze mit Füßen traten, wird sich sagen: opportunistische Führer an der Spitze einer revolutionären Partei, das bedeutet die dauernde Hemmung jeder Aktion dieser Partei und in der Stunde der historischen Entscheidung die Auslieferung dieser Partei an ihre Klassengegner. Wer es für möglich hält, daß wir nach den Erfahrungen des 4. August die Ebert und Scheidemann, die Legien und August Müller an der Spitze der Arbeiterbewegung dulden könnten, der ist entweder ein gutmütiger Tropf (wenn er wirklich wähnt, der Sache des Sozialismus dadurch dienen zu können) oder er ist ein bewußter Schrittmacher des Sozialimperialismus, d. h. der Bourgeoisie. Wer aber will, daß wir die Männer des 4. August vom Parteiruder verdrängen sollen, der muß es für sicher halten, daß sie sich nicht gutwillig fügen, daß sie die Partei spalten werden.
Es beweist nichts von Kühle und Besonnenheit in der Einschätzung der Verhältnisse, wenn Genossen, die annehmen, daß die Sozialimperialisten sich uns, falls wir die Mehrheit haben, nicht fügen werden, gleichzeitig erklären, es werde sich dabei nur um eine geringe Absplitterung handeln. Man lasse diese Kindereien! Hinter den Sozialimperialisten wird ein großer Teil der Arbeiter der Kleinstädte stehen, die sich unter dem starken Einfluß ihrer kleinbürgerlichen Umgebung befinden; hinter ihnen wird auch ein Teil der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter stehen. Von welcher Seite die Spaltung auch kommen mag: sie wird notwendig eine Spaltung in der Arbeitermasse selbst sein.
Wie man auch die Sache drehen mag: Die Spaltung ist nicht zu umgehen. Bilden wir die Mehrheit in der Partei, so spalten sie die Sozialimperialisten, bilden wir die Minderheit, so müssen wir sie spalten; es sei denn, daß wir uns löblich unterwerfen, die Verantwortung für die Politik des 4. August übernehmen, und nur in nebensächlichen Punkten nörgeln wollen. Aber die Spaltung ist nicht nur historisch notwendig, sie ist der Arbeitersache direkt nützlich. Ohne Spaltung mit den Sozialimperialisten ist eine einheitliche sozialdemokratische Agitation und Aktion unmöglich. Nur wenn wir durch die Spaltung die Verantwortung für die Politik des 4. August abgelehnt haben, werden wir gegen die Folgen des Weltkrieges wirken können. Nur nach der Trennung von den Sozialimperialisten wird ein Wiederaufbau der Internationale möglich sein, einer Internationale, deren Zweck nicht die Aussöhnung derer, die sich im Kriege mit dem Kapital ausgesöhnt haben, sondern die Zusammenführung des Proletariats zum gemeinsamen Kampfe sein wird. Nur wenn die Spaltung freie Bahn für den rücksichtslosen Kampf zwischen Sozialismus und Sozialimperialismus schafft, werden wir diesen besiegen können.
Wer da erklärt, daß die Spaltung uns im Kampfe gegen das Kapital schwächen wird, der spekuliert auf Gedankenlosigkeit oder unklare Gedanken. Natürlich, zwei Millionen kämpfender Arbeiter sind stärker als eine Million. Aber wenn die zwei Millionen geführt werden von Leuten, die bewußt oder unbewußt Werkzeuge der Gegner sind, wenn von diesen zwei Millionen eine Million den Werkzeugen der Gegner blind gehorcht, und die zweite Million dasselbe aus unangebrachter Solidarität tut, dann kämpfen die zwei Millionen überhaupt nicht, und die eine Million kann den Kampf erst beginnen, wenn sie sich von der andern und ihren verräterischen Führern trennt.
Die Spaltung der Internationale in das sozialdemokratische und sozialimperialistische Lager ist geistig längst vollzogen; die organisatorische Spaltung wird und muß folgen. Wer das erkannt hat, der muß sie auch erstreben. Und was man als Sozialdemokrat erstrebt, das muß man den Arbeitern auch sagen. Es ist noch eine Schwäche der Linksradikalen, daß sie es nicht in allen Teilen offen sagen. Zweifellos sieht die Gruppe Internationale die Notwendigkeit der Spaltung ein. Wenn sie sie nicht in allen ihren Teilen konsequent propagiert, so weil in diesen Teilen noch damit gerechnet wird, daß auch die radikalen Arbeiter noch an der Illusion der Niederringung der Scheidemänner innerhalb der einheitlichen Partei festhalten. Man fürchtet, diese Arbeiter durch die offene Propaganda der Spaltung noch abzuschrecken. Man sucht sie zu organisatorischen Maßnahmen zu treiben, die äußerlich keine Spaltung bedeuten und trotzdem zur Spaltung führen müssen: so die Propaganda der Beitragssperre.
Aber eben die Erfahrungen dieser Propaganda beweisen, daß, wo die Arbeiter die Unversöhnbarkeit der Sozialdemokratie und des Sozialimperialismus, d. h. die Notwendigkeit der Spaltung noch nicht eingesehen haben, sie auch gegen die Beitragssperre sind. Je klarer, je rücksichtsloser man die politische wie organisatorische Unversöhnbarkeit der beiden Hauptrichtungen in der Partei den Massen zeigt, desto eher greifen sie auch zu den notwendigen organisatorischen Kampfmitteln. Aus dem Verschweigen der Tatsachen ziehen nur die Sozialimperialisten Profit, denn jede Unsicherheit unsererseits, jedes Schwanken macht die Masse irre, erlaubt ihnen, im Trüben zu fischen.
Mag die Spaltungspropaganda momentan auch unklare Elemente gegen uns richten, sie sammelt dennoch um uns den kampffrohen und kampffähigen Teil der Arbeiter, flößt ihnen Mut ein, gibt ihnen Zielklarheit, und wenn später die Ereignisse uns und nicht den Zentrumselementen recht geben werden, werden auch die noch schwankenden Elemente unter den Arbeitern sich um uns sammeln.
Die Propaganda der Spaltung bedeutet keinesfalls, daß wir jetzt aus der Partei austreten sollen. Umgekehrt: unsere Bemühungen müssen darauf gerichtet sein, alle möglichen Organisationen und Organe der Partei in die Hände zu bekommen. Sie wurden in einem halben Jahrhundert des Kampfes für den Kampf geschaffen und gehören uns auf Grund des historischen Rechts. Wir haben alles zu tun, um die Sozialimperialisten zu nötigen, für ihre neuen bürgerlichen Zwecke sich neue Organisationen zu schaffen. Unsere Pflicht ist, solange wie möglich auf den Posten auszuharren, denn je länger das geschieht, desto größer wird der Teil der Arbeiter sein, der mit uns geht, falls die Sozialimperialisten, die natürlich unsere Taktik ausgezeichnet verstehen, auch wenn wir sie verschweigen würden, uns ausschlössen. Aber wie berechtigt es auch ist, alle Machtmittel der Partei für ihre historischen Ziele aus den Händen der Sozialimperialisten zu retten, so darf dieser Wille doch nicht Selbstzweck und Selbstziel sein. Wir dürfen auf keine politische Aktion verzichten, die notwendig ist, auch wenn es deswegen schon früher zur Spaltung kommen sollte, als wir es vielleicht wünschen; denn diese Aktion ist die Quelle unserer Kraft und der Grund unserer Existenz. Und wo die Sozialimperialisten zu lokalen Ausschüssen greifen, da müssen sofort lokale selbständige Organisationen entstehen. Ein Gebot der Stunde ist es, daß sich die auf dem Boden der Opposition stehenden lokalen Parteiorganisationen, wie die in Mehrheitsorganisationen wirkenden ergänzenden Minderheitsorganisationen zusammenschließen und eine provisorische Leitung der entschiedenen Opposition einsetzen. Der darauf hinzielende, von der Berliner Verbandsversammlung abgelehnte Antrag der Genossin Luxemburg muß von lokalen Organisationen, die auf dem Boden der entschiedenen Linken stehen, verwirklicht werden. Lokal abgesondert, nicht verbunden, sind wir ein Spielball in den Händen der Sozialimperialisten. Deswegen gilt es, alle sich bietenden Gelegenheiten zu benutzen, um die Zentralisation der Opposition durchzuführen.
Damit kommen wir zu der Frage vom Verhältnis der entschiedenen Linken zum Parteizentrum. Darüber im Schlußartikel.
Linksradikale und Zentrum.
Als in Bremen die Linksradikalen um die Klärung innerhalb der Arbeiterschaft rangen, und dabei auf den Widerstand des Abgeordneten Henke stießen, höhnte die »Chemnitzer Volksstimme«: Wenn man einmal die Geschicke der Partei von den Beschlüssen der Versammlungen abhängig mache, dann bekomme in ihnen derjenige die Oberhand, der sich am wildesten gebärde. Und so oft aus Berlin Nachrichten kommen über die Kämpfe zwischen den Anhängern des Zentrums und der Gruppe »Internationale«, ruft die ganze sozialpatriotische Presse triumphierend: da seht ihr, wenn erst einmal die Spaltung da ist, dann gibt es kein Ende der Spaltungen, dann frißt die Montagne (die Entschiedenen) die Gironde (die Gemäßigten), und dann kommt der Terror! Also lobet den Herrn und folgt Scheidemann. Diese ganze Philosophie zeigt trefflicher als irgend etwas anderes den konterrevolutionären Charakter der sozialpatriotischen Clique, die über die Krise des Sozialismus und der Arbeiterbewegung nichts anderes zu sagen hat, als was die reaktionärsten Historiker über die Kämpfe der französischen Revolution sagten. Aus dieser, den Taines abgeguckten historischen Anschauung, spricht nicht nur eine bodenlos geringe Einschätzung der Arbeitermasse, die jedem wilden Mann zum Opfer fällt – das behauptete die bürgerliche Presse bekanntlich immer, als sie von der Verhetzung sprach –; es spricht daraus nicht nur die Überzeugung, daß nur die Bureaukratie imstande ist, eine »kluge« Politik zu treiben, – die geringe Einschätzung der Masse charakterisierte noch immer jede Bureaukratie. Diese Auffassung ist überhaupt nicht imstande, das Wesen der Krise zu erfassen, in der sich die Arbeiterbewegung befindet. Die die imperialistische Ära charakterisierende Vertrustung und Kartellierung der Industrie, die Bildung der Unternehmerverbände erschwerte den abgesonderten Gewerkschaftskampf, machte die Erfolge durch ihn immer seltener. Die seit Jahren bestehende Teuerung machte die bisherigen Errungenschaften des Gewerkschaftskampfes illusorisch. Man blickte auf das Parlament: dieses sollte helfen. Aber der Konzentration des Kapitals entsprach die Zusammenballung der bürgerlichen parlamentarischen Parteien zu einer reaktionären Masse. Die wachsenden Rüstungsausgaben machten diese Reaktion für die Forderung der Sozialreformen noch unzugänglicher; die Stärkung des Militarismus bedeutete die Stärkung des Widerstandes gegen die Demokratie. Die Arbeiterbewegung stand vor einer Mauer.
Die Opportunisten redeten dem Proletariat ein, man könne sie umgehen durch ein Bündnis mit den Liberalen; die Linksradikalen sagten, daß dies unmöglich sei; erstens waren die Liberalen selbst zu schwach, um selbständig ihrerseits irgend etwas durchzusetzen; zweitens würde ein Bündnis mit den Liberalen zur Verwischung und Verwaschung des Klassenkampfes führen, also das Proletariat schwächen. Es blieb nur der Versuch, durch einen starken Druck der Massen, durch ihr Anstürmen die Mauer zu nehmen. Wie lange der Kampf dauern werde, ob die Massen bereits reif seien zur Erfüllung ihrer historischen Mission, darüber konnten wir keine Wechsel ausstellen. Wir wußten nur, daß es keinen anderen Weg gibt, und deshalb forderten wir von der Partei mit Wort und Tat zu versuchen, das Proletariat auf seine historische Aufgabe vorzubereiten. Dem widersetzte sich das Zentrum der Partei: es proklamierte die »Ermattungsstrategie«, das Agitieren, Organisieren, Warten, da die Masse noch nicht weit genug sei, und ein »Putschismus« ihre Organisation gefährden könnte.
Während dieser Auseinandersetzungen kam der Weltkrieg. In vierundzwanzig Stunden schwenkte die Mehrheit der Zentrumsmänner auf die Seite der Opportunisten und mit ihnen zusammen auf die Seite der Bourgeoisie. Das, was die Linksradikalen über das Zentrum vor dem Kriege behaupteten, es bestehe aus derselben Partei- und Gewerkschaftsbureaukratie wie das Lager des Revisionismus, und unterscheide sich von ihm nur durch sozialistische Phrasen, bewahrheitete sich voll und ganz. Es zeigte sich, wie recht wir hatten, als wir die »Ermattungsstrategie« als Resultat der Angst vor jeder Aktion kennzeichneten, weil diese die soziale Grundlage der Existenz der Partei- und Gewerkschaftsbureaukratie, die Organisation vorübergehend gefährden könnte, wobei wir dahingestellt lassen, worum es der Bureaukratie mehr ging: um die eigene Existenzsicherheit oder um die Organisationen. Ein nur sehr geringer Teil der Zentrumsführer hielt sich von der Politik des 4. August fern. Aber er wagte lange Zeit keinen Kampf gegen die Sozialpatrioten. Erst als in der Arbeiterschaft selbst, dank der Arbeit der entschiedenen Linken und den Folgen des Krieges, die Gegnerschaft gegen den Sozialpatriotismus wuchs, wagten diese von Ledebour geführten Zentrumselemente einen Kampf gegen den Sozialpatriotismus. Zu ihnen schlug sich dann ein Teil der Zentrumsleute, die sich am 4. August direkt auf den Boden des Sozialpatriotismus gestellt haben. Was bedeutet diese Zentrumsopposition, was bezweckt sie? Sie erklärt, sie wolle die Hochhaltung der alten Grundsätze, der alten bewährten Taktik, aber der Kampf um sie müsse in dem Rahmen der Organisation ausgekämpft werden.
Aber die alte bewährte Taktik des nur parlamentarischen Kampfes war bankerott schon vor dem Kriege! Der Weltkrieg wirft eine große Masse neuer Fragen auf, die die Entwicklung, Fortbildung der alten Ideologie (»Grundsätze«) erfordern! In dem Rahmen der Organisation? Aber wie kann man in dem Rahmen einer Organisation gleichzeitig für den Sozialismus und gegen ihn kämpfen? All das zeigt, daß sich das Wesen auch des Rumpfzentrums, obwohl es einen Teil seiner Führer an die Sozialimperialisten abgegeben hat, gar nicht geändert hat. Wohl befinden sich auch unter den Zentrumsführern Leute, die die Zentrumspolitik nur deswegen mitmachen, weil sie sich über die Tiefe der Krise noch nicht im klaren sind, die aber immerhin noch zu uns kommen können. Die Mehrheit der Zentrumsführer ist unwandelbar. Die einen, weil sie trotz ihrer Uneigennützigkeit, trotz ihres redlichen Wollens Überbleibsel aus alter Zeit sind und sich in den neuen Bedingungen nicht mehr zurechtfinden können, daher an allem Alten starr festhalten – es genügt, nur Kautsky, Ledebour zu nennen, denen wir trotz aller Erbitterung des Kampfes menschlich nie nahetreten wollen –, die andern aus Rechnungsträgerei: sie wollen mit den Sozialpatrioten nicht brechen, von denen sie materiell abhängig sind, und werden solange gegen die Spaltung kämpfen, wie es nur möglich ist. Wir sind überzeugt, daß diese Behauptung eine große Entrüstung hervorrufen wird; aber es ist Zeit, daß die Arbeiterschaft lernt, mit offenen Augen die Dinge anzuschauen. Wie viele, die die »Organisationen« retten wollten und dabei nur an ihre eigene Existenz dachten. So schreien viele: Einheit der Partei! und denken dabei an ihre eigene Existenz. Wie dem aber auch sei, wie groß das zahlenmäßige Verhältnis der nur dank geistiger Erstarkung nicht mehr entwicklungsfähigen Elemente zu den »Rechnungsträgern« sein mag, objektiv, selbst unabhängig von dem Willen der Einzelpersonen, bedeutet die Politik des Zentrums eine Täuschung der Massen in dreifachem Sinne: sie täuschen die Massen über den Kapitalismus, indem sie in ihnen den Glauben erwecken, man könne ihm den Imperialismus austreiben und ihn zum Pazifismus bekehren, kurz, es sei ein Kapitalismus ohne Kriegsgefahren möglich. Sie täuschen die Massen, indem sie ihnen vorreden, man könne diese Reform des Kapitalismus gemeinsam mit den Sozialpatrioten erstreben, die sich unter dem Drucke der Massen bessern werden. Sie täuschen die Massen, indem sie ihnen vorreden, es gebe einen anderen Weg zum Ziele als den der Befreiung der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst.
Die Propaganda der Reform des Kapitalismus an Stelle seiner Überwindung, die Propaganda der Parteieinheit, die Gegnerschaft zu Massenaktionen, diese Merkmale des Zentrums machen es notwendig, daß wir einen ununterbrochenen und rücksichtslosen Kampf gegen das Zentrum führen.
Hinter ihm stehen noch breite Massen der Arbeiterschaft, die dank der alten Autorität der Zentrumsführer, dank den alten sozialistischen Losungen, die diese gebrauchen, ihnen folgen. Dadurch werden diese Arbeitermassen von den wirklichen Aufgaben, von der wirklichen Einsicht zurückgehalten. Um sie von den Zentrumsführern zu trennen, gilt es, jeden Schritt, den das Zentrum im Kampfe gegen den Sozialpatriotismus zu führen sich genötigt sieht, zu unterstützen, aber gleichzeitig jede Halbheit zu geißeln und ihre Ursachen aufzeigen. Man lasse jede Hoffnung auf das Herüberziehen der Führer durch »pädagogische« Behandlung fahren. Nicht um die Gewinnung der Führer handelt es sich, sondern um die Gewinnung der Massen.
Aber selbst soweit es sich um die wenigen Zentrumsführer handeln kann, die zu gewinnen es sich verlohnt, so sind auch sie nur durch die schärfste Kritik zu gewinnen. In der Politik waren Prügel (natürlich geistige) noch immer das beste Erziehungsmittel.
Die Arbeiterbewegung zerfällt jetzt wirklich in drei Teile: Sozialimperialisten, Zentrum, Linksradikale: erstere sind Arbeiter, die auf Brocken vom Tische der Bourgeoisie warten; die Unentschiedenen, die zwar wissen, daß es mit der Bourgeoisie für die Arbeiterklasse als Ganzes nichts zu erreichen gibt, aber noch nicht wissen, wie man gegen sie zu kämpfen hat; und solche, die wissen, daß nur im Massenkampfe gegen die Bourgeoisie ihr sozialistisches Ziel zu erreichen ist. Mit den ersten haben wir nichts zu tun, wir müssen uns von ihnen trennen. Vielleicht kommen sie später zu uns, nachdem ihnen die Bourgeoisie selbst die Illusionen der Mitarbeit durch Nackenschläge austreibt. Um die Unentschiedenen ringen wir, indem wir, ohne nach rechts und links zu schauen, unsern Weg gehen. Wir wollen versuchen, sie zu uns zu ziehen. Sollten sie aber, von der Propaganda des Zentrums demoralisiert, uns jetzt schon nicht folgen können, sollte ihre Orientierung später eintreten, als die Notwendigkeiten der Politik uns organisatorische Selbständigkeit zum Gebot machen werden, nun, dann ist dagegen nichts zu machen. Dann werden wir unsern Weg gehen müssen und ihnen überlassen, ob sie noch ein Stück Weges mit den Sozialpatrioten gehen wollen, um später, bitter enttäuscht, zu uns zu stoßen, oder ob sie sich als selbständige Partei der Mitte konstituieren wollen, einer Partei, die über kurz oder lang zwischen den Mühlsteinen der entschiedenen Rechten und Linken zerrieben werden würde. Wir hoffen, daß die Erfahrungen, der Rücksichtnahme auf das Zentrum, die in Berlin und an anderen Orten gemacht wurden, diesen Kreisen, die aus Rücksicht auf die zahlenmäßige Schwäche der Linken »Vorsicht« predigten, die Augen geöffnet haben.
Das Chaos, das jetzt in der Arbeiterbewegung herrscht, kann nur dann überwunden werden, wenn wir mit offener Klarheit unsern Standpunkt entwickeln und mit voller Entschiedenheit die praktischen Konsequenzen aus ihm ziehen. Dadurch nötigen wir die Sozialpatrioten zur Klarlegung ihres Standpunktes und das Zentrum zur Aufdeckung seiner völligen Grundsatzlosigkeit. Eine Massenkraft werden wir erst, wenn die Arbeiterschaft in Fluß kommt. Dieses Ziel gefährden wir, wenn wir durch die Kompromisse mit dem Zentrum »Massen« fangen wollten. Wenn dies erreichbar wäre, so würde es uns nichts nützen, weil in diesen Massen ohne Einsicht und Kampfwillen keine Kraft stecken würde. Je klarer und entschiedener wir sind, desto schneller werden die Nebel verschwinden, werden die Arbeiter sich auf ihre historische Aufgabe besinnen.
Spaltung mit den Sozialpatrioten, Kampf gegen das Zentrum, das ist die organisatorische Aufgabe der nächsten Zukunft. Ihre Erfüllung erfordert die Einheit der Linksradikalen. Wir werden dieser Frage noch einen besonderen Artikel widmen müssen.
Die Aufgaben der Linksradikalen.
Die Linksradikale Richtung in der deutschen Sozialdemokratie entstand in den letzten fünf Jahren vor dem Kriege im Kampfe gegen den Scheinradikalismus der Mehrheit der Partei, dessen Hohlheit klar wurde, als er angesichts der steigenden Reaktion auf allen Gebieten des inneren Lebens auf die Agitation für Massenaktionen, als er angesichts der wachsenden Kriegsgefahr auf ebensolche Aktionen gegen den Imperialismus verzichtete. Die Linksradikalen sahen von Anfang an, daß es sich von vornherein nicht um die Differenzen in einzelnen Punkten handelte, sondern um das Versagen einer ganzen Richtung in einer neuen Situation, in der sich die Arbeiterbewegung seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts befand. Die Neuheit der Situation bestand darin, daß die Konzentration des Kapitals, seine Zusammenfassung unter der Leitung des Finanzkapitals auf der einen, das Anschwellen der Arbeiterbewegung auf der anderen Seite die Klassengegensätze ungeheuer verschärfte, ihre wirkliche Austragung auf dem parlamentarischen Boden unmöglich machte und das Schwergewicht des Kampfes in das direkte Ringen der Klassen verlegte.
Dieselben Wandlungen in dem Aufbau des Kapitalismus geben ihm Kraft zu der imperialistischen Politik, die die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Schichten verschiedener Länder verschärfte, und wiederum war das Parlament als Mittel der Zähmung des Imperialismus ohnmächtig, wieder lag das Schwergewicht des Kampfes draußen: in den Massen. Der alte Radikalismus, dessen historische Aufgabe unter dem Sozialistengesetz und den nachfolgenden Jahren in der vorbereitenden Arbeit der Aufklärung des Proletariats über seine Klassenlage bestand, in seiner Aufklärung über die Unmöglichkeit der Kürzung des langen Kampfes vermittels der anarchistischen Putsche wie der revisionistischen Schleichwege, er konnte sich geistig der neuen Situation nicht anpassen, obwohl er in den Arbeiten Kautskys ihr Wesen erkannte. Dazu kam noch, daß die hinter den geistigen Führern des alten Radikalismus stehenden Kreise der Organisatoren und Parlamentarier ganz in der Kleinarbeit aufgingen und sich in ihr sowohl fühlten, daß sie in jeder Massenaktion ein Abenteuer sahen.
So mußte der Linksradikalismus in seinem Kampf gegen den Altradikalismus in erster Linie den Arbeitern die Änderungen in den Bedingungen des Klassenkampfes ins Bewußtsein bringen, die die imperialistische Epoche charakterisieren. Die Linksradikalen fanden in der Arbeiterschaft ein starkes Echo: der Drang zu Massendemonstrationen aus Anlaß des preußischen Wahlrechts zeigte, daß die linksradikale Richtung schon in ihren Anfängen kein Häuflein von Ideologen darstellte, sondern dem Gefühl weiterer Arbeiterkreise, daß man mit der »alten bewährten Taktik« nicht auskommen kann, Ausdruck gab. Aber die Selbständigkeit selbst dieser Vorderreihen war noch zu klein, die Autorität der alten Parteiführer und die Bremskraft der Parteibureaukratie zu groß, als daß es gelingen konnte, die Partei auf neue Bahnen zu drängen. In seiner Vorrede zur Neuauflage der Marxschen »Klassenkämpfe in Frankreich« wies im Jahre 1911 August Bebel, der politische Vertreter der altradikalen Taktik, auf die Möglichkeit hin, daß bereits in nächster Zukunft »jene welthistorischen Momente« eintreten könnten, »die der Entwicklung eines großen zahlreichen und intelligenten Volkes, wie es das deutsche ist, neue Wege aufzwingen, mögen die herrschenden Klassen wollen oder nicht«; aber gleich darauf erklärte er: »Für die Sozialdemokratie ist die Richtschnur gegeben: sie wird sich, komme was will, von dem bisherigen Boden nicht abdrängen oder verleiten lassen, ihr bedenklich erscheinende Wege zu betreten; sie hat keinen Grund, sich ihren Feinden gegenüber zu Unbesonnenheiten und gewünschten Gewaltstreichen verleiten zu lassen«. Er vergaß dabei nur, daß, wer nicht vorwärts marschiert, wie es die Verhältnisse erfordern, zurückkrebst. Und er sah nicht, daß das Bündnis mit den Liberalen im Jahre 1912, die Nährung der Illusionen in der Arbeiterschaft über die Abrüstungsmöglichkeit nichts anderes war, als das Verlassen des alten Bodens. Nur daß die Partei, statt zu höheren Kampfmitteln zu greifen, zu einer historisch längst überwundenen Politik zurückkehrte: durch die Hilfe eines Teils der Bourgeoisie die Arbeiterschaft vorwärts bringen zu wollen.
Was im gewissen Umfange möglich war zur Zeit der Kämpfe zwischen den feudalen Junkern und der fortschrittlichen Bourgeoisie, das war eine Utopie in der Zeit, wo die Junker ihr Leben als die Vorkämpfer der kapitalistischen Reaktion fristen. Und als angesichts der Inaktivität der Arbeiterklasse kam, was kommen mußte, der Weltkrieg, da zeigte sich, daß die Mehrheit der Radikalen aus reinem Opportunismus die neuen Wege scheute, und daß deswegen von einem Verbleiben auf dem alten Boden keine Rede sein konnte: weil die Partei darauf verzichtete, die Arbeitermassen vorwärts zu bringen, wurde sie zurückgeschleudert auf den alten Boden der Klassensolidarität. Die Revisionisten, die immer die Tendenz zu dieser Politik gezeigt hatten, rissen das Ruder der Partei an sich, und jetzt treibt sie gespalten, historisch entehrt, als Wrack auf den Wellen der Geschichte, ein Spiel ihrer Launen.
Die Linksradikalen begannen schon am historischen Tag des Zusammenbruchs der »alten bewährten Taktik« ihren Kampf. Nicht die Ledebours, Haases, Kautskys waren es, die die Fahne der Rebellion erhoben, sondern die Linksradikalen. Aber später, als sich die Arbeitermassen zu rühren begannen, und so den linken Flügel des Zentrums zu Protesten gegen die neue Politik des Sozialimperialismus im Namen der alten Taktik nötigten, glaubte ein Teil der Linksradikalen, diese frondierenden Zentrumsleute weiterführen zu können, wenn sie sich mit ihnen verbänden.
Der bekannte Protest der Tausend im Juli 1915 war das gemeinsame Werk eines Teils der Linksradikalen und des linken Flügels des Zentrums. Und auf der Zimmerwalder Konferenz konnte man das Schauspiel erleben, daß ein Teil dieser Linksradikalen, die Vertreter der Gruppe, die im März 1915 das erste Heft der »Internationale« herausgab, mit Ledebour zusammen half, die Linksradikalen Rußlands, Polens, Schwedens, Hollands und des anderen konsequenten Teils der deutschen Linksradikalen niederzustimmen. Die Folge davon war die Entstehung der Internationalen Sozialisten Deutschlands (I. S. D.), eine geistige Gemeinschaft, die von vornherein einen Strich zwischen sich und dem Zentrum zog und für eine selbständige Taktik der Linksradikalen focht. Sie war klein, ihr Einfluß numerisch nicht groß. Aber die jämmerliche Taktik des linken Flügels des Zentrums im Dezember 1915 nötigte auch den größeren Teil der Linksradikalen, die sich um die Zeitschrift »Internationale« sammelten, zur Abgrenzung von dem linken Flügel des Zentrums, die in den Leitsätzen der Internationalen Gruppe und dem Spartacusbriefe, erfolgte. Darüber erst kam es zum Bruch mit den Ledebourianern. Und wenn auch einzelne Führer der Gruppe Internationale sich noch wieder der Illusion hingaben, der Bruch sei nicht endgültig, wenn andere aus Angst vor dem »ewig gestrigen« die Vereinsamung fürchteten, so zeigten schon die nächsten Monate, daß sie irrten. Die Politik der zentrümlichen »Arbeitsgemeinschaft« bewies, daß aus der »Pappe« der alten Führerschaft kein Schwert für den proletarischen Massenkampf zu bilden ist, und andererseits sammelte sich überall, wo die Linksradikalen sich direkt an die Massen wandten, wo sie ihre Aufklärungsarbeit ausdauernd leisteten, ein tüchtiger Schlag von Arbeitern, die sich durch das Chaos und den Nebel geistig hindurchgearbeitet haben. Heute ist ein guter Teil der Gegensätze, die zur Bildung der I. S. D. führten, die die Bremer Linksradikalen veranlaßten, der Internationalen Gruppe nicht beizutreten, nach unserer Meinung – wir sprechen nur im eigenen Namen – überwunden. Die Genossen aus der Internationalen Gruppe haben nicht nur durch ihren unermüdlichen Kampf gegen den Sozialpatriotismus, durch die unerschrockene allgemeine Aktion, durch die großen Opfer, die sie der Sache bringen, sich den Ruhm erworben, einer der besten praktischen Vortrupps der neuen Internationale zu sein, sondern sie haben durch die Losung der Beitragssperre, durch das Eintreten für höhere Kampfmittel, durch ihre Leitsätze bewiesen, daß sie nicht in der Rückkehr zum Alten, nicht in passivem Protest die Aufgaben des Linksradikalismus sehen, sondern in wirklichem Kampfe für die Aktivierung der Arbeiterschaft, im Kampfe für eine neue Internationale.
Mögen sie noch den Fehler begehen, nicht ausdrücklich zu sagen, daß sie für die Spaltung sind, mögen einzelne ihrer besten Vertreter in einer erstaunlichen Anwandlung von Schwäche der offiziellen Parteipresse den Rat geben, die Spaltung nicht offen zu propagieren, auch da nicht, wo die Redakteure sie als unvermeidlich erkannt haben, mögen die »Leitsätze« noch manche Halbheit aufweisen, mag in den Arbeiten einzelner ihrer Mitglieder die neue historische Lage des Proletariats nicht ganz klar aufgefaßt sein, mögen sie noch auf internationaler Arena bedenklich mit den Zentrumselementen operieren – das Preisen der englischen pazifistischen »Independent Labour Party«, die Telegramme an Tscheidse, den Vertreter des russischen Parteizentrums in der Duma, der keinen Kampf mit den Sozialpatrioten führt – wir werden sie freundschaftlich kritisieren, aber wir erkennen in ihnen den Kern des deutschen Linksradikalismus an. Unsere Kritik der Internationalen Gruppe gegenüber entspringt keinen Konkurrenzneigungen, sondern der Einsicht, daß in dieser Zeit der tiefen Krisis, der Notwendigkeit der Neuorientierung, diese nur durch eine offene Aussprache, einen rückhaltlosen Austausch der Gedanken zu erreichen ist.
Aber dieser Austausch der Gedanken soll angesichts der mutigen Praxis der Internationalen Gruppe kein Grund zum Kampfe gegen sie sein, umgekehrt soll er nach unserer Meinung für unsere Freunde einen Weg bilden zur rücksichtslosen Unterstützung der Internationalen Gruppe in ihrem Kampfe gegen den Sozialpatriotismus und das Zentrum. Je größer ihre Verluste sind, desto mehr gilt es, sich praktisch um sie zu scharen, gemeinsam mit ihr die Aufgaben zu erfüllen, die vor den Linksradikalen stehen.
Diese Aufgaben bestehen einstweilen im Kampf um die Köpfe der Arbeiter innerhalb der Partei, und um die Auswirkung der angesammelten Kraft nach außen hin. Aus der Erfüllung dieser Aufgaben wird sich die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Aufrichtung eines eigenen Hauses für den proletarischen Sozialismus, der Schaffung einer sozialistischen Partei, die die Politik des Linksradikalismus führen wird, ergeben.
Diese Partei wird keine Sekte sein, wie die Gegner höhnen. In der Zeit der Stürme, die die Wolken am historischen Horizont ankündigen, wird sie, dank ihrer klaren Orientierung in den Wegen und Zielen des Kampfes, dank ihrem Mut und ihrer Rücksichtslosigkeit, die Führerin der Arbeitermassen sein. Sie hat schon eine historische Probe bestanden, indem sie in der Zeit des größten Zusammenbruchs ihr Banner mutig aufpflanzte. Die Zeit, die sie jetzt durchlebt, ist die schwierigste. Noch nicht abgelöst von den Sozialpatrioten, ohne eigene Organisationskader, in dem Chaos wirkend, den der Zusammenbruch der alten Sozialdemokratie geschaffen hat, inmitten der Überbleibsel einer absterbenden Zeit, in der sich ihren Bemühungen die ganze Maschine der alten Partei entgegenstellt, muß sie wie Herkules schon in der Wiege mit der Hydra kämpfen.
Aber sie wird aus diesen Kämpfen siegreich hervorgehen, denn gewitzt durch die historischen Lehren des Zusammenbruchs der Jahre der Schmach, werden die Arbeiterscharen, die sich in ihren Reihen sammeln, ihren Geist zu selbständiger Arbeit anstrengen, sie werden, indem sie der Führer beraubt, sich selbst durch das historische Dickicht hindurchzuschlagen suchen, mit jedem Tag an Kräften zunehmen.
Die Spaltung der Partei, der Kampf mit dem Zentrum, in dem Friedensduseler nur das Tohuwabohu sehen: sie sind die Geburtswehen einer neuen Partei, in der das Proletariat das Bewußtsein seiner Aufgaben in der Periode des Imperialismus finden wird. Je größer die Aufgaben, je größer die Hindernisse, je größer der Druck, desto größer müssen unsere Anstrengungen sein, und aus desto härterem Stahl werden die Waffen sein, die wir schmieden.
Der Anarchismus und die Internationale.
er Zusammenbruch der Internationale hat natürlich in vielen Köpfen die größten Verwüstungen verursacht. Die Gefahr der chauvinistischen Verseuchung auf der einen, der anarchistischen auf der andern Seite ist jetzt zweifelsohne größer als früher. Denn bis die Ereignisse den Volksmassen ebensosehr die Unmöglichkeit eines Fortschrittes auf dem Wege einer Anpassung an die imperialistischen Politik, wie ihrer Bekämpfung durch anarchistische Mittel zeigen werden, wird eine Periode der Irrungen und Wirrungen in der internationalen Arbeiterbewegung um sich greifen, und mancher wird an dem irre werden, was er bisher für richtig gehalten hat. Allen diesen Gefahren gilt es ständig entgegenzutreten. Wir ergreifen daher gern die Gelegenheit, dem anarchistischen Versuch, die Arbeiterklasse der Sozialdemokratie abspenstig zu machen, entgegenzuwirken. Sie wird geboten durch eine in Kopenhagen erschienene anarchistische Broschüre » Die Sozialdemokratie und der Krieg« von Paul Schreyer. Trotz des Namens des Verfassers ist die Broschüre ruhig und sachlich geschrieben, so daß man sie wohl der Antwort würdigen kann.
Die Mitglieder der Internationale, die ihren jetzigen Zustand für einen völligen Zusammenbruch halten, behaupten, es handle sich nicht um einen Bankerott der sozialdemokratischen Grundsätze, sondern um die Liquidierung einer Epoche der internationalen Arbeiterbewegung. Kein einziger Grundsatz der Internationale, die im Marxismus ihren geistigen Ausdruck hat, habe sich in der großen Krise, die wir erleben, als unrichtig gezeigt. Nur die Taktik, wie sie sich nach dem Französisch-Deutschen Kriege herausgebildet hat, war den an die Arbeiterbewegung gestellten Anforderungen nicht gewachsen. Und in den taktischen Auffassungen, zu denen sich der linke Flügel der Sozialdemokratie in den taktischen Kämpfen der letzten fünf Jahre durchgerungen hat, sehen sie die Grundlage der dritten Internationale, die jetzt im Zeitalter des Imperialismus entstehen wird. Ganz anders der Verfasser der anarchistischen Broschüre: er verkündet den Bankerott der sozialdemokratischen Auffassungen.
Der Marxismus sieht in der Entwicklung der Wirtschaftsverhältnisse, in der ununterbrochenen Steigerung der Produktivität die Grundlage der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft. Der Sozialismus wird erst möglich sein, wenn der Kapitalismus die Produktivität der menschlichen Arbeit aufs höchste gesteigert hat. Der Imperialismus ist die Form der Ausbreitung des Kapitalismus, der Steigerung der Produktivität in der ganzen Welt.
»Daraus ergibt sich, sagt der Verfasser, nun als logische Forderung, daß der Mensch oder die Partei, die den Sozialismus will, darauf hinarbeiten muß, daß die imperialistischen Tendenzen sich möglichst schnell entwickeln können, um so ihren Zusammenbruch zu beschleunigen. Baut nun die Sozialdemokratie ihre Anschauungen auf obige Lehren des Marxismus auf, so ist es nicht zu verwundern, wenn sie auch den Weltkrieg unterstützt. Denn liegt derselbe zunächst zwar im unmittelbaren Interesse des Imperialismus, so ist seine weiterliegende Folge doch (in Konsequenz marxistischer Lehren) ein Näherrücken des Sozialismus.«
Da aber der Verfasser die jetzige Politik der sozialdemokratischen Parteien Deutschlands, Frankreichs, Österreichs als den Interessen der Arbeiterklasse zuwiderlaufend hält, sieht er in ihr den Bankerott der Grundlehre des Marxismus.
Nur daß er nicht den Marxismus mit seiner Philippika trifft, sondern ein Zerrbild des Marxismus, wie es in den Köpfen seiner revisionistischen und anarchistischen Kritiker herumspukt.
»Solange der Kapitalismus noch nicht das Stadium der Entwicklung erreicht hat, wo er sich selbst aufzugeben im Begriff ist, verfügt er noch über die Macht, und sein Gegenpol, der Sozialismus, ist ihm unterlegen … Dem Kapitalismus zu helfen, die letzte höchste Stufe zu erklimmen, bis er sich selbst auflöst, ist Aufgabe des Sozialismus.«
So hat seinerzeit das Harburger Parteiblatt die Aufgabe des Sozialismus definiert, und es mag sich mit dem anarchistischen Kritiker auseinandersetzen, ob der Weltkrieg ein Triumph oder eine Niederlage dieser Theorie ist. Der Marxismus aber hat mit der ganzen Sache nichts zu tun. Als Marx vor zirka 70 Jahren die Grundlagen zu seiner Theorie legte, stand der Kapitalismus noch in seinen Anfängen. Aber Marx fiel es nicht ein, seine Aufgabe könne darin bestehen, dem Kapitalismus zu helfen, seine höchste Stufe zu erklimmen. Diese Aufgabe überließ er getrost den Kapitalisten, und er ging an die Arbeit der Organisierung und Aufklärung des Proletariats zur Schulung seiner historischen Aufgabe; denn er war niemals so töricht, anzunehmen, der Kapitalismus werde sich jemals selbst »aufgeben«. Die Entwicklung des Kapitalismus schafft nur die wirtschaftliche Möglichkeit des Sozialismus. Damit dieser zur Wirklichkeit wird, muß es eine soziale Macht geben, die durch ihren Kampf die Widerstände der an der Erhaltung des Kapitalismus interessierten Klassen bricht. Die Arbeiterklasse kann sich zu dieser Macht nur in einer langen Periode der Kämpfe ausbilden, in der sie die zur Leitung der Produktion nötigen geistigen Kräfte entwickelt. Auf Grund der Erfahrungen der Kommune sprach doch Marx aus, daß die Arbeiterklasse nicht imstande ist, die kapitalistische Staatsmacht direkt und fertig zu übernehmen, ohne sich dazu in langdauernder Arbeit vorbereitet zu haben. Der Marxismus war niemals eine Theorie, die die Arbeiterschaft lehren sollte, wie sie den Kapitalismus entwickelt, sondern wie sie sich im Kampfe gegen den Kapitalismus entwickelt. Wenn der Marxismus dabei lehrte, daß jeder Versuch der Zurückschraubung der Entwicklung zu vorkapitalistischen Verhältnissen, wie es z. B. die Zerstörung der Maschinen oder die künstliche Konservierung des Handwerks war, schädlich ist, so hatte dies nichts mit der Unterstützung des Kapitalismus gemein, sondern es war die Bekämpfung einer Politik, die den Prozeß der kapitalistischen Entwicklung nur verlängern konnte.
Aber wir leben heute nicht Anno dazumal, der Kapitalismus tut jetzt nicht die ersten Schritte, sondern er hat ein Jahrhundert der Entwicklung in West- und Mitteleuropa hinter sich, während welcher Zeit er in diesen Ländern zur Blüte gelangte. Muß nun die Arbeiterklasse mit dem Kampf um den Sozialismus warten, bis der Kapitalismus sich die ganze Welt unterworfen hat? Ist der Sozialismus nur dann möglich, wenn der letzte Tunguse in Sibirien und der letzte Basuto in Afrika Fabrikproletarier und eingeschriebenes Mitglied der tungusischen resp. basutischen Sozialdemokratie wird? Der Imperialismus selbst widerlegt durch seine Existenz eine solche Auffassung der Geschichte. Denn er stellt doch einen Versuch dar, Wirtschaftsweisen dem Kapitalismus zu unterwerfen, die im Zeitalter des Kapitalismus nicht nur auf vorkapitalistischer, sondern selbst vorfeudaler Stufe sich befinden. Also kennt die Geschichte ein Nebeneinanderbestehen verschiedener wirtschaftlicher Stufen: wenn der Feudalismus nicht dem Kapitalismus in Europa erst dann Platz machte, bevor er ganz Asien und Afrika ergriff, wenn der Kapitalismus sich zur Blüte entfalten konnte, bevor selbst die vorfeudale Wirtschaft restlos verschwand, warum sollte der Sozialismus in den kapitalistischen Staaten nicht möglich sein, bevor der Kapitalismus seinen Siegeszug beendet hat? Marx und Engels hielten es für möglich, daß, falls der Sieg des Sozialismus in Westeuropa stattfinden würde, bevor Rußland von der kapitalistischen Entwicklung ergriffen wäre, Rußland die Möglichkeit hätte, sich den Weg der kapitalistischen Entwicklung zu ersparen. Karl Kautsky entwickelt in seinem Büchlein » Sozialismus und Kolonialpolitik«, in dem er die Frage von der Notwendigkeit des Überganges aller Länder durch den Kapitalismus untersucht – es war im Jahre 1907 – ganz ähnliche Gedanken (S. 59). Die Ausführungen Kautskys bilden bis auf den heutigen Tag die Grundlage der Haltung der Marxisten dem Imperialismus gegenüber. Die Theorie des Marxismus hat also mit den vom Anarchisten Schreyer gegeißelten Sünden nichts zu tun. Sie bleibt von seiner Kritik unberührt. Das Unglück Schreyers besteht darin, daß er die Ansichten der Kritiker des Marxismus, Davids, van Kols usw., für die des Marxismus hält.
Aber schauen wir uns die anderen geborstnen Säulen des Marxismus an. Die Sozialdemokratie erstrebt die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Im Interesse der Gesamtheit sollen sie von der Vertretung der Gesamtheit verwaltet werden.
»Die Sozialdemokratie gebraucht also zur Verwirklichung ihres Zieles den Staat. Ist es da nicht selbstverständlich, daß sie die bestehenden Staaten benutzen will, um aus ihnen Träger ihrer Zukunftsorganisation zu machen? Deshalb in allen Ländern nationale Parteien, die in dem Rahmen ihres betreffenden Staates ihren Kampf führen … Aus dieser Erkenntnis der Notwendigkeit freier, selbständiger Staaten ergibt sich aber nun die Pflicht, alles zu unterstützen oder zu unternehmen, was die Selbständigkeit derselben schützen kann, wenn diese von irgendeiner Seite bedroht ist.«
So stellt der Anarchist Schreyer siegreich seinen Fuß auf die zweite geborstene Säule des Marxismus.
Seit Bakunins Kampf gegen den »Staatssozialismus« von Marx haben die Anarchisten viel Tinte verbraucht zur Klärung der Frage vom Verhältnis der Arbeiterbewegung zum Staate. Die Ausführungen Schreyers zeigen, daß all diese Arbeit das Chaos in ihren Köpfen nur vergrößert hat. Es ist wahr, daß die Sozialdemokratie aus dem immer mächtiger werdenden Produktionsprozeß die Lehre schöpft, daß auch nach der Aufhebung der Klassengegensätze eine Organisation der Produktion notwendig sein wird. Daß diese Organisation und Leitung der Produktion von dem jetzigen Staate grundverschieden sein wird, ergibt sich schon daraus, daß des letzteren Aufgabe nicht in der Organisation der Produktion im Interesse der Gesamtheit besteht, sondern darin, daß die Leitung der Produktion dieser Gesamtheit vorenthalten wird: der jetzige Staat wacht darüber, daß die Produktion von den Besitzern der Produktionsmittel geleitet wird, die doch eine Minorität bilden. Indem Schreyer zwei verschiedene historische Gebilde mit demselben Namen Staat belegt, folgert er, daß »deshalb« die Sozialdemokratie den heutigen Staat zu ihren Zwecken ausnützen will und darum ihn beschützen muß. Nun, das Verhältnis der Sozialdemokratie zum jetzigen Staat wurde nicht durch ihre Meinungen über die Organisationen der Gesellschaft im Reiche des Sozialismus bestimmt – wir wissen doch nicht, wie sie aussehen wird –, sondern durch den Charakter der historischen Epoche, in der sich die Arbeiterbewegung seit dem Jahre 1870 entwickelt.
Die Bedingungen des Klassenkampfes bestimmten die Haltung des Proletariats zum Staate, und der Marxismus suchte sie nur zu erklären. Wie waren diese Bedingungen? Die Bourgeoisie schuf nationale Staaten, die die Entwicklung des Kapitalismus fördern sollten. Wie konnte sich die Arbeiterklasse demgegenüber verhalten? Sie mußte um ihre Interessen in den Grenzen dieser Staaten gegen den Kapitalismus kämpfen. Wenn die deutschen Arbeiter Verkürzung der Arbeitszeit, Preß-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit erringen wollten, so konnten sie sich mit ihren Forderungen weder gegen die kapitalistische Klasse überhaupt, noch gegen die englische und französische wenden, sondern gegen die Klasse, von der diese Gesetze in Deutschland abhängig waren: d. h. gegen die deutsche Bourgeoisie und ihr Machtorgan, den Staat. Sie konnten noch so sehr mit ihren Brüdern im Auslande sympathisieren, mit ihnen für die Grundforderungen der Arbeiterklasse gemeinsam demonstrieren, ihr täglicher Kampf verlief im Rahmen des deutschen Staates, wie der der englischen und französischen Proletarier in dem Rahmen ihrer Staaten verlief. Die verflossenen vier Jahrzehnte der Arbeiterbewegung waren in die Schranken der Staaten eingepfercht. Nur eine »Bewegung« wie die anarchistische, die in keinem Lande tiefere Wurzeln gefaßt hat, die nirgends mit dem täglichen Kampfe der Arbeiterklasse verwachsen war, konnte diese Bedingungen zum Teil ignorieren. Hat darum der Marxismus jemals die Arbeiterklasse und ihre Geschicke auf Gedeih und Verderb mit den Geschicken jedes einzelnen Staates mit all seinen Grenzen usw. zu verbinden gesucht, hat er ihr Staatsanbetung eingeimpft? Marx und Engels waren Verfechter der irischen Unabhängigkeit, Österreichs Dauerexistenz schien Kautsky sehr zweifelhaft usw. usw. Die gegebenen Grenzen der Staaten waren für den Marxismus, diese durch und durch historische Lehre, nichts mehr als der gegebene Rahmen der Tätigkeit, die, wenn sie nicht in der Luft schweben sollte, sich auf irgend einem Boden abspielen mußte. Diese Grenzen als heilige Steine zu betrachten, die ein für allemal das Bett bezeichnen, in den sich der Strom der Geschichte hinwälzen wird, kam ihnen gar nicht in den Sinn. Man kann keine Zeile aus den Schriften unserer Altmeister anführen, die von einer solchen Absurdität zeugen würde. Sie, die es nicht für die Aufgabe des Proletariats hielten, die kapitalistische Entwicklung zu fördern, haben es noch weniger für seine Aufgabe gehalten, gegebene Grenzen zu konservieren. Ihr Verhältnis zu Bewegungen, die auf die Änderung der staatlichen Grenzen gerichtet waren, hing ganz davon ab, was für einen Charakter diese Bewegungen trugen. Frei von jeder idealistischen Auffassung des Staates überhaupt, wie sie z. B. noch Ferdinand Lassalle gewissermaßen charakterisierte, sahen sie in der Existenz des kapitalistischen Staates eine Notwendigkeit des Kapitalismus, aber keinesfalls in der Existenz jedes Staates, wie er einmal historisch gegeben war. Und weil sie den Sieg des Proletariats nur international für möglich hielten, d. h. für möglich hielten nur in dem Rahmen des ganzen kapitalistisch entwickelten Kulturkreises, so war ihr Bestreben auf die engere Verknüpfung des Proletariats der verschiedenen Länder gerichtet. So suchten sie das Proletariat über die Grenzen der Staaten zu verbinden.
Der Anarchist Schreyer hält die jetzige Haltung der französischen, deutschen, österreichischen Sozialdemokratie für unvereinbar mit den Interessen der Arbeiterklasse, für den Bankerott der Arbeiterbewegung. Das ist sein gutes Recht. Warum er aber die Grundsätze dieser Arbeiterbewegung dafür verantwortlich macht, ist nicht einzusehen, es sei denn, daß er wieder die Meinungen des rechten Flügels des Sozialismus mit denen des Sozialismus überhaupt verwechselt. Denn wie die Grundanschauungen des Sozialismus nichts mit irgendwelcher Staatsanbetung und dazu der des konkreten Staates gemeinsam haben, so unterliegt es keinem Zweifel, daß die opportunistische Richtung der Arbeiterbewegung, indem sie sich zu der Losung bekannte: Das Ziel ist nichts, die Bewegung alles, auch ihren Gesichtskreis über die Rahmen der Staaten, in denen sie wirkte, nicht erheben konnte. Sie hoffte durch Mäßigung vom Staate Zugeständnisse zu erhalten, und da sie die Verwirklichung des Sozialismus als Summe kleiner Veränderungen ohne grundsätzliche Umwälzungen kommen sah, so sah sie auch in den gegebenen Staaten die Träger des Sozialismus. Neben dieser Hinneigung zum Staatssozialismus charakterisierte die opportunistische Richtung der Internationale ein gewisser Nationalismus. Die Rücksichtnahme auf die kleinbürgerlichen Wählermassen brachte manchen Opportunisten zur Darstellung des Sozialismus als einer Art Edelpatriotismus. Alle diese opportunistischen Anschauungen standen im bewußten Gegensatz zu den wissenschaftlichen Grundsätzen der Arbeiterbewegung, zum Marxismus, und indem sie jetzt ihren Sieg feiern, feiern sie auch den Beginn einer neuen Periode der Arbeiterbewegung, deren geistige Grundlage nicht der Marxismus bilden soll.
Die Behauptung, daß der Zusammenbruch der Internationale ihre Grundsätze als irreführend zeigt, ist aus der Luft gegriffen. Wir leisten uns nicht einmal den Spaß, dem Anarchisten Schreyer mit der Gegenfrage zu dienen, wie er sich den Zusammenbruch solcher Gegner des Marxismus erklärt, wie Peter Krapotkin, den er schlau den »früheren« Anarchisten nennt, der jetzt für den Sieg Rußlands schwärmt; wie er den Anarchisten Cornelissen beurteilt, der im Auftrage der französischen Regierung nach Holland fuhr, um für die Teilnahme Hollands am Kriege zu agitieren, wie die Führer der französischen Syndikalisten, die dieselbe Haltung wie die französische Sozialdemokratie einnahmen. Wir verzichten auf diese Fragen, die jedoch die Anarchisten nötigen müßten, zuerst im eigenen Hause Ordnung zu machen, bevor sie vor unseren Türen zu kehren beginnen. Wichtiger ist, zu untersuchen, warum die Internationale zusammenbrach, obwohl ihre Grundsätze ihr die Möglichkeit gaben, trotz des Kriegsausbruchs solidarisch zu bleiben. Doch die Antwort auf diese Frage würde eine besondere Untersuchung erfordern.
Im Fangnetz der Widersprüche.
1.
Einer der hervorragendsten Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie veröffentlichte vor kurzem unter dem Pseudonym »Junius« eine Broschüre über die Krise der Sozialdemokratie, in der er zwar die Gründe dieser nunmehr seit nahezu zwei Jahren tobenden Krise ununtersucht läßt – nebenbei auch ein Mangel der »Leitsätze« der Gruppe Internationale – in der er aber in ausgezeichneter Weise mit dem Flitterkram der Argumente aufräumt, mit denen die Sozialpatrioten Deutschlands ihre Preisgabe des Klassenkampfes und des Sozialismus verteidigen. Wir wollen uns hier nur an diejenige Frage halten, die der Verfasser natürlich auch behandelt, die nach einem treffenden Worte Karl Liebknechts die Achse aller Fragen des Weltkrieges bildet: die Frage der Landesverteidigung. Diese Frage ist für die ganze Internationale von der größten Bedeutung, nicht nur jetzt im Kriege, sondern auch nach Friedensschluß, wo es sich darum handeln wird, die geistige Bilanz des Krieges zu ziehen. Um es gleich zu sagen: wir können nicht anders, als die Auffassung von Junius über diese Frage kritisch behandeln. Der Standpunkt von Junius befindet sich im Gegensatz nicht nur zu den Auffassungen der Vertreter der radikalen Internationalisten in anderen Ländern, sondern auch Deutschlands, z. B. Karl Liebknechts. Was aber noch auffallender ist, Junius befindet sich, wie wir noch sehen werden, in ununterbrochenem Gegensatz zu sich selbst. Die Aufdeckung der Widersprüche des Verfassers dient keinen polemischen Zielen, sondern der Beleuchtung dieser höchst wichtigen Frage. Ober den Charakter des Weltkrieges ist Junius sich vollkommen klar. Das demokratische Programm der nationalen Vereinigung war das Programm des aufsteigenden Kapitalismus. »Seitdem hat der Imperialismus das alte bürgerlich demokratische Programm vollends zu Grabe getragen, indem er die Expansion über nationale Grenzen hinaus und ohne jede Rücksicht auf nationale Zusammenhänge zum Programm der Bourgeoisie aller Länder erhoben hat«. Und nun analysiert Junius die nationale Parole, deren realer Inhalt und Funktion sich gegen früher in ihr Gegenteil verkehrt hat. Junius verfolgt dann den imperialistischen Charakter des Krieges bis in alle Schlupfwinkel, beweist in ausgezeichneten Ausführungen über die Lage der kleinen Staaten, daß auch sie, einmal durch die Flut des Weltkrieges mitgerissen, keinen nationalen, sondern einen imperialistischen Krieg führen würden, weil der Weltkrieg sich unter den jetzigen Bedingungen »ganz mechanisch unabwendbar zum imperialistischen Welteinteilungsprozeß auswachsen mußte«.
Aus diesen Voraussetzungen zieht Junius nun ganz unerwartete Schlüsse. Gewiß nichtswürdig das Volk, das vor dem äußeren Feinde kapituliert, wie nichtswürdig die Partei, die vor dem inneren Feinde kapituliert. Nur eines haben die Feuerwehrleute des brennenden Hauses (d. s. die Sozialpatrioten. D. R.) vergessen: daß im Munde des Sozialisten die Vaterlandsverteidigung etwas anderes bedeutet. Etwas anderes nämlich als die Rolle, die ihm durch den imperialistischen Krieg zudiktiert wurde. Also nicht Ablehnung der Vaterlandsverteidigung, sondern eine andere Vaterlandsverteidigung. Worin besteht sie? Nachdem Junius gezeigt hat, wie oft in der Geschichte die herrschenden Klassen, die den Volksmassen die feindliche Invasion als den Schrecken aller Schrecken darstellen, eben diese Invasion herbeiriefen, um die aufsteigenden Klassen der eigenen Nation niederzuhalten, schreibt er: »Wenn für die herrschenden Klassen die Invasion ein erprobtes Mittel gegen den Klassenkampf war, so hat sich für die aufstrebenden Klassen der schärfste Klassenkampf noch immer als das beste Mittel gegen die Invasion erwiesen«. Er beweist das mit dem Hinweis auf die mittelalterliche Geschichte der italienischen Städte, auf die französischen Jakobiner, die, um die gegen das revolutionäre Frankreich heranstürmenden feudalen Mächte niederzuringen, zum rücksichtslosen Kampfe gegen die Vertreter des Feudalismus in Frankreich selbst übergehen mußten, und schließt dann mit der Untersuchung der Frage nach dem Verhalten der Sozialdemokratie im heutigen Kriege. »Sollte sie etwa erklären: da dieser Krieg ein imperialistischer, da dieser Staat nicht dem sozialistischen Selbstbestimmungsrecht, nicht dem idealen Nationalstaat entspricht, so ist er uns gleichgültig und wir geben ihn dem Feinde preis?« Junius verneint diese Frage: »Das passive Gehen- und Geschehenlassen kann niemals Richtschnur für das Verhalten einer revolutionären Partei wie der Sozialdemokratie abgeben«. Er verlangt dann, daß die Sozialdemokratie eine selbständige Klassenpolitik hätte einschlagen sollen, die in jeder großen Krise über sich hinaustreibt. Und worin sollte diese selbständige Klassenpolitik bestehen? Es galt gerade mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und mit der nationalen Verteidigung ernst zu machen. Und der erste Schritt dazu sei die Miliz; d. h. unter anderem die Beseitigung aller politischen Entrechtung, da die größte politische Freiheit als Grundlage der Volksverteidigung nötig sei. »Die wirklichen Maßnahmen der nationalen Verteidigung zu proklamieren, ihre Verwirklichung zu fordern, das wäre die erste Pflicht der Sozialdemokratie«. Es galt, so meint Junius, der europäischen Reaktion das alte wahrhaft nationale Programm der Patrioten und Demokratie von 1848, das Programm von Marx, Engels, Lassalle entgegenzustellen. »Das war die Fahne, die dem Lande vorangetragen werden mußte, die wahrhaft national, wahrhaft freiheitlich gewesen wäre und in Übereinstimmung mit den besten Traditionen Deutschlands, wie mit der internationalen Klassenpolitik des Proletariats.«
Das ist der Standpunkt von Junius. Bevor wir zur Prüfung seiner historischen Voraussetzungen übergehen, möchten wir auf folgende Tatsachen aufmerksam machen. Der Standpunkt von Junius hat während vieler, vieler Monate der inneren Entwicklung der entschiedenen Linken diese nahezu unberührt gelassen. Zwar finden sich in den »Leitsätzen« der Gruppe Internationale leise Spuren dieses Standpunktes; aber ihr Kern hat mit ihm nichts gemein. Ebenso fehlt dieser Standpunkt in allen anderen Kundgebungen der entschiedenen Linken, von den I. S. D. gar nicht zu reden. Wie kommt es nun, daß zwanzig Monate der Entwicklung der Linken so sehr an dem Programm von Junius vorübergehen konnten, obwohl er selbst und seine Freunde diese Entwicklung offenbar stark beeinflußten? Weil dieses Programm nur eine historische Reminiszenz ist, den Voraussetzungen der imperialistischen Epoche aber vollkommen widerspricht. Wir wollen das im zweiten Artikel nachweisen.
2.
Sein Aktionsprogramm im Kriege spricht Junius selbst als »Aktion nach dem Vorbilde der französischen Jakobiner« an. Sehen wir näher zu. Die Jakobiner stellten den linken Flügel des französischen Bürgertums während der großen Revolution dar. Aus den Massen des Kleinbürger- und Handwerkertums bestehend, führten sie den Kampf gegen den Feudalismus viel energischer als die durch Eigentumsrücksichten, durch die Angst vor dem Volke an Händen und Füßen gefesselten Vertreter des besitzenden Bürgertums. Als die feudalen Mächte Europas im Bunde mit den feudalen französischen Emigranten ihren Kreuzzug gegen das revolutionäre Frankreich begannen, verteidigten die Kleinbürger und Arbeiter Frankreichs ihr Werk mit großem Elan: handelte es sich doch nicht nur um die von ihnen eroberten Freiheiten, sondern um die Besserung ihrer sozialen Lage, die sie von der Revolution erwarteten. Für die Bauern handelte es sich um den Boden, den die Revolution den feudalen Grundherren genommen und ihnen gegeben hatte. Im Kriege gegen das feudale Ausland mußten die Jakobiner die Überreste der feudalen Kräfte im Lande selbst mit allen Gewaltmitteln niederhalten. Der Krieg gegen das feindliche Ausland schöpfte seine Kraft aus dem Bürgerkriege, wie dieser seine Vehemenz aus der nationalen Gefahr zog. Das Programm des Krieges, wie es sich aus der objektiven Sachlage ergab, war das Programm, das die Jakobiner gemäß ihrem sozialen Wesen zu verwirklichen suchten.
Junius beschwört auch die Schatten der Revolution vom Jahre 1848, das Programm von Marx, Engels und Lassalle herauf, die selbst im Schatten der Titanen von 1792 wandelten. Wir erinnern an die Worte, die Marx unter dem 11. Juli 1848 in der »Neuen Rheinischen Zeitung« schrieb (Nachlaß, Band 3, Seite 114). Österreich war damals daran, die nationalen Revolutionen der Tschechen, Italiener und Ungarn zu ersticken. Ein Teil der bürgerlichen Demokratie bejubelte die Windischgraetz als Helden des Deutschtums. Demgegenüber stellte Marx fest, daß diese Helden als Sieger sofort der deutschen Revolution an den Hals springen würden. Er sah voraus, daß die niedergerungenen Tschechen sich dem Zarismus in die Arme werfen würden; und eben dieser Zarismus war auf dem Sprunge, gegen die Revolution zu marschieren. Ihm galt es also zuvorzukommen; es konnte nur geschehen durch das Hinaustragen der Revolution nach dem Osten; dadurch, daß die Polen gegen ihn auf die Beine gebracht wurden.
In diesem Kampfe gegen den Gendarmen der Reaktion mußten alle Kräfte des deutschen Volkes entfesselt werden, Kräfte, die angesichts der Machtmittel Rußlands, um nach außen hin siegreich zu werden, alle feudalen Widerstände im Innern niederringen müßten.
Wir wissen, wie Engels später das auswärtige Programm der »Neuen Rheinischen Zeitung« im Jahre 1848 definierte, und wir wissen, was Engels während des Österreichisch-Italienischen Krieges an Lassalle schrieb (Nachlaß, Band 4, Seite 185). Engels tritt hier direkt für einen Krieg mit Rußland ein, in der Hoffnung, daß die äußeren Schwierigkeiten der Revolution im Innern zum Siege verhelfen würden. Das »wahrhaft nationale Programm der Patrioten und Demokraten von 1848« war aus der Schwäche der deutschen bürgerlichen Revolution geboren.
Weil das preußische Junkertum keine abgestorbene, sondern eine im Prozeß der kapitalistischen Umformung und Anpassung begriffene Klasse war, weil das schwache zersplitterte Kleinbürgertum die Bauern verriet, statt sich auf sie gegen den Feudalismus zu stützen, weil das Kleinbürgertum und seine Vertreter statt zu kämpfen schwatzten, propagierten Marx und Engels den Krieg mit Rußland in der Hoffnung, daß er die Volksmassen aufrütteln und so zum Durchbruch der Revolution führen werde. Das Programm unserer großen Meister blieb unverwirklicht. Die Reaktion hütete sich, mit dem Zarismus, ihrem großen Beschützer, anzubändeln.
Um sie dazu zu nötigen, mußte das Kleinbürgertum sie besiegen, d. h. es mußte die revolutionäre Kraft besitzen, die ihm eben fehlte und deren Weckung die Folge des Kriegs sein sollte. Marx und Engels wollten die Politik der Jakobiner wiederholen; aber der Zarismus ging nicht zur allgemeinen Attacke gegen die europäische Revolution über; er begnügte sich mit ihrer Erdrosselung in Ungarn. Es entstand keine verzweifelte Situation und kein deutsches Jakobinertum. Das Jahr 1793 wiederholte sich nicht.
Die Politik von Marx und Engels scheiterte, aber sie war trotzdem eine revolutionäre und realistische Politik: der Zarismus bedrohte wirklich die europäische Revolution; die Propaganda des Krieges mit dem Zarismus war die Propaganda einer revolutionären Offensive mit einem positiven Programm der Republik, einem Programm, das damals das revolutionärste war, weil der Sozialismus noch unmöglich war. Die Politik der Jakobiner war die der bürgerlichen Revolution. Die von Marx und Engels war es nicht minder. Im einen wie im andern Falle war das Kleinbürgertum der Träger dieser Politik; das Proletariat als Klasse mit einer eigenen historischen Aufgabe war noch nicht vorhanden: bildete doch die Freimachung des Weges für die ungestörte kapitalistische Entwicklung die historische Aufgabe der Revolutionen und der nationalen Frage.
Damit kommen wir zum Sündenfall von Junius; d. h. zu der Frage, ob in der Ära des Imperialismus eine »revolutionäre Aktion nach dem Vorbilde der französischen Jakobiner« überhaupt möglich ist.
3.
Die erste Voraussetzung der Jakobinertaktik, wie sie auch Marx später anzuwenden versuchte, war der Gegensatz zwischen den in der bürgerlichen Umwälzung begriffenen Ländern und denen des Feudalismus. Daß dieser Gegensatz heute nicht mehr die geringste Rolle spielt, ist offensichtlich. Wie groß auch die verfassungsmäßigen Gegensätze zwischen England, Frankreich, Deutschland und Österreich sein mögen: keines dieser Länder stellt den anderen gegenüber den Fortschritt dar: die Unterschiede in ihrer sozialpolitischen Struktur sind quantitativ, nicht qualitativ. Keines stellt ein neues soziales Prinzip dar. Das einzige Land, das im Verhältnis zu den anderen als rückständig gelten kann, Rußland, wäre, auch nach der Meinung von Junius, nicht imstande, die andern zu bedrohen, nur das französische und englische Geld ermöglichte es ihm, mit den Anstoß zum Kriege zu geben. Dabei marschiert es so schnell in der Richtung auf die kapitalistische Entwicklung, daß es auf die Länge hin die gegebenen sozialpolitischen Zustände in Mittel- und Westeuropa nicht bedrohen kann.
Der Gegensatz, der Europa in zwei Lager teilt, ist nicht der zweier verschiedener sozialer Formationen, einer fortschrittlichen und einer rückschrittlichen, es ist vielmehr ein imperialistischer Gegensatz, d. h. der Gegensatz zwischen in den Grundlinien gleichartigen sozialen Organismen, die sich bekämpfen, eben weil sie dank ihrem gleichartigen kapitalistischen Charakter den gleichen Anspruch darauf erheben, die unentwickelten Länder zu »durchdringen«. Daraus ergab sich, daß die innere Umwälzung in keinem der Staaten einen Krieg benötigte, daß also erstens das Proletariat kein Kriegsprogramm hatte, während die Jakobiner und die Demokraten ein solches besaßen. Daraus ergibt sich zweitens, daß, wenn der Krieg und seine Folgen die inneren Umwälzungen in einem der Staaten oder in allen auf die Tagesordnung setzen sollte, diese nicht nationaler Natur sein werden, sondern daß es sich um internationale Aufgaben handeln wird. Und drittens werden es nicht bürgerlich-demokratische, sondern sozialistische Veränderungen sein, die sich zu vollziehen haben.
Der Krieg des revolutionären Frankreich wurde von den Volksmassen im Interesse des historischen Fortschritts geführt, ja, er begann geradezu als solcher. Der Weltkrieg begann als imperialistischer Krieg. Kann sein Charakter geändert werden? Ganz offenbar nicht; wobei es ganz gleich wäre, ob die Bourgeoisie am Ruder bliebe oder nicht. Der Krieg kann wohl beendet werden, aber seinen imperialistischen Charakter ändern, dazu ist keine Macht der Welt imstande. Sollten aber etwa die Proletarier Englands in diesem Kriege zur Herrschaft gelangen können, und sollten die übrigen Staaten sie dann weiter bekriegen, dann ständen die englischen Arbeiter vor der Aufgabe, den siegreichen Sozialismus ihres Landes zu verteidigen. Nicht eine »wahrhaft nationale«, sondern eine wahrhaft internationale Aufgabe hätten sie zu lösen: die Einleitung der sozialen Umwälzung in Europa.
Internationale, sozialistische Aufgaben sind es, die vor dem Proletariat stehen, keine nationalen, bürgerlich-demokratischen. Und diese Aufgaben werden sozialistisch sein, weil die wirtschaftlichen Bedingungen für den Sozialismus reif sind. Sie werden international sein, weil keine einzige der großen sozialen und politischen Fragen jetzt mehr im nationalen Rahmen gelöst werden kann.
Den Ausgangspunkt der proletarischen Politik dem Kriege gegenüber bildet also die klare Erkenntnis der Frage der Vaterlandsverteidigung. Das Mittel zur Überwindung der gegebenen allgemeinen Verhältnisse ist die Anwendung einer neuen Taktik, deren Wesen bereits vor dem Kriege ausführlich dargelegt wurde. Kein Teil des Proletariats aber könnte sich bei seinem Siege mit der Einrichtung des eigenen Hauses begnügen, sondern es müßte an die Lösung aller Fragen herantreten, die der Imperialismus aufgeworfen hat. Sonst würde es in seinem eigenen Hause, und sei es die »einzigste« Republik, erdrückt werden. Dies nicht eingesehen zu haben, in der Epoche des Imperialismus eine Losung mit einem national begrenzten Programm aufgestellt zu haben, das ist es, was wir Junius zum Vorwurf machen. Dadurch verdunkelt er das Wesen der Krise der Sozialdemokratie, wie er den Arbeitern das Verständnis ihrer historischen Aufgaben verdunkelt. Denn was sollten etwa die französischen Arbeiter mit dem »wahrhaft nationalen« und »wahrhaft fortschrittlichen Programm« der deutschen Demokraten vom Jahre 1848 anfangen? Und in letzter Linie verdunkelt die Auffassung von Junius auch das Wesen der Weltkrise, die jetzt die Welt erschüttert, indem der Verfasser wohl sagt, wie er die deutschen, nicht aber wie er die übrigen Arbeiter beglücken will.
Das bedeutet, daß Junius in Wirklichkeit gar keine Perspektive der allgemeinen Entwicklung hat. Und deshalb kann sein Standpunkt gegenüber der Frage, was die Internationale weiter tun soll, nichts sagen. Von richtigen Voraussetzungen ausgehend, verstrickt er sich in so viele Widersprüche, daß er zu der Frage, wie die Krise der Sozialdemokratie zu überwinden ist, gar nichts zu sagen weiß. Er überläßt die Arbeiterklasse sich selbst, steuerlos. Würde sie den Standpunkt von Junius akzeptieren, sie würde praktisch dieselbe Irrfahrt durchmachen, die er theoretisch durchgemacht hat. Auf historischen Reminiszenzen baut man keine Arbeiterpolitik auf, sondern nur auf dem Boden harter Tatsachen, die Junius übersehen hat.
Staat, Nation, Imperialismus und Sozialdemokratie.
Die Fragen.
Für die west- und mitteleuropäische Arbeiterklasse schien es vor dem Kriege keine nationalen Fragen mehr zu geben. Mitleidig schaute man auf die Österreicher und Russen, bei denen es national rumorte. Man fragte sich, warum sich die Proletarier dieser Länder eigentlich noch mit dem »nationalen Spektakel« soviel abgaben. Nun hat der Weltkrieg auch das Proletariat Mittel- und Westeuropas vor die nationalen Fragen gestellt. Wenn es auch eine historische Legende ist, daß der Zusammenbruch der zweiten Internationale in der Überwältigung der Parteien durch nationale Gefühle besteht, beginnt und endet jetzt in den geistigen Kämpfen um eine neue Politik der Internationale jede Auseinandersetzung mit der Frage: alles schön und gut, aber wie stellt ihr euch zur Frage der Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit? Wenn das in der Arbeiterklasse der Nationen der Fall ist, die staatlich frei sind, so hat der Krieg im Osten eine Reihe schon in Gärung begriffener Völker von unten auf aufgewühlt, das internationale Proletariat hat zur Frage der Bildung von Nationalstaaten Stellung zu nehmen. Gleichzeitig ist die Existenz von Kleinstaaten in Frage gestellt und wieder ist es die Frage ihrer Wiederherstellung oder Einverleibung, die eine Klärung erfordert. Und neben der Tendenz zur Einverleibung fremdnationaler Gebiete ist eine andere zum Zusammenschluß großer imperialistischer Staaten in mehr oder minder klarer Form sichtbar.
Flinke Geister haben für die Beurteilung aller dieser Fragen die Losung: Selbstbestimmungsrecht der Völker, die auch, wenn sie richtig und ausführbar wären, nur den Vorbehalt ausdrücken würden, daß den Völkern selbst die Lösung der Fragen ihrer Existenz vorbehalten werden muß, daß keine fremde Gewalt sie willkürlich lösen darf. Aber für welche Lösung der Fragen die Sozialdemokratie vor dem Forum der Völker eintreten, welches Banner sie selbst aufpflanzen soll, das besagt diese allrettende Losung nicht. Andere flinke Geister klammern sich an die Erkenntnis, daß jetzt nicht der Wille der Völker ihre Geschichte regiert, sondern daß es die Kanonen sind, die darüber entscheiden, und sie halten jedes weitere Nachprüfen des Urteils der Kanonen für Kinderei.
Was brauchen die Cunow, Lensch, Winnig, Cohen »Grundsätze« zu haben, wenn die Kanonen brüllen! Wenn es trotzdem manchmal scheint, als hätten sie mit ihrem Gepolter recht gegen das Gejammer der Ledebour und Haase über das vergewaltigte Selbstbestimmungsrecht, so weil jeder denkende Arbeiter fühlt, daß man bei großen historischen Entscheidungen, wie sie der Weltkrieg mit sich bringt, mit dem Pochen auf allgemeine Rechte nicht auskommt, daß die Arbeiterklasse ein historisch begründetes Urteil haben muß, und erst von ihm ausgehend zu den konkreten Fragen Stellung nehmen kann. Die Grundsätze, die sie in nationalen Fragen zu wahren hat, sind nichts anderes als die Erkenntnis ihrer jeweiligen internationalen Interessen. In erster Linie handelt es sich also um die Erkenntnis des allgemeinen Charakters einer historischen Epoche, die die Arbeiterklasse vor gewisse Aufgaben stellt. Diese Erkenntnis wird uns gleichzeitig den Weg zur Lösung der gestellten Aufgaben zeigen.
Die Bildung des Nationalstaates und die Sozialdemokratie.
1. Die Einigung Frankreichs und Englands.
Die nationale Frage stand vor den Denkern der jungen europäischen Arbeiterklasse in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Frage von dem Kampf um die nationale Unabhängigkeit Deutschlands. Diese Frage war ein Überbleibsel, ein Spätling der seit dem 15. Jahrhundert mit dem Aufkommen des Kapitalismus sich durchsetzenden Tendenz zur Bildung großer wirtschaftlicher Territorien. »Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Duanenlinie (Zollinie).«
So stellte Karl Marx im Jahre 1847 im Kommunistischen Manifest die Tendenz zur Bildung des »Nationalstaates« dar, wie sie in England und Frankreich bereits verwirklicht war. Die Grundlage dieser Tendenz bildete das bürgerliche Interesse an einem großen einheitlichen Produktions- und Absatzgebiet. Daß die Menschen, die auf diesem, gewöhnlich geographisch geschlossenen Gebiete eine und dieselbe Sprache sprechen, war für die Bourgeoisie Frankreichs und Englands in der Zeit, in der sich die Bildung ihres Staatswesens zuerst unter der Leitung des absoluten Königtums, dann durch die Revolution vollzog, keinesfalls eine unumgängliche Notwendigkeit. Die englische Bourgeoisie ließ sich durch die fremde Nationalität der Iren von ihrer Einverleibung nicht abhalten, als einerseits das Interesse der stark verbürgerlichten Junker an dem irischen Grund und Boden, andererseits die Angst vor der Existenz eines Staates, der, im Rücken Englands liegend, die Herrschaft der englischen Bourgeoisie über die Seewege bedrohen würde, die Eroberung Irlands als vorteilhaft erscheinen ließ. Und weder der französische Absolutismus noch die französische Bourgeoisie nahmen Anstoß an der deutschen Nationalität von Elsaß-Lothringen, ja des ganzen linken Rheinufers, die sie für eine bessere strategische Grenze hielten, als die Vogesen.
Überhaupt handelte es sich für die junge Bourgeoisie nicht um die Bildung des nationalen Staates, sondern des Staates überhaupt, als eines Instrumentes zur Förderung ihrer Entwicklung. Daß dieser Staat in England und Frankreich Menschen beherbergte, die in ihrer Mehrheit ein und dieselbe Sprache sprechen, war das Resultat der Tatsache, daß während der Völkerwanderungen die Stämme Gebiete, die eine geographische Einheit bildeten, auszufüllen, ganz zu besetzen suchten; nicht aus Einsicht in die Vorzüge des zukünftigen Nationalstaates, sondern dem Drucke der Ereignisse folgend: die natürlichen Grenzen waren auch die besten Abwehrgrenzen. Natürlich war die Gleichsprachigkeit der Bewohner eines Gebietes ein wichtiges Moment der wirtschaftlichen Entwicklung: sie förderte den Verkehr. Wo er aber über diese Sprachgrenze hinausging, oder die Sprachgrenze sich mit der Zeit nicht als die beste strategische Grenze herausstellte, da suchte sich die Bourgeoisie schon in diesen Muster-Nationalstaaten über die Grenzen der Nation hinaus auszubreiten. Der Begriff der Nation bildete sich überhaupt erst viel später heraus, als die kapitalistische Wirtschaftsweise wirklich das ganze Gebiet des Staates durchgeackert hatte, als die Mehrheit der Bewohner an der Politik teilzunehmen begann.
Wie war die Haltung des Proletariats der Bildung des Nationalstaates in Frankreich und England gegenüber? Die Bourgeoisie war erst im Entstehen begriffen, der zentralisierte Staat sollte doch ihre Stütze sein. Der erst entstehenden Bourgeoisie entsprach ein völlig unentwickeltes Proletariat, ein Proletariat, das erst im Entstehen begriffen war. Es entstand aus Bauern, die vom Grund und Boden vertrieben waren, aus Lehrlingen, die die Hoffnung, einmal Meister zu werden, verloren hatten, aus Häuslern, die sich von ihrem kleinen Stückchen Erde nicht ernähren konnten und sich deswegen von dem Verlagskapitalisten als Hausarbeiter ausbeuten lassen mußten.
Worin bestand für sie die Bildung des »Nationalstaates«? Darin, daß an Stelle der geregelten kurzen Arbeitszeit im Handwerk, des gemeinsamen Tisches mit dem Meister, der Hoffnung auf die Hand seiner Tochter, die Manufaktur kam, über die der Staat wachte, damit der Arbeiter ja möglichst lange zur Hebung des »nationalen Wohlstandes« beitrage. Darin, daß an Stelle des lokalen Brauches und Gesetzes, der lokalen Verfassung, eine allgemeine, staatliche, harte und kalte kam, die nur das Interesse der Bourgeoisie beachtete! Darin, daß mit der Aufhebung der Provinzzölle, der Niederlegung der städtischen Grenzen eine Konkurrenz auf dem Waren- und Arbeitsmarkte begann, eine Steigerung der Steuern. Kurz und gut, da die Entwicklung zum Nationalstaat nichts anderes war, als die Entwicklung des Kapitalismus selbst, da die ersten nationalen Zeichen, mit denen die Proletarier Englands und Frankreichs zu tun bekamen, die Vagabundenzeichen waren, die man ihnen auf die Stirn brannte, wenn sie nicht ohne weiteres unter das Joch des Kapitalismus gingen, so widersetzte sich das Proletariat dieser ganzen Entwicklung, soweit seine Kraft es irgend erlaubte. Es konnte vor dem Wagen der historisch-notwendigen Entwicklung keine Freudentänze aufführen, weil es durch seine Bourgeoisie vor ihren Wagen gespannt war, die, hoch auf dem Kutscherbock sitzend, es mit der Peitsche zum scharfen Trab antrieb.
2. Die Einigung Deutschlands.
In Mittel- und Südeuropa, in Deutschland, Österreich, Italien, verlangsamte sich die wirtschaftliche Entwicklung eben in der Zeit, in der sich in Westeuropa die »Nationalstaaten« auszubilden begannen. Seit dem 16. Jahrhundert, seit der Entdeckung Amerikas und der Versiegelung des Handels mit dem Orient durch die Türken, wurde das Atlantische Meer zum Hauptweg des Handels, wodurch die Länder am Mittelmeer und der Ostsee ins Hintertreffen gerieten. In Italien verkam der Handel immer mehr, Österreich mußte sich seiner Haut gegen die Türken wehren, in Deutschland waren die Interessen der Bourgeoisie schon vordem nicht einheitlich: während ein Teil von dem Handel mit Italien lebte, neigte ein anderer dem Osten, ein anderer wieder Flandern und England zu.
Die Habsburger, die die deutsche Kaiserkrone innehatten, herrschten gleichzeitig in Spanien, Österreich und Deutschland, und konnten ihre Kraft nicht auf die Ausbildung einer zentralen Gewalt in Deutschland konzentrieren. Dazu zerriß die Reformation Deutschland in zwei Lager. Die Zeit zur Bildung eines deutschen Staates war noch nicht gekommen, der historische Fortschritt ging auf dem Wege der Bildung kleiner deutscher Staaten, der Fürstentümer, die erst auf kleinerem Gebiete die Besonderheit der Städte, Provinzen usw. aufheben mußten. Ihre Schwäche erlaubte dem erstarkenden Nachbarn, Deutschland zum Tummelplatz aller möglichen Kriege zu machen. Wenn dies alles die kapitalistische Entwicklung hemmte, so blieben deswegen die alten mittelalterlichen Verhältnisse nicht bestehen; diese wurden zersetzt. Das Handwerk war verkümmert, die fremden Manufakturwaren töteten es, die Lage des Handwerksproletariats war miserabel: die Bauern, die von den immer mehr Getreide für Ausfuhr produzierenden Junkern von Grund und Boden gejagt wurden, fanden keine Industrie vor, in der sie Unterschlupf finden konnten. Zu dieser Misere kam noch die Plünderung während der Kriege hinzu, von der wir in Grimmelhausens Simplicius ein schreckliches Bild bekommen.
Erst als Napoleon in seinem Kampfe gegen England zur Sperrung der englischen Einfuhr nach Europa griff, begann anfangs des 19. Jahrhunderts eine moderne wirtschaftliche Entwicklung auch in Mittel- und Südeuropa. Die damals ihren Siegeszug feiernde moderne Maschinerie, die Einführung der Eisenbahnen ließ das wirtschaftliche Leben sich in schnellerem Tempo entwickeln; auch in Deutschland und Österreich entsteht eine moderne Bourgeoisie, deren Interessen die Einigung Deutschlands, die Bildung eines modernen Staates mit gleichen Münzen, gleichen Gesetzen, Zöllen, kurz die Herrschaft der deutschen Bourgeoisie über das deutsche Wirtschaftsgebiet erfordern. Seit der Bildung des Zollvereins ist die Frage der Einigung Deutschlands nicht mehr von der Tagesordnung verschwunden.
Wie war die Haltung des deutschen Proletariats diesen Bestrebungen gegenüber? Die deutsche Arbeiterklasse, die in ihrem intelligentesten Teile noch aus Handwerksburschen bestand, hatte nicht nur unter der kapitalistischen Entwicklung zu leiden, sondern auch unter dem Fehlen der kapitalistischen Ordnung. Die fehlende Freizügigkeit, die Überbleibsel des alten Zunftwesens, das Mosaik der Gesetze, alles das lastete auf der Arbeiterklasse. Sie hatte die Idylle der mittelalterlichen Gewerbeverfassung schon lange vergessen, alle Bitternisse des Kapitalismus zu kosten bekommen, nur der große Kampfboden, den ein einheitlicher Staat abgibt, war ihr vorenthalten. Deswegen fühlten sich die intelligentesten Kreise der deutschen Arbeiterschaft mit dem Streben des Bürgertums nach einem einigen deutschen Reiche vollkommen solidarisch. Darin äußerte sich auch die Tatsache, daß diese Arbeiterschaft noch als selbständig denkende und handelnde Klasse nicht organisatorisch, ja nicht einmal vom Bürgertum getrennt war. Weder im Jahre 1848, noch in den 60er Jahren, als die »nationale Bewegung« mit dem neuen wirtschaftlichen Aufschwunge von neuem erstarkte.
Nur ein ganz kleiner Kreis von Arbeitern sammelte sich um Marx im Jahre 1848, und klein war die Zahl der Anhänger von Lassalle und Liebknecht, als sie ihre Agitation begannen. Marx kannte alle die nationalen Illusionen, die die Arbeitermassen belebten. Er kannte ausgezeichnet den bürgerlichen Charakter des Staates: das Vaterland bedeutete für Marx nichts anders als den kapitalistischen Staat, und da die Arbeiter in ihm nicht die Herrschaft haben, erklärte er im Kommunistischen Manifest am Vorabend der Revolution: die Arbeiter haben kein Vaterland.
War es also eine Verleugnung dieser Sätze des Manifestes, wenn er ein paar Monate später die Losung der einigen und einzigen deutschen Republik aufstellte, also die Forderung nach der Einigkeit Deutschlands in rücksichtslosester konsequentester Form? Mit nichten! Marx verstand nur, daß man mit dem Kosmopolitismus von Weitling, der die Nationen als Erfindung der Bourgeoisie geißelte und aus dem vormärzlichen Deutschland in den Sozialismus hineinspringen wollte, nichts anfangen kann. So kurz sich Marx damals die noch bevorstehende Epoche der bürgerlichen Gesellschaft vorstellte – er stellte sie sich kürzer vor, als es dem damaligen Sachverhalt entsprach – so hat er schon im Kommunistischen Manifest ausgesprochen: »Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.«
Da die Bourgeoisie in Deutschland noch nicht am Ruder war, da das herrschende Regime feudal war, so mußte sie zuerst mit dem Feudalismus, mit der partikularen Zersplitterung fertig werden, bevor ihr Erbe, das Proletariat, an die Reihe kam. Aber eben, weil sie die Herrschaft noch nicht in den Händen hatte, konnte sie sich in den Augen des Proletariats noch nicht kompromittiert haben – um nur dieses äußere Element herauszugreifen – und so hatte sie noch in seinen Augen eine große Autorität, die sich in den nationalen und liberalen Illusionen des Proletariats ausdrückten. Marx und seinen Anhängern standen in dieser Situation zwei Wege offen. Entweder sich auf die Aufdeckung des bürgerlichen Charakters der Revolution, der Einigungsfrage zu beschränken, in dieser kritischen Position zu verbleiben, bis der Gang der Ereignisse rein proletarische Fragen auf die Tagesordnung bringen mußte, oder aktiv in die bürgerliche Bewegung einzugreifen, sie über sich hinauszutreiben, im Kampfe gegen den Feudalismus jede Schwäche, jedes Schwanken der Bourgeoisie auszunutzen, um das Proletariat als selbständige Klasse zu organisieren, es für die – wie Marx damals wähnte – nahe Aufgabe der selbständigen Machtergreifung vorzubereiten.
Der erste Weg war der der Sekte, der Propaganda, die nur auf einen sehr geringen Teil der Arbeiter Einfluß haben konnte, der zweite war der einer Aktion. Aber in dieser Aktion rollte Marx keinen Augenblick die besondere proletarische Fahne zusammen. Er predigte in der »Neuen Rheinischen Zeitung« die Lehren des Sozialismus in der eindrucksvollsten Art und Weise, indem er von dem Standpunkt der Interessen der Arbeiterklasse alle Ereignisse beleuchtete, die Politik der Bourgeoisie, die auf kraftloses Poltern oder auf ein Kompromiß mit dem Junkertum hinauslief, aufs schärfste kritisierte. Auf dem Boden der Bewegung zum bürgerlich-nationalen Staate bekämpfte Marx alle bürgerlichen nationalen Illusionen, kämpfte Marx um die volle Demokratie, als die Form des kapitalistischen Staates, die unter sonst gleichen Bedingungen dem Proletariat am leichtesten die Erreichung seiner selbständigen Ziele erlaubte.
Nicht die Bildung des selbständigen bürgerlichen deutschen Staates war die oberste Aufgabe, sondern wenn einmal seine Bildung das war, was die Stunde gebot, eine notwendige historische Etappe, so galt seiner Demokratisierung die Mühe der Vorhut der Arbeiterklasse. Die Einigung Deutschlands, das war die besondere historische Aufgabe des Bürgertums; der Kampf um die Demokratie schon in dem Prozeß der Einigung, das war die Aufgabe der Arbeiterklasse. Diese Aufgabe war nur zu verwirklichen im Klassenkampfe, nicht nur gegen die feudalen, sondern auch gegen die bürgerlichen Elemente. Und indem Marx die Bildung des deutschen Staates für eine historische Notwendigkeit hielt, der sich die Arbeiterklasse nicht widersetzen konnte, weil er den Boden ihres eigenen Kampfes, das Feld, auf dem sie ihre eigenen Aufgaben erfüllen wird, bildet, widersetzte er sich auch den Notwendigkeiten dieses Staates nicht im Namen eines ausspintisierten »Nationalitätenprinzips«. Er sah die Notwendigkeit des Verbleibens der Polen in den preußisch-deutschen Staatsgrenzen, wenn diese irgendwie tragfähig sein sollten, er sah die Notwendigkeit für Österreich, seine südslawische tschechische Bevölkerung beizubehalten, ein. Die Bakunins, die im Namen des »Nationalitätenprinzips« die Welt in Parzellen zerschlugen, behandelte er mit Spott und Hohn. Aber er konnte dies nur tun, weil er sich nicht zum Trabanten der bürgerlichen wie feudalen Reaktion machte, sondern auf dem Boden des historischen Prozesses der deutschen Staatsbildung den revolutionären Kampf um volle Demokratie führte, also um eine Staatsform, in der alle Völker sich frei entwickeln könnten. Und wie er den reaktionären Bestrebungen der slawischen Völker kühl gegenüberstand, so geißelte er mit Feuer die gegen sie durch die Reaktion verübten Gewalttaten. Es genügt, nur an den Artikel der »Neuen Rheinischen Zeitung« über die Bombardierung Prags durch Windischgrätz zu erinnern.
Der Ausgang der Kämpfe des Jahres 1848 zeigte, daß die deutsche Bourgeoisie zu schwach war, um ihre historische Aufgabe zu erfüllen, die feudale Zersplitterung Deutschlands zu überwinden. Die Schwäche der Bourgeoisie, die letzten Endes in dem Überwiegen des Kleinbürgertums lag, bedingte auch die Schwäche des Proletariats: weil die Bourgeoisie den deutschen Staat nicht zu schmieden wußte, konnte das Proletariat in ihm nicht die Demokratie erobern. Was die Bourgeoisie als Klasse nicht vermochte, das vollbrachte später ein Teil der Junker – der am meisten modernisierte – mit der Großbourgeoisie zusammen: die Notwendigkeit der Bildung eines deutschen Großstaates war so evident, daß ein Teil der junkerlichen Bureaukratie und des preußischen Militarismus, kurz die feudalen Beherrscher Preußens, die Aufgabe der Bourgeoisie erfüllen mußten, wenn sie weiter herrschen wollten. Aber das bedingte, daß die Einigung Deutschlands – eigentlich eines Teiles Deutschlands – unter reaktionärer Führung stattfand: in einem unter preußischer Spitze geeinigten Deutschland gab es einstweilen keinen Platz für die Demokratie.
Deswegen fiel es Marx nicht im Traume ein, als Trabant vor dem Wagen des siegreichen Preußen, das den deutschen Staat auf den Schlachtfeldern erkämpfte, herzulaufen. Er hütete sich ebenso vor dem Verkennen des historischen Fortschritts, der sich in der Bildung des Deutschen Reiches selbst unter Bismarcks Leitung äußerte, – was der Fehler des Standpunktes Liebknechts war – wie vor der Glorifizierung der preußischen Bajonette, die den historischen Fortschritt den Kräften der Reaktion dienstbar machten, was Schweitzer sich oft zuschulden kommen ließ.
3. Der Nationalitätenstaat und die Sozialdemokratie.
Das Jahr 1871 beendete für Mitteleuropa die Ära, die man fälschlich die Ära der »nationalen« Kriege nennt, und die in Wirklichkeit die Ära der modernen Staatsbildung war. Die weitere Entwicklung des Kapitalismus in Österreich, Rußland und auf dem Balkan enthüllte noch krasser das Wesen der Staatsbildungsfrage und der sich aus ihm für die Arbeiterklasse ergebenden Schlüsse. In dem Rahmen der national gemischten Staaten wie Österreich und Rußland erstarkte der Kapitalismus, ohne Tendenzen zur Bildung besonderer Nationalstaaten zu zeitigen. Eben weil der österreichische und russische Staat der national gemischten Bourgeoisie die Einheit der Wirtschaftsgebiete, die Einheit der Gesetze usw., kurz, die wichtigsten Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaft bot, erstrebten die verschiedenen nationalen Bourgeoisien die Bildung der Nationalstaaten nicht. Der Kampf der nationalen Bourgeoisien in Österreich, der bei oberflächlichen Beobachtern den Eindruck erweckt, als sei er ein Kampf gegen den Staat, ein Kampf um seinen Zerfall, war in Wirklichkeit ein Kampf um den Staat: jede nationale Bourgeoisie suchte nach einem Mittel, das ihr einen möglichst großen Einfluß auf die Staatsmaschine geben sollte. Und was man jetzt auch herumtuschelt über die angeblichen Absplitterungstendenzen der Tschechen und Ruthenen im Kriege, so können diese Legenden die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß sich der durch die kapitalistische Entwicklung Österreichs erzeugte Staatszusammenhalt der national-verschiedenen Bourgeoisien als viel stärker erwies, als man es vor dem Kriege annahm. In der Erklärung dieser Erscheinung aus der Tatsache, daß Österreich-Ungarn eine geographisch-wirtschaftliche Einheit bildet, hat Karl Renner sich zweifelsohne große wissenschaftliche Verdienste erworben, wie man sich auch zu seinen sonstigen sozialpatriotischen Kriegsprodukten stellen mag. Selbst in Rußland, wo der Zarismus der fremdnationalen Bourgeoisie keinen Anteil an der Macht gewährt, weil er ihn auch der russischen nicht gab, selbst in Rußland, wo das bureaukratisch-autokratische Regime ein Hemmnis der wirtschaftlichen Entwicklung war, entstanden in der Bourgeoisie der Grenzlande keine Bestrebungen nach staatlicher Absonderung. Wie sehr die autokratische Staatsform auf die Länge hin den Interessen der bürgerlichen Entwicklung widerspricht, diente sie trotzdem den kapitalistischen Interessen: statt in die Wälder zu flüchten und nationale Aufstände zu organisieren, freute sich die Bourgeoisie des großen Wirtschaftsgebiets, das soviel Gelegenheit zu Geschäften gab und suchte die zarische Maschine durch »Schmieren« in Bewegung zu halten.
Selbst als die Wogen der Revolution des Jahres 1905 hoch gingen, sehen wir nirgends in der Bourgeoisie Absonderungstendenzen, ja, bürgerliche Ideologen, die vor der Revolution dem Unabhängigkeitsprogramm huldigten, ließen es im Stiche, als sie in dem Teil der »Verfassung«, die ein öffentliches politisches Leben ermöglichte, zu Vertretern breiter Schichten der Bourgeoisie wurden. So die Wandlung der Nationaldemokraten in Russisch-Polen. Nicht Aufteilung Rußlands, sondern Autonomie, d. h. Selbstverwaltung in seinen Grenzen, die die nationale Unterdrückung aufheben würde, so lautete das nationale Programm der polnischen, deutschen, lettischen, armenischen usw. Bourgeoisie Rußlands. Und was in der Zeit der Revolution sich offenbarte, das bestätigte die Haltung der national verschiedenen Bourgeois Rußlands im Weltkriege. Alle nationalen bürgerlichen Aufstände stellten sich als Fabeln heraus. Aber vielleicht liefert die Geschichte des Balkans den Beweis, daß der Nationalstaat die Form der Herrschaft der Bourgeoisie, ihr Ziel ist. Die Kämpfe der jungen Balkanbourgeoisien bilden ganz gewiß ein Beispiel des Strebens jeder Bourgeoisie nach Macht und Herrschaft. Aber die Tatsache, daß die serbische Bourgeoisie um den bulgarischen Teil Mazedoniens, um den albanischen Zugang zum Adriameere Kriege führte, daß die Bulgaren heute nicht nur Pirot, sondern auch Nisch nehmen wollen, das alles bildet eine glänzende Bestätigung dafür, daß es nicht die nationalen, sondern die wirtschaftlichen, militärischen Ziele sind, die das Maß des bürgerlichen Strebens bilden, daß es nicht der Nationalstaat, sondern der wirtschaftlich möglichst entwicklungsfähige, d. h. der die Entwicklung des Kapitalismus am meisten fördernde Staat ist, den die Bourgeoisie zu bilden sucht.
Wenn die Geschichte Österreichs, Rußlands, des Balkans diese wirtschaftliche, nicht national-kulturelle Bestimmung der Staatsziele der Bourgeoisie so klar zeigt, so wirft sie ein nicht minder charakteristisches Licht auf die Haltung der Arbeiterklasse der Frage des Nationalstaates gegenüber. Der Arbeiterklasse Österreich-Ungarns ist, seitdem sie den ersten Schritt auf der weltpolitischen Bühne getan hat, kein einziges Mal in den Kopf gekommen, dem angeblich mit dem Streben nach Demokratie so eng verwachsenen Streben nach dem Nationalstaat auch nur einen Tag ihres Kampfes zu opfern. Nicht die Zerreißung Österreichs in ein Dutzend humoristischer Nationalstaatchen war ihre Losung, sondern die Demokratisierung Österreichs, eine Form seiner Einrichtung, die mit der nationalen Unterdrückung enden würde. Die deutsche Arbeiterklasse Österreichs, die doch den Anschluß an ein großes Reich finden konnte, kümmerte sich um die österreichischen Alldeutschen, die ihn propagierten, nicht den Teufel. Und die polnischen Arbeiter Österreichs, deren Führer an Sonntagen die Unabhängigkeit Polens im Munde führten, ließen sich dies zwar bei dem geringen Grade ihrer Entwicklung gefallen, aber ihr wirklicher, täglicher Kampf galt der Demokratisierung Österreichs, der Eroberung von Sozialreformen usw. In Russisch-Polen schien es, als ob die Arbeiterklasse sich die Eroberung der staatlichen Unabhängigkeit zum Ziele gemacht hätte. In der Zeit von 1893–1903 hatte in der polnischen Arbeiterbewegung die Polnische Sozialistische Partei (P. P. S.), die die Unabhängigkeit Polens zum Ziele des proletarischen Klassenkampfes machen wollte, zweifelsohne das zahlenmäßige Übergewicht. Aber kaum geriet die Arbeitermasse wirklich in Bewegung, kaum begannen wirkliche Massenkämpfe und nicht mehr die Propaganda sozialpatriotischer Intelligenzler ihre Ideologie zu formen, da zeigte sich, daß die polnische Arbeitermasse den Kampf Arm in Arm mit der russischen um die Republik, um die demokratische Autonomie führte. Es ward offenbar, daß ihre Interessen nicht die Bildung eines besonderen, sondern die Demokratisierung des bestehenden Klassenstaates, in dessen Rahmen sie sich entwickelt hat, erforderten. In dieser Zeit – es waren die Jahre der Revolution – übte nach einem Ausspruch des »Przedswit«, des theoretischen Organs der Poln. Soz. Partei, die Sozialdemokratie Russisch-Polens die Diktatur in der polnischen Arbeiterbewegung aus, jene Partei, die seit ihrer Gründung (1893) klarer als irgend ein anderer Teil der Internationale das Verhältnis des Proletariats zum nationalen Problem erfaßt hat
Das junge Proletariat des Balkans nahm als letztes Stellung zu dem Problem der Staatsbildung. Es erfaßte schon in der ersten Balkankonferenz des Jahres 1909 in erster Linie dank der Arbeit des unvergeßlichen jungen Theoretikers der serbischen Sozialdemokratie, Dymitri Tutzowitz, daß ihm die Aufgabe gebührt, in dem historisch notwendigen bürgerlichen Prozeß der Balkanstaatbildung die Interessen der Demokratie zu verteidigen. Während die Bourgeoisie jedes Balkanlandes aus dem Balkangebiet ein möglichst großes Stück herauszuschneiden suchte, was zur Stärkung des Militarismus der Dynastien, zur Verschlimmerung der Bedingungen des zukünftigen Klassenkampfes führen mußte, stellten die Balkansozialdemokraten die Losung der föderativen Balkanrepublik auf. Durch diese Losung trennten sie sich von der Bourgeoisie schon in dem Prozeß der Lösung des Balkanproblems. Sie suchten diesen historisch-fortschrittlichen Prozeß nicht zu hemmen, aber machten sich in ihm nicht zu Trabanten der Bourgeoisie, sondern erstrebten auf seinem Boden das Ziel, das für das Proletariat in der ganzen Epoche der Staatsbildung das wichtigste ist: die Demokratie. Ihre Kräfte waren zu schwach, um ihr Programm zu verwirklichen, wie die Kräfte der sich im Jahre 1848 um Marx sammelnden Arbeiter zu schwach waren, um die Losung der einzigen deutschen Republik zu verwirklichen.
Aber durch ihre Losung der föderativen Balkanrepublik erzielten die Balkansozialisten ein zweifaches: sie blieben nicht außerhalb der Kämpfe, die den Balkan seit Jahren aufwühlten, als kleine propagandistische Sekte; durch die Entfaltung ihrer Fahne sammelten sie einen Teil der Volksmassen um sich, aber sie sammelten sie für eigene Ziele, verhüteten, daß die junge Arbeiterklasse nur die Rolle des Chors der Bourgeoisie spielte.
4. Das Proletariat und die Staatsbildung.
Wir sind am Ende des ersten Teils unserer Ausführungen. Es gilt, in kurzen Worten das Resultat unserer Untersuchungen zu unterstreichen. Der bürgerliche Staat ist ein Produkt der kapitalistischen Entwicklung, er ist die Form, in der die über den Feudalismus siegende Bourgeoisie die Herrschaft ergreift, um sie als Hebel der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise zu gebrauchen. Der »Nationalstaat«, d. h. der Staat mit einsprachiger Bevölkerung, bildete niemals das Ziel der Bourgeoisie, sondern sie erstrebte immer ein geographisch und militärisch möglichst günstiges Gebiet. Wo ihre Interessen im Rahmen eines fremden Staates befriedigt wurden, suchte die Bourgeoisie keinen besonderen nationalen Staat zu bilden. Das Proletariat, als seiner besonderen Interessen bewußtes Element, war niemals eine staatbildende Kraft: als die Staatsbildung auf der historischen Tagesordnung stand, war es eben erst im Entstehen. Soweit es schon in diesem seinem Zustande bewußt eigene Politik trieb, sorgte es auf dem Boden des historisch-fortschrittlichen Prozesses kapitalistischer Staatsbildung für seine eigenen Interessen, für die demokratische Ausgestaltung des sich bildenden Staates. Wo es auf dem Boden des Nationalitätenstaates entstanden war – was schon ein Beweis dafür war, daß der Rahmen dieses Staates kein Hindernis für die kapitalistische Entwicklung war –, jagte es nicht dem Ideal eines besonderen Nationalstaates nach, sondern kämpfte mit seinen anderssprechenden Klassenbrüdern für die Demokratisierung des national gemischten Staates, für die Aufhebung der nationalen Unterdrückung, die es in seiner kulturellen Entwicklung hemmte, seinen Klassenkampf aufhielt. Die nationale Frage hatte für das Proletariat in den Nationalitätenstaaten die Bedeutung einer Frage der kulturellen Entwicklungsmöglichkeit und der Demokratie. Das Staatsproblem war also für die Bourgeoisie die Frage der Herrschaft über die Produktionskräfte, ohne Rücksicht auf die Nation ihrer Träger, für das Proletariat die Frage der Schaffung der besten Bedingungen für den Klassenkampf um den Sozialismus. Das klassenbewußte Proletariat war niemals solidarisch mit der Bourgeoisie in den national-staatlichen Fragen.
In der Aera des Imperialismus.
Der Weltkrieg, der eine große Anzahl neuer Fragen aufwirft, stellt auch die alten in ein neues Licht. Das empfinden alle, die nicht aus Angst vor den Konsequenzen sich krampfhaft einreden, die große Welterschütterung sei nur eine kleine Unterbrechung, eine Episode, nach der man in alter Weise werde fortwursteln können. Das empfinden die Sozialimperialisten wie die Linksradikalen.
In bezug auf die Probleme, die uns hier interessieren, weisen die Sozialimperialisten auf zwei Momente hin: einerseits auf die Tatsache, daß sich die Kraft der Staaten in diesem Kriege als außerordentlich groß erwies. Der Staat überwand die Erschütterung der Volkswirtschaft durch den Krieg, indem er sie kraft seines Organisationsvermögens in eine Kriegswirtschaft überleitete. Er wird sie auch unter möglichster Vermeidung von Erschütterungen wieder in die Friedenswirtschaft hinüberführen, indem er den Prozeß der Organisation der Produktivkräfte mächtig fördern wird. Daraus ziehen die Sozialimperialisten den Schluß, daß es unsinnig wäre, gegen ihn und die kapitalistische Wirtschaft den Kampf aufzunehmen. Die kapitalistische Wirtschaft habe noch große Aufgaben im Interesse der sozialen Entwicklung zu leisten. It is a long way to Tiperary! singen sie gemeinsam mit Tomy Atkins. Also fort mit der Utopik der Kampfpolitik, der Sozialdemokratie Ende und Glück! Denn der Staat wird die große Arbeit der Organisation erledigen und die Sozialisten werden nur die Aufgabe haben, durch allmähliche Reformarbeit darauf hinzuwirken, daß die Arbeiterklasse in diesem Organisationsprozeß nicht versklavt werde und daß die vom kapitalistischen Staate geschaffene Organisation allmählich den Interessen des ganzen Volkes angepaßt werde. In dieser Verflechtung der Interessen des Proletariats mit denen des noch nicht überrennbaren Kapitalismus, des Kapitalismus, der noch große Aufgaben zu erfüllen hat, sehen sie die historische Wurzel und die historische Berechtigung der Politik des 4. August, die das Proletariat an die Seite des kapitalistischen Staates gestellt hat.
Die Linksradikalen sehen die Lehren des Weltkrieges in einem ganz anderen Lichte. Die Haltung der Arbeiterklasse im Weltkriege ist für sie das Produkt des in der vorhergehenden, verhältnismäßig friedlichen Epoche vorherrschenden Opportunismus, der vor dem Kriege aus Angst um die bisherigen Errungenschaften die Arbeiterklasse von der Anpassung ihrer Kampfesweisen an die Bedingungen der imperialistischen Epoche zurückhielt, ihren Kampf gegen die Gefahren des Krieges im Zustande des platonischen Protestes beließ. Nur dieser Verzicht auf jeden Kampf erlaubte allen Regierungen, den Erschütterungen des Überganges in die Kriegszeit, die sie alle befürchteten und, wie sehr gute bürgerliche Kenner des Wirtschaftslebens – so Plenge – zugeben, zu befürchten alle Ursache hatten, zu widerstehen.
Nachdem jeder Versuch des Kampfes ausgeblieben war, gelang die Organisation der Kriegswirtschaft. Was bedeutet sie? Sie stützte sich auf die schon vor dem Kriege bestehende Organisation der Industrie durch die Aktiengesellschaften, Kartelle, Syndikate und Trusts. Sie entwickelt sie während des Kriegs noch mehr, ohne an ihrem Wesen, als dem Profit dienenden kapitalistischen Organisationen etwas zu ändern. Der Krieg wird diese Unterwerfung der Produktivkräfte unter die Leitung vereinigter Kapitalisten in allen Ländern ungeheuer beschleunigen. Wenn auch Finanzverhältnisse den kapitalistischen Staat nötigen werden, einen Teil der Produktivkräfte unter eigene Leitung zu nehmen und Staatsmonopole an die Stelle der Privatmonopole zu setzen, so wird am Wesen dieser Organisation der Produktion dadurch nichts geändert. Der Staat wird die hohen Profite der Privatfabriken als Rente kapitalisieren, er wird aus Rücksicht auf die finanziellen Bedürfnisse, die doch die treibende Kraft für die Verstaatlichung bilden, in demselben Verhältnis zu den Arbeitern verbleiben, das durch das Verhältnis von Kapital und Arbeit gekennzeichnet ist. Die Idee der Unterstützung dieses »Organisationsprozesses«, um auf seinem Boden gute Arbeitsbedingungen für das Proletariat, niedrige Preise für die Verbraucher, Freiheit der Organisation zu erwirken, ist utopisch. Nachdem man durch die Politik des 4. August, die doch nach dem Kriege fortgesetzt werden soll, die Kapitalisten und den Staat mächtig gestärkt hat, hat man sich ausgeliefert. Nichts kennzeichnet diese Tatsache besser und nichts gewährt einen so tiefen Blick in die Zukunft, wie das Verhalten der freien Gewerkschaften gegenüber den Eisenbahnern. Die Eisenbahnen bilden im Kriege ein noch bedeutungsvolleres Machtmittel als in Friedenszeiten. Kein Wunder, daß der Staat mit peinlichster Sorgfalt darauf achtet, daß die Eisenbahner keinen Organisationen angehören, die das Streikrecht für ihre Mitglieder beanspruchen. Nun ist die Zahl der Eisenbahnarbeiter und -arbeiterinnen naturgemäß sehr gestiegen, und zwar um zahlreiche Arbeitskräfte, die bisher in den freien Gewerkschaften organisiert waren. Das für den Staat ganz selbstverständliche Verbot des Streikrechts für die Eisenbahner bedeutet für die freien Gewerkschaften also eine schwere Probe. Ihre Führer sind der Haupttrupp der Politik des 4. August gewesen: sie haben sich dadurch als durchaus vaterlands- und kaisertreu erwiesen. Was tun sie nun gegenüber dem Streikverbot der Eisenbahner? Sie können nichts tun; denn sie haben die Waffen aus der Hand gelegt. Darum verzichten sie auf die Organisierung der Eisenbahner je nach ihrer Arbeitsweise in den freien, streikberechtigten Organisationen und fordern sie zum Eintritt in die Eisenbahnerorganisationen auf, die kein Streikrecht kennen. So wird es ganz naturgemäß auch in andern durch den Staat monopolisierten Betrieben gehen, die für den Staatsbetrieb Bedeutung haben können; z. B. in der Elektrizitätsindustrie. In den Privatmonopolen wird vielleicht keine formelle Aufhebung des Streikrechts erfolgen; aber die Macht des organisierten Unternehmertums wird die Ausnutzung dieses Rechtes ungeheuer erschweren.
Eine Unterstützung der Organisation der Produktion durch die kapitalistischen Vereinigungen und den Staat seitens des Proletariats würde in erster Linie den Verzicht auf den Kampf um den Sozialismus bedeuten, von der Wirkung auf den Kampf um Besserung der Lebensbedingungen ganz zu schweigen. Obligatorische Schiedsgerichte, hinter denen keine Kampfmöglichkeit und keine Kampforganisationen stehen würden, das wäre die Konsequenz. Also Kampf gegen die kapitalistische Privat- und Staatsorganisation der Produktion? Aber auf welches Ziel soll er gerichtet sein? Auf die Rückkehr zum Einzelbetrieb?
Es ist klar, daß dies nicht das Ziel der Sozialdemokratie sein kann. Was ihr Ziel sein muß, das zeigt die weitere Untersuchung der Organisationsfrage. Das, was die Sozialimperialisten als Beweis der Stärke, der noch großen Lebensfähigkeit des kapitalistischen Staates ansehen, nämlich seine organisatorische Übernahme der Produktion, ist gerade ein Beweis dafür, daß er seine historische Aufgabe als Förderer der kapitalistischen Entwicklung in den hochentwickelten Ländern bereits erfüllt hat. Ungeheure Produktivkräfte sind schon geweckt und in den für den wirtschaftlichen Gesamtbetrieb wichtigsten Teilen organisiert. Soweit dies nicht der Fall ist – so in der Lebensmittelproduktion – können die Aufgaben, die hier zu lösen sind, durch ihn nicht gelöst werden. Die Übernahme der Landwirtschaft durch den Staat, ihre Nationalisation, ist theoretisch zwar wohl mit dem Kapitalismus vereinbar; aber praktisch würde sie an zwei Momenten scheitern: die Umschlagszeit des Kapitals in der Landwirtschaft ist viel langsamer, die Aussichten auf sprunghaft wachsenden Profit sind viel geringer als in der Industrie, weil die Technik in der Landwirtschaft nicht die Rolle spielt wie in der Industrie, weswegen das Kapital ihr nicht in genügender Höhe zufließt. Außerdem befindet sie sich in den Händen einer Klasse, die als Mittel- wie auch als Großgrundbesitz zu den wichtigsten Stützen der kapitalistischen Gesellschaft gehört, also für den Staat ein Noli me tangere ist. Deswegen wird der Staat niemals an die Organisation der landwirtschaftlichen Produktion gehen. Was die staatlichen Monopole betrifft, so stellen sie, wie früher bereits ausgeführt wurde, den privatkapitalistischen Monopolen gegenüber keinen Fortschritt dar. Der Staat ist also kein Förderer der Organisation der Produktion, weder im qualitativen, noch im quantitativen Sinne, wo ihm, wie in der Landwirtschaft, der Mechanismus des Kapitalismus und seine Interessen selbst Halt gebieten. Darum kann die Sozialdemokratie nur vom Standpunkt des Sozialismus dem Staat gegenüber, nur im Besitze der politischen Macht kann die Arbeiterklasse die Organisation der Produktion fördern und gleichzeitig der Unterordnung der lebendigen Kräfte der Produktion unter die versachlichten entgehen. Was die Sozialimperialisten als Grundlage des Methusalemlebens des kapitalistischen Staates ansehen, ist in Wirklichkeit nichts anderes, als seine Reife zum Übergang in den Sozialismus. Und dieser Übergang wird erfolgen durch die praktische Stellungnahme der Arbeiterklasse zum Staate, die ihr in der Theorie längst geläufig ist; sie wird erfolgen genau in der entgegengesetzten Haltung der kapitalistischen Organisation der Produktion gegenüber, als die Sozialdemokraten für richtig halten.
Diese Stellungnahme des Proletariats wird in allen Ländern zum Durchbruch kommen. Wenn ein Lensch mit einem Anschein von Recht das England vor dem Kriege als das Land des »Individualismus« Deutschland, dem Lande der Organisation gegenüberstellen konnte, so kann er sich trösten: Der niedrigere Grad der Vertrustung und Kartellierung der englischen Industrie, dem Freihandel gedankt, der diesen Prozeß verlangsamte, verschwindet im Kriege: ein Hervorstampfen einer Fünfmillionenarmee während des Krieges, ihre Ausrüstung usw. wäre unmöglich, ohne daß England im Kriege die Bahn der kapitalistischen Organisation der Produktion rüstig beschritt. Und in anderen Ländern des Kapitalismus wird die Entwicklung durch den Weltkrieg sich in derselben Richtung in beschleunigtem Tempo entwickeln.
Damit ist der Ausgangspunkt für die Stellungnahme des Proletariats zum Staatsproblem in der Ära des Imperialismus gewonnen. Auch in der Ära des jungen Kapitalismus, des entstehenden kapitalistischen Staates, war das Proletariat, wie wir bereits sahen, kein staatsbildender Faktor. Es konnte sich zwar dem wirtschaftlichen und politischen Fortschritt, der sich in der Bildung der Staaten äußerte, soweit es sich dabei über seine eigenen Interessen zu orientieren wußte, nicht widersetzen; aber nur die Erringung demokratischer Verhältnisse auf dem Boden der stattfindenden Staatsbildung war die besondere Klassenaufgabe des Proletariats. In der Ära des entwickelten Kapitalismus, seiner Organisation der Produktionskräfte, strebt das Proletariat über den kapitalistischen Staat hinaus zur sozialistischen Organisation der Produktion.
Im Zeitalter des Imperialismus.
Die imperialistischen Aufgaben des Staates.
Die Sozialimperialisten weisen darauf hin, daß der imperialistische Staat dabei ist, über die bisherigen Grenzen hinauszuwachsen. Seine wirtschaftlichen Kräfte sprengen die bisherigen staatlichen Grenzen. Die wachsende Produktion sucht gesicherte Absatzmärkte, Rohstoffquellen, und so erfolgt ein Zusammenschluß zu großen Imperien. Neben dem englischen, russischen, französischen ist das mitteleuropäische im Entstehen begriffen. Sie stellen einen großen wirtschaftlichen und politischen Fortschritt dar: Produktion auf großer Stufe, die Niederreißung der Grenzen auf großen Gebieten. Und die Kolonialpolitik dieser Kolosse bedeutet die Verbreitung der kapitalistischen Produktionsweise über die ganze Welt. Diesem historischen Prozeß sich zu widersetzen, wäre kindisch. Ebenso wie die Organisation der Produktion durch die Kartelle und Trusts die Vorbedingung für den Sozialismus innerhalb der kapitalistischen Staaten war, so bereitet sie ihre imperialistische Expansion in der ganzen Welt vor. Nur nachdem der Kapitalismus die ganze Weltkugel siegreich durcheilt haben wird, wird die Zeit des Sozialismus gekommen sein. Aber nicht nur deswegen darf sich das Proletariat den imperialistischen Zusammenschlüssen, den Annexionen und der Kolonialpolitik nicht widersetzen. Bevor die Stunde des Sozialismus geschlagen hat, wird von dem Gedeihen jedes dieser imperialistischen Staaten das Wohl und Wehe des Proletariats abhängen: das Stocken des Absatzes, das Ausbleiben der Rohstoffzufuhren bedeutet Arbeitslosigkeit, Notwendigkeit der Auswanderung und somit Niedergang der Arbeiterbewegung des betreffenden Landes.
Wie der Ruf: Deutschland, das Land der Organisation!, den die Lensch ausstoßen, nur eine Wiederholung desselben Rufes bürgerlicher Imperialisten ist – man lese nur Naumanns: »Mitteleuropa« und Plenges: »1789 und 1914« – so sind auch diese ungeheuerlich neuen Entdeckungen der Cunow, Renner und Lensch, deretwegen sie nicht nur von der Mitwelt der Haenisch, Grunwald, Cohen, Heilmann, sondern von sich selbst als große Köpfe gefeiert werden, Gedanke für Gedanke ganz gedankenlos von den Naumann, Rohrbach, Jaeckh abgeschrieben. Diese Feststellung enthebt natürlich nicht der Pflicht, die Unrichtigkeit ihrer Gedankengänge zu beweisen.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Grenzen der kapitalistischen Staaten ebenso zu eng wurden für die Entwicklung der Produktivkräfte, wie der Kapitalismus selbst. Aber wie der Kapitalismus durch Kartelle und Trusts den Krisen nicht entgehen kann, so kann er ihnen auch durch die imperialistische Expansion nicht entgehen. Die Erweiterung des Marktes wird immer durch das Wachstum der Produktion überflügelt, eine Folge der Unreguliertheit der Produktion. Die Idee eines kapitalistischen Welttrustes, der nicht nur jeden einzelnen Produktionszweig beherrscht, sondern auch die Produktionskräfte nach den Bedürfnissen der Menschheit verteilt, ist vollkommen utopisch. Ihre Voraussetzung bildet die Konzentration des Weltkapitals in ein paar Händen; denn solange dies nicht der Fall wäre, würde jeder neue technische Fortschritt die außerhalb der einzelnen Kartelle stehenden Kapitalisten zur Errichtung von Konkurrenzwerken reizen. Einen Zustand aber, in dem das Weltkapital sich nur in ein paar Händen befinden würde, also die Weltproduktion vollkommen konzentriert wäre und der Kapitalismus noch herrschen würde, einen Zustand also, in dem ein paar Kapitalisten die ganze riesengroße Aufgabe des Sozialismus erledigt haben, wagen selbst die pessimistischen Sozialisten nicht anzunehmen.
Worin besteht also die Aufgabe der Imperien? Sie können die Produktion in dem Maßstabe des Weltmarktes nicht organisieren. Umgekehrt, suchen sie sie nur in den eigenen Staatsgrenzen zu organisieren, um den Bewohnern des Imperiums höhere Monopolpreise diktieren zu können, obwohl die Vergrößerung des inneren Marktes erlauben müßte, die Preise zu ermäßigen. Aber die Monopole erstreben eben die Ermäßigung der Produktionskosten und die Erhöhung der Preise auf dem vergrößerten inneren Markt, um desto erfolgreicher, weil zu ermäßigten Preisen, auf dem Weltmarkt zu konkurrieren. Das sagt gleichzeitig, daß es eine Legende ist, wenn man von der Aufrichtung der Imperien die Sicherung des Absatzes erhofft. Kein noch so großes Imperium wird sich als Absatzgebiet genügen. Besteht es aus kapitalistisch entwickelten Ländern und Eingeborenenkolonien, nun, dann muß es damit rechnen, daß sich angesichts der Zurückgebliebenheit der Eingeborenen und ihrer großen Ausbeutung ihre Konsumkraft sehr langsam entwickelt. Besteht es aus kapitalistischen Industrie- und kapitalistischen Agrarländern (wie die englischen Selbstverwaltungskolonien Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland), so muß es damit rechnen, daß jedes dieser Länder selbst zur Industrie übergeht.
Aber nicht nur den Absatz, den Bezug von Rohstoffen kann kein Imperium sichern, wenn es nicht die halbe Welt umfaßt, was auf die Länge hin unmöglich ist. Denn die Bedürfnisse jedes großen Industrielandes sind so groß und mannigfaltig, daß sie nur durch die ganze Welt gedeckt werden können. Und die Rohstoffländer sind dank der geographischen und klimatischen Bedingungen ihrer Produktion gewöhnlich an gewisse Spezialkulturen gebunden: für die kann wieder auch das große Imperium allein kein genügendes Absatzgebiet bilden. Während England seine Baumwolle trotz des Besitzes von Indien und Ägypten größtenteils aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika bezieht, braucht Australien für seine Wolle auch Deutschland als Absatzmarkt. Die Weltwirtschaft bildet ein unzerreißbares Ganzes. Nur ihre Organisation würde einen historischen Fortschritt bedeuten. Der Imperialismus vollzieht ihn nicht, er kann es nicht, weil konkurrierende kapitalistische Gruppen seine Grundlage bilden, die nur möglichst große Stücke aus dem weltwirtschaftlichen Zusammenhange zu reißen suchen.
Die auf diese Weise gebildeten Imperien bilden keineswegs irgend etwas Neues vom Standpunkt der Produktionsweise, sie bilden nur eine verschiedene Einteilung der bereits bestehenden Produktionskräfte. Es gibt keinen Grund, dank dem man annehmen müßte, daß sie eine historisch notwendige Übergangsstufe zum Sozialismus sind, für den in West- und Mitteleuropa, in Nordamerika die wirtschaftlichen Bedingungen auch ohne die weitere imperialistische Entwicklung reif sind.
Aber die Kolonialpolitik, die Entwicklung des Kapitalismus in den Kolonien, ist das kein wirtschaftlicher Fortschritt? Jawohl: der europäische Kapitalismus kann noch dazu beitragen, in den unentwickelten Ländern die Produktivkräfte zu entwickeln. Er kann es aber nur durch die kapitalistischen Methoden der Arbeit, die wir hier nicht zu schildern brauchen. Das Proletariat könnte diese Politik nicht unterstützen, selbst wenn die Zeit des Kapitalismus noch nicht abgelaufen wäre, weil es seine Hand nicht zur Vergrößerung der Proletariermassen bieten kann. Ethische Floskeln! erklärt Herr Lensch. Aber wenn das Proletariat Europas sich z. B. nicht zur Sklavenhaltern bekennen würde, so würde es dadurch doch nur seine heutigen und morgigen Interessen wahren. Denn es würde sich von selbst verstehen, daß die Sklaverei in den Kolonien nur auf Kosten des Proletariats stattfinden würde, und es würde sich dadurch Arbeitskonkurrenten schaffen, die unter der Peitsche zu arbeiten gewohnt wären und seine Lebenslage herabdrücken würden, sobald sie, was gar nicht ausbleiben könnte, auf dem europäischen Arbeitsmarkte erscheinen würden. Und würde das Proletariat heute helfen, die afrikanischen und asiatischen Hirten und Bauern zu Sklaven zu machen, wie sollte es dann später versuchen können, sie zu organisieren, um ihren Druck auf die eigene Lebenshaltung zu verringern? Selbst wenn der Kapitalismus die einzige jetzt mögliche Entwicklungsform der Produktivkräfte wäre, das Proletariat könnte die Kolonialpolitik dennoch nicht unterstützen. Seine Aufgabe würde sich natürlich nicht in platonischen Erklärungen gegen die Kolonialpolitik ausdrücken. Es müßte mit voller Energie für die Interessen seiner zukünftigen Kampfgenossen eintreten.
Die Pflicht der Bekämpfung der Kolonialpolitik ist um so größer, als in Europa die Bedingungen für den Übergang zum Sozialismus bereits reif sind. Das Interesse des Proletariats an der kolonialen Produktion, die der sozialistischen Wirtschaft Europas wie Amerikas manches wird bieten können, was sie selbst zu produzieren aus klimatischen Gründen außerstande wäre, wird es nicht zur Konquistadorenpolitik anregen, sondern zu wirklicher Kulturhilfe an die unentwickelten Völker, die ohne Peitsche und Alkohol in den europäischen Kulturkreis eintreten würden.
Der Behauptung der Sozialimperialisten, daß die unentwickelten Völker durch den Kapitalismus hindurch müssen, bevor sie zum Sozialismus gelangen können, ja bevor die europäischen Völker den Kapitalismus niederringen können, widerspricht die ganze Weltgeschichte. Immer existierten Kulturkreise von verschiedener Stufe nebeneinander und niemals mußte jedes Volk alle Stufen durcheilen, die andere durcheilt haben. Der Kapitalismus existiert in Europa, obwohl es noch in Afrika Völker gibt, die sich auf der Stufe der Entwicklung der alten Germanen befinden und er sucht ihnen die moderne kapitalistische Produktionsweise aufzupfropfen, ohne zu fragen, ob sie die Zeit des Zunfthandwerks usw. durchgemacht haben. Die imperialistischen Ziele, die sich die kapitalistischen Staaten in Europa, wie in den unentwickelten Ländern stellten – die Bildung imperialistischer Großstaaten, die Entwicklung des kolonialen Kapitalismus –, sie sind keine Vorbedingungen für den Sieg des Sozialismus, wie es die Sozialimperialisten behaupten. Umgekehrt, sie sind Mittel, zu denen das Kapital greift, um den Widersprüchen seiner Wirtschaftsweise zu entgehen, um sein Leben zu verlängern. Sie können deswegen keine Ursache sein für die Unterstützung des Imperialismus durch das Proletariat.
Die nationalen Fragen.
Wir zeigten im ersten Kapitel unserer Auseinandersetzung, wie wenig sich schon der junge Kapitalismus um die nationalen Grenzen kümmern konnte, wo er bei der Staatsbildung durch militärische oder wirtschaftliche Gründe über die Grenzen der eigenen Nation hinausgetrieben wurde. Der Imperialismus aber verstärkte ungeheuer den Drang der kapitalistischen Bourgeoisien, die nationalen Grenzen zu überschreiten. Dieser Drang ist die grundlegende Tatsache des Imperialismus, seine grundlegende Tendenz. Der Imperialismus beginnt eben dort, wo sich die Bourgeoisie nicht mit der Ausnutzung der Ware Arbeitskraft der eigenen proletarischen Volksgenossen, der Heranziehung fremder Proletarier in das eigene Land, der Ausbeutung fremder Völker durch friedlichen Warenexport begnügt, wo ihre wirtschaftlichen Kräfte so gewachsen sind, daß sie sich an die Aufgabe wagt, in fremde, noch unentwickelte Länder Kapital zu exportieren, um sie später politisch zu beherrschen, unter eigener Staatshoheit ihre Volkskraft und ihre Produktionsmittel sich nutzbar zu machen. Was im Zeitalter des jungen Kapitalismus Resultat des Zwanges gewisser geographischer Tatsachen war, nämlich die Überschreitung der nationalen Grenzen, das ist jetzt Grundtatsache.
Sie äußert sich in der mannigfachsten Form. Die imperialistischen Staaten erobern Kolonien, d. h. Länder auf so niedriger Stufe wirtschaftlicher Entwicklung, daß sie keine eigene Bourgeoisie, kein eigenes Kapital haben. Da aber das nationale Bewußtsein ein Produkt der kapitalistischen Entwicklung ist, und ohne sie nicht existiert, so äußert sich die koloniale Tätigkeit vorerst nicht in nationaler Unterdrückung, ja, oft führt erst die koloniale Tätigkeit zum Verschmelzen des Bewußtseins besonderer Stammeszugehörigkeit in ein allgemeines nationales Bewußtsein. Was natürlich erst Resultat eines langen Prozesses ist.
Wenn Karl Kautsky in seiner Broschüre über »Nationalstaat und Imperialismus« daraus schließt, daß somit der Besitz von Kolonien einen imperialistischen Staat nur zum Kolonialstaat macht, aber keinesfalls zum Nationalitätenstaat, so vergißt er dabei zwei Tatsachen, die den Zweck seiner Feststellung aufheben. Erstens ist es eine Frage der Zeit, wann die wirtschaftliche Entwicklung in den Kolonien bei den Eingeborenen das nationale Bewußtsein schafft. In Indien und Ägypten bildet es sich schon bei der Oberschicht der Eingeborenen, und die koloniale Tätigkeit beginnt dort schon als national empfunden zu werden. Das wird das englische Imperium vor nationale Fragen stellen. Ebenso liegen die Dinge in Niederländisch-Indien. Aber schließlich ist das nicht das Wichtigste. Der Zweck der Kautskyschen Feststellung war, den Nationalstaat als die beste und dauernde Form des kapitalistischen Staates vorzuführen. Aber unabhängig von der Entstehung kolonialer Nationalfragen, die ihm diesen Charakter rauben, gibt der Besitz der Kolonien auch dem Nationalstaat einen ganz anderen Charakter.
Frankreich ist der »ideellste« Nationalstaat Europas. Würde es sich aber wegen seines Kolonialbesitzes in den Krieg stürzen, so würden, selbst wenn eine Niederlage die nationale Unabhängigkeit Frankreichs in Frage stellen würde, die französischen Proletarier, indem sie die Unabhängigkeit »ihres« Staates verteidigen, auch den Besitz der Kolonien, um die der Krieg ausgebrochen wäre, verteidigen. Denn würden sie unter der Leitung der herrschenden Klassen in den Krieg treten, so würden die Ziele dieser Klassen ihm den Charakter des nationalen Verteidigungskriegs nehmen. Es handelt sich nicht um die nackte Frage, ob der imperialistische Staat vorerst national »rein« bleibt, sondern um das, was er besitzt, was er verteidigt; ganz abgesehen von der Frage der historischen Notwendigkeit des kapitalistischen Staates überhaupt bei dem jetzigen Grad der wirtschaftlichen Entwicklung, die wir schon kurz behandelt haben.
Vor dem Weltkriege nahm man an, daß die staatlichen Änderungen, die der Imperialismus mit sich bringt, nur in den fremden, unzivilisierten Kontinenten, in Afrika und Asien, vor sich gehen werden. Die Erfahrungen des Krieges haben gezeigt, daß, wenn auch die Ziele des Imperialismus außerhalb Europas liegen, die Wege zu ihnen über die Änderung der europäischen Staats- und Machtverhältnisse führen. Der deutsche Imperialismus erkannte auf einmal, daß alle seine außereuropäischen Erfolge Scheinerfolge sind, solange die englische Flotte die Nordsee beherrscht, weil sie ihn jederzeit von seinen Kolonien, von den Weltmärkten abschneiden kann. Will er eine wirkliche Freiheit des Handelns, der Expansion besitzen, dann muß er durch die Verlängerung der deutschen Küsten, durch Schaffung von maritimen Stützpunkten, durch eine starke Flotte die »Freiheit der Meere« für sich erlangen.
Wenn der deutsche sozialdemokratische Parteiausschuß in seinen vorjährigen Leitsätzen die Freiheit der Meere als Ziel der deutschen Arbeiterklasse aufstellte, es aber auf dem Wege des Vertrages erreichen wollte, so ist das nichts als pure Flunkerei. Wenn der Parteiausschuß wirklich recht hätte, so dürfte man dennoch nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, daß Englands Kapital niemals auf dem Wege des Vertrages auf ein so bedeutendes Druck- und Herrschaftsmittel verzichten wird, wie es die Möglichkeit der Blockade seines größten Konkurrenten ist. Die Freiheit der Meere bedeutet in erster Linie Entscheidung über die Zukunft Belgiens und somit die Entstehung einer nationalen Frage inmitten Westeuropas. Darin haben die Reventlows tausendmal mehr recht, und wenn die Sozialpatrioten sie deswegen schelten, so nur, weil sie selbst ein Interesse daran haben, diese Konsequenzen zu verhüllen. Aber nicht nur nach Westen will der deutsche Imperialismus freie Hand haben: er muß auch im Osten sicheren Rücken haben, wenn er frei operieren will.
So entstand für ihn die Frage eines unabhängigen Polens, d. h. eines von Rußland unabhängigen Polens, wie sich der Sozialimperialist Haenisch kürzlich mit unbewußt naiver Ironie ausdrückte. Wenn diese Frage im Sinne des deutschen Imperialismus gelöst wird, so wird für Deutschland eine neue nationale Frage im Osten entstehen oder verstärkt werden. Da das unabhängige Polen ein militärisches Vorwerk gegen Rußland sein würde – die deutsche Regierung hat diesen seinen Charakter offen bekannt –, so könnte sie den Polen beim besten Willen keine Entscheidungen über alle die Fragen überlassen, die irgendwie die Existenzfragen des deutschen Imperialismus berühren. Und weiter: welche Einwirkungen die Existenz auch nur eines solchen Polens auf die nationalen Stimmungen und Bewegungen in Preußisch-Polen haben wird, welche Konsequenzen ein polnischer Pufferstaat für die preußische Politik haben würde, das alles bildet Bestandteile der Polenfrage, wie sie jetzt die deutsche Regierung eingestandenermaßen beschäftigt und die, im Sinne des Imperialismus gelöst, zu der belgischen eine polnische Frage gesellen, den Charakter Deutschlands als eines Nationalstaates also völlig aufheben würden.
Die Haltung der Arbeiterklasse.
Der Sozialpatriotismus.
Als der Weltkrieg ausbrach, schien die Mehrheit der Parteiführer in Österreich, Deutschland und Frankreich alles das vergessen zu haben, was sie vorher über die internationalen Gefahren des Imperialismus gelehrt hatte. Sie erklärten in jedem Lande dieses Land als ohne Schuld angegriffen, nur bei dem anderen, dem Feinde spiele der Imperialismus eine Rolle. Da sie so die Kriegsursachen auf der Seite ihres Landes für außerhalb des Imperialismus stehend erklärten, fiel nach ihrer Meinung die Frage ihrer eigenen Parteipolitik in ein ganz anderes Kapitel: das der nationalen Verteidigung, die von der Internationale anerkannt war. Aber bald begnügten sie sich nicht mehr mit diesem Argument, sondern gaben auch an, was sie verteidigen wollen: den Nationalstaat.
So erklärten in erster Linie die französischen Sozialpatrioten, deren Staat äußerlich dem Typus des Nationalstaates am nächsten steht, wenn man seinen Besitz an Kolonien mit dem Mantel patriotischer Vergeßlichkeit verhüllt. Obwohl Deutschland kein reiner Nationalstaat ist – besitzt es doch polnische, französische und dänische Mitbürger, um wieder von den Kolonien abzusehen – bekannte sich auch die Mehrheit der deutschen Parteiführerschaft zum Nationalstaat und setzte über die Politik des 4. August die Flagge der Nation. Vom Bürgertum wurde diese Politik als Wiederkehr des verlorenen sozialdemokratischen Sohnes in den Schoß des Vaterlandes begrüßt. Die neugeborene sozialpatriotische Richtung lehnte diese Begrüßung ab. Sie wies nach, daß Marx, Engels und Lassalle immer gute Patrioten waren, daß die Internationale immer die Existenz der Nationen und die Pflicht ihrer Verteidigung anerkannt habe.
Wie die Sache um Marx, Engels und Lassalle bestellt ist, zeigten wir in dem ersten Kapitel dieser Auseinandersetzung, und daraus ergibt sich, daß die Darstellung der David, Haenisch und der kleineren Götter eine reine historische Fälschung ist: historische Köpfe wie sie waren, haben Marx und Engels weder den Nationalstaat als die einzige Form der staatlichen Existenz angesehen, die jeder Nation zukommt, noch haben sie an und für sich um den deutschen Nationalstaat gekämpft, sondern sie haben in der Ära, in der seine Bildung einen historischen Fortschritt darstellte, auf dem Boden der zu ihm führenden Strömungen um die Demokratie gekämpft. Was aber die Beweisführung anbetrifft, daß die Internationale immer die Existenz der Nationen anerkannt habe, so ist diese mit großer Verausgabung von Kleister geführte Beweisführung ebenso notwendig, als wenn die David und Haenisch beweisen wollten, daß die Internationale das Bestehen von Händen und Füßen bei den Menschen anerkannte. Die Existenz von Nationen als historisches Produkt und die Unmöglichkeit ihrer künstlichen Verwandlung in einen anationalen Menschenbrei wird von niemandem bestritten. Die Frage besteht nur darin, für welche Form des Zusammenlebens der Nationen die Sozialdemokratie jetzt im Anfang des 20. Jahrhunderts in den kapitalistisch entwickelten Ländern einzutreten hat. In der Mitte des 19. Jahrhunderts sahen Marx, Engels und Lassalle im Nationalstaat die staatliche Form, die für die Entwicklung der Volkswirtschaft und damit für das Proletariat Deutschlands am entsprechendsten war, wobei sie, weil sie für die volle Demokratie nicht mit Worten, sondern mit Taten kämpften, keine Ohnmachtsanfälle zu bekommen brauchten, wenn die Entwicklungsbedingungen dieses Nationalstaates auch Splitter fremder Völker umfaßten. Was bei Marx und Engels ein historisch begründeter Standpunkt war, das bekommt aber bei den Sozialpatrioten diesseits und jenseits der Vogesen ein gewaltiges Loch nach dem andern, was nur ein Beweis dafür ist, daß ihr Standpunkt sich im Widerspruch zu den jetzt obwaltenden historischen Tendenzen befindet.
Wenn der Grund der Pflicht der Verteidigung des deutschen und französischen Staates darin liegen soll, daß sie Nationalstaaten sind und die Nationalstaaten eine notwendige Bedingung des Sieges des Sozialismus bilden, dann dürften die Proletarier Rußlands und Österreich-Ungarns sich um ihre Staaten nicht kümmern, sind sie doch nicht nur Nationalitätenstaaten, sondern beherbergen Teile von Nationen, bedeuten also die Zerreißung von Nationen. Aber zu dieser Konsequenz erheben sich die französischen Sozialpatrioten nur in bezug auf … Deutschland, Österreich und die Türkei, deren Zerlegung in nationale Teile sie propagieren, während die deutschen Sozialpatrioten wieder die … von Rußland unterworfenen Nationen »befreien« wollen, selbst wenn das Proletariat dieser Nationen nicht die geringsten Wünsche in dieser Hinsicht ausdrückt. Dagegen erkennen die französischen Sozialpatrioten an, daß es als Bedingung für den Sieg des Sozialismus in Rußland genügen wird, wenn dort die Unterdrückung der Nationen verschwinden und die Demokratie siegen würde. Und der Wortführer der österreichischen Parteimehrheit, Karl Renner, bekennt sich zu der Auffassung, »daß im Wettstreit der Staaten die Geographie stärker ist als die Nationalität« (Österreichs Erneuerung, Wien 1916, S. 7); und die österreichische Sozialdemokratie setzt sich mit dem größten Eifer für die Verteidigung des österreichisch-ungarischen Staates ein, der doch ein Gemisch von einem Dutzend Nationen ist.
Schon diese Tatsachen zeigen, was von den Salbadereien der reinen Sozialpatrioten, die Verteidigung der Nation sei der Grund für die Verteidigung des Staates, zu halten ist. Der Sozialpatriotismus fordert doch vom Proletariat die Verteidigung von nationalen, wie von nationalgemischten Staaten. Aber noch mehr. Selbst wenn der Sozialpatriotismus dies nicht tun würde, wenn er unter der Führung der Bourgeoisie nur den Nationalstaaten zum Siege über die Gegner verhelfen würde, so könnte er nicht verhüten, daß der Sieger die Hand ausstreckt nach dem Preise, um den er kämpft: nach der Angliederung von Kolonien, ja von fremdnationalen Gebieten in Europa, wenn seine wirtschaftlichen oder politischen Interessen das erfordern. Um dieser offensichtigen Konsequenz zu entgehen, müssen die Sozialpatrioten zu einem politischen Kunstgriff greifen: sie erklären, daß sie nur für die Verteidigung des Vaterlandes kämpfen, aber beileibe nicht für Annexionen, gegen die sie protestieren, daß es nur so kracht. Aber man braucht nur zu sehen, wie wenig die Bourgeoisie sich um ihre Proteste kümmert, solange sie sich eben zur Verteidigung bereit erklären. Denn hat sie den Sieg in der Hand, dann können seine Folgen nicht ausbleiben. Und man kann die Sozialpatrioten nicht für solche Kindsköpfe halten, daß sie diese Zusammenhänge nicht erfassen.
Was bei einzelnen von ihnen anfangs noch eine ideologische Marotte sein mochte, das ist jetzt beim Sozialpatriotismus, als einer politischen Richtung, ein taktisches Manöver; sie glauben durch die Vorspiegelung einer rein nationalen Verteidigungspolitik am leichtesten den Einfluß auf die Volksmassen behalten zu können.
Selbst in der Jugend des Kapitalismus war der Nationalstaat keinesfalls die einzige Form der staatlichen Entwicklung des Kapitalismus. Im Zeitalter des Imperialismus besitzt jeder kapitalistische Staat die Tendenz, über den Rahmen einer Nation – auch der größten – hinauszuwachsen, er sucht sich fremde Gebiete zu unterwerfen. In dieser Zeit die Zerschlagung der kapitalistischen Welt in nationale Parzellen als Politik des Proletariats zu propagieren, hieße eine willkürliche Zerreißung der wirtschaftlichen Zusammenhänge zur Vorbedingung des Sozialismus zu machen. Der Sozialismus, der die Organisation der Produktion gemäß ihren natürlichen Grundlagen und entsprechend den Bedürfnissen der Gesellschaft bedeutet, würde durch eine Desorganisation der Produktion gemäß einem ausgedachten »Nationalprinzip« eingeleitet werden. Der Widerspruch zwischen dieser sozialpatriotischen Ideologie und der Tendenz der Entwicklung ist so offenkundig, daß die sozialpatriotische Ideologie ununterbrochen in Gegensatz zu Tatsachen geraten muß, den sie durch Anleihen beim Sozialpazifismus zu verdecken sucht, um schließlich beim Sozialimperialismus anzulangen, der ideologisch ihr Antipode ist.
Verteidigung der Unabhängigkeit des Landes! schreien die Sozialpatrioten, und da stoßen sie auf die harte Tatsache der wirtschaftlichen Abhängigkeit jedes kapitalistischen Landes von dem Weltmarkt. So ergänzen sie flugs ihre erste Losung durch die zweite: Freiheit der wirtschaftlichen Entwicklung, und erläutern sie mit dem Hinweis, daß sie eine Verständigung der Völker erstreben, die allen die gemeinsame Ausbeutung der Kolonien – »offene Tür« – die Freiheit der Zufuhren – »Freiheit der Meere« – sichern wird. Ihr tretet für die Unabhängigkeit und Unversehrtheit des Landes ein, – antworten die Sozialimperialisten den Sozialpatrioten – das ist sehr schön, aber wenn zu ihrer Sicherung in diesem Zeitalter der Kämpfe eine kleine »Befreiung« im Osten, und eine kleine »Garantie« im Westen notwendig ist, so muß man sie halt fordern! Ihr erkennt das Interesse des deutschen Proletariats an der »Entwicklung der kolonialen Produktivkräfte«; wir auch. Nun, dann muß dieses Interesse auch gesichert werden; man darf sich nicht auf solche Illusionen verlassen, daß die französischen oder russischen Kapitalisten die Zölle in ihren Kolonien aufheben, während die Engländer daran sind, in den ihrigen den bisherigen Freihandel abzuschaffen. Da muß man schon eigene Kolonien haben.
Ihr wollt die Freiheit der Meere? Aber worauf ist ihre Unfreiheit begründet? Auf der großen englischen Flotte, auf den vielen englischen Stützpunkten in allen Meeren. Wer glaubt daran, daß England auf all dies verzichtet? Wenn ihr also die Freiheit der Meere im Interesse des Proletariats verlangt, so müßt ihr auch die dazu führenden Wege wollen: die Niederringung der englischen Flottenmacht durch eine entsprechend große eigene, die auf eine besser gestaltete Küste, auf eroberte Flottenstützpunkte gestützt, mit England den Kampf aufnehmen könnte. Also, also! So singen die sozialimperialistischen Sirenen.
Die Herren Scheidemann und Stampfer mögen sich gegen diese Konsequenzen noch so sehr sträuben, sich noch so sehr auf die Grundsätze des Sozialismus berufen, es hilft ihnen nichts. Praktisch dienen sie vom ersten Tag ihres Umfalls dem Imperialismus, theoretisch können sie ihm, sobald sie sich in der Ära des Imperialismus auf den Boden des Vaterlandes gestellt haben, nichts entgegenstellen als pure Demagogie, die sich die Sozialimperialisten, hinter denen nicht nur die logischsten Köpfe des Lagers des 4. August, sondern, was weit wichtiger ist, die ganze Gewerkschaftsbureaukratie, und was noch wichtiger, die Logik des Standpunktes stehen, auf die Länge hin nicht gefallen lassen werden. Sie mögen aus taktischen Gründen noch eine Zeitlang den Eiertanz der Sozialpatrioten dulden, wie sie der Resolution der Parteikonferenz zugestimmt haben; sich damit begnügen, daß sie ihnen von Zeit zu Zeit etwas in die Zähne geben, schließlich werden sie sie doch an die Kandare nehmen. Der Sozialpatriotismus ist nur ein Agitationsmittel, der Sozialimperialismus ist der Kern. Und ihn gilt es jetzt näher anzusehen.
Der Sozialimperialismus.
Während der Sozialpatriotismus die Verteidigung der Nation, die Abwehr der Gefahr nationaler Zerstückelung und Unterdrückung zum Angelpunkte der proletarischen Politik macht, geht der Sozialimperialismus von ganz anderen Gesichtspunkten aus. Wohl benutzt er die nationalen Instinkte, um das Wesen seiner Politik zu verschleiern, aber nicht um sie geht es ihm. Die Sozialimperialisten erklären die Vereinigung Deutschlands und Österreichs, Bulgariens und der Türkei, also die Zusammenschließung deutscher, slawischer, ungarischer und türkischer Völker zu einem wirtschaftlichen Gebiet – Mitteleuropa – als Kriegsziel, obwohl dadurch mit der Zeit ganz gewiß die nationale Selbständigkeit jeder der vereinigten Nationen aufgehoben wäre. Indem sie sich mehr oder weniger klar für Annexionen aussprechen, nehmen die Sozialimperialisten nicht nur die Aufhebung des nationalen Charakters mit in den Kauf, sondern auch die gewaltige Verkuppelung von Völkern. Obwohl sie diese ihre Haltung oft mit nationalen Gründen erklären, weil Deutschland angeblich nur durch die Bildung eines großen mitteleuropäischen Staatenbundes der ihm von allen Seiten drohenden Gefahr entgehen kann, so ist es doch klar, daß es sich hier nur um die Schaffung einer breiteren Basis für die imperialistische Politik handelt, als die, über die Deutschland allein verfügt; denn die Gefahren, denen die Sozialimperialisten durch Gründung Mitteleuropas entgehen wollen, entstehen eben aus dem Drang zur imperialistischen Expansion, nicht aus der bloßen Existenz Deutschlands, und Mitteleuropa soll der Stärkung des deutschen Imperialismus dienen. Es soll eine einheitliche massive militärische Kraft, ein großes wirtschaftliches Gebiet abgeben, das es mit den Kolossen des englischen, amerikanischen und russischen Imperiums aufnehmen könnte.
Indem die Türkei diesem Staatenbunde angegliedert wird, bekommt der deutsche Imperialismus nicht nur ein großes Gebiet zu seiner wirtschaftlichen Ausbreitung, sondern auch die Möglichkeit, auf England zu drücken, es zu kolonialen Zugeständnissen zu nötigen, und im Falle eines neuen Weltkrieges soll ein einheitliches Gebiet von Hamburg bis nach Bagdad, dessen Wirtschaft schon in Friedensjahren auf den Krieg vorbereitet würde, der englischen Blockade ganz anders trotzen können als jetzt. Mit diesem historischen Inhalt ist die Frage von Mitteleuropa im Feuer des Krieges geboren worden, und mit keinem andern. Das geben alle bürgerlichen Befürworter des mitteleuropäischen Gedankens ohne weiteres zu, denn sie wissen, daß eben in dem imperialistischen Charakter dieses Kriegszieles nicht nur propagandistische Kraft für die Bourgeoisie liegt, sondern die einzige Möglichkeit seiner Verwirklichung: die dynastischen und bureaukratischen Elemente, die über die Verwirklichung in erster Linie entscheiden werden, können nur durch die Schwierigkeiten, denen ihre imperialistische Politik ausgesetzt ist, wenn sie weiter selbständig betrieben wird, zum Aufgeben eines Teils ihrer bisherigen Selbständigkeit gebracht werden.
Die Sozialimperialisten suchen diesen Charakter des mitteleuropäischen Programms zu verwischen, um es bei den Arbeitern einzuschmuggeln. Wie sie den Ursprung des mitteleuropäischen Programmes mit der Aureole eines Versicherungsmittels gegen nationale Gefahren umgeben, so erklären sie: nicht dem Imperialismus, sondern dem freien Verkehr soll Mitteleuropa dienen. »Die Hände weg! müssen wir der politisch-militärischen Machtpolitik wie der nationalistischen Expansionspolitik zurufen. Behandlung der Sache als reine Wirtschaftsfrage!« rief der Führer der österreichischen Sozialimperialisten, Herr Renner, auf der Konferenz der deutschen sozialpatriotischen Instanzen, die am 9. Januar 1916 zur Erörterung der Mitteleuropafrage einberufen wurde.
Während es bei anderen Imperialismen um Gewaltpolitik, Unterdrückung ging, handelte es sich bei dem mitteleuropäischen Programm um einen »freien Bund« von Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei. »Das ist etwas ganz anderes als Imperialismus« – erklärte Renner. (»Die Bestrebungen für eine wirtschaftliche Annäherung Deutschlands und Österreich-Ungarns«. Berlin 1916. Vorwärtsverlag. S. 22.) Herr Renner ist ein zu kluger und klarer Kopf, als daß wir diesen seinen Ausführungen guten Glauben zubilligen könnten. Renner weiß sehr gut, auf welche Veränderungen der Landkarte auf dem Balkan hingearbeitet wird. Und daß der »freie Bund« morgen die bisherige imperialistische Politik aufgibt, eben weil er die Kraft zu ihr bekommen hat, das ist eine solche Zumutung an den gesunden Verstand, daß man gegen dieses »Argument« des Herrn Renner gar nicht erst zu polemisieren braucht.
Das mitteleuropäische Programm, zu dem sich alle Sozialimperialisten bekennen, ist das Hauptziel des deutschen Imperialismus, wie er sich im Kriege der Bedingungen seiner Entwicklung bewußt wurde. Aber es ist nicht das einzige. Der deutsche Imperialismus begnügt sich keinesfalls mit der ihm durch dieses Programm gesicherten friedlichen Expansion im nahen Osten, er erstrebt Kolonien in Afrika. Und die Herren Sozialimperialisten folgen ihm auch dahin. Die Artikel der Severing und Lensch werden von der Kolonialgesellschaft als Propagandaschriften verbreitet, und Herr Noske, der – mit Respekt zu sagen – Hauptsachverständige der Sozialimperialisten in Kolonialfragen, tritt in der »Glocke« mit allen Argumenten der Kolonialpolitiker für einen deutschen Kolonialbesitz ein.
Will man aber Kolonien, will man imperialistische Politik treiben, so muß man sich zum Rüsten zu Land und zu Meer bekennen. Sie tun es auch. Nicht nur für die Zukunft. Herr Quessel preist in den »Sozialistischen Monatsheften« Tirpitz, den Schöpfer der deutschen Flotte, und leistet Abbitte für die bisherige ablehnende Haltung der Sozialdemokratie. Zieht man aber die Möglichkeit neuer Kriege in Betracht, und will man für ihren Fall rüsten, so muß man auch für die wirtschaftliche Rüstung für den Kriegsfall eintreten: und so sehen wir Herrn Kaliski die deutsche Schutzzollpolitik loben, die Deutschland ermögliche, sich so glänzend während des Krieges zu ernähren: Schutzzollpolitik immerdar und allewege, sie soll Deutschlands selbständige Ernährung im nächsten Kriege sichern.
So stellt der Sozialimperialismus ein abgeschlossenes, konsequentes System der Politik dar, das im ganzen wie in allen seinen Stücken dem bisherigen System der Sozialdemokratie entgegengesetzt ist. Während der Sozialpatriotismus die Sache so darstellt, als handle es sich bei seiner Politik um einen rein vorübergehenden Zustand, der mit dem Kriege gekommen und mit ihm verschwinden wird, erklärt der Sozialimperialismus offen und klar: nein: nach diesem Kriege drohen die Gefahren neuer Weltkriege, weil die imperialistische Politik weitergeführt werden muß, zu diesen Kriegen müssen wir rüsten; die Arbeiterklasse muß an der Seite der Bourgeoisie auch nach dem Kriege stehen.
Wir haben die Argumente der Sozialimperialisten, ihre Behauptung, daß die wirtschaftliche Entwicklung für den Sozialismus noch nicht reif sei, daß der Weg zum Sozialismus durch den Imperialismus auch weiterhin führen muß, und daß deswegen die Arbeiterklasse den Imperialismus unterstützen muß, schon untersucht; wir brauchen also auf die Begründung der sozialimperialistischen Politik weiter nicht einzugehen. Auch die Untersuchung ihrer Folgen kann sehr kurz sein.
»Der sozialdemokratischen Arbeiterpartei erwächst … die Aufgabe, die schädlichen Folgen des Imperialismus möglichst abzuwehren, hingegen jene wirtschaftlichen Neugestaltungen, aus denen sich etwas für die Arbeiter herausholen läßt, rücksichtslos im Interesse der Arbeiterschaft auszunutzen, ihre Organisation auszubauen und, wenn es sein muß, den neuen Zwecken entsprechend umzubilden, kurz die Arbeiterschaft möglichst wohlbehalten, körperlich wie geistig, durch die neue Entwicklungsperiode zu bringen.« So definierte Heinrich Cunow in seiner Broschüre »Parteizusammenbruch« (S. 19), die die theoretische Grundlage der sozialimperialistischen Richtung bildet, die Aufgaben der Arbeiterklasse. Wir sahen, wie das sozialimperialistische Programm diese Aufgabe lösen will: Schutzzölle, Rüstungsausgaben im Frieden, Teilnahme an neuen Kriegen in der Zukunft, das ist die Abwehr der schädlichen Folgen des Imperialismus von den Arbeitern. Und da man nicht gleichzeitig für die Trennung der Völker durch Schutzzölle, für die Rüstung zu neuen Kriegen und für die internationale Verbrüderung eintreten kann, so bedeutet das sozialimperialistische Programm die dauernde internationale Spaltung der Arbeiterklasse.
Da es aber ausgeschlossen ist, daß doch die Arbeiterschaft auch innerhalb der Grenzen eines Staates in ihrer Gesamtheit sich zu diesem Programm bekennt, so bedeutet es auch ihre Spaltung im nationalen Maßstab. Die Praxis der letzten zwei Jahre zeigt vollauf, daß es sich hier nicht um Hirngespinste, sondern um die traurige Wirklichkeit handelt. Was eine so »wohlbehaltene« Arbeiterschaft an politischer Macht darstellen würde, sieht auch ein Blinder. Würde das sozialimperialistische Programm von größeren Teilen des Proletariats akzeptiert werden, es wäre zur Ohnmacht verurteilt, schutzlos allen Folgen des Imperialismus ausgeliefert. Der Sozialimperialismus bedeutet somit nicht nur Preisgabe des Sozialismus, er bedeutet die Preisgabe der einfachsten täglichsten Arbeiterinteressen. Die Sozialimperialisten verspotten uns als die, die wegen Träumens von einer fernen Zukunft die gegenwärtigen Interessen des Proletariats übersehen. In Wirklichkeit liefern sie diese Interessen den Klassengegnern des Proletariats aus und sind als solche zu behandeln.
Die Sozialpazifisten.
Die Konsequenzen der sozialpatriotischen wie sozialimperialistischen Politik liegen so klar auf der Hand, daß ein großer Teil der alten Parteiführer nicht ohne weiteres umlernen konnte. Er suchte in dem alten pazifistischen Standpunkt der Internationale einen Stützpunkt gegen die neuen Methoden zu finden.
Die alte Internationale verstand sehr wohl die Unvereinbarkeit der Interessen der Arbeiterklasse mit der imperialistischen Politik. Sie forderte das Proletariat in vielen Resolutionen zum Kampfe gegen den Imperialismus auf. Ein solcher Kampf setzt aber in erster Linie die Kenntnis des Zieles voraus. Man muß wissen, welchen Zustand man an die Stelle des bekämpften setzen will. Von dem Ziel hängen dann die Mittel des Kampfes ab. Die zweite Internationale nannte ein solches Ziel: es war die Organisation einer internationalen, eigentlich interstaatlichen Rechtsordnung. Heute entscheidet bei allen größeren Gegensätzen zwischen den Staaten die Gewalt. Wenn zwei Staaten Appetit auf fremdes Gut haben, dann nimmt es der stärkere, und wenn er dem schwächeren einen Teil abtritt, dann nur insoweit, als der schwächere ihm Hindernisse bereiten kann, also im Ausmaße seiner Macht. Sie müssen sich dabei nicht sofort bekämpfen. Es genügt, daß sie sich gegenseitig an ihre Macht, das heißt, an die Armeen erinnern. Nur bei Angelegenheiten, die eines wirklichen Streites nicht wert sind, lassen sie das Urteil der Schiedsgerichte gelten. Dazu haben sie im Haag ein internationales Schiedsgericht geschaffen, bei dem der Zar Pate stand.
Nun erstreben bürgerliche Friedensfreunde – Pazifisten nennt man sie, von pax, das heißt Friede – daß alle Streitfälle solchen Schiedsgerichten unterbreitet werden. Wenn das geschieht, wird man auf die Rüstungen verzichten können.
Die zweite Internationale machte sich dieses bürgerliche pazifistische Programm zu eigen, sie forderte die Einführung obligatorischer, d. h. alle verpflichtender Schiedsgerichte, allmähliche Rüstungsbeschränkung mit dem Ziele der Abrüstung, ein internationales Recht, auf Grund dessen die Urteile der Schiedsgerichte gefällt werden sollten. Von den bürgerlichen Pazifisten unterschied sie sich nur dadurch, daß, während diese die Erreichung dieser Ziele von der wachsenden Einsicht der Bourgeoisie und der Regierungen erhofften, die zweite Internationale diese Einsicht durch Klassenkampf, durch Druck auf die Bourgeoisie ersetzen wollte.
Der Weltkrieg zeigte, wie gering die »Einsicht«, der »gute Wille« zur Verständigung bei der Bourgeoisie war: jede wollte einen möglichst großen Anteil an der Weltausbeutung haben, und da sie der andern nicht traute, so blieb ihr nichts übrig, als zu versuchen, durch den Krieg das Ziel zu erreichen. Ein großer Teil der alten Internationale, der früher mit dem Wachstum der friedliebenden Elemente in der Bourgeoisie sehr rechnete, sieht sich dadurch keinesfalls zum tieferen Nachdenken über die Gründe des Zusammenbruches seiner Hoffnungen veranlaßt, sondern baut sie von neuem auf den Ruinen auf: der Krieg werde eine solche Verwüstung bringen, solche Lasten allen Völkern auferlegen, daß sie schließlich einsehen werden, was für ein schlechtes Geschäft der Krieg ist. Das Streben nach einer dauernden interstaatlichen Rechtsordnung werde im Bürgertum sehr erstarken, und da müsse das Proletariat diese pazifistischen Bestrebungen mit seiner ganzen Kraft unterstützen, damit aus dem Weltkriege ein vereinigtes Europa hervorgehe, die Vereinigten Staaten Europas.
Dieses Lied vom dauernden Frieden singen nicht nur die Sozialpatrioten aller Länder, um das Proletariat mit dem schon im dritten Jahr sich hinziehenden furchtbaren Krieg zu versöhnen, sondern auch Kriegsgegner: so die Vertreter des deutschen Parteizentrums Haase, Kautsky, Ledebour, die Unabhängige Arbeiterpartei Englands und andere kriegsfeindliche Genossen, die nicht einsehen wollen, was die Stunde geschlagen hat.
Ihre Rechnung beginnt mit einem großen Loch: es ist keinesfalls wahr, daß der Weltkrieg ein schlechtes Geschäft für das ganze Kapital ist. Der Krieg zerreibt und vernichtet die kleinen Kapitalisten, bringt manchen mittleren in Schwulitäten, er wird ungeheure Lasten auf den Rücken der Arbeiter und Kleinbürger legen. Aber die großen Fabrikanten, das Finanzkapital und die Großhändler verdienen bei den Lieferungen, bei der Unterbringung von Anleihen, beim Lebensmittelhandel Milliarden über Milliarden. Steinmann Bucher, der Nationalökonom des Zentralverbandes der deutschen Industriellen, hat vor kurzem bezeugt, daß die Kapitalisten Geschmack am Kriege finden. Ja, aber nach dem Kriege wird es sich zeigen, erklären die Pazifisten in unseren Reihen, daß die Macht des amerikanischen Kapitals sehr gewachsen ist, daß weiter die Arbeiterklasse sich gegen die Abwälzung aller Lasten auf sie auflehnen wird. Wenn die Kapitalisten jetzt Geschmack an dem Kriege gewinnen, so wird er ihnen durch die Kriegsfolgen gründlich versalzen werden. Nun, das junge amerikanische Kapital macht in diesem Kriege glänzende Geschäfte, aber es war bisher an Europa sehr verschuldet: in allen Eisenbahnen, Gruben usw. Amerikas steckt ungeheures europäisches Kapital; wenn dies abgezahlt wird, so wird das wohl ein großer Fortschritt für die amerikanischen Kapitalisten sein, zum Übergewicht aber über Europa ist es noch weit. Aber wenn dies auch eintreten würde, so würden die großen Kapitalisten Europas ihr Kapital mit dem amerikanischen vereinigen, um unter der Flagge des amerikanischen »Vaterlandes« ihre Interessen zu vertreten. Und was das zweite Argument betrifft: sollten sich nach dem Kriege die Proletarier Europas auflehnen, so würde das nur den Gegensatz des Kapitals zum Proletariat, nicht aber zum Kriege verstärken.
Aber vielleicht kann der Kampf des Proletariats dem Kapital die interstaatliche Rechtsordnung aufzwingen, selbst gegen den Willen der Bourgeoisie? Damit sind wir bei der Hauptfrage: bei der Frage der Möglichkeit des friedlichen Kapitalismus, bei der Frage der Durchführbarkeit des pazifistischen Programmes überhaupt. Das pazifistische Programm setzt voraus, daß das Proletariat eventuell die Macht haben kann, die Bourgeoisie zu einer internationalen Friedensordnung zu zwingen, aber noch keine Macht haben wird, das Ruder aus den Händen der Bourgeoisie zu reißen, den Kapitalismus abzuschaffen; denn hätte es die Kraft, so würde es sich doch nicht damit abzuquälen haben, die Bourgeoisie zum Frieden zu zwingen, sondern würde die Ursache der Kriege, die kapitalistische Konkurrenz, aufheben.
Wenn dem so ist, so würde die Bourgeoisie nach dieser pazifistischen Revolution weiter herrschen und ihre Macht über die unentwickelten Länder weiter ausbreiten, um ihre Bevölkerung auszubeuten und ihre Naturschätze auszuplündern. Jawohl, so wird es sein, gab mehrmals Genosse Kautsky, der Haupttheoretiker des Sozialpazifismus, zu. Wenn dem so ist, wenn die Bourgeoisie weiter bei der Herrschaft bleibt, so bleiben auch die Gesetze ihrer Wirtschaft bestehen. Diese bewirken aber, daß jede kapitalistische Gruppe nach möglichst großem Profit strebt. Um zu ihm zu gelangen, frißt das große Kapital das kleine auf.
Auf das Gebiet der auswärtigen Politik übertragen, bedeutet das, daß die großen Kapitalisten Deutschlands, Frankreichs, Englands, Rußlands keine Ursache haben werden, den Kapitalisten der Schweiz, der Niederlande, Portugals, Belgiens ihre Kolonien zu öffnen, sie zur Ausbeutung Chinas und der Türkei zuzulassen. Und wenn sie Appetit auf die Kolonien der Kleinen haben werden, so werden sie sich den Teufel um internationale Rechte kümmern, am wenigsten, wenn diese Kolonien so ungeheure Profite abwerfen wie die niederländischen, oder so große versprechen, wie Belgiens Kongo mit seinem Kupfergebiet Catarga, oder Portugiesisch-Angola mit dem ungeheuren Siedlungsgebiet. Wer soll darüber wachen, daß die Großmächte sich um irgendwelche durch das Proletariat geschaffenen Völkerrechte kümmern? Soll sich das Proletariat vielleicht zum Hüter des Rechts der Kleinstaaten auf Ausbeutung »ihrer« Kolonien aufwerfen?
Aber gehen wir zu den Beziehungen der Großmächte selbst über: Angenommen, sie lassen sich unter dem Drucke des Proletariats dazu herbei, ihren Kolonialbesitz auszugleichen, sich überall in den unentwickelten Ländern gleiche Bedingungen der Ausbeutung zu gewähren. Wenn morgen, nach ein paar Jahren des Friedens, der Druck der proletarischen Armeen weicht, das deutsche Kapital aber stärker ist als das französische, das amerikanische stärker als das englische, warum soll es nicht versuchen, auf eigene Faust die internationalen Satzungen umzustoßen? Aber das Kapital wird nicht immer staatlich getrennt bleiben, antworten die Sozialpazifisten, es durchdringt sich gegenseitig immer mehr, deutsches Kapital arbeitet in England, englisches in Rußland usw., aus den nationalen Kartellen werden internationale Weltkartelle. Das sind Redensarten.
Der Weltkrieg hat eben gezeigt, daß die Verflechtung und Versippung des Kapitals im Verhältnis zu seiner Gesamtmasse sehr gering war. Nach dem Weltkrieg wird die Konkurrenz, der Wirtschaftskrieg, noch verschärft werden. Und wenn die Kartelle Übereinkommen schaffen, wie sie die Preise gestalten, welcher Teil der Welt dem einen zur Ausbeutung zufällt, so sind das nur Ausnahmezustände, Waffenstillstände, auf die der verschärfte Kampf folgt; jede Gelegenheit zu einem Sonderprofit veranlaßt einen Teil des Weltkartells zum Bruch des Übereinkommens. Damit Weltkartelle wirklich die Aufhebung der Konkurrenz unter den Kartellen einzelner Länder bedeuten sollten, müßte sich das ganze Kapital in den Händen solcher Weltkartelle befinden, es müßte keine Möglichkeit bestehen, daß ein Outsider, ein außerhalb des Weltkartells stehendes Kapital, die Konkurrenz aufnehme. Daß aber das Proletariat eine solche vollkommene Konzentration des Kapitals in ein paar Händen dulden sollte, ist ein unsinniger Gedanke.
Das ganze pazifistische Programm von Sozialisten geht von der Voraussetzung aus, daß das Proletariat die Macht haben wird, die Kapitalisten zu nötigen, sich an die unter dem Druck des Proletariats geschaffene Friedensordnung zu halten, aber keine Kraft haben wird, den Kapitalisten die Macht zu entreißen. Das ist offensichtlicher Unsinn. Wenn das Proletariat die Macht haben wird, den Kapitalisten die Friedensordnung aufzuzwingen und sie immerfort zu nötigen, sie einzuhalten, so wird es auch die Macht haben, dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten, dem Sozialismus freie Bahn zu öffnen und so die Wurzel der Kriege auszureißen.
Ist das Proletariat zu schwach zur sozialen Revolution, so ist das ganze pazifistische Programm eine volle Utopie, undurchführbar. Ist das Proletariat aber reif zur sozialen Revolution, dann ist es lächerlich, von ihm zu fordern, es solle das Joch des Kapitalismus tragen und zusehen, wie der Kapitalismus es neuen Völkern auferlegt, und solle nur dafür sorgen, daß es dabei zu keinen Kriegen kommt. Das Friedensprogramm der zweiten Internationale war ein Friedensseufzer des Proletariats, das sich zu schwach fühlte, wirklich um den Frieden zu kämpfen. Es hat auch nur für den Frieden demonstriert, niemals gekämpft. Wer dieses Programm wieder aufwärmt, der glaubt entweder weiter nicht an die Möglichkeit des Kampfes um den Frieden, oder er steckt diesem Kampf ein falsches und irreführendes Ziel. Der dauernde Frieden der kapitalistischen Staaten untereinander ist eine Utopie.
Das sozialpazifistische Programm verschleiert also dem Proletariat die wirkliche Sachlage, es stärkt in ihm die reformistischen Tendenzen, die den Zusammenbruch der zweiten Internationale verursachten, da es ihm das Bild eines friedlichen Kapitalismus vorgaukelt, es zu einer Allianz mit dem angeblich friedensfreundlichen Teil der Bourgeoisie anspornt. Aber darin erschöpft sich nicht das Wesen des Sozialpazifismus. Weil er über den Rahmen des Kapitalismus nicht hinausblickt, muß er den kapitalistischen Staat verteidigen, solange sich die »internationale Rechtsordnung« nicht ausgebildet hat. Wir sehen eben, wie die Bernstein, Haase usw. erklären: ja wir sind Gegner des Krieges, erstreben seine Überwindung durch Verständigung der Staaten untereinander, aber solange eben nicht jedes Vaterland durch eine solche pazifistische Rechtsordnung gesichert ist, solange gilt die Pflicht der Verteidigung.
Damit wird der Sozialpazifismus zur Brücke zum Sozialpatriotismus. Und wenn der Krieg zu Ende ist, wird der Sozialpazifismus die Fahne sein, unter der sich die Herren Sozialpatrioten aller Länder gegen die Internationalisten sammeln werden. Sie werden nicht imstande sein, als dauernde Politik das gegenseitige Kriegführen zu proklamieren, und so werden sie erklären: nun sorgen wir gemeinsam für den Ausbau der Friedenseinrichtungen, damit wir nicht wieder in die unangenehme Lage kommen, uns befehden zu müssen. Sie werden dann gegen den Imperialismus, gegen das Rüsten donnern, die Fahne des Friedens schwenken, das Proletariat damit verwirren und einlullen, damit sie es später, wenn das Kartenhaus des Pazifismus wieder zusammenbricht, wieder ausliefern können.
Natürlich ist keine Rede davon, daß Männer wie Kautsky, Ledebour, Haase, Bernstein, Philipp Snowden oder Modiliani, die das sozialpazifistische Programm verteidigen, kurz daß das Zentrum der Internationale bewußt die Rolle der Hehler des Sozialpatriotismus spielen. Sie sind tief überzeugt, daß sie dem Interesse des Proletariats dienen und den Sozialpatriotismus bekämpfen. Aber in der Politik entscheiden nicht die Absichten, sondern die Wirkungen, und die Wirkung des Sozialpazifismus ist so, wie wir sie hier geschildert haben.
Die Tragödie des 21. Oktober.
Während die bürgerliche und sozialpatriotische Presse das Attentat des Genossen Friedrich Adler auf den österreichischen Ministerpräsidenten nur als Werk eines Verrückten verstehen zu können glaubt, hat die Arbeiterklasse ein Interesse daran, die wahren Kräfte kennen zu lernen, die dem ruhigen, keinesfalls exaltierten Kämpfer den Revolver in die Hand gedrückt haben. Nicht um Neugierde handelt es sich, nicht einmal um das schmerzliche Bedürfnis, durch die Aufdeckung der wahren Quellen der Tat den Mann gegen all die Vorwürfe zu verteidigen, die nicht nur die bürgerliche Presse, sondern auch die Stampfer und Austerlitz gegen ihn erhoben. Die Aufdeckung der Triebkräfte der Tat Friedrich Adlers wird gleichzeitig ihre politische Bedeutung darstellen.
Würde zur Erklärung der Tragödie des 21. Oktober nur die allgemeine Not des Krieges oder die besonderen politischen und wirtschaftlichen Kriegszustände Österreichs genügen, man brauchte zu ihrer Darstellung keinesfalls zum Manifest der österreichischen Internationalisten zu greifen, das unter Mitverfasserschaft Friedrich Adlers im Dezember 1915 erschien: die bürgerlichen und sozialpatriotischen Quellen, die alle die Wiener Zensur passierten, genügen vollkommen.
Hugo Ganz, der langjährige Wiener Korrespondent der » Frankfurter Zeitung« telegraphierte diesem Blatte eine Woche vor dem Attentat: »Man kann einem Volke, das behandelt wird, als wäre es stumm und unmündig, nicht zumuten, die Opfer zu bringen, die drei furchtbare Kriegsjahre von ihm fordern. Man kann das Gift, das sich in drei Kriegsjahren im Lande angesammelt hat, nicht weiter im Dunkeln schwären lassen.« Und die Wiener » Arbeiterzeitung« schrieb einen Tag vor dem Attentat: »In einer Höhe thront der Graf Sturgkh, die es ihm überflüssig macht, die Stimmungen und Gärungen im Volke zu beachten, geschweige denn mit ihnen rechnen zu müssen. Der Tadel erreicht ihn nicht, die Kritik wird weißer Fleck, die politische Forderung darf nicht laut werden. Wir wissen nicht, ob unsere Klage ihn erreichen wird; aber kann sich der verantwortliche Staatsmann der Frage entschlagen, ob dieser Zustand, der für das Verhältnis von Regierung und Volk die unbegrenzte Macht auf der einen, das zermürbende Gefühl der absoluten Ohnmacht auf der andern Seite als das einzig sachgemäße Verhältnis kennen will, ob dieser Zustand auf die Dauer haltbar ist und vor allem, ob er auch dem Staate frommt?« Der in diesen beiden, jeder »subversiven« Tendenz baren Auslassungen geschilderte Zustand allein erklärt keinesfalls, weswegen Friedrich Adler zum Revolver griff. Die Erklärung für diese Tatsache kann auch nicht im Charakter des Genossen Adler gefunden werden, der das ruhige Temperament eines Gelehrten besaß. Nur in den besonderen Verhältnissen der österreichischen Sozialdemokratie, in der Adler für die Sache der Internationale kämpfte, liegt die Erklärung.
Als der Krieg ausbrach, lag die österreichische Sozialdemokratie zerschmettert und zerklüftet am Boden. Die tschechische Sozialdemokratie, vom Nationalismus zerfressen, konnte selbstverständlich keine Kämpfe für die Internationale liefern. Die polnischen und ruthenischen Sozialdemokraten waren von jeher sozialpatriotisch. Die deutsche Sozialdemokratie Österreichs war seit Jahren vollkommen im Banne des Opportunismus. Ihre Führer waren teils durch ununterbrochene Kompromisse mit der Regierung zu einer unabhängigen Politik völlig unfähig geworden, teils durch ihren großdeutschen Patriotismus (Leuthner, Pernerstorffer, Austerlitz), teils durch ihren schwarzgelben Patriotismus (Renner) an die Bourgeoisie gekettet. Dazu kam noch die politische Unselbständigkeit der Arbeiterklasse, die in Österreich viel größer als sonst irgendwo war.
Im Jahre 1904 schrieb Fritz Austerlitz aus Anlaß des Goehre-Konfliktes in der deutschen Partei, in der österreichischen Partei gebe es keine öffentliche Meinung. Das ist bis auf den heutigen Tag so geblieben. Der Nationalitätenkampf verleidet nicht nur den Arbeitern die Teilnahme am politischen Leben, sondern er erschwert ungeheuer sein Verständnis. Die Politik wird durch eine Handvoll Führer gemacht, die sich im Café und Fraktionszimmer über die Taktik verständigen. Diskussionen über politische wie taktische Fragen in den Organisationen wie in der Presse waren äußerst selten. Was für ein Wunder, daß die deutsch-österreichische Arbeiterklasse nicht nur keine Kraft hatte, angesichts der Haltung der Führer selbständig aufzutreten – nirgends besaß sie diese Selbständigkeit –, sondern auch nicht einmal genügend Kraft hatte, sich auch nur zu einem Teile zu ermannen und die kleine Schar der der Internationale treugebliebenen Männer zu sammeln.
Dieses Fehlen eines wachsenden Kerns oppositioneller Arbeiterorganisationen erlaubte der österreichischen Parteiopposition nicht, ihre Aufgabe richtig zu erfassen. Man lese die beiden Kriegsjahrgänge des »Kampf«, die vielen in ihnen zerstreuten Artikel Fritz Adlers, man lese das Manifest der österreichischen Opposition. Bis am Ende des Jahres 1915 stehen sie vollkommen auf dem Boden der Landesverteidigung. Erst in dem Manifest und später im offenen Schreiben Adlers an Huysmans im Juni 1916 beginnt es der österreichischen Parteiopposition klar zu werden, daß im Zeitalter des Imperialismus die Landesverteidigung mit den imperialistischen Zielen des Krieges unzertrennlich verknüpft ist. Aber noch jetzt entscheidet Adler diese Frage für sich und seine Freunde nicht, sondern er erklärt: »Die Internationale wird in Zukunft zu dieser Erkenntnis Stellung nehmen und die Frage entscheiden müssen.« Aber das mag man für theoretische Unklarheit ohne praktische Bedeutung halten, obwohl es auf die österreichische Opposition lähmend wirken mußte. Aber diese Unklarheit ging Hand in Hand mit dem völligen Fehlen jeder anderen Aussicht. Im Januar 1915 schrieb Adler in einem Artikel über die deutsche Sozialdemokratie: » Während die Kanonen donnern, bleibt dem Sozialismus nur die Politik des Schweigens übrig«. Er forderte von der Sozialdemokratie keinen Kampf, sie solle nur die Arbeit der Kanonen nicht beweihräuchern. Die »Internationale der Tat« werde erst das Werk der Zeit nach dem Kriege sein (»Kampf«, April 1915).
Als der Krieg immer länger und länger dauerte, als Friedrich Adler einsah, daß man nicht schweigen dürfe, da forderte er wieder keinen Kampf, sondern nur sozialistische Propaganda: »Man kann weder den Ausbruch des Krieges mit Gewalt verhindern, noch ihm durch Gewalt ein Ziel setzen. Trotzdem hat die Sozialdemokratie eine wichtige Funktion für die Wiederherstellung des Friedens zu erfüllen. Sie allein wäre in der Lage gewesen, die geistige Disposition für eine gemeinsame Auffassung der Völker von den Bedingungen des Friedens herzustellen.« Nichts mehr. Man glaube nicht, daß diese Beschränkung durch die Zensurverhältnisse verursacht wurde. In seinem Bericht über die Lage in Österreich, den Adler am 1. August dieses Jahres in einem intimen Kreise der Zimmerwaldisten in Zürich abstattete, sprach er ebenfalls mit tiefstem Pessimismus über die Aussichten des proletarischen Kampfes in Österreich während des Krieges, von der rein propagandistischen Arbeit der Opposition.
Wenn seine Auffassungen in hohem Maße die vollkommene Zertrümmerung der österreichischen Sozialdemokratie wiederspiegelten – das Wort der »Arbeiterzeitung« von der »absoluten Ohnmacht« der Partei bestätigt es –, so erlaubten sie ihrerseits Adler und seinen Freunden nicht, diesen Zustand auch teilweise zu überwinden. Nur der Kampf kann Leben schaffen.
In diese Stimmung, die durch ununterbrochenen aber zwecklosen Hader mit den Instanzen noch bedrückter wurde, fielen irgendwelche aktuellen Vorfälle, die wir nicht kennen. Am 20. Oktober, einen Tag vor dem Attentat, fordert Adler in einer Vertrauensmännersitzung in Wien die Veranstaltung von Kundgebungen. Die Massen werden die Partei für das Schweigen verantwortlich machen – ruft er. Die Vertrauensmänner lehnen nach scharfem Kampfe seine Forderung mit Stimmenmehrheit ab. Die bisherige rein propagandistische Arbeit der Opposition hat aber keinen separaten Aktionskörper geschaffen. Friedrich Adler kann nicht schweigen, glaubt nicht schweigen zu dürfen; da die Massen schweigen, entschließt er sich zu seiner Tat. Er begeht sie nicht in einer Exaltation, er begeht sie mit eiserner Ruhe. De Profundis clamavi!
Die Chemnitzer »Volkstimme« (Nr. 297) erklärt, Friedrich Adler sei dem Beispiel Karl Liebknechts gefolgt; sie übersieht vollkommen die grundlegenden Unterschiede, die zwischen dem deutschen und österreichischen Milieu und den Wegen, die die beiden Männer beschritten haben, bestehen. Friedrich Adler hatte keine Massen hinter sich, glaubte nicht an ihre Bewegung während des Krieges, jedenfalls glaubte er nicht, daß man sie mit gewöhnlichen Mitteln aufbieten, sammeln könne. Deswegen griff er zur individuellen Gewalt, die, wie wir sehen werden, nicht nur in ihren Angriffspunkten, sondern auch in ihren Resultaten der Massentaktik strikte entgegengesetzt ist.
Es ist eine tiefe menschliche und sozialistische Tragödie, die sich in der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober im Herzen Friedrich Adlers abspielte. Eine menschliche, weil er zum Revolver gegen einen andern Menschen griff; eine sozialistische, weil er einen Menschen tötete, den für den Krieg verantwortlich zu machen ihm seine sozialistische Einsicht nicht erlaubte. Er wollte in dem Ministerpräsidenten Sturgkh nur einen der Vertreter des Systems treffen, das in allen Ländern Europas herrscht und den Krieg mit all seinen schrecklichen Folgen verursacht hat. Es war die Tragödie eines der Idee bis in das Grab ergebenen Mannes, dem die Worte des alten griechischen Dichters: »Liebe die Sonne nicht zu sehr und nicht zu sehr die Sterne; komm, folge mir ins dunkle Grab hinab« in dem Herzen klangen, als es von Leid überfloß.
Friedrich Adler gehört zum Geschlecht der Sazonow und Kalajew, die die Schwäche, den Unglauben, das Mißtrauen zu den Massen und eines Teiles der revolutionären Elemente besaßen. Und wie die Tat jener die russische Sozialdemokratie vor die Frage des Verhältnisses der Partei zum politischen Terror stellte, so stellt die Tat Adlers die Zimmerwalder Bewegung vor diese Frage. Denn auch in anderen Ländern können Situationen entstehen, die ähnliche Taten auszulösen imstande wären. Das tiefe menschliche Mitgefühl mit dem Genossen Adler, der einer der unsrigen war, darf uns nicht hindern, der Arbeiterschaft die Gefahren vor Augen zu führen, die ihrem Kampfe auf dem Wege drohen, den Friedrich Adler beschritt. Ja, selbst auf die Gefahr hin, viele unserer Freunde momentan gegen uns zu haben, müssen wir den Arbeitermassen sagen, was die Erfahrungen der russischen Revolution, der großen proletarischen Massenbewegung, über den politischen Terror lehren.
Gegen den politischen Terror.
In allen Epochen, in denen die Volksmassen sich unterdrückt fühlten, entstanden aus ihren Reihen oder aus den mit ihnen fühlenden Schichten Männer, die gegen die Gewalt von oben selbst zur Gewalt griffen. Sie wandten sich gegen private oder offizielle Vertreter des unterdrückenden Systems, sei es, um der Verzweiflung, die sich in ihrer Brust angesammelt hatte, Ausdruck zu geben, sei es, um Schandtaten zu rächen. Die Geschichte des kämpfenden Bauerntums ist ebenso reich an Beispielen des politischen Terrors, wie die des Bürgertums. Die Geschichte der Arbeiterklasse, deren Proletarisierungsprozeß traurig, deren Aufstiegprozeß unermeßlich schwierig ist, ist reich an einzelnen Taten, wie ganzen Epochen des politischen Terrors aller genannten Schattierungen. In der Chartistenbewegung, wie während des Sozialistengesetzes in Deutschland und Österreich praktiziert, fand er in der anarchistischen Bewegung, wie in der der russischen Terroristen eine abgeschlossene Theorie.
Die west- und mitteleuropäische Sozialdemokratie bekämpfte ihn zur Zeit der ersten, wie der zweiten Internationale aus prinzipiellen wie aus taktischen Gründen. Prinzipiell, indem sie erklärte, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur ihr eigenes Werk sein könne: die Arbeiterklasse könne nur allmählich im selbständigen Klassenkampfe die Einsicht und Kraft erwerben, die ihr zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische notwendig seien. Es sei unmöglich, durch Gewalttaten der Einzelnen die politische Gewalt zu erobern. Und diese Gewalttaten seien, selbst wenn ihr Anlaß noch so empörend ist, geeignet, unaufgeklärte Arbeiterschichten abzustoßen, sie verzögern also – das war der taktische Grund der Ablehnung des politischen Terrors – den Zusammenschluß der Arbeiter zu einer schlagfertigen Klasse. Gleichzeitig aber mit dieser Ablehnung des politischen Terrors, der Gewaltakte von Einzelpersonen, für die Länder des entwickelten Kapitalismus, erkannten ihn Marx und Engels in Rußland an, als die Narodnaja Wola (die terroristische Partei des »Volkswillen«) ihn in Rußland zu praktizieren begann. Sie erkannten damals den politischen Terror für Rußland an, nicht deswegen, weil Rußland keinen Parlamentarismus, keine Preß- und Versammlungsfreiheit besaß – auch für West- und Mitteleuropa war es in jener Zeit um diese Volksfreiheiten sehr schlecht bestellt – sondern weil Rußland damals noch keinen entwickelten Kapitalismus und keine Arbeiterklasse hatte. Die Versuche, die Bauern gegen den Zarismus zu mobilisieren, schlug fehl: die zersplitterte, kulturell außerordentlich niedrig stehende Bauernmasse zeigte sich unfähig zum Kampfe. Die einzige Kraft, die sich gegen den Zarismus auflehnte, war die Intelligenz. Zu wenig zahlreich, um durch Massenangriffe die Bastille des Zarismus zu erobern, suchte sie ihn durch Attentate auf seine höchsten Vertreter zu desorganisieren, zu überrumpeln. Ihr opferreicher Kampf schien Aussichten auf Erfolg zu eröffnen, und so zauderten unsere Altmeister nicht, ihn anzuerkennen, ihm ihre Sympathien zu schenken. Der terroristische Kampf der russischen Intelligenz erschütterte zwar momentan den Zarismus, aber schließlich gelang es diesem, der mutigsten Kämpfer habhaft zu werden, sie an den Galgen, in die Kasematten und nach Sibirien zu bringen. Nach einer Zeit der Friedhofsruhe in Rußland begann sich mit der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus die Arbeiterklasse zu regen. Ihre Bewegungen lösten ein Echo auch in der Intelligenz aus, der aber der allmähliche Prozeß des Erwachens der Arbeiterklasse zu langsam ging: sie wollte den Kampf der Arbeiterklasse durch Attentate unterstützen und beschleunigen. Sie wollte den Zarismus durch Bombenwürfe und Revolverschüsse mürbe machen; sie hoffte, daß die krachenden Bomben immer weitere Schichten des Volkes aus dem Schlafe wecken würden. Der Kampf der terroristischen sozialistischen Intelligenz Rußlands erweckte heiße Sympathien in der europäischen Sozialdemokratie, die seine »Zulässigkeit« mit dem Fehlen der gesetzlichen Kampfesmittel erklärte. Die russische Sozialdemokratie aber nahm in entschiedenster Weise Stellung gegen die Propaganda des politischen Terrors, indem sie in ihm ein politisches Kampfmittel sah, das mehr imstande ist, die revolutionäre Arbeiterklasse, als die zarische Regierung zu entnerven und zu desorganisieren. Die Masse als solche – erklärte die russische Sozialdemokratie – kann keine Attentate ausüben. Selbst wenn der Terrorist den Massen durch seine Tat nur ein Signal geben wollte, erweckt er in ihnen die Hoffnung auf die Wundertat der Befreiung von oben. Und falls sich in der Masse schon aufgeweckte Elemente befinden, die sich mit der Rolle der zu Befreienden nicht begnügen, die selbst mitkämpfen wollen, so lockt sie das terroristische Beispiel auf den terroristischen Weg. Sie schauen von oben auf die »träge Masse«, die sich so langsam in Bewegung setzt, auch ihnen ist der Weg der Massenorganisation zu lang, auch sie wollen der Masse durch ihre Opfertat den Weg bahnen, ihn kürzen. Der Terror hört auf, das Werk spontan handelnder Einzelpersonen zu sein, er wird zur Sache besonderer Organisationen, die dem Klassenkampf die besten, opferfreudigsten Elemente entziehen und so die Arbeitermasse entnerven.
Dieser Standpunkt der russischen radikalen Sozialdemokraten, die der Gewalt der einzelnen Persönlichkeit nicht die Legalität, sondern den revolutionären Massenkampf entgegenstellten, fand in vielen Kreisen der europäischen Sozialdemokratie keine Anerkennung. Besonders die Opportunisten, die für Westeuropa die Legalität um jeden Preis proklamierten, hatten große Sympathien für die Bomben in – Rußland, und schalten die russische Sozialdemokratie »doktrinär«. In Deutschland waren es eben die Herren Stampfer, in Österreich die Austerlitz und Leuthner, die es für wahnsinnig hielten, wenn man in Rußland nicht für den Terror war.
Aber die russische Sozialdemokratie ließ sich nicht beirren. Zwar fiel es ihr nicht entfernt ein, zusammen mit den Schakalen der Konterrevolution die Terroristen zu beschimpfen, die zwar irrten, aber in gutem Glauben ihr Leben opferten. Aber sie bekämpfte den politischen Terror in rücksichtsloser Weise als ein schlechtes Kampfmittel. Und die große Probe aufs Exempel, die russische Revolution, zeigte, wie recht die Sozialdemokratie hatte.
Die Periode der Attentate, die wichtig war als politisches Symptom, war gleichzeitig das Resultat des Unglaubens an die Massenbewegung des Proletariats. Sie war nicht imstande, diese Bewegung zu beschleunigen, obwohl z. B. das Attentat auf Plewe im Jahre 1904 ein großes Aufsehen erregte. Die Erschütterungen des Russisch-Japanischen Krieges, die Not, die er erzeugte, die unermüdliche, obwohl momentan keine sichtbaren Erfolge zeitigende geheime revolutionäre Agitation der Sozialdemokratie, die Unterstützung, die sie jeder Äußerung des Klassenkampfes verlieh: das alles erzeugte in Rußland die Stimmung, die nach den großen Massakres vom 22. Januar 1905 die Stunde der Massenrevolution schlagen ließ. Und wenn auch diese nicht auf den ersten Hieb siegte, wenn sie dank der Unterstützung des Zarismus durch das russische und das internationale Kapital, dank den bäuerlichen Bajonetten niedergeworfen wurde, so verdankt die russische Arbeiterbewegung alle die kolossalen Fortschritte, die sie in den letzten 10 Jahren gemacht hat, der Massenbewegung der Revolutionsjahre allein. In der Zeit, als die Kräfte der Revolution zu versiegen begannen, suchten die Terroristen sie durch Attentate wie durch Morphiumeinspritzungen zu beleben. Aber selbst Produkt des Niedergangs der Revolution, waren sie nicht imstande, ihr neue Kräfte einzuflößen: sie desorganisierten sie nur, indem ihre Organisationen der politischen Provokation zum Opfer fielen. Wie selbst bürgerliche Politiker, wie Lord Courtney, oder opportunistische, wie Sidney Webb einsehen, geht die internationale Arbeiterbewegung großen Erschütterungen entgegen. Und der Reifegrad der sozialen Entwicklung, in dem sich West- und Mitteleuropa befindet, er wird der neuen Volksbewegung erlauben, sich höhere Aufgaben zu stellen, als es jemals früher der Fall war: ausgehend von dem Kampfe um den Frieden, gegen die Teuerung, gegen die neuen Steuern, gegen die politische Entrechtung, wird der Kampf der Volksmassen sich zum Kampf um den Sozialismus auswachsen. Wir befinden uns erst in den allerersten Anfängen dieses Kampfes. Wir erinnern das Proletariat an die Worte von Zimmerwald und Kiental, die sie zur rücksichtlosen Einsetzung ihrer gemeinsamen Kräfte als Masse, als Klasse, aufgerufen haben. Es war unserem Genossen Friedrich Adler nicht vergönnt, obwohl er diesem Ziele dienen wollte, im Sinne des modernen Kampfes der Arbeiterklasse durch seine Tat zu wirken. Wir wollen ihm folgen in der heißen Liebe zur Sache, aber nicht auf dem Wege, der nicht zum Ziele führt. Die Sozialpatrioten bekämpfen den politischen Terror. Aber die Tendenzen zu ihm können nur die revolutionären Internationalisten ausrotten, indem sie durch ihren Kampf gegen den Imperialismus den Massen das Vertrauen zu den eigenen Kräften, zu der Zukunft des Sozialismus wiedergeben. Sie werden den politischen Terror bekämpfen, im Namen der historischen Aufgaben des Proletariats.
Unterm eigenen Banner.
»Verkleidung Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht, wo im Gewühl die Völker dich nur an Der Rüstung und dem Abzeichen erkennen. Drum hülle stets vom Scheitel bis zur Sohle Dich kühn in deines eigenen Banners Farbe! Dann probst du aus im ungeheuren Streit Die ganze Triebkraft deines wahren Bodens Und stehst und fällst mit deinem ganzen Können.«
Lassalle: Sickingen.
1.
Die deutsche Sozialdemokratie ist gespalten. Alle Bemühungen der Zentrumsleute, so zu tun, als ob diese historische Tatsache von größter Bedeutung nicht vollzogen wäre, sind nur ein neues Beispiel dafür, daß diese Leute noch immer nicht verstanden haben, daß es den Hals kostet, in großen Dingen schlau sein zu wollen. Die Sozialpatrioten kümmern sich nicht um die lächerlichen Bemühungen des Zentrums, »auf dem Boden der Partei« zu verbleiben: sie gründen in Berlin offen ihre eigene Organisation, treffen in allen Städten, wo sie die Mehrheit besitzen, Vorbereitungen zum Hinauswerfen der Opposition. Und die Zentrumsleute sehen das Aussichtslose ihres Versteckspiels und ergreifen im stillen Gegenmaßregeln. Sie haben eine Leitung ihrer Organisationen in der Arbeitsgemeinschaft, sie hielten eine neue Konferenz ab, in der »Leipziger Volkszeitung« haben sie ihr Zentralorgan. Kurz und gut: sie haben eine Partei gebildet, die sich von den anderen nur dadurch unterscheidet, daß sie selbst ihre Existenz verleugnet, um als Verein verfolgter Unschuldsknaben das Leben leichter fristen zu können. Dieser äußerlich amorphe Zustand enthebt sie der Pflicht, offen das Banner ihrer Partei zu entfalten, erlaubt ihnen, vom Zwielicht zu profitieren. Für die Linksradikalen birgt dieser Zustand die Gefahr der Verwirrung der eigenen Reihen, weswegen es ihre Pflicht ist, offen und klar zu sagen, was wirklich ist und die praktischen Schlußfolgerungen daraus zu ziehen.
»Es gibt in Deutschland keine einheitliche sozialistische Partei mehr, sondern es gibt drei sozialistische Parteien, nämlich: 1. die sozialdemokratische Partei Deutschlands, 2. die Partei der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft, 3. die Partei der Spartacusgruppe«, schrieb am 22. Januar Friedrich Stampfer, der Generalstabschef Scheidemanns, in seiner Korrespondenz. Mag diese Feststellung seiner Spekulation auf die Teilung der »Opposition« entstammen, sie entspricht immerhin der Wirklichkeit. Jawohl, die ehemals einige Sozialdemokratie Deutschlands ist in drei, nicht in zwei Teile gespalten: 1. das Lager des 4. August (Sozialpatrioten und Sozialimperialisten), 2. das Zentrum, dessen parlamentarische Vertretung die Arbeitsgemeinschaft bildet, 3. die Linksradikalen, welche Richtung alle revolutionären internationalen Sozialdemokraten umfaßt, die sich teils in den Gruppen der »Internationale« (Spartacus), der Internationalen Sozialisten Deutschlands (I. S. D.), der »Arbeiterpolitik« zusammengefunden haben, teils unorganisiert wirken. Diese Dreiteilung ist nicht künstlich, sie ist historisch, oft entgegen dem Willen der Beteiligten, entstanden und hat tiefe programmatische und taktische Ursachen zur Grundlage. Daß das Lager des 4. August ein selbständiges politisches Gebilde ist, braucht man nicht erst lang und breit auseinanderzusetzen. Es hat im Kriege den Klassenkampf aufgegeben, den Burgfrieden mit der Bourgeoisie geschlossen. An die Stelle des Kampfes um den Sozialismus hat es den Kampf um die Erhaltung des kapitalistischen Staates (Sozialpatrioten) und seiner Entwicklung zum imperialistischen Weltstaat (Sozialimperialisten) gesetzt.
Das Lager des 4. August behält zwar zwecks Irreführung der Arbeitermassen den Namen der Sozialdemokratie bei, hat aber ihr Wesen vollkommen aufgegeben. Somit hat die Spaltung mit ihm in den Augen eines jeden ernst denkenden Politikers vollkommene Berechtigung und die Männer des 4. August erkennen sie auch an, indem sie sie vollziehen. Bestehen aber auch zwischen dem Zentrum der Partei und den Linksradikalen solche Unterschiede, die die Trennung notwendig machen: handelt es sich hier nicht bloß um Unterschiede im Tempo, Temperamentsdifferenz usw.?
Das kann am besten beantwortet werden, wenn man die Geschichte der Trennung der Linksradikalen vom Zentrum zu Rate zieht. Sie begann im Jahre 1910, also bereits vor dem Kriege. Die Erfahrungen der imperialistischen Epoche haben gezeigt, daß in ihr die Arbeiterklasse zu Massenaktionen übergehen muß, wenn sie auf wirtschaftlichem wie politischem Gebiete vorwärts gelangen will. Die Waffe der Wahlen, des Parlamentarismus, der Gewerkschaften wurde nicht überflüssig, aber sie stumpfte zusehends ab, wenn die Arbeitermasse nicht selbst in Bewegung trat und ihre Rolle als Produktionsfaktor nicht ausnützte. Gegen die Propaganda für die neue Taktik zwecks Eroberung des preußischen Wahlrechts, wie der Abwehr der Kriegsgefahr wandte sich die Mehrheit der früheren Radikalen unter Kautskys, Ledebours und Haases Führung. Sie erklärten diesen Weg als verfrüht und gefährlich. Da sie aber selbst einen Weg zeigen mußten, so weckten sie in der Arbeiterklasse Hoffnungen auf einen neuen Liberalismus, der der Arbeiterklasse im Parlament Zugeständnisse machen werde: sie stimmten der Dämpfung des Wahlkampfes 1911 zu, was bereits ein teilweiser Burgfriede war. Und dieser neue Liberalismus sollte die Kriegsgefahr eindämmen durch Verständigung der kapitalistischen Regierungen, die die Rüstungen einschränken und alle Gegensätze schiedsgerichtlich schlichten sollten. Indem die früheren Radikalen, die von 1911 an Zentrum genannt wurden, an Stelle des verschärften Klassenkampfes, der Massenaktionen, das Zusammengehen mit den Liberalen, an Stelle des Hinarbeitens auf die soziale Umwälzung die Verständigung der kapitalistischen Regierungen zwecks Überwindung des Imperialismus gesetzt haben, haben sie sich praktisch mit den Revisionisten zusammengefunden. Dies drückten sie aus in der Behauptung, der Revisionismus sei eigentlich tot. Kautsky in seiner Broschüre über die taktischen Differenzen in der Sozialdemokratie, Hilferding in seinen Artikeln in der »Neuen Zeit« suchten den Tod des Revisionismus in demselben Moment zu beweisen, wo er praktisch in der Fraktion, dem Parteivorstand wie der ganzen Tätigkeit der Partei die Oberhand gewann. Somit war das Zentrum einer der Väter des 4. August. Es hat die Keime der Aktionen, die, wenn sie auch den Krieg nicht hätten verhüten können, doch gewiß einen geschlossenen, kampffähigen linken Flügel geschaffen hätten, der den vollkommenen Zusammenbruch der Internationale verhütet hätte, niedertreten helfen; es hat die Masse durch die Hoffnung auf die liberale Bourgeoisie, auf ihre friedlichen Tendenzen, auf die Unschädlichkeit des Revisionismus eingelullt und verwirrt. So hat das Zentrum – wenn auch ungewollt – die Auslieferung des Proletariats an die Bourgeoisie vorbereitet.
Im Kriege ging die Mehrheit der Zentrumsleute ins Lager des 4. August über. Die Minderheit, die sich dazu nicht entschließen konnte, konnte sich auch zum Bruch mit den Sozialpatrioten nicht entschließen. Während die Linksradikalen seit den ersten Kriegstagen den Kampf gegen den zum Sozialpatriotismus umgeformten Revisionismus und seine Politik des Verrats begonnen haben, – in den Organisationen wie im Parlament – haben die Zentrumsleute um Vertrauen für die Scheidemänner, Eberts und Legiens gebettelt, jeden scharfen Kampf gegen sie als Desorganisation der Partei denunziert. Sie haben die Hoffnungen auf die Umkehr der »irrenden Brüder« in den Arbeitern geweckt. Irgendwelche größere Aktionen hielten sie für ein Hirngespinst. Und da sie doch irgend einen Ausweg aus dem Kriege suchen mußten, so weckten sie wieder Hoffnungen auf die Bourgeoisie, die sich schließlich verständigen werde, wenn sie einsieht, daß der Krieg ein schlechtes Geschäft ist und die Sozialdemokratie ihr das durch parlamentarische Reden und die Bearbeitung der »öffentlichen Meinung« zu Gemüte führen werde. An diesen Auffassungen hält das Zentrum der Partei mit voller Zähigkeit fest. Von den Sozialpatrioten aus der Partei hinausbefördert, schreit es immerfort: Einheit, Einheit! Kampf um das Parteirecht, d. h. das Recht, mit den Sozialpatrioten, den Verrätern am Sozialismus, zusammen zu bleiben. Noch jetzt weckt es (siehe die Artikel der »Bergischen Arbeiterstimme«) die Hoffnung, daß die Sozialpatrioten nach dem Kriege wieder gute Sozialdemokraten werden. Schon nach dem vollkommenen Abbruch aller Aussichten auf Verständigung der kapitalistischen Staaten, arbeitet es einzig an den besten Plänen, wie der Krieg mit einer dauernden Verständigung – nicht Überwindung – des Kapitalismus beendet werden kann (siehe den Artikel Ledebours: Drei Ergänzungen zum Friedensmanifest vom 7. Januar, »Leipziger Volkszeitung« vom 30. 7.). Was bedeutet das alles? Zwischen den Linksradikalen und den Zentrumsleuten bestehen Gegensätze 1. im Programm: Während die Linksradikalen die nicht nur einzig logisch mögliche, sondern historisch aktuelle Lösung der imperialistischen Gegensätze im Sozialismus sehen, stellen die Zentrumsleute als historisches Ziel des Proletariats in der kommenden Periode der Weltgeschichte die Reform des Kapitalismus, seine Umwandlung aus einem imperialistischen in einen friedlichen hin. Die Linksradikalen sind Sozialrevolutionäre, die Zentrumsleute sind Sozialpazifisten. Dieser grundlegende programmatische Gegensatz zeitigt einen unüberbrückbaren taktischen Gegensatz: d. h. andere Ziele bedingen andere Wege, eine andere Kampfesweise. Da die Linksradikalen auf Grund ihrer Ansicht von der Reife der wirtschaftlichen Entwicklung, von der Verschärfung der sozialen Gegensätze die kommende Epoche als die der Massenkämpfe um den Sozialismus betrachten, muß ihre ganze Taktik auf die Verschärfung, Vertiefung und Ausbreitung jedes Teilkampfes der Arbeiterklasse zum allgemeinen Kampfe gerichtet sein. Sie verlegen ihre Haupttätigkeit auf die Propaganda, Agitation und Organisation solcher Kämpfe, während der Parlamentarismus für sie nur insoweit eine Bedeutung hat, als er diese Ziele fördert. Für die Zentrumsleute ist der parlamentarische Kampf immer noch der wichtigste, wobei sie ihn vielmehr als Mittel der Beeinflussung der Regierenden als der Massen handhaben. Während sie immer der Regierung die Rezepte für die beste Politik geben, sagen sie niemals den Massen, was diese zu tun haben, appellieren sie nicht an das Volk. Sie sind die Kämpfer für kleine Reformen (selbst die Schutzhaft reformieren sie) nicht für die grundsätzliche Umwälzung. Weil sie an diese nicht glauben, sie nicht erstreben, sehen sie aus den Schrecknissen der imperialistischen Epoche keine andere Rettung als durch den Sprung ins Reich der pazifistischen Utopie. Bis dieses Reich aber verwirklicht ist, wagen sie nicht offen die Pflicht der Verteidigung des Bestehenden abzulehnen, sondern verbreiten einen Nebel um alle wichtigsten Fragen. Wie ihr Programm, so hat auch ihre Taktik nichts gemeinsam mit der der Linksradikalen. Eine Partei ist eine politische Kampfgenossenschaft. Sie läßt in ihren Reihen nur insofern Meinungsdifferenzen zu, als sie den Kampf für gleiche Ziele mit gleichen Mitteln nicht stören. Von einem solchen gemeinsamen Kampf kann zwischen uns und den Zentrumsleuten keine Rede sein. Das hat am besten die Konferenz des 7. Januar gezeigt. Die Linksradikalen konnten weder dem Kriegsplan der Zentrumsleute gegen die Sozialpatrioten zustimmen, noch ihren Friedensaufruf, d. h, ihrem Plan des Kampfes gegen den Imperialismus. Würden sie in der Friedensfrage einen eigenen Aufruf ausgearbeitet haben, so würde es jedem klar sein, daß ihr Ziel wie ihr Weg dem zentrümlichen entgegengesetzt ist. Wenn dem so ist, so ist der Gedanke an eine gemeinsame Parteibildung mit den Zentrumsleuten eine schädliche Utopie. Die Linksradikalen müssen, ob die Verhältnisse für sie günstig sind oder nicht, an die Bildung einer eigenen Partei gehen, wenn sie ihre historische Aufgabe erfüllen wollen.
Dies hält ein Teil der Linksradikalen für verfrüht. Mit seinen Argumenten wollen wir uns auseinandersetzen, was von selbst zur Besprechung der praktischen Schritte führen wird, die die Linksradikalen demnächst unternehmen müssen.
2.
Manche Mitglieder der entschiedenen Linken erklären: »Die Arbeitsgemeinschaft hat sich seit dem ersten Nein gegen die Kriegskredite und seiner recht opportunistischen Begründung entschieden weiter nach links entwickelt. Der überwältigende Anschauungsunterricht der Tatsachen und die Kritik der äußersten Linken haben ihre vorwärtstreibende Wirkung nicht verfehlt. Aber die Fraktion hat sich noch nicht allen vom Kriege aufgeworfenen Erscheinungen und Fragen gegenüber stets mit der nötigen Schärfe und Festigkeit auf den Boden des internationalen Sozialismus gestellt, noch ist ihr grundsätzliches Bekenntnis hier und da unklar und kompromisselnd, ihr taktisches Verhalten schüchtern und zaghaft, es welkt unter dem Reif des Parlamentarismus.« (Gleichheit vom 7. Januar 1917.) »Gewiß«, fährt das Blatt weiter fort, »noch ist es zu keinem dauernden Schutz- und Trutzbündnis zwischen den verschiedenen Gruppen der Opposition gekommen. Der Selbstbesinnungsprozeß im Lager der Sozialdemokratie kann nicht das Werk eines Tages sein. Es bedarf der Zeit, in der gesichtet, gewogen, gelernt werden muß, der Zeit, um alte Irrtümer gegen neue Erkenntnisse auszutauschen. Die Konferenz hat beleuchtet, daß der Selbstbesinnungsprozeß voranschreitet. Die Rechte der Opposition beginnt die Scheu vor ihrem eigenen Vorgehen, ihrem eigenen Mute zu verlieren. Sie entschuldigt sich nicht mehr, sie klagt an, sie weicht nicht mehr aus, sie stellt sich zum Kampfe. Offener, unverklausulierter als bisher hat sie ausgesprochen, was ist. Sie ist innerlich und äußerlich zu der äußersten Linken gekommen und auch ohne Beschlüsse wird bei einigem guten Willen von hüben und drüben ohne Hinopferung grundsätzlicher Überzeugung ein nötiges Zusammenwirken von Fall zu Fall möglich sein.«
So die von uns allen gleich verehrte Genossin Zetkin. Wir würden uns freuen, wenn es so wäre. Leider ist es nicht so und die nächsten Freunde der Genossin Zetkin mußten sich auf der Konferenz der Opposition davon überzeugen. Dem Kampfe gegen die Sozialpatrioten wich das Zentrum auf der Konferenz aus. Wenn es die Beitragsperre ablehnte, so nicht, weil es, wie es bei der Genossin Zetkin der Fall ist, in ihr kein geeignetes Kampfmittel, sondern weil es in ihr ein zu scharfes Kampfmittel sah, da es den Bruch mit den Sozialpatrioten vermeiden wollte. Dem Imperialismus sagte es in dem Kautskyschen Friedensmanifest einen solchen »Kampf« an, daß es den Vertretern der entschiedenen Linken eine Gewissenspflicht war – wie die Genossin Zetkin schreibt – dieser Kundgebung ihre Stimme zu versagen. Also: weder organisatorisch noch politisch konnte die entschiedene Linke mit dem Zentrum gehen.
Ja, die Verschärfung des gegenwärtigen Verhältnisses der beiden Gruppen äußert sich selbst in dem Artikel der Genossin Zetkin. Während Genossin Dunker auf der Reichskonferenz ein »getrennt marschieren, aber vereint schlagen« proklamierte, tritt Genossin Zetkin nur für ein Zusammenwirken von Fall zu Fall ein, wogegen niemand in der entschiedenen Opposition ist, wenn es sich »ohne Hinopferung grundsätzlicher Überzeugung« erzielen läßt. Die Überzeugung von der Wandlung des Zentrums als Ganzes in der Richtung der entschiedenen Linken halten wir für eine völlige Illusion. Die Führer des Zentrums, die Kautsky, Bernstein, Ledebour, Haase, vertreten seit Jahren eine bestimmte Politik, die der reinen parlamentarischen Opposition, des Kampfes um die Reform des Imperialismus. Sie sind keine Kinder, keine Jünglinge und keine unaufgeklärten Arbeiter, die durch unsere Kritik eines Besseren belehrt werden könnten. Aber wenn die Ereignisse sie eines Besseren belehren werden? Die Ereignisse sind niemals eindeutig, und bevor wir nicht in der grundsätzlichen Umwälzung stecken, werden sie die Führer des Zentrums nach ihrer Auffassung deuten, die ein Resultat der ganzen vorhergehenden Epoche der friedlichen Arbeiterbewegung ist.
Ja, aber damit ist zugestanden, daß die von ihnen geführten Arbeitermassen unseren wie der Ereignisse Lehren zugänglich sind – erklärt ein anderer Teil unserer Freunde, der zwar nicht auf die Umkehr aller Zentrumsführer, aber dafür der Zentrumsmasse rechnet. Darin liegt allerdings ein Teil Wahrheit. Aber auch nur ein Teil. Wie hinter den Scheidemännern auch Arbeiterkreise stehen, die den Sozialismus für eine Taube auf dem Dache halten, der ein Sperling der bürgerlichen Zugeständnisse vorzuziehen ist, so ist auch ein Teil der Zentrumsarbeiter jedem scharfen Kampfe abgeneigt. Die Ideologie der Kautsky und Ledebour hängt auch nicht in der Luft; sie basiert auf der Stimmung von Arbeiterkreisen, die zwar den Ideen des Sozialismus Treue bewahren wollen, die aber den wirklichen Kampf scheuen, an ihn als eine nahe Möglichkeit glauben. Auf diese Kreise werden wir bis auf weiteres keinen Einfluß haben. Aber es unterliegt keinem Zweifel, daß dagegen ein anderer Teil der Arbeiterschaft hinter den Ledebours und Haases steht, nur weil er in ihnen die Führer im Kampfe sieht. Auf diese Massen dürfen und wollen wir nicht verzichten.
Es entsteht nur die Frage: Wie können wir sie erobern? Kann es geschehen, indem wir mit dem Zentrum gehen? Indem wir uns als Minorität den Beschlüssen seiner Konferenzen unterwerfen? Würden wir mit dem Zentrum eine Partei bilden, so könnte es nur unter dieser Voraussetzung geschehen. Die Spaltung der Reichstagsfraktion ist ein unwiderleglicher Beweis hierfür.
Solange sich die oppositionelle Minderheit den Beschlüssen der Mehrheit, gegen die sie in den Fraktionssitzungen sicher mit Entschiedenheit gekämpft hatte, in der Öffentlichkeit unterwarf, war es möglich, daß beide Richtungen organisatorisch zusammenblieben. Als aber schon Liebknecht seinen eigenen Weg in der Öffentlichkeit ging, mußte er sich auch organisatorisch von der Fraktion trennen, und dem selbständigen Vorgehen der Achtzehn vom 21. Dezember 1915 folgte mit Notwendigkeit die Konstituierung der Arbeitsgemeinschaft. Zwei durch grundsätzliche Differenzen geschiedene Richtungen können nur solange in derselben Partei verbleiben, als die eine von beiden auf ihr selbständiges Auftreten in der Öffentlichkeit verzichtet. Wollen wir also mit dem Zentrum organisatorisch zusammenbleiben, so kann es nur geschehen, indem entweder wir oder das Zentrum auf die selbständige Aktion verzichten. Daß wir um den Preis der grundsätzlichen und taktischen Selbständigkeit, des Verzichtes auf das eigene politische Leben, die organisatorische Verbindung mit dem Zentrum eingehen sollen, ist ganz gewiß auch nicht die Meinung der Genossin Zetkin; sie will doch nur ein Zusammenwirken von Fall zu Fall ohne Gesinnungsopfer. Wenn aber die Zentrumsleute eine Partei bilden – und sie tun es, ob sie es sagen oder nicht – so können wir nur mit ihnen von Fall zu Fall zusammenwirken, wenn wir eine andere, eine linksradikale Partei bilden. Es sei denn, daß es Linksradikale geben würde, die es als höchste Taktik ansehen würden, wenn den organisierten Zentrumsleuten verstreute Linksradikale nachliefen. Davon kann keine Rede sein; nur ein organisierter klarer Kern kann auf die radikalen Zentrumsarbeiter Einfluß ausüben. Bis jetzt, solange wir auf dem Boden der alten Partei wirkten, konnte man mit der losen Verbindung einzelner Linksradikaler auskommen. Jetzt, wo nach der Spaltung in vielen Orten überhaupt keine öffentlichen Organisationen zu bilden sein werden, kann nur eine linksradikale Partei mit klarem Programm und eigenen Organen die zerstreuten Kräfte sammeln, zusammenhalten und vergrößern. Unsere Einwirkung auf die eigenen Kräfte, auf die Zentrumsarbeiter, wie die überhaupt abseits der Partei stehende, aber in Gärung begriffene Masse, kann doch nicht in bloßer Kritik der Sozialpatrioten bestehen: wir müssen durch Aktion, durch Einmischung in alle Fragen des öffentlichen Lebens auf den Gang der Ereignisse wirken. Das alles kann ohne große Vergeudung der Kräfte nur durch die Organisation der Linksradikalen in eine eigene Partei geschehen. Wir können mit dieser Organisation nicht warten, bis wir die Mehrheit der oppositionellen Arbeiter hinter uns haben, da wir diese Mehrheit nur erobern können, wenn alle linksradikalen Gruppen sich sammeln zur einheitlichen Politik.
3.
Die Bildung einer eigenen linksradikalen Partei unter Ausschluß des Parteizentrums ist ganz besonders im Hinblick auf die taktische Grundlage des Kampfes der Linksradikalen geboten. Das organisatorische Zusammengehen mit dem Parteizentrum würde nichts anderes bedeuten als die Fortsetzung der inneren Kämpfe, wie sie die Partei in ihrer letzten Epoche durchwühlt haben; denn dieselben tiefgehenden Gegensätze, die ehedem in der Partei bestanden, würden in die neue Partei der Gesamtopposition übernommen werden. Es hieße von vornherein die Partei durch innere Kämpfe in ihrer Aktionsfähigkeit nach außen schwächen, wollte man das Zentrum mit übernehmen. Es gilt aber, eine Partei zu schaffen, deren innere Gegensätze auf das denkbar geringste Maß zurückgedrängt sind, um so die Stoßkraft der Partei nach außen möglichst groß zu machen. Man erinnere sich der mit äußerster prinzipieller Schärfe geführten Auseinandersetzungen über die Frage des Massenstreiks, wie sie vor dem Kriege zwischen Kautsky und Pannekoek stattfanden; man erinnere sich des leidenschaftlichen Kampfes der Linksradikalen gegen die Dämpfungs- und Cunctatortaktik; man erinnere sich des Gegensatzes in der Frage des Imperialismus, wie er in Chemnitz hervortrat. Und in all diesen Fragen hat das Zentrum bis heute noch nicht im mindesten umgelernt. Und wenn in der neuesten Erklärung der Arbeitsgemeinschaft zur Ablehnung der Kriegskredite die Formel der Abrüstung und der Schiedsgerichte unterdrückt wurde, so ist das dasselbe Verfahren, als wenn nach der Kritik der Geyerschen Erklärung vom 21. Dezember 1915 die haltlose Formel von der Sicherung der Grenzen und später sogar jeder Hinweis auf die Frage der Landesverteidigung in den Erklärungen der Arbeitsgemeinschaft verschwand, ohne daß etwas Positives im Sinne des Linksradikalismus an die Stelle gesetzt wurde. Man nähert sich dem Linksradikalismus nicht dadurch, daß man den wichtigsten politischen Fragen gegenüber Straußenpolitik treibt. Man hat in jeder Situation unumwunden seine Meinung zu all diesen Fragen zu sagen. Und ganz besonders haben das die sozialistischen Parlamentarier zu tun, wenn anders sie begriffen haben, in welcher Weise sie die Parlamentstribüne im Sinne des Linksradikalismus auszunutzen haben. Indem die Arbeitsgemeinschaft darauf bewußt verzichtet, beweist sie stets aufs neue, daß zwischen ihr und uns kein gemeinsames Wirken zustandekommen kann.
Nun unterliegt keinem Zweifel, daß der Klärungsprozeß zwischen dem Parteizentrum und den Linksradikalen in den Organisationen vorderhand noch nicht soweit vorgeschritten ist, daß den Arbeitern die sachlichen Gegensätze, die zwischen diesen Richtungen bestehen, hinreichend zum Bewußtsein gekommen wären. In den Arbeitern lebt vielfach noch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl mit allen Elementen der Opposition, das ihnen das Verständnis für die Notwendigkeit auch der organisatorischen Spaltung mit dem Zentrum außerordentlich erschwert. Und ganz besonders handelt es sich dabei um die älteren Arbeiter, die noch in der Tradition des ausschließlichen Kampfes gegen den Revisionismus befangen sind, während den jüngeren Arbeitern bereits die Elemente des neuen historischen Gegensatzes zum Parteizentrum zum Bewußtsein gekommen sind; wie denn überhaupt das Hauptrekrutierungsfeld des Parteizentrums unter den älteren, in der ausschließlichen, intensiven organisatorischen Kleinarbeit ergrauten Arbeitern zu suchen ist. Diese Arbeiter sind es auch, die, erfüllt von dem rein organisatorischen Gedanken, vor einer nochmaligen Spaltung der Opposition am meisten zurückschrecken, in dieser Spaltung eine Schwächung der neuen Partei sehen. Sie sind noch ganz befangen in der Vorstellung, daß die Stärke der Organisation nur in der Zahl der Organisierten besteht. Demgegenüber erblickt der Linksradikalismus die Bedeutung der Organisationen nicht in der numerischen Größe ihrer Mitgliederzahlen, sondern in ihrer Kampffähigkeit, und die Linksradikalen sind auf Grund der Erfahrungen und der Ergebnisse der hinter uns liegenden Epoche der Arbeiterbewegung zu der Erkenntnis gelangt, daß Kampfkraft und hohe Mitgliederzahl durchaus nicht in geradem Verhältnis zu stehen brauchen.
Die Schwierigkeit der Klärung des Gegensatzes zwischen Parteizentrum und Linksradikalen ist naturgemäß da am größten, wo ganze oppositionelle Organisationen durch die sozialpatriotischen Instanzen ausgeschlossen worden sind; so in Berlin, Leipzig, Bremen. Und die Aussicht für die Linksradikalen, in diesen Organisationen den entscheidenden Einfluß zu gewinnen, ist wiederum dort am geringsten, wo eine intensive linksradikale Propaganda nicht zustande kommen konnte. So rächt sich in Berlin jetzt die Zentrumspolitik des alten »Vorwärts« an den Linksradikalen. Ebenso liegt es in Leipzig. Und in Bremen versuchte Henke rechtzeitig, die ihm so unbequeme Kritik der Linksradikalen in der »Bremer Bürger-Zeitung« zu unterbinden, was mit zur Gründung der »Arbeiterpolitik« geführt hat.
Nun läßt sich die neue Internationale Sozialistische Partei Deutschlands nicht in Zirkeln und Konventikeln von heute auf morgen organisieren. Sie kann nur das Produkt des Kampfes gegen das Zentrum sein, der wesentlich auf dem Boden der oppositionellen Organisationen ausgefochten werden muß, die aus der alten Partei ausgeschlossen wurden. Hier gilt es in der Übergangszeit, in die wir nunmehr eingetreten sind, den Kampf gegen das Zentrum weiterzuführen, um so für unsere Ideen zu wirken und die Vereine zur Entscheidung für uns oder für die Zentrumspolitik zu bringen. Zu diesem Zwecke ist es nötig, daß sich die Linksradikalen überall zusammenschließen, daß sie sich fortgesetzt untereinander verständigen, den Resolutionen und Manifesten des Zentrums ihre eigenen Entschließungen entgegenstellen. Dieser Kampf wird zur Bildung einer besonderen Partei der Internationalen Sozialdemokraten führen, in organischer, für die Arbeitermassen verständlicher Weise. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Zentrumsleute diesen Prozeß durch Gewaltakte gegen die »disziplinlose« Opposition beschleunigen. Die Vorgänge in Berlin lassen damit rechnen. Aber wir brauchen derartige Gewaltakte nicht zu fürchten; sie werden den Arbeitern nur noch schneller die Augen darüber öffnen, wie notwendig die Trennung von den Zentrumsleuten ist.
In den Orten aber, in denen die Linksradikalen der sozialpatriotischen Mehrheit gegenüberstehen, wo sie aber formell noch nicht ausgeschlossen wurden, gilt es, eigene linksradikale Organisationen zu gründen, was den sofortigen Ausschluß zur Folge haben wird. Zur Verständigung der Linksradikalen untereinander und zum Kampfe gegen Parteizentrum und Sozialpatrioten ist es nötig, eine eigene Presse zu schaffen. Da die äußeren Schwierigkeiten hier sehr groß sind, empfiehlt es sich, für größere Gebiete ein gemeinsames Organ zu gründen. Die speziellen lokalen Bedürfnisse könnten durch ein besonders am Orte selbst redigiertes und gedrucktes Mitteilungsblatt, das dem Hauptorgan beigelegt würde, berücksichtigt werden. Wir fassen unsere Ausführungen zusammen: zentraler und lokaler Zusammenschluß der Linksradikalen zwecks gemeinsamen Kampfes für die linksradikalen Ideen in den Oppositionsvereinen, die durch die Spaltung der Partei entstanden sind, Schaffung eigener linksradikaler Organisationen, wo die Linksradikalen der sozialpatriotischen Mehrheit gegenüber in aussichtsloser Minderheit sind, Teilnahme an den Konferenzen der Opposition zwecks Klärung der Gegensätze zwischen Linksradikalen und Parteizentrum zur Förderung des Spaltungsbeschlusses: das ist der Weg zur Bildung der linksradikalen Partei. Möge schon die bevorstehende Konferenz der Arbeitsgemeinschaft die Linksradikalen auf diesem Wege zur eigenen Partei, zum Kampfe unter dem eigenen Banner in Einigkeit voranschreiten sehen.
Das Zentrum der Partei und die Kriegsfragen.
Die Aussichten des Imperialismus.[Anmerkungen 31]
Schon in den ersten Diskussionen im Jahre 1911, die die Scheidung zwischen Linksradikalen und Zentrum anbahnten, spielte die Frage von der Zukunft des Imperialismus eine entscheidende Rolle. Wir vertraten die Auffassung, daß er die Politik des Kapitalismus in seiner letzten, dem Sozialismus vorangehenden Epoche sei. Nicht als ob er die Interessen aller Schichten der Bourgeoisie direkt verträte. Er vertritt die Interessen nur der führenden Schichten des Kapitals. Aber diese Schichten (das Finanzkapital, die schwere Industrie) gewinnen in den kapitalistischen Staaten immer mehr an Gewicht, und es ist eine reaktionäre Utopie, ihre Politik in die friedlich-freihändlerischen Geleise zurückführen zu wollen. Die imperialistische Politik bedeute aber nicht nur die Verschärfung des Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt, sondern auch in der Weltpolitik, und sie müsse schließlich zu einem Weltkrieg führen, wenn das Proletariat nicht die Gewalt an sich bringe. So behaupteten die Linksradikalen.
Demgegenüber vertrat Kautsky die Auffassung, daß die internationale Versippung des Kapitals einen wichtigen Friedensfaktor darstelle, der durch die Friedensinteressen gewisser Teile der Bourgeoisie, die unter dem Imperialismus leidet, gestärkt werden. Das Proletariat müsse die bürgerliche Friedensbewegung unterstützen, Abrüstung, Schiedsverträge usw. fordern. Es sei noch zu schwach, um den Kapitalismus abzuschaffen, aber es könne ihm den Frieden aufzwingen. Wir bekämpften diese Auffassungen und suchten zu beweisen (wir nennen nur die Abhandlung in der besonderen Beilage der »Bremer Bürger-Zeitung« zum Chemnitzer Parteitag 1912, die die erste Phase der Diskussion abschloß), daß solange die Bourgeoisie am Ruder bleibt, es – trotz mancher Stillstandsmomente – zu einer immer größeren Verschärfung der internationalen Gegensätze kommt. Wenn Kautsky auf Teilbündnisse zwischen einzelnen kapitalistischen Staaten hinweist als auf den Beweis, daß eine Verständigung möglich sei, so vergißt er, daß es sich nur um eine Konzentration der größten imperialistischen Gegensätze zu desto allgemeinerem Kampfe handle. Kommt es zu Verständigungen über Rüstungen, so handle es sich nur um einen vorübergehenden Waffenstillstand.
Daß der Gang der Ereignisse uns und nicht Kautsky recht gab, brauchen wir nicht erst zu beweisen. Irgendwelche bürgerliche Friedensbewegung, die sich dem Kriege entgegensetzen sollte, war nicht vorhanden, die imperialistischen Koalitionen erwiesen sich als Mittel der Verallgemeinerung des Krieges. Wir waren nur insoweit im Unrecht, als wir, die angeblichen Überschätzer der Macht des Imperialismus, seine Kraft noch unterschätzten: denn selbst das Proletariat erwies sich als aktive Friedenskraft ohne jede Bedeutung. Als sich Kautsky von den ersten Kriegsschlägen erholt, die erste wichtigste Arbeit erledigt hatte (nämlich zu beweisen, daß die Politik des 4. August wohl mit dem Internationalismus zu vereinigen sei, wenn sie nur aus guten, internationalen Rücksichten getrieben wird), begann er von neuem sein sozialpazifistisches Lied zu singen. Die europäische Bourgeoisie wird kein Geld haben, um nach dem Kriege imperialistische Politik zu treiben, der Gegensatz zu den Vereinigten Staaten Amerikas wird sie zusammenführen, große Kreise des Bürgertums werden gegen den Imperialismus aufstehen usw. Also: Proletarier aller Länder, vereinigt euch, um die Bourgeoisie zur Verständigung zu bringen, brecht der kapitalistischen Rose die Dornen ab, aber laßt sie weiter blühen.
Wir antworteten auf diese Ausführungen Kautskys in unserer Artikelserie »Staat, Nation, Imperialismus«, daß die Verarmung Europas durch den Krieg nur die der Volksmassen (des Proletariats und des Kleinbürgertums) sei, daß sie die Bereicherung der führenden kapitalistischen Schichten bedeute, daß, wenn dem Kapital in den Kolonialländern große Profite winken werden, es weiter Kapital exportieren wird, daß, wenn die Vereinigten Staaten und Japan, dank dem Kriege, die Vorherrschaft bekommen, sie eben die imperialistische Politik treiben werden, daß der Gegensatz zu Amerika nicht allgemein sei, daß es umgekehrt zum Mittelpunkt einer neuen imperialistischen Koalition wird. Kurz und gut: Keine Ära des Friedens, sondern neuer imperialistischer Kriege stände bevor, und nicht die pazifistische Reform des Imperialismus, sondern seine Abschaffung durch eine grundsätzliche Umwälzung müsse das Ziel des Proletariats sein.
Kautsky blieb auf alle diese Argumente die Antwort schuldig. »Kennt ihr die Fabel? Ja? Wenn ja, dann kann ich sie euch noch einmal erzählen« – so leitet ein jovialer Junker in einer alten polnischen Komödie die Rezitation von Fabeln ein, die seine Hörer schon hundertmal gehört haben. So ein Herr Jowialski ist auch der führende Theoretiker des Parteizentrums. »Was sich im Imperialismus durchsetzt, ist ein Streben, das nicht ihn allein kennzeichnet, das Streben nach Extraprofit. Dieses freilich ist untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden,[Anmerkungen 32] es kann nur verschwinden mit diesem, nur durch den Sozialismus überwunden werden. Aber der Imperialismus ist nur eines der Mittel, Extraprofit zu gewinnen, nicht das einzige. Wird dieser Weg dem Kapital gesperrt, sucht er sich andere Wege«, – erzählt Kautsky zum xtenmale in der »Neuen Zeit« vom 16. Februar. Und er weist auf die »Wandlungen« hin, die sich in der imperialistischen Politik der Großmächte anbahnen. Schon indem ein imperialistischer Staat sich mit den anderen verständigt, Bündnisse schließt, hat er »den Weg zu einer erheblichen Modifikation … beschritten«, wiederholt er wie ein Star, denn dem Wesen des Imperialismus nach müßte jeder von ihnen für seinen eigenen Magen Ansprüche stellen.
Wenn sich nun einige imperialistische Staaten verständigen, um einer Koalition anderer, gleiche Zwecke verfolgender Staaten die Beute abzujagen, warum sollen sie sich nicht überhaupt verständigen? »Es ist keinesfalls ausgeschlossen, daß der jetzige Krieg damit endet, daß die Imperialisten der führenden Großmächte beider Lager sich über die Teilung und Ausbeutung der Welt verständigen … Die imperialistische Internationale mag den Weltfrieden bringen, ja unter Umständen sogar sichern, aber um so planmäßiger und riesenhafter wird sich in diesem Falle die Ausbeutung der Welt durch das internationale syndizierte Finanzkapital gestalten.«
Wie der Leser sieht, hält Kautsky an seiner Illusion über die Rolle der imperialistischen Bündnisse fest; er wandert weiter wie ein Blinder in der vom Weltkrieg erschütterten Welt herum, hält Kriegswaffen für Friedensinstrumente und träumt seinen Traum vom Frieden im Kapitalismus, und schläfert die Arbeiter mit diesem Liede ein.[Anmerkungen 33] Aber, aber tun wir Kautsky nicht Unrecht? Sagt er doch, daß ein imperialistischer Weltfriede »nur eine unter vielen anderen Möglichkeiten des Kriegsabschlusses« sei, und daß dieser eine »um so planmäßigere und riesenhaftere Ausbeutung der Welt durch das international syndizierte Finanzkapital« bedeuten würde! Nein, wir tun ihm nicht Unrecht! Diese theoretischen Zugeständnisse, die er hier den Linksradikalen nach sechsjähriger Diskussion im Punkte des imperialistischen Weltfriedens als Vergrößerung der Ausbeutung macht, drücken seiner Politik den Stempel einer durch und durch konterrevolutionären Politik auf.
Würde er wie der brave Spektator[Anmerkungen 34] alle umwälzenden sozialen Möglichkeiten, die die Krise des Imperialismus eröffnet, in absehbarer Zeit für unmöglich halten, so müßte man auch dann die Stärkung des Kapitalismus durch die pazifistische Agitation ablehnen, aber sein Handeln würde seiner Auffassung von dem Charakter der bevorstehenden Epoche entsprechen. Er wäre nur Opfer seines Unverstandes. Aber so ist es nicht. Kautsky ist überzeugt, daß die ökonomischen Verhältnisse für den Sozialismus schon reif sind. (Er hat dies gegen Cunow noch im Jahre 1915 behauptet.) Er hält verschiedene Möglichkeiten der Lösung der Weltkrise, die seit zweieinhalb Jahren das Proletariat vernichtet, für objektiv gegeben: den Beginn der grundsätzlichen Umwälzung als Folge des Krieges ebenso wie eine Festigung des Kapitalismus durch seine internationale Verständigung, eine Verstärkung seiner Ausbeuterkraft. Niemand kann – nach seiner Überzeugung – sagen, welche Möglichkeit wahrscheinlicher ist. Der Ausgang hängt aber auch von der Politik des Proletariats ab, von der Kraft, die es in die Wagschale der Geschichte wirft. Die allgemeine Richtung unserer Propaganda, unserer Agitation, unserer Aktion, ihr Charakter ist nicht nur Resultat der Verhältnisse, sondern auch einer der für die Kraft des Proletariats entscheidenden Faktoren. Und trotzdem tut dieser führende Theoretiker der 2. Internationale, zu dem noch heute Tausende und Tausende als zu dem Meister der revolutionären Politik aufblicken, nichts, um die politischen Kräfte, die er beeinflußt, in die Richtung einer Politik zu lenken, die für eine grundsätzliche Umwälzung arbeitet, sondern er stellt sich praktisch von vornherein auf den Boden der zweiten Lösung, der Verständigung der imperialistischen Staaten, die nach seiner Überzeugung die Ausbeutung der Welt noch planmäßiger, noch rücksichtsloser gestalten wird.
Hier ist der unüberbrückbare Gegensatz zwischen uns Linksradikalen und dem Zentrum. Nicht um theoretische Spintisierereien handelt es sich, sondern um die Grundrichtung unserer Politik. Es kann sich später herausstellen, daß wir das Tempo der Bewegung überschätzt haben. Größere als wir, unsere Altmeister, haben es sogar oft überschätzt. Und trotzdem war ihre aus dieser Überschätzung des Tempos der Entwicklung entstammende Politik richtig. Denn wenn es nur unter vielen eine Möglichkeit gibt, eine soziale Krise zu lösen, so ist es eine Pflicht jedes Sozialdemokraten, seine Politik auf dieses Ziel einzustellen, denn nur dadurch werden die darauf hinarbeitenden Kräfte – inwieweit es von der Sozialdemokratie abhängt – gestärkt. Wohlgemerkt: es handelt sich nur um die Richtung der Propaganda und Agitation und Verschärfung der schon bestehenden Konflikte. So haben es Marx und Engels ihr Leben lang getan. Aber wer die Möglichkeit einer Lösung zugibt und nicht aus allen Kräften, mögen sie klein oder groß sein, für sie eintritt, der mag Bibliotheken über Marxismus zusammengeschrieben haben, mag der beste Marxphilologe, Marxapologet sein, mit der marxistischen Politik hat er nichts zu tun. Wenn er aber dazu, nachdem er die Möglichkeit der Lösung der Weltkrise angenommen hat, für eine kapitalistische eintritt, indem er die Fahne des Pazifismus im Lager des Proletariats aufpflanzt, der gebraucht den Namen des Marxismus nur zur Verdeckung einer ihrem Wesen nach konterrevolutionären Politik.
Und daß die Politik, die Kautsky vertritt, objektiv nichts anderes darstellt, als einen Kampf gegen die aufwachenden Kräfte der Internationale, als eine Irreführung der sozialistischen oppositionellen Arbeiterschaft, das beweisen, wie die Taten des Zentrums, Kautskys Ausführungen über die Mängel der linksradikalen Formel vom imperialistischen Kriege. Darüber im zweiten Artikel.
Vom Charakter des Weltkrieges.
Der Leser des ersten Artikels könnte sagen: nun gut, Kautsky fehlt eine richtige Perspektive, aber was den jetzigen Krieg anbetrifft, so hat er nach 30 Kriegsmonaten schließlich festen Grund unter den Füßen. Er hat doch sogar in seinem Friedensmanifest sich auf Zimmerwald berufen. Und schließlich handelt es sich in der praktischen Politik um das, was man heute tut. Die Ausführungen Kautskys beweisen das gerade Gegenteil. Kautsky negiert die Grundlagen einer gemeinsamen Haltung des Proletariats dem Weltkriege gegenüber.
Kautsky hält uns zuerst einen Vortrag darüber, daß der Imperialismus verschiedener Großmächte dank ihrer verschiedenen ökonomischen und politischen Zustände verschieden sei. England hat eine entwickeltere Textil- aber eine weniger entwickelte Schwerindustrie als Deutschland und die Vereinigten Staaten Amerikas. Es besitzt Freihandel und keinen entwickelten Militarismus, während Deutschland schutzzöllnerisch ist und ein stehendes Heer besitzt usw., was an solchen Unterschieden sich schon jeder ABC-Schütze an den Sohlen abgelaufen hat.
»An allen diesen räumlichen und zeitlichen Verschiedenheiten im Charakter des Imperialismus sowie seiner Kompliziertheit mit den mannigfachsten anderen Problemen – an alledem geht achtlos derjenige vorbei, der meint, die Stellung zu jedem kriegführenden Staate und in jeder einzelnen Phase des heutigen Krieges sei schon mit der Konstatierung gegeben, daß wir im Zeitalter des Imperialismus leben. Das Bedürfnis, die unendliche Fülle der Motive und Tendenzen in den verschiedenen Staaten, bei den verschiedenen Klassen, unter den wechselnden Situationen auf das eine Schema des Imperialismus zu reduzieren, zwingt förmlich zur Blindheit gegenüber den Erscheinungen der Außenwelt, so daß man sie nur noch in jenem Dunkel sieht, in dem alle Kühe grau und alle Kriegsprobleme imperialistisch sind.«
Wir können von Kautsky nicht fordern, daß er alle die Artikel liest, die wir innerhalb der letzten zehn Jahre über die imperialistischen Fragen in der »Leipziger Volkszeitung«, »Bremer Bürger-Zeitung« usw. veröffentlicht haben, in denen wir über die besonderen Tendenzen des Imperialismus in verschiedenen Ländern dauernd berichteten. Aber mindestens die müßte er kennen, die er selbst aus unserer Feder in der » Neuen Zeit« gebracht hat – manche, wie die Marokkokrise in den gespanntesten weltpolitischen Situationen – und die es ihm verbieten müßten, solche Vorwürfe zu erheben. Und so wie wir, hat es van Ravensteyn, einer der besten Kenner der Weltpolitik unserer Richtung getan, dessen letztes Buch: » Wereldoorlog« (Zutphen 1916, Verlag Thieme) – eine Sammlung seiner Artikel aus der Kriegszeit – direkt musterhaft die Unterschiede in der Struktur des Imperialismus der verschiedenen Länder herausarbeitet.
Der Streitpunkt zwischen uns und Kautsky in diesem Punkte ist nicht, ob wir blind den Unterschieden im Charakter des Imperialismus gegenüberstehen und er sie sieht – wie stark seine Sehkraft ist, bewies er am 3. August 1914, als er nicht wußte, worum es sich auf deutscher Seite handelte –, nicht, ob wir an den vorimperialistischen Elementen in diesem imperialistischen Weltkrieg achtlos vorübergingen, sondern in der Frage, ob all die verschiedenen Imperialismen trotz ihrer Verschiedenheit gleich verderbliche Folgen für das internationale Proletariat haben und ob ihnen allen die Internationale mit gleicher Entschiedenheit entgegentreten muß. Kurz, ob der Weltkrieg einen einheitlichen Charakter hat. Kautsky sucht lang und breit zu beweisen, daß verschiedene Teile der Bourgeoisie nicht immer eine reaktionäre Masse bilden. Wir haben im Laufe der letzten Jahre diese seine schönen Ausführungen x-mal gelesen. Aber er wiederholt sie ganz gewiß nicht deswegen, um uns die Freude zu bereiten, alte Bekannte wiederzusehen, sondern um uns den Schluß nahe zu legen: wie wir bei den Unterschieden in der Struktur der Bourgeoisie mit einzelnen ihrer Teile ein Stück Wegs zusammengehen können, so ist es auch mit dem Imperialismus.
Und richtig: Kautsky erklärt, das Zentrum »lehne ebenso jene Verpflichtung (der Linksradikalen. D. V.) zu unbedingter Opposition ab, die aus dem imperialistischen Charakter des Krieges gefolgert wird, wie jene Verpflichtung (der Sozialpatrioten. D. V.) zu unbedingter Unterstützung der Regierung, die aus dem Grundsatz der Landesverteidigung gefolgert wird. Das Zentrum entscheidet im Kriege über jeden besonderen Fall nach seinen besonderen Merkmalen«. Wir wissen, daß Kautsky, der am 3. August 1914 über die besonderen deutschen »Merkmale« im unklaren war, später sich durch die französischen Merkmale zur Anerkennung der besonderen Lage der französischen Sozialpatrioten bestimmen ließ. (Siehe seine Erklärung im »Vorwärts« vom 1. Januar 1916.) Hier ist der Unterschied zwischen Kautskys und unserer Position.
Unsere Blindheit demonstriert Kautsky an einem Zitat aus dem » Volksrecht« (vom 5. August 1916), das lautet: »Die Kleinstaaten, die Kolonien besitzen, sind imperialistische Staaten, und die belgischen Proletarier, die ihr Blut für die Unabhängigkeit Belgiens verspritzen, verspritzen es, wenn auch ungewollt, nicht minder dafür, daß die belgischen Bourgeois es den Kongonegern abzapfen können.« Entsetzt fragt Kautsky: »sind der Besitz dieser Kolonie und die Unabhängigkeit Belgiens unzertrennlich miteinander verbunden, so daß man für das eine nicht kämpfen kann, ohne für das andere zu kämpfen?« Gewiß sind die beiden Dinge nicht unzertrennlich. Aber helfen die belgischen Proletarier der Entente zum Siege, und anders können sie für die »Unabhängigkeit« ihres Landes nicht kämpfen, so haben sie auch für die Unzertrennlichkeit des Kongos von Belgien gekämpft. Und wenn Kautsky fragt, ob Belgien wegen des Kongos in den Krieg geraten ist, so würden wir ihm sehr die Arbeit des Historikers Rathgen (in den Preußischen Jahrbüchern) über die Kongofrage und den Weltkrieg empfehlen. Man mag in noch so vielen Punkten mit Rathgen differieren, daß die Angst um den Kongo für den Fall eines deutschen Sieges die belgische Regierung sehr stark auf die Ententeseite gedrängt hat, kann keinem Zweifel unterliegen. Das haben auch die belgischen Genossen bei dem Erwerb des Kongos befürchtet. Sie hatten eben zur kapitalistischen belgischen Regierung nicht das Vertrauen des Genossen Kautsky; sie glaubten, daß die Aussicht auf Verlust einer Kolonie, die allein in Catanga Milliarden an Werten birgt, auf die Haltung der Regierung nicht ohne Einwirkung bleiben würde.
Noch gekünstelter scheint Kautsky unsere Behauptung, daß durch die allgemeinen kapitalistischen Zusammenhänge auch die Bourgeoisie der Kleinstaaten, die keine Kolonien besitzen oder sogar keine besitzen können, Nutznießer des Imperialismus ist. Daß sie einerseits durch Investierung ihres Kapitals in den imperialistischen Unternehmungen der Großmächte ein Interesse an dem Siege eines oder des anderen Lagers haben können, daß andererseits die Anlage des fremden Kapitals in den Kleinstaaten die Haltung der Bourgeoisie des Kleinstaates oft im Sinne des Geldverleihers beeinflußt. Dies alles sei eine »verzweifelte Konstruktion«. Und Kautsky stellt uns dann zerschmetternde Fragen. Wenn dem so ist, so müßte doch z. B. deutsches in Rußland investiertes Kapital ein Interesse an Rußlands, französisches in der Türkei investiertes ein Interesse am Siege der Türkei haben? Das sind Spiegelfechtereien. Das deutsche Kapital kann desto besser Rußland und das französische desto besser die Türkei ausbeuten, je größer die Macht Deutschlands oder Frankreichs ist, denn die Unterstützung der Regierung verschafft ihm bessere Bedingungen der Ausbeutung Rußlands, resp. der Türkei.
Diese kann dem Übersee exportierenden Kapital des Kleinstaates seine Regierung nicht geben, es lehnt sich an die Großstaaten an. Ohne die Macht des deutschen Imperialismus käme z. B. das Schweizer Kapital gar nicht dazu, sich an der Bagdadbahn zu beteiligen, weil sie ohne den Druck Deutschlands nicht gebaut worden wäre. Ob es den Schweizer Teilnehmern an dem Bau der Bagdadbahn nicht gleich wäre, wenn sie von Engländern geleitet wäre – fragt Kautsky. Nein, werter Genosse Kautsky, denn die Schweizer Kapitalisten kennen die Bagdadbahnfrage besser als Sie: wenn England in diesem Kriege entscheidend siegt, wird es den größten Teil der Bagdadbahn nicht bauen, weil dies seinen Interessen widerspricht. Das würde aber die Profitaussichten sehr mindern, denn die Bagdadbahn würde zu einer kleinen Provinzbahn herabsinken. In gleicher Weise kann man die anderen zerschmetternden Fragen Kautskys beantworten. Aber dies ist nicht nötig. Denn würden die Kapitalisten der Kleinstaaten so unbeteiligt an der imperialistischen Politik wie der Genosse Kautsky sein, würde in der kapitalistischen Welt das Wunder bestehen, daß in ihrer Mitte ganze Staaten mit höchstentwickeltem Kapitalismus als von seinen modernen, gewaltigen Tendenzen unberührte Oasen, existieren, das alles würde nichts an der wichtigsten, durch die Erfahrungen dieses Krieges erhärteten Tatsache ändern: kein Kleinstaat, gleichgültig ob er in den imperialistischen Weltkrieg freiwillig eintritt, ob er als Opfer des Imperialismus in ihn hineingezerrt wird, kann eine selbständige Politik treiben, er kämpft als Teil der imperialistischen Koalition, als sehr wehrloses Werkzeug für die allgemeinen Interessen des Imperialismus. Das entscheidet auch die Frage, ob das Proletariat der Kleinstaaten dieselbe Politik treiben kann, wie das der Großstaaten, oder ob es sich an die »besonderen« Merkmale zu halten hat.
»In dem jetzigen Krieg verfolgen alle kapitalistischen Staaten, selbst wenn man annehmen würde, daß sie gegen ihren Willen in den Krieg hineingezogen wurden, imperialistische Ziele.« Alle kapitalistischen Staaten! Was für ein »Blinder« schrieb das? Gustav Eckstein schrieb diese Worte kurz vor seinem Tode in einem Artikel des Avanti, Gustav Eckstein, von dem Kautsky im Nekrolog schrieb, er habe »die politische Ökonomie gemeistert«, Eckstein, dessen Tod Kautsky als den Verlust der »rechten Hand« beklagte.
Es zeigt sich, daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte wußte und so klar niederschrieb. Das beweist nur, daß jüngere Theoretiker des Zentrums nach langem Schwanken die Blindheit den Tatsachen gegenüber aufgeben mußten, die sich Kautsky als besonderes marxistisches Verdienst anrechnet. Er sieht Bäume, sieht aber den Wald nicht. Sieht Imperialismen, aber den Imperialismus, den imperialistischen Krieg nicht. Deswegen kommt er zu einer besonderen Politik der Arbeiterklasse jedes imperialistischen Landes nach seinen besonderen Merkmalen, zu einer besonderen Politik des Proletariats in den Kleinstaaten. Indem er die Auflösung der Internationale zu ihrem Ideal erhebt, erklärt er mit Stolz, das sei der Standpunkt der ersten und der zweiten Internationale gewesen. »Wir brauchen nur wieder seine allgemeine Anerkennung, brauchen keinen neuen internationalen Standpunkt und keine neue Internationale.«
Aber Genosse Kautsky, da haben Sie ja alles, was Ihnen zum Glück nötig ist, und Sie können mit Scheidemann, Plechanow, Renaudel usw. eine freundliche Unterhaltung über die »besonderen Merkmale« beginnen. Es wird ein Symposion sein, das hoffentlich seinen Plato findet, ein Symposion der Sozialpatrioten aller Länder. Aber eine internationale proletarische Aktion wird und kann es nicht fördern. Der »Blindheit« der Linksradikalen stellt Kautsky seinen eigenen positiven Standpunkt entgegen. Ihn den Lesern zu zeigen ist ein besonderer Genuß. Niemals zeigte sich ein Philosoph in einem zerrisseneren und zerschabteren Mantel, als der Theoretiker des Zentrums.
»Jeder besondere Fall nach seinen besonderen Merkmalen.«
»Getreu seinen Traditionen nimmt das marxistische Zentrum auch im Weltkrieg eine Mittelstellung ein. Es lehnt ebenso jene Verpflichtung zu unbedingter Opposition ab, die aus dem imperialistischen Charakter des Krieges gefolgert wird, wie jene Verpflichtung zu unbedingter Unterstützung der Regierung, die aus dem Grundsatz der Landesverteidigung gefolgert wird. Das »Zentrum« entscheidet im Kriege über jeden besonderen Fall nach seinen besonderen Merkmalen, aber nicht opportunistisch je nach dem Augenblickserfolg, den man dabei erwartet, sondern prinzipiell vom Standpunkt der dauernden Interessen des internationalen Proletariats.« So definiert Karl Kautsky in der »Neuen Zeit« vom 16. Februar die Kriegspolitik des Zentrums. Und um dieser Politik eine höhere Weihe zu verleihen, beruft er sich auf den »Zentrumsmann Marx«, den er sozusagen zum Vorläufer Kautskys ernennt, und er leugnet, daß das Zentrum eine opportunistische Politik treibt, eine Politik des Sumpfes. »Der Sumpf sucht eine Mittelstellung nur, solange die Entscheidung nicht gefallen ist. Ist sie getroffen, dann hält er sich stets zur augenblicklich stärkeren Seite. Er verträgt es nicht, in Minorität zu sein.« Nicht so Marx, der oft in Minorität verblieb, wenn es nötig war, an seinen von der Mehrheit abgelehnten Auffassungen festzuhalten. So treibt es auch das Zentrum. Immerdar und allewege!
Die Berufung auf die Marxsche Politik ist jetzt schon so diskreditiert, seitdem die Scheidemanns und Legiens sich zu Vollstreckern seines Testaments aufwerfen, daß man Kautskys Erbansprüche auf sich beruhen lassen könnte: denn schließlich ist es für Marx kein größerer Schimpf als Zentrumsmann, wie als Sozialpatriot dargestellt zu werden, und die Arbeiter müssen lernen, mit ihrem eigenen Kopfe und nicht mit einem fremden, und sei es auch das Löwenhaupt Marxens, die verzwickten Fragen zu beantworten, die die Gegenwart an sie stellt. Aber wie die Marxsche Methode überhaupt den wichtigsten Orientierungsfaden im Labyrinth der imperialistischen Erscheinungen bildet, so erlaubt auch die Prüfung seiner Stellungnahme zu den Kriegen des Zeitalters von 1848–71, den prinzipienlosen, opportunistischen Charakter der Zentrumspolitik zu entlarven. Kautskys Berufung auf Marx ist ein ebensolcher Humbug, wie die der Scheidemanns und Legiens.
Welchen Standpunkt nahm Karl Marx den Kriegsfragen gegenüber ein? Kautsky behauptet, er habe ihn bestimmen lassen zunächst durch die Frage des Kriegsbeginns – auf welcher Seite der Angriff und auf welcher die Abwehr liege –, aber dadurch ließ er sich nicht für den ganzen Verlauf des Krieges binden: dann kam die Frage des Kriegsausganges in Betracht; je nach seinen Resultaten für das internationale Proletariat stellte er sich auf diese oder jene Seite. Wir müssen bekennen: Eine ähnliche Vulgarisierung des Standpunktes von Marx würde uns bei Ledebour, der sein Leben lang ein braver Demokrat von 1848 war und nicht mehr, nicht weiter wundern, aber bei Kautsky geht sie doch über die Hutschnur.
Wir werden demnächst Gelegenheit haben, an den zwei Bänden der Marxschriften, die unlängst vom Genossen Rjasanoff herausgegeben worden sind und die Abhandlungen von Marx und Engels über den Krimkrieg zum größten Teil enthalten, die Haltung von Marx an einem konkreten Falle zu analysieren. Hier kann es sich nur um die allgemeine Charakterisierung handeln, die auch vor dem Erscheinen der neuen Marxschriften für uns feststand, die aber kein zum Zwecke der Polemik gegen Kautsky konstruiertes Bild ist.[Anmerkungen 35]
Marx' Haltung war durchaus einheitlich und grundsätzlich. Er ging aus vom Gesamtcharakter der Epoche der Jahre 1848–1871. Auf ihrer Tagesordnung stand die Überwindung der staatlichen Zerklüftung Mittel- und Südeuropas. Die Bildung eines einigen Deutschlands, Polens, Italiens, einer Föderation der Balkanstaaten war in den Augen von Marx und Engels ein mächtiger Schritt auf dem Wege der kapitalistischen Entwicklung, von der er hoffte, daß sie bald zur sozialen Revolution führen würde. Wann und wo ein Staat diese Entwicklung hemmte, war er der Feind des internationalen Proletariats und ein Krieg gegen ihn ein Instrument vorerst der kapitalistischen Entwicklung, dann aber der sozialen Revolution. Da fragte Marx nicht nach Angriff oder Verteidigung, sondern weil er das Ziel wollte, so predigte er den Angriff. Rußland bedrohte 1848 die Entwicklung zum einigen Deutschland: Marx predigte den Angriffskrieg gegen Rußland. Österreich verteidigte 1848 die Zerstückelung Italiens: Marx und Engels waren gegen Österreich. Die Orientpolitik des Zaren bedrohte die ganze demokratische Entwicklung Europas: Marx predigte zur Zeit des Orientkrieges 1854 den Krieg der Westmächte gegen Rußland. Napoleon der Dritte stellte sich der Einigung Deutschlands in den Weg: Marx und Engels erklärten im Jahre 1871 das historische Recht auf Deutschlands Seite. Als Deutschland zur Annexion Elsaß-Lothringens überging, sahen Marx und Engels die Gefahr der späteren Stärkung des Zarismus darin enthalten, und sie wandten sich gegen die Politik Deutschlands.
Die Politik von Marx und Engels war also grundsätzlich orientiert durch ihr Urteil von der Bedeutung des Entstehens starker zentralisierter Staaten in Mittel- und Südeuropa und über die Gefahren, die dieser Entwicklung, als Grundlage des Kampfes um den Sozialismus, sei es seitens Rußlands (dauernd), sei es seitens des napoleonischen Frankreichs (vorübergehend) drohten. Marx und Engels konnten irren und irrten in Teilfragen (so in der Überschätzung der Triebkräfte der polnischen Frage, in der Unterschätzung der Entwicklungsfähigkeit der österreichischen Slawen); aber ihre Politik entsprach vollkommen der allgemeinen, von ihnen scharf erkannten Tendenz der Entwicklung; sie war methodisch einheitlich, stellte als internationale Bedingungen der sozialistischen Politik scharf umrissene »Merkmale«. Sie war keine »Mittelstellung«, sondern eine radikale Stellungnahme und wandte sich rücksichtslos gegen die Politik Proudhons und seiner Anhänger, die erklärten, diese Fragen seien dem Proletariat gleichgültig, es solle auf die friedliche Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft durch die proudhonistischen Heilmittel warten. Sie war eine revolutionäre Politik, weil Marx in ihr nicht nur die Schaffung der Vorbedingungen der sozialen Revolution sah, weil er nicht nur keinen Augenblick auf die Selbständigkeit des Proletariats verzichtete, sondern dem Proletariat das Ziel setzte, in den großen Erschütterungen, die er von dieser Ära der Kriege erwartete, nach der Macht zu streben. Kautsky sollte die großen Schatten der Marxschen Politik ruhen lassen. Denn, wie das an die Spitze dieses Artikels gestellte Zitat zeigt, hält er es für den Vorzug der Zentrumsopposition, eben darauf zu verzichten, aus dem allgemeinen Charakter der Ära der imperialistischen Kriege eine allgemeine Politik des internationalen Proletariats abzuleiten. Marx faßte die theoretischen Aufgaben der Ära der sogenannten nationalen Kriege scharf ins Auge: die Bildung der Großstaaten in Mittel- und Südeuropa, die Demokratie. Was ist der Charakter der jetzigen Epoche, was sind ihre Aufgaben? Wir Linksradikalen antworten: das Bürgertum stellt sich die Bildung der imperialistischen Großstaaten, der Weltstaaten als Aufgabe, aber dieselben Tendenzen, die die Grundlage dieses bürgerlichen Strebens bilden, machen die Erringung des Sozialismus in allen kapitalistisch entwickelten Ländern zur historischen Möglichkeit und somit zur historischen Aufgabe des Proletariats. Welche Aufgaben liest Kautsky von der Stirn der gewaltigen historischen Kämpfe ab?
Im Jahre 1911 faselte er von der Bildung der Vereinigten Staaten von Europa als eines noch zwar kapitalistischen aber friedlichen Gebildes und sah in der proletarischen Revolution den Weg zu ihnen. Jetzt erkannte er, daß dieses schöne Ziel ein imperialistisches wäre, wenn es möglich sein würde, und er sieht ein, daß es etwas schwierig ist, dem Proletariat zu raten für dieses Ziel Revolutionen zu machen. Nachdem er so vom Baume der linksradikalen Erkenntnis gegessen und die Frucht als bitter befunden hat, begräbt er schweigend die Vereinigten Staaten Europas und bleibt ganz ohne Ziel. Von Fall zu Fall, diese neue Losung, bedeutet nichts anderes, als daß Kautsky der ganzen eisenklirrenden Epoche, in der die Menschheit von Geburtswehen von etwas Neuem, Großen erschüttert wird, keinen allgemeinen Sinn entlocken kann: weder für die Bourgeoisie, noch für das internationale Proletariat. Marx und Engels suchten das Proletariat selbst in der Epoche der sich erst bildenden kapitalistischen Staaten auf die großen revolutionären Aufgaben vorzubereiten. Kautsky erkennt die Reife der jetzigen ökonomischen Verhältnisse für die sozialistische Umwälzung, aber er stellt sie nicht als aktuelle Aufgabe des Proletariats hin. Die Verständigung der kapitalistischen Regierungen: das ist sein und des Zentrums Ziel. Und dieses kurzdärmige und kurzatmige Epigonentum prätendiert auf die Weiterführung des Marxschen Werkes, verleumdet Marx als seinen Vorläufer!
Aber nehmen wir an, daß das gefälschte Bild, das Kautsky von Marxens Politik entwirft, richtig ist, daß nämlich Marxens auswärtige Politik als Ausgangspunkt der internationalen Stellungnahme des Proletariats die Frage: Angriff oder Verteidigung? habe, um sich später nach den internationalen Folgen des Kriegsausganges zu orientieren. Hat Kautsky und das Zentrum nach diesem angeblichen Vorbild gehandelt?
Am 3. August 1914 schlug Kautsky die Stimmenthaltung vor: wo waren Angriff und Verteidigung? Die Stimmenthaltung konnte doch nur bedeuten, daß ihm entweder unbekannt war, wer der Angreifer und wer der Angegriffene sei, oder daß er diesen Merkmalen keine Bedeutung beimaß. Kautsky wirft den Linksradikalen vor, daß sie dieser Frage keine Bedeutung beimessen, daß sie achtlos an ihr vorüber gehen. Das ist nicht wahr. Die Deklaration Karl Liebknechts vom 2. Dezember 1914 spricht in dieser Frage eine klare Sprache, und wir haben zu ihr nicht weniger klar Stellung genommen (siehe Nr. 16 der Arbeiterpolitik vom 7. Oktober 1916). Wer zu ihr als Richtung keine Stellung nahm, das war das Zentrum. Wie es am 3. August damit aussah, wissen wir schon. Die Zentrumsleute wollten überhaupt von einer Sonderdeklaration nichts wissen. Nachher – erklären sie – belehrten sie die diplomatischen Dokumente eines Besseren. Und Gustav Eckstein schreibt in seinem schon zitierten Avanti-Artikel, sie hätten gut verstanden, »warum unsere französischen Genossen (d. h. die französischen Sozialpatrioten D.-V.) in erster Linie ihr Vaterland gegen die feindliche Invasion verteidigen wollten. Selbst die Annahme der Ministerposten durch Guesde und Sembat wurde oft durch die radikalen deutschen Genossen (d. h. das deutsche Zentrum, in dessen Namen Eckstein spricht) gutgeheißen, die bisher Gegner jedes Ministerialismus waren und die jetzt anerkannten, daß die gefährdete Lage Frankreichs selbst solche außerordentliche Maßregel, wie den Eintritt der sozialdemokratischen Führer in das Ministerium, dessen einzige Aufgabe die Verteidigung des Landes sein sollte, entschuldigt.«
So dachten die Zentrumsführer nach dem Zeugnis eines der Ihrigen: Trotzdem schwiegen sie auf der parlamentarischen Tribüne und suchten nur in der Presse in den Artikeln Kautskys und Bernsteins »Verständnis« für die Politik der Renaudels zu erwirken. Und als schließlich die Zentrumsmänner im März 1916 den Mut fanden, von der parlamentarischen Tribüne ihren Standpunkt zu vertreten, da verschwiegen die Tapferen ihre von Eckstein geschulterte Auffassung von Angst und Verteidigung und erklärten ihre Opposition damit, daß Deutschland genug gesiegt habe, daß die Grenzen schon gesichert seien. Das heißt, sie hielten bis März 1916 am Verteidigungscharakter des Krieges auf der Seite Deutschlands fest.
Und wie steht es mit dem zweiten Kriterium, der Bedeutung des Kriegsausganges für das internationale Proletariat? Marx trat im zweiten Teile des Krieges 1871 dafür ein, daß es im Interesse des internationalen Proletariats liege, daß Frankreich siege, weil sonst die Annexion Elsaß-Lothringens Frankreich in die Arme des Zarismus treiben würde, was die gesamte Demokratie gefährden müßte. Welcher Meinung sind jetzt Kautsky und das Zentrum? Wenn ihr Vorwurf, als beachteten die Linksradikalen nicht den Unterschied zwischen den verschiedenen Imperialismen, irgendwelche Bedeutung haben kann, dann nur eine: entweder ist der Imperialismus der Ententestaaten oder der der Zentralmächte nach der Meinung des Zentrums weniger gefährlich, und es gilt den weniger gefährlichen zu unterstützen. Die Renaudels, Hyndmans, Plechanows, Potreßows erklären, der der Ententemächte sei es, die Lensch, Rennert, der der Zentralmächte sei ungefährlicher. Dem entsprechend unterstützen die einen die Entente, die anderen die Zentralmächte.
Die Linksradikalen lehnen den einen wie den anderen Standpunkt ab, sie erklären, daß trotz aller Unterschiede in der Struktur der imperialistischen Staaten nur das Proletariat den historischen Fortschritt darstellt, und sie richten ihre Politik danach ein: Was ist die Meinung des Zentrums? Kautsky deklamiert gegen das Schlagwort von der reaktionären Masse, er fordert, man solle Unterschiede machen, aber wo es zum Pfeifen kommen muß, spitzt er den Mund. Die Zensur ist gewiß nicht das Hindernis zur Änderung seines Standpunktes, denn wenn sie ihm Schweigen gebieten würde, so würde man sich aus der politischen Stellungnahme des Zentrums einen Vers auf diesen Standpunkt machen können. Wenn der Fortschritt auf der Seite einer der Koalitionen liegen würde, dann müßte das Zentrum gegen den Frieden ohne Sieger und Besiegte sein. Aber ein solcher Kriegsausgang ist das A und O des Zentrumsstandpunktes. Das ganze Gerede von den »Unterschieden« ist hohl, es führt zu keinen politischen Folgerungen. Das Zentrum will den Frieden nur, weil der Krieg kein Honig ist. Der bürgerliche Pazifismus, die Kriegsmüdigkeit der Massen, das ist das Zentrum.
Wir sind am Ende unserer Ausführungen. Wir haben gezeigt, daß die ganze Zentrumspolitik keinen einzigen zu Ende durchdachten Gedanken darstellt, daß ihr jede allgemeine Auffassung von der imperialistischen Epoche, jede konkrete Auffassung des Weltkrieges fehlt, daß sie dem internationalen Proletariat weder sagt, was es jetzt tun soll, noch was es in der Zukunft zu tun hat. Sie drückt nur die Tatsache aus, daß, seitdem die Kriegsmüdigkeit in den Volksmassen zu steigen begann und die Gefahr drohte, daß die Linksradikalen zur Macht werden, ein Teil der Sozialpatrioten sich genötigt sah, »oppositionell« zu werden.
Hat Wurm am 4. August 1914 erklärt, man würde nicht bis nach dem Brandenburger Tor gelangen, wenn man die Kredite ablehnt, so hat er später bemerkt, daß umgekehrt die Sache auch brenzlich werden kann. Und wie Wurm, so die Zubeil, Dittmann und andere »grundsätzliche« Zentrumsführer. Die ganze theoretische Begründung ihres Standpunktes muß dieser opportunistischen Rechnungsträgerei entsprechen. Und wie sie aus Angst um den Einfluß auf die Massen oppositionell wurden, so bleiben sie rein passiv, weil die Mehrheit der Arbeiterschaft sich nicht zum Kampfe entschlossen hat. Die widerspruchsvolle »Theorie« Kautskys, das Fehlen jeder umwälzenden Aussicht, spiegelt nur den faktischen Charakter der Zentrumspolitik wieder. Wenn das Zentrum der Opposition vorschlägt, Prinzipienlosigkeit zur vorläufigen Grundlage zu nehmen, so schlägt es ihr vor, vorläufig inaktiv zu bleiben. Daß sich das Proletariat dafür bedanken wird, daran zweifeln wir nicht. Dann wird vielleicht Genosse Kautsky andere »Merkmale« finden und sie mit anderen Zitaten aus Marx belegen.
Die Triebkräfte der russischen Revolution.
Die Soldatenrevolution.
Keine Revolution ist der vorhergegangenen ähnlich. Jede trägt ein anderes Gesicht. Darum fragte man beim Ausbruch jeder Revolution: ist das eine Revolution? Man maß sie mit alten Schablonen, schüttelte verwundert den Kopf über ihre »Unregelmäßigkeiten«. Als am 27. Januar 1905 Hunderttausende Proletarier in Petersburg, von einem Popen geführt, vor das Zarenpalais marschierten, da rümpfte mancher die Nase: Revolution, vom Popen geführt? Auch die Revolution, die am 9. März 1917 in Petersburg ihr Haupt erhoben hat, wird jetzt gemustert und geprüft.
Was bedeuten die Soldaten, die ihre Vorderszene mit großem Tumult erfüllen? Die russische Revolution 1905–1907 scheiterte äußerlich daran, daß es nicht gelungen war, das Heer auf die Seite des aufständischen Volkes herüberzuziehen.
Wie mannigfaltig auch die tieferen Gründe des Zusammenbruchs der Revolution 1905 waren – er war bestimmt in erster Linie durch den Übergang der Bourgeoisie auf die Seite des Zarismus, die Hilfe, die ihm das ausländische Kapital zukommen ließ. Äußerlich wurde die Revolution durch die Bajonette der Bauern in Soldatenuniform niedergerungen. In der Revolution 1917 stürmten die Soldaten der Petersburger Garnison Arsenale, verteilten Waffen unter das Volk, übten den stärksten Druck auf die Duma. Und dem widersetzt sich nicht nur die jüngere Offiziersgeneration nicht, sondern selbst vom Widerstand der Armeeführer, der Generale Brussilow, Rußkij, Ewerth, vernimmt man einstweilen nichts. Legt dies nicht den Gedanken nahe, daß der Anschluß der Soldatenmasse an die Arbeiter mit Zustimmung der Generalität erfolgte, daß also die Revolution eine Militärrevolution sei, eine Reproduzierung der jungtürkischen Revolution des Jahres 1908 auf breiterer Basis?
Aber dem ist nicht so. Vorerst gilt es, die jetzt schon zweifellose Tatsache festzustellen, daß die Revolution mit Arbeiterunruhen, Massenstreiks und Demonstrationen begann. Zuerst schossen die Soldaten vielerorts. Erst später schlossen sie sich in einzelnen Trupps den demonstrierenden Volksmassen an, bis schließlich ein Feuer die ganze Petersburger Garnison ergriff. Auf die Arbeiterrevolution folgte der Soldatenaufstand; aber zwischen ihnen und den sogenannten Militärrevolutionen besteht keine Ähnlichkeit. Die sogenannten Militärrevolutionen, wie sie die Dekabristen bezweckten, wie sie seitdem die Geschichte Spaniens, Portugals, Griechenlands und zuletzt die Türkei sah, waren Staatsstreiche des Offizierskorps, der einzigen organisierten Kraft der wenig entwickelten Länder. Die Soldatenmasse wurde bei ihnen gewöhnlich gar nicht in den Kampf hineingezogen, und geschah dies, so nur als eine passive rohe Kraft, die von den Offizieren kommandiert wurde. In der russischen Revolution des Jahres 1917 treten die Soldatenmassen, nicht die Generäle zuerst auf den Plan. Und was stellen diese Soldatenmassen dar? Es sind Bauern und Arbeiter, die die Geschichte der letzten zwölf Jahre, die Jahre der Revolution und Konterrevolution, die zwei und einhalb Jahre des Krieges erlebt haben, die durch sie bis ins Tiefste aufgewühlt wurden. Die Arbeiter, die schon vor dem Kriege sich von den Schlägen der Konterrevolution zu erholen begannen, die kurz vor dem Kriegsausbruch in Petersburg Barrikaden bauten, die durch die stolypinische Agrarreform proletarisierten Bauern, die Bauern, die der Krieg von Haus und Acker weggerissen hat, das ist die Soldatenrevolution. Der Krieg steckte die Volksmassen zum großen Teile in den Soldatenrock, aber er verstärkte in ihnen nur die revolutionären Tendenzen. Der Gegensatz zwischen Volk und Armee wurde aufgehoben, indem im Kriege das Volk zur Armee wurde. Auch in anderer Hinsicht erleichterte der Krieg den Übergang eines Teiles der Armee auf die Seite der Arbeiterschaft. Die großen Verluste an Offizieren nötigten die Regierung, die akademische Jugend, die Volksschullehrer usw. zum Offiziersdienst heranzuziehen. Diese demokratischen Elemente konnten natürlich keinen Damm bilden gegen die revolutionären Tendenzen im Heere. Daß die Generalität gegen diese Tendenzen war, braucht man nicht groß und breit zu beweisen. Jede revolutionäre Agitation wurde im russischen Heere mit ebenso drakonischen Mitteln unterdrückt, wie in allen anderen. Die Brussilow, Ewerts, hatten gewiß nichts gegen eine Erneuerung der Regierung durch die Liberalen, die zur Stärkung der Kriegführung beitragen konnte. Aber daß eine Revolution kein Weg zur Stärkung der Kriegsführung des Imperialismus ist, das haben die Generäle ganz gewiß verstanden. Wenn sie trotzdem gegen die aufständischen Truppen in Petersburg keine anderen gesandt haben, so weil sie damit rechnen mußten – wie es nach dem Bericht der »Times« General Rußki dem Zaren gesagt hat – daß jedes Regiment, das man nach Petersburg sendet, auf die Seite der Revolution übergehen würde. Die Rolle der Soldaten in der Revolution, die gegen ihren proletarischen, ihren Volkscharakter zu sprechen schien, spricht für die Tiefe und Breite der Revolution. Nicht auf Kommando von oben, sondern dank dem elektrischen Funken, der von der Straße in die Kasernen sprang, trat die Armee in Bewegung. Und das bestimmt auch den Charakter ihres Aufstandes. Mögen auch revolutionär-patriotische Elemente in der Armee von Einfluß sein, die sich der Hoffnung hingeben, an der Spitze der revolutionären Truppen den Sieg über den preußischen Militarismus davontragen zu können, eine proletarisch-bäuerliche Armee steht nicht im 32. Kriegsmonat auf, um den Krieg noch 32 Monate zu führen. Der Anteil der Armee an der Revolution, der dieser einen kriegerischen Charakter zu geben schien, wird die auf den Frieden hinwirkenden Tendenzen der Revolution stärken. Und damit sind wir bei den Trägern der imperialistischen Tendenz angelangt, die die Revolution als Weg zum Sieg gebrauchen wollen, bei der imperialistischen Bourgeoisie, deren Teilnahme an der Revolution das zweite Merkmal bildet, das das Jahr 1917 vom Jahre 1905 unterscheidet.
Die imperialistischen Revolutionäre.
In Pskow lud der Moskauer nationalliberale Kapitalist Gutschkoff und der Konservative Schulzin, Vertreter des Großgrundbesitzes, den Zaren ein, gefälligst die Krone abzusetzen. In der neuen revolutionären Regierung tritt ein Kapitalist dem andern auf die Hühneraugen. Ist das eine Wiederholung der Ereignisse vom Januar bis Dezember 1905, als die Kapitalisten den Arbeitern für die Tage der politischen Massenstreiks die Löhne auszahlten, um dann, als es sich zeigte, daß das Proletariat nach seinem Siege über den Zarismus den Kampf um den Achtstundentag begann, sich in die Arme des Zarismus zu werfen? Oder hat vielleicht die Bourgeoisie die Unvereinbarkeit ihrer Interessen mit denen des Zarismus erkannt und sich entschlossen, eine gründliche Revolution zu machen? Haben die Opportunisten in der russischen Sozialdemokratie nicht recht behalten mit ihrer Behauptung, daß die Revolution nur dann siegen wird, wenn sich die Bourgeoisie an ihre Spitze stellt? Die Tatsachen beantworten diese Frage.
Die Bourgeoisie war sich in den Anfangsmonaten der Revolution von 1902 ihres Gegensatzes zum Proletariat nicht voll bewußt. Sie hoffte, daß es ihr die Kastanien aus dem Feuer holen werde. In den Jahren des Krieges kehrte sie zu der Jugendeselei nicht mehr zurück. Sie vergaß keinen Augenblick den zehnjährigen Kampf mit dem Proletariat und sah sich bei jedem Schritt ängstlich um, ob sie durch ihre Konflikte mit dem Zarismus die Arbeiterschaft nicht in Bewegung setzte.
Nein, die Wonnen, Irrungen und Wirren der jungen Liebe blieben der um zehn Jahre älteren Bourgeoisie völlig versagt. Ist sie also eine Vernunftehe mit der proletarischen Revolution eingegangen? Auf Grund der Rechnung vielleicht, daß sie dem Proletariat zwar Zugeständnisse machen wird, aber dafür die Macht in die Hände bekommt. Auch das ist nicht der Fall. Die Bourgeoisie hat sich in den zehn letzten Jahren mächtig organisiert. Sie hat Kartelle und Aktiengesellschaften, Unternehmerverbände ins Leben gerufen, sich im Kriege in Kriegsindustriekomitees organisiert, sie hat in die Hände des Bundes der Städte, der Provinzialverwaltungen, des Roten Kreuzes nicht nur die Arbeit der Liebestätigkeit, sondern einen großen Teil der Heeresversorgung genommen. Und sie besorgte diese Arbeit nicht als Dienerin der zarischen Kriegspolitik, sondern weil sie im Weltkrieg ein Mittel zur Erfüllung ihrer eigenen Interessen sah.
Hinter der imperialistischen Politik Rußlands stehen keine so breiten Kreise des Bürgertums wie in England und Deutschland, aber es unterliegt keinem Zweifel, daß es breitere Kapitalistenkreise sind, als die, die den Krieg mit Japan unterstützten. Die Eroberung Konstantinopels und Armeniens, die auch Persiens Unabhängigkeit ein Ende bereiten würde, würde nicht nur neue Märkte eröffnen, sondern durch Stärkung der Weltposition Rußlands der kapitalbedürftigen russischen Bourgeoisie günstige Anleihebedingungen verschaffen. Der Sieg über Deutschland würde helfen, einen besseren Handelsvertrag zu erringen, d. h. einen, der eine noch höhere Kartellrente unter dem Schutze der erhöhten Industriezölle gewähren würde. Auf dem Boden der imperialistischen Politik hat sich die Bourgeoisie mit dem Zarismus seit 1907 zusammengefunden, und in den Anforderungen dieser Politik an die Staatsorganisation sah sie auch den Weg, auf dem der Zarismus genötigt werden konnte, ihr Zugeständnisse in der inneren Politik zu machen.
Der Verlauf des Weltkrieges bewies, daß, obwohl der russische Militarismus seit dem Russisch-Japanischen Kriege größere Fortschritte gemacht hat, als man früher annehmen konnte, die Bureaukratie noch ebenso korrupt und zur Erfüllung der ungeheuren Aufgabe der Versorgung der Front, wie der Organisierung des Hinterlandes noch ebenso unfähig ist. Die eigentliche Arbeit leisteten, wie gesagt, die Bourgeoisie und ihre Organisationen. Sie hoffte also, daß dieser Zustand auch einen politischen Ausdruck finden werde. Sie redete auf die Bureaukratie wie auf ein krankes Pferd ein – bekam aber Fußtritte. Sie protestierte – und bekam wieder Fußtritte. Da entschied sie sich endlich, das störrische Tier etwas an die Kandare zu nehmen. Zuerst mit Hilfe der Verbündeten, die einsahen, daß die russische Bourgeoisie die Kriegführung besser organisieren kann, als die zarischen Diebe, und länger als sie im Kampf gegen Deutschland ausharren werde. Der englische Botschafter Buchanan unterstützte demonstrativ die imperialistisch-bürgerliche Opposition; Lord Milner kam, nach einer offenen Erklärung des »Manchester Guardian«, um den Zaren zu Zugeständnissen an sie zu überreden. Als auch das nicht half, suchte die Bourgeoisie mit den liberalen Admiralen und Generälen Verständigung, um durch gemeinsamen Druck auf den Zaren ihn zur Ernennung eines liberalen Ministeriums zu zwingen. Weiter gedachte die Bourgeoisie nicht zu gehen. Eine kleine Drohung mit einem kleinen Putsch, Majestät zur Vernunft gebracht, und der Krieg kann flott weitergeführt werden. Das war der Plan. Man dachte nicht an die Revolution, wollte sie nicht, fürchtete sie. Und man hat sie auch nicht gemacht.
Noch am 10. März suchte die Bourgeoisie mit dem Zaren Frieden zu schließen. Zu ihrem Unglück wollte der Zar kein Kompromiß. Dazu kam noch ein neuer Faktor, der der Bourgeoisie über den Kopf wuchs: das Proletariat und die Soldaten, die am 8. März auf den Straßen Kämpfe mit dem Zarismus ausfochten. Und sie stellten die Bourgeoisie vor eine vollkommen neue Situation. In Petersburg stand ein bewaffnetes Volk da, der Zar war geflohen, d. h. er hat der Bourgeoisie den Krieg erklärt. Sollte sie nunmehr auch auf die Hilfe des Volkes verzichten? Das wäre Selbstmord. Das Bürgertum ging zu einer kleinen Familienauseinandersetzung mit dem Zaren und geriet in die Revolution hinein.
Die Revolution hat das Proletariat in Bluse und Montur gemacht. »Die Revolution scheint begonnen zu haben als Soldatenaufstand, gestützt durch die Arbeiterschaft, aber die Duma nahm schnell und fest die Macht in ihre Hände«, schrieb die »Times« am 16. März. Dieses Urteil des großen englischen konservativen Blattes, geschrieben unter dem ersten frischen Eindruck der Ereignisse, trifft den Nagel auf den Kopf und straft die »Times« Lügen, wenn sie jetzt die russische Arbeiterschaft bezichtigt, nicht sie habe die Gewalt erobert, sie solle also kuschen und der Bourgeoisie helfen zu siegen. Die arme »Times« hatte sich geirrt, als sie am 16. März die Hoffnung aussprach, daß die gefährlichsten Tage vorüber seien, d. h. daß die Revolution vorüber sei. Sie ist erst im Anfange, und die Arbeiterklasse wird in ihr die entscheidende Rolle spielen. Darum gilt es, zu sehen, was sie bisher getan hat. Daraus werden sich die Grundlinien ihrer Politik auch in Zukunft ergeben.
Die Rolle der Arbeiterklasse.
Die treibende Kraft dieser Revolution, wie der des Jahres 1905, bildet die Arbeiterklasse. Die Gärung im Kleinbürgertum, das Streben der Bourgeoisie nach Macht, bildeten nur die günstigen Bedingungen, unter denen das revolutionäre Drängen des Proletariats sich so schnell in Revolution umwandeln und vorerst dem Zarismus einen betäubenden Schlag versetzen konnte. Ohne Unterstützung des Kleinbürgertums in Land und Stadt wird das Proletariat die Revolution nicht siegreich durchführen können, und sollte es über die Bourgeoisie siegen, so wird es sich in einem agrarischen Lande wie Rußland ohne Hilfe der Bauern eine längere Zeit nicht behaupten können. Wir unterstreichen diese Momente einstweilen nicht, zwecks Aufstellung einer Perspektive der Entwicklung – das wird die Aufgabe weiterer Artikel sein – sondern um zu zeigen, daß unsere Auffassung von der Rolle des Proletariats nicht der Überschätzung seiner Kraft entspringt. Wir sehen ihre Grenzen, aber das schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß die Bourgeoisie 1917 ebensowenig wie 1905 die treibende Kraft der Revolution war, daß es vielmehr, damals wie heute, die Arbeiterklasse ist.
Die Revolution begann 1905 mit dem »Bittgang« des Proletariats zum Zaren am 22. Januar, und ihr Siegeslauf wurde beendet mit ihrer Niederlage im Moskauer Aufstand im Dezember 1905. Im Jahre 1906 suchte sie die eroberten Positionen in den blutenden Händen zu halten, aber die Stockprügel auf den Magen, die ihr das Kapital versetzte, die Füsiladen des Zarismus warfen sie zu Boden. Noch einmal richtete sich die Arbeiterschaft Petersburgs auf, als die sozialdemokratischen Abgeordneten der zweiten Duma vor das zarische Gericht geschleppt wurden. Die Proletarier Petersburgs feuerten die letzten Patronen ab, um ihren Vertrauensmännern auf dem schweren Weg zuzurufen: Wir sind da! Dann aber senkte sich die Finsternis der Konterrevolution über das Proletariat, und nur aus den Gefängnissen kam Kunde von den Kämpfern, die aus seinen Reihen gerissen waren.
Wenn auch ein Teil der Sozialdemokratie, die Liquidatoren, kapitulierte, teils die Reihen der Partei verließ, teils annahm, die einzige Arbeit, die vor den Sozialdemokraten stehe, sei, allerhand legale Organisationen zu bilden, die allmählich der Arbeiterschaft erlauben würden, sich Positionen zu erringen in dem Rußland, das den Weg der bürgerlichen Revolution schon endgültig verlassen und den Weg langsamer bürgerlicher Entwicklung betreten hat, – so hielten die Radikalen der Partei, die Bolschewiks, ihre revolutionären Ziele aufrecht. Solange der Zarismus und die Bourgeoisie die Bauern nicht befriedigt haben, gilt es an dem Ziel der gewaltsamen Niederringung des Zarismus festzuhalten, den Kampf der Partei auf dieses Ziel, nicht auf Reformen einzustellen, alle legalen Positionen nur für diesen Zweck zu gebrauchen. Zwischen diesen zwei Standpunkten, den der Liquidatoren, die die Revolution als beendet, die Reform als nächste Aufgabe betrachteten, und dem der Bolschewiks gab es eine mittlere, hauptsächlich von Trotzky repräsentierte Richtung, die zwar auf die Revolution nicht verzichtete, aber den Weg zu ihr im Kampfe um Teilreformen sah. Als im Jahre 1912 dank der Besserung der wirtschaftlichen Konjunktur die in den Jahren 1906/07 niedergeworfene Arbeiterbewegung wieder ihr Haupt zu erheben begann, als sie nach den Lenametzeleien stürmischen Charakter annahm, entschied der wirkliche Gang der Ereignisse über den Streit in der Partei. Die Mehrheit des Proletariats, die wirklich zu kämpfen anfing, stellte sich nicht die Reformierung des Zarismus, sondern seine Niederringung als Ziel. Sie wollte nicht einmal als Ausgangspunkt den Kampf um Reformen nehmen, sondern rückte dem Zarismus auf den Leib. Im Juli 1914, im letzten Monat vor dem Kriegsausbruch, konnte Poincaré in Petersburg Barrikaden, demonstrierende Massen sehen. Vielleicht wäre das Resultat dieser Kämpfe nur die Eroberung von Reformen, nicht der Sieg über den Zarismus gewesen, wenn der Krieg nicht alle Gegensätze so ungeheuer verschärft hätte. Aber auch dann würde die Geschichte alle die, die im Kampfe um die Reformen den Weg zur Revolution sehen, lehren, daß sie noch eine andere Dialektik kenne, als die, durch den Kampf um Reformen zur Revolution zu gelangen: die Reformen als Resultat des Strebens zur Revolution. Die Geschichte hat den Bolschewiks schon völlig recht gegeben gegenüber den Liquidatoren, wie den Vermittlern. Wie recht sie in ihrer Politik der Trennung von den Liquidatoren hatten, zeigte die Umwandlung der Mehrheit der Liquidatoren in Sozialpatrioten.
Der Krieg hat die Arbeiterklasse in ihrem Kampfe vorerst zurückgeworfen. Die antikriegerische Haltung der Bolschewiks, ihre Propaganda des revolutionären Massenkampfes wurde von den Sozialpatrioten des Auslandes als bedeutungslos dargestellt: kleine Gruppen von Ideologen, verbittert gegen den Zarismus, die nichts zu verlieren haben. Selbst als aus Rußland Nachrichten vom Kampfe immer mehr wachsender Teile der Arbeiterschaft, von Munitionsstreiks, Demonstrationen kamen, hielt man sie für symptomatisch, aber real genommen für bedeutungslos. Die Losung der Bolschewiks: Nicht Burgfrieden sondern Bürgerkrieg! erschien manchem zentrümlichen »Realpolitiker« als eine Übertreibung, die das Leben selbst korrigieren werde: es ist genug, wenn die Sozialdemokratie die Hände rein behält, keine Verantwortung übernimmt.
Jetzt steht Rußland im Bürgerkrieg, im buchstäblichsten Sinne des Wortes. Er ist gegen den Willen der Bourgeoisie ausgebrochen; unter dem Druck des Proletariats wurde der Zar abgesetzt und festgenommen, wurden die Schergen der Reaktion arretiert, wurde dem Großfürsten Nikolai Nikolajewicz das Oberkommando genommen. Das Proletariat rief sofort die Arbeiterdelegiertenräte ins Leben, dieses im Jahre 1905 aus den Massen herauswachsende Instrument ihres Kampfes, die direkte Vertretung der Klasse, es bewaffnet sich. Gegen wen? Gegen die noch lebendigen Kräfte des alten Regimes wie gegen das neue Regime der Bourgeoisie. Das neue Regime ist noch nicht gesichert vor einem Streich der Reaktion. Einstweilen ist nur der Zar besiegt, aber die Demokratie noch nicht durchgeführt. Ist es nicht zu früh, wenn schon jetzt die radikale Sozialdemokratie das Volk zum weiteren Kampfe rüstet, wenn sie weiter gehende Forderungen nicht nur auf dem Gebiete der Demokratie – Republik – sondern auf sozialem Gebiete aufstellt: wenn sie den Achtstundentag für die Arbeiter, Grund und Boden für die Bauern fordert? Da sich diese Forderungen nicht nur gegen die früheren, sondern auch gegen die heutigen Machthaber richten, spricht die Ententepresse von der konterrevolutionären Aktion der Bolschewiks und der Arbeiterklasse überhaupt. Aber ein Blick auf die Kräfte der Reaktion und die äußere Lage der Revolution wird zeigen, daß die Revolution umsonst für die Arbeiterklasse und Bauern stattgefunden hätte, wenn sie von der Sozialdemokratie als beendet erklärt würde.
Die Taktik der Arbeiterklasse.
»Da Rußland freudig das neue Regime begrüßt hat, ist es eine augenscheinliche Lächerlichkeit, von der Möglichkeit der Wiederherstellung der Herrschaft der Reaktion zu sprechen; aber die Extremisten (d. h. revolutionäre Sozialdemokraten, K. R.) bestehen darauf, daß es gefährlich ist, wenn die Arbeiter in die Fabriken, die Soldaten zu ihren Pflichten zurückkehren« – telegraphierte am 20. März der Korrespondent der »Times«, dessen Korrespondenzen trotz ihrer Pfiffigkeit noch die besten Einblicke in die gegensätzlichen Strömungen der Revolution gewähren. Und in einer offiziösen Note des Pariser »Temps« vom 27. März heißt es: »Die jetzige Regierung hat wenig zu fürchten von einem reaktionären Rückschlag. Es scheint aber, daß sie von den Sozialisten zu fürchten hat, die sich revolutionär erweisen in der ganzen Bedeutung des Wortes.« Nicht das alte Regime, das Proletariat ist die Gefahr, das ist die Losung, die das Finanzkapital Englands und Frankreichs der russischen Bourgeoisie ausgibt. Und das ist auch ihr Standpunkt. Aber zu schwach, sofort mit dem Proletariat abzurechnen, sucht die russische Bourgeoisie es einzulullen mit dem ersten Teil der konterrevolutionären Losung, mit dem Freudenruf: das alte Regime ist tot! Niemals haben die Kräfte der Reaktion ohne die verzweifeltste Gegenwehr die Waffen gestreckt. Die russischen Junker und Bureaukraten werden es am wenigsten tun: Jahr für Jahr untergräbt die wirtschaftliche Entwicklung und ihre eigene Lotterwirtschaft ihre Grundlagen als halbfeudale Großgrundbesitzer; die Staatsmacht ist ihr letzter Rettungsanker. Für den Troß der bureaukratischen Aussauger und Diebe ist sie die einzige Quelle von Geld und Macht. Wollen sie nicht untergehen, so müssen sie auf Leben und Tod kämpfen. Sie wurden durch die Ereignisse überrumpelt, sind sich noch im unklaren, was sie von einzelnen Truppenteilen zu erwarten haben. Sie wollen abwarten, bis die durch das Anwachsen der proletarischen Bewegung erschrockenen Bourgeois sich ihnen in die Arme werfen.
Kann sich das Proletariat dagegen durch »Mäßigung« wehren? Nun, verzichtet es auf den Kampf um Brot, Freiheit und Frieden, dann werden ihm die jetzigen Bourgeois Lobreden spenden, sie werden sich gegen die Nikolajew halten können, aber die Arbeiter werden weiter bluten für den Imperialismus und werden am Schlusse mit leeren Händen ausgehen. Es gibt nur einen Weg der Sicherung gegen das alte Regime. Es ist die Verschanzung und Verbarrikadierung der Revolution: politisch und sozial. Die soziale Revolution besteht darin, daß das Proletariat sich sofort bewaffnet, sofort die Wahlen zu den Kommunen der Städte erzwingt, den Verwaltungsapparat in die Hände nimmt, die Obdachlosen in die Wohnungen der Reichen bringt und gegen die Kriegswucherer drakonisch vorgeht. Die städtischen Verwaltungen müssen sofort die Bildung von Bauerngemeindeverwaltungen anregen, die Bauern anspornen, sich in den Besitz des Grund und Bodens der Großgrundbesitzer zu setzen, ihnen Hilfskräfte zur Bebauung des Landes zur Verfügung stellen. Es wird Sache der großen Kommissionen und der Arbeiterdelegiertenräte sein, laut die Forderung zu erheben, daß Fabriken Ackergeräte liefern, daß Bauernsoldaten nach der Heimat beurlaubt werden zur Bestellung ihres Ackers. Das letzte ist unmöglich ohne Einstellung jeder offensiven Bewegung, die dem russischen Imperialismus Persien, Armenien, die Dardanellen sichern sollen ohne defensives Verhalten an der deutschen Front.
Und das führt zu den politischen Forderungen: sofortiger Waffenstillstand, Friedensverhandlungen, Achtstundentag, Wahlen zur Konstituante auf Grund der allgemeinen, gleichen Wahlen für Mann und Frau, die Romanows vor Gericht. Kann man sich stärkere Rufe vorstellen? Und wie der Kampf für alle diese Ziele aufrüttelnd auf das Proletariat wirken wird, so wird er die Arbeiter- wie Bauernmasse Rußlands so sehr mit den Geschicken der Revolution verketten, daß die Reaktion weder auf die Unaufgeklärtheit der Bauern, noch auf die Müdigkeit der Arbeiter rechnen können wird.
Ist das nicht ein »Plan« revolutionärer Alchimisten, die in ihrer Studierstube Rezepte aushecken? Wer aufmerksam das Wirrwarr der Telegramme liest, die die große Presse aus Petersburg bringt, der wird bemerkt haben, daß wir nur systematisiert haben, was die radikale Arbeiterschaft schon an Ort und Stelle unter dem Drang der Notwendigkeit durchführt. Selbst von der Forderung der Soldaten, daß ältere Jahrgänge zur Bestellung der Äcker entlassen werden, berichtete die »Times« vom 24. März.
Es kann nicht anders sein. Das Proletariat muß suchen, den Sieg in seinem Interesse auszunützen. Und diese Ausnützung des eigenen Sieges für die eigenen Interessen des Proletariats, das ist die Anarchie, Fanatismus, Extremismus der »unbekannten Redner« aus dem Arbeiterdelegiertenrate, gegen die der »Temps« wie die »Times« so schimpfen. Antäus, der die Mutter Erde zu berühren sucht, um Kraft zu gewinnen!
Und weil es so ist, wird diese Schanzarbeit des Proletariats früher oder später zum Zusammenstoß mit der »neuen Regierung« der imperialistischen Bourgeoisie führen, wobei sie sich mit den Männern des alten Regimes zusammenfinden wird. Das Proletariat erstrebt momentan den Sturz der neuen Regierung nicht, es will sich nur gegen ihre langen Finger wehren, die ihm alle Früchte des Sieges nehmen wollen. Aber weil es sich der »neuen Regierung« der alten Ausbeutung nicht auf Gnade und Ungnade ausliefern will, wird es nach aller Voraussicht zwischen ihm und ihr zum Kampf auf Leben und Tod kommen.
Sein Ausgang wird von der Wirkung abhängen, die die russische Revolution auslöst.
Der Kampf um den Frieden.
Im Zentrum aller Fragen der Revolution steht die Kriegs- und Friedensfrage. Wenn auch die historischen Wurzeln dieser Revolution viel tiefer liegen – ist sie doch nicht nur ein Resultat des Krieges, sondern des langen Zersetzungsprozesses Rußlands, wie der langen revolutionären Kämpfe – so wurde sie ausgelöst durch den Krieg. Die Bourgeoisie kam in Opposition zum Zarismus, weil sie den Krieg energischer führen zu können glaubte, die Volksmassen erhoben sich, weil sie gegen die schrecklichen Kriegsfolgen kämpfen wollten. Aber nicht nur diese Entstehung der Revolution aus dem Krieg stellt die Kriegsfrage ins Zentrum aller Kriegsprobleme. Der Zarismus ist gestürzt; aber ein neues Gebäude ist noch nicht errichtet. Da entsteht die Frage: wie wird die Weiterführung des Krieges, sein Ausgang auf den inneren Ausbau Rußlands wirken? So konzentrieren sich alle Widersprüche der Revolution, alle ihre Gegensätze auf die Frage: Krieg oder Frieden?
Die imperialistische Bourgeoisie will den Krieg bis zum Siege. Dieses Sieges wegen hat sie zwar gegen den Zarismus frondiert und dazu beigetragen, die Lage zu schaffen, in der der Sieg der Revolution möglich wurde. Und indem sie den Krieg bis zum Ende propagiert, erklärt sie, dem Werke der Demokratisierung Rußlands zu dienen. Nur wenn Rußland seine imperialistischen Ziele verwirklicht hat, in erster Linie, wenn es Konstantinopel besitzt, die freie Durchfahrt durch die Dardanellen, hat es Aussicht auf eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung, ohne die der innere Ausbau unmöglich ist. Nur die Zertrümmerung Österreichs, die Niederlage Deutschlands, der allgemeine Sieg der Entente, wird ein demokratisches Europa entstehen lassen, in dem Rußland vor den konterrevolutionären Eingriffen Deutschlands geschützt sein wird. Und darum ist jeder ein Verräter an der Revolution, der nicht für den imperialistischen Krieg der Herren Gutschkow und Miljukow eintritt. Die russischen Arbeiter werden diesem Rattenfängerlied nicht folgen. Vorerst kennen sie die Herren Miljukow und Gutschkow, d. h. die großen Kapitalisten, liberalen Junker und Professoren zu gut. Die Revolution von 1917 weiß von keinen Flitterwochen. Alle ihre Akteure kamen in der Zeit 1907–1916 in so nahe Berührung, daß sie für einander keine Überraschungen mehr bergen. Die liberalen Bourgeois vom Zeichen Miljukows klagten zwar in dieser Zeit den Zarismus an, aber sie waren immer bereit, mit ihm gegen die Demokratie zu konspirieren; sie kämpften nicht um die Niederwerfung des Zarismus, sondern um seine Zustutzung, Modernisierung. Und noch am 14. März, nach dem Siege der Revolution, erklärte sich Miljukow für die konstitutionelle Demokratie, gegen die Republik. Wenn schließlich das Zentralkomitee seiner Partei, der Kadetten, sich für die Republik erklärte, so geschah das unter dem wachsenden Druck der Massen und kann deshalb bei ihnen kein Vertrauen erwecken. Mit Herrn Gutschkow und seiner Partei, den Oktobristen, liegen die Dinge noch klarer. Es gibt keine Schandtat des Zarismus nach 1905, an der diese Partei der Großkapitalisten, der geschworenen Feinde des Proletariats, nicht mitschuldig wäre. Und das sollen die Verteidiger der Demokratie sein, sie sollen einen Krieg führen, der die Sicherung der Republik in Rußland zum Ziel haben sollte? Nur durch den Kampf gegen sie, den Kampf bis aufs Messer, den Kampf mit dem Ziele ihres Sturzes, kann man die Demokratie in Rußland sichern. Dieser Kampf gilt auch ihren Kriegszielen. Sie bilden nicht nur keine Vorbedingung einer gedeihlichen wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands, sondern umgekehrt; verwirklicht, werden sie Rußland die größten Lasten auferlegen. Konstantinopel und die Durchfahrt durch die Dardanellen sind für die friedliche Entwicklung Rußlands wertlos. Wenn Rußland mit der Türkei im Frieden lebt, kann es seine kornbeladenen Schiffe so oft in die Welt hinaussenden, wie es ihm gefällt. Die Dardanellen sind Rußland nur dann nötig, wenn es an die weitere Raubpolitik des Imperialismus denkt, wenn es im Mittelmeer auf Abenteuer ausgehen will. Das bedeutet aber neue ungeheure Rüstungen, neues Schürzen von Knoten, zu deren Durchhauen dann wieder Millionen russischer Bauern und Arbeiter ihr Leben hergeben müßten.
Das Kriegsziel der Kadetten wie das der Oktobristen erfordert den Krieg bis zum Weißbluten Europas, den Krieg, der die Kriegslasten zu einem zermalmenden Berge anwachsen ließe. Und sollte dieses Ziel erreicht werden, so müssen die russischen Bauern und Arbeiter sich auf neue Kriege vorbereiten. Es ist klar: die Interessen der russischen Revolution erfordern den Kampf auf Leben und Tod gegen die Kadetten und Oktobristen, gegen die provisorische Regierung, die ihre Ziele verfolgt. Es verrät die Revolution – mögen seine subjektiven Absichten noch so gute sein – wer, wie der kleinbürgerliche Demokrat Kerenski, in dieser Regierung sitzt.
Ja, wir müssen gegen die imperialistischen Kriegsziele kämpfen, aber wir können trotzdem die Waffen nicht niederlegen, ehe der preußische Militarismus, ehe die Hohenzollern nicht besiegt sind. Kommen sie aus diesem Kriege heil heraus, so wird es keinen Platz für die russische Republik geben. Wir müssen die junge russische Freiheit solange mit Bajonetten verteidigen, bis die ihr von außen drohende Gefahr durch den Sieg der Entente überwunden wird. So erklären nicht nur die offenen Sozialpatrioten, die Plechanow im Ausland, die Potressow, Tschenkeli in Rußland, sondern auch die Zentrumsmänner wie der Abgeordnete Tscheidse, Skobelew und seine Anhänger, die formell die Zimmerwalder Beschlüsse anerkennen. Auf diesem Standpunkt steht die Mehrheit des Petersburger Arbeiter- und Soldatendelegiertenrates, die Vertretung der Volksmassen Petersburgs. Triumphierend berichtet die Ententepresse: mit Ausnahme der »Extremisten«, der Bolschewiks, die gekaufte Agenten Deutschlands oder fanatische Narren sind, sind alle Sozialisten Rußlands für die Weiterführung des Krieges, den sie als einen Verteidigungskrieg darstellen. Und würden die Sozialpatrioten wie Zentrumsleute Aussicht haben, das Übergewicht, das sie einstweilen in dem Arbeiterdelegiertenrate besitzen, zu behalten, die Entente hätte allen Grund, sie an ihren Busen zu drücken: denn die Herrn Sozialpatrioten, wie die Zentrumsleute dienen durch ihre Arbeit nicht nur den Zielen der Entente, ihres Imperialismus, sondern sie arbeiten den Miljukows und Gutschkows, also den Gegnern des Sieges der Revolution, den Gegnern der Republik in die Hand.
Die Herren Sozialpatrioten und Zentrumsleute erklären: ja, wir sind gegen die imperialistischen Kriegsziele, ja, wir sind dagegen, daß um die Eroberung der Dardanellen und Konstantinopels das Blut der russischen Bauern und Proletarier fließe. Wir wollen nur die russische Republik vor den preußischen Bajonetten verteidigen. Das ist sehr schön. Aber wenn die imperialistische Bourgeoisie am Ruder bleibt, wenn die Gutschkows und Miljukows die Regierung in der Hand behalten, dann gelten doch nicht die Wünsche der Sozialpatrioten und Zentrumsleute, sondern die Kriegsziele des russischen Imperialismus und der Entente. Sollte die Entente mit Hilfe der russischen Sozialpatrioten und Zentrumsleute siegen, so wird es der Sieg des Imperialismus sein und nicht der Friede ohne Annexionen und Kontributionen, den der Arbeiterdelegiertenrat als sein Ziel proklamiert. Würden die russischen Arbeiter und Bauern die provisorische Regierung der imperialistischen Bourgeoisie stürzen, alle imperialistischen Bündnisse und Verpflichtungen, die der Zarismus eingegangen ist und die provisorische Regierung anerkannt hat, aufheben, dann könnten sie sagen: wir haben die Republik gesichert, die keine Eroberung will, dann könnten sie sagen, wer gegen uns ist, der führt einen Eroberungskrieg, dann könnten sie an das Proletariat aller Länder appellieren, es aufrufen zum Friedensschluß aller Völker. Dann würde die russische Revolution sagen können: Friede der Völker gegen den Imperialismus, oder das Jahr 1793 des russischen Proletariats und Bauerntums, der Kampf der russischen Revolution gegen alle reaktionären Kräfte der Welt. Wir werden noch sehen, ob die Vorbedingungen für einen solchen revolutionären Krieg gegeben sind; – jetzt wollen wir nur feststellen, daß es direkt lächerlich ist, wenn die Tscheidses und Skobelews sich in die Pose der Dantons werfen. Einstweilen helfen sie den Gegnern der russischen Republik, nicht nur den Girondisten, sondern sogar den Feuillants der russischen Revolution, nicht nur den Kadetten, sondern den Oktobristen. Denn was bedeutet praktisch die Losung: wir führen den Verteidigungskrieg weiter? Sie bedeutet nicht nur, daß die russischen Soldaten einstweilen weiter ihr Blut für die imperialistischen Ziele verspritzen, sie bedeutet den Burgfrieden im Innern.
Der Arbeiter, und Delegiertenrat kann Tag für Tag mit der provisorischen Regierung hadern, wie es die Blätter berichten. Aber er darf nicht den Arbeitern sagen: führt, wie ihr im Dezember 1905 getan habt, den Kampf um eure proletarischen Rechte! Denn würden die Sozialpatrioten und Zentrumsleute dies tun, sie würden die Kriegsführung ungeheuer schädigen, da die Munitionsproduktion gestört und geschwächt würde. Wollen die Sozialpatrioten und Zentrumsleute »einstweilen« das Vaterland verteidigen, so dürfen sie nicht auf die sofortige Demokratisierung des Heeres drängen, auf die Abschaffung der Vorrechte der Offiziere, denn durch den Kampf um diese Ziele schwächen sie momentan die Schlagkraft der Armee. Wollen die Sozialpatrioten die alte Generalität behalten, deren Abschaffung die jetzige Schlagkraft der Armee zweifelsohne mindern würde, so dürfen sie nicht den Bauern sagen: nehmt den feudalen Großgrundbesitzern den Grund und Boden sofort weg. Würden sie dies tun, so würden die Herren Generäle, die mit den Junkern versippt und verschwägert sind, ganz gewiß sich erst überlegen, ob es sich ihnen lohnt, ein so undankbares Vaterland zu verteidigen.
Kurz zusammenfassend: die Sozialpatrioten und die Zentrumsleute wollen einstweilen unter Führung der Gutschkow und Miljukow das Vaterland verteidigen, damit die junge russische Freiheit dem preußischen Militarismus nicht unterliege. Aber diese Freiheit kann nur gesichert werden – wie es die Geschichte aller Revolutionen beweist – wenn die Arbeiterklasse und das Bauerntum ohne auf die konstituierende Versammlung zu warten, die Demokratie von unten durchführen, wenn sie die faktische Macht erobern, sie sozial verankern. Auf diese wirkliche Sicherung der Revolution müssen die Sozialpatrioten und Zentrumsleute verzichten, wenn sie unter der Leitung der imperialistischen Bourgeoisie den Krieg weiterführen wollen. Die Revolution, deren Sicherung ihr Ziel ist, wird den Gegnern der Revolution ausgeliefert. Das einzig Reale was bleibt, ist der Kampf um die imperialistischen Ziele.
Aber zum Glück für die Revolution ist ihre Logik stärker, als die der Sozialpatrioten und Zentrumsleute. Trotz der Bemühungen der liberalen Bourgeoisie und ihrer sozialpatriotischen und zentrümlichen Helfershelfer läßt sich der Titan schwer bändigen. Wie die große Ententepresse zähneknirschend meldet, geht der Kampf der Arbeiterschaft um Durchführung der Demokratie und den Achtstundentag, um Grund und Boden weiter. Dieser Kampf richtet sich aber gegen die weitere Kriegführung. Und er findet seine Träger in den Sansculotten, den Vorkämpfern der russischen Revolution, in den revolutionären internationalen Sozialdemokraten Rußlands, den Bolschewiks, die sich der vorübergehenden Welle republikanisch-revolutionärer Illusionen entgegenstemmen. Und nichts beweist besser das Wachstum ihrer Kraft, wie die Wut, mit der sie von der »Times«, dem »Temps«, diesen ausgesprochensten Organen des europäischen Finanzkapitals, bekämpft werden.
Die Geschicke der russischen Revolution, der europäischen Umwälzung, des Friedens hängen in der nächsten Zeit von den Geschicken dieser proletarischen Partei ab. Die Frage nach ihrem Standpunkte und ihrem Kampfe, die wir demnächst behandeln werden, fällt zusammen mit der Frage nach den Aussichten der russischen Revolution.
Die Haltung der Bolschewiks.
Die russischen revolutionären Sozialdemokraten, die Bolschewiks, die von allen Teilen des russischen Sozialismus den energischsten, konsequentesten Kampf gegen den Zarismus geführt haben, die in der Zeit des Wütens der Konterrevolution unentwegt für den Sturz des Zarismus gearbeitet haben, brauchen nicht erst zu beweisen, daß sie die Revolution gegen alle Feinde verteidigen wollen, daß sie ihre treueste Wacht bilden. Die russischen revolutionären Sozialdemokraten, die vom Kriegsausbruch an in schärfster Form seinen imperialistischen Charakter demonstrierten und dementsprechend in Zimmerwald und Kiental eine allgemeine Kampffront gegen alle imperialistischen Regierungen herbeizuführen suchten, verharren auf ihrem Standpunkt Darüber werden sich auch die Zentralmächte nicht die geringsten Illusionen machen. Aber in der Politik handelt es sich nicht um die Absichten, sondern um die Resultate, ob sie gewollt oder ungewollt sind. Welches sind die Voraussetzungen der bolschewikischen Politik, und welche Folgen kann sie haben? Auf diese vollkommen berechtigte Frage gilt es zu antworten.
Im Innern geht sie von der Voraussetzung aus, daß, wie die Träger der russischen Revolution nur in der Arbeiterklasse und dem unzufriedenen, armen Bauerntum und Kleinbürgertum zu suchen sind, – wobei die Arbeiterklasse der einzig konsequente und bewußte Vorkämpfer der Revolution war und ist, – die Demokratie in Rußland nur im Kampfe gegen das Großkapital aufgerichtet werden kann. In dem Stadium der Entwicklung, in dem sich Rußland jetzt befindet, wo enorme proletarische Massen dem konzentrierten Kapital gegenüberstehen, wo in den Dörfern die größte Unzufriedenheit herrscht, wo junge Nationen an den Grenzmarken Rußlands aufwachen, wird das russische Kapital bestrebt sein, eine möglichst große Gewalt in seine Hände zu bekommen, die Demokratie einzudämmen. Seinen Parteien, den Kadetten und Oktobristen, ist nicht über den Weg zu trauen. Das Proletariat muß jetzt schon die Demokratie realisieren. Dabei wird es auf den schärfsten Widerstand nicht nur des russischen, sondern auch des ausländischen Kapitals stoßen. Die Ententepresse sucht die russischen Revolutionäre mit dem Gespenst der preußischen Bajonette zu erschrecken. Aber ihre Presse pocht schon selbst – siehe die Auslassungen des »Figaro«! – darauf, daß die ausländischen Geldgeber das Recht haben, zu fordern, daß Ordnung in Rußland herrsche. Man braucht nicht weit zu gehen, um die Gründe dafür ausfindig zu machen: die Demokratie bedeutet in einem kapitalistischen Lande mit einer regen, klassenbewußten Arbeiterschaft die höchste Anspannung in den Kämpfen um den Achtstundentag, um gute Arbeiterschutzgesetzgebung, um politische Kontrolle. Das alles ist schon direkt gegen die ungehemmte Herrschaft des Kapitalismus gerichtet – auch des ausländischen, das in der Volkswirtschaft Rußlands eine große Rolle spielt –, wenn man dazu in Betracht zieht, daß das russische Kapital imperialistische Politik treiben will, daß das ausländische Kapital Rußland in dieselbe Richtung treibt, so ist es klar, daß dieses wie jenes sich gegen den Sieg der Revolution sträuben muß. Der Kampf auch nur um die Demokratie bedeutet also für die russische Arbeiterklasse den Bruch nicht nur mit dem eigenen Kapital, sondern schärfsten Kampf gegen das Weltkapital.
Diesen Kampf gilt es in einer Situation zu führen, wo äußerlich genommen keine einheitliche Front des Weltkapitals besteht, wo der Kampf zwischen dem Kapital der Zentralmächte und dem der Entente das höchste Stadium erreicht. Ein Blick auf die Lage zeigt, daß der nächste Feind, der den Ausbau der Demokratie mit allen Kräften hemmen, verzögern wird, die russischen Kapitalisten selbst sind. Sie haben jetzt die Macht. Sie werden vom englischen und französischen Kapital unterstützt. Sie gebrauchen die »deutsche Gefahr«, um den Prozeß der Demokratisierung Rußlands zu verschieben, damit sie ihn später eindämmen können. Wer sich mit ihnen verbündet, der tötet die Revolution. Duckt sich die russische Arbeiterklasse unter das Regime ihrer Kapitalisten, beschränkt sie ihre proletarischen Ziele, um die Revolution nach außen zu schützen, so liefert sie sich den innern Gegnern aus. Entfaltet sie ihre Kraft, so wirft sie die inneren Gegner.
Die Aufrollung der Perspektive eines proletarischen 1793 bedeutet die Antwort auf die Frage der Sozialpatrioten und Zentrumsleute. Wollt ihr die russische Revolution dem äußeren Feinde ausliefern? Die Bolschewiks antworten darauf: Weder dem äußeren noch dem inneren Feinde! Aber wie wir den inneren Feind der Revolution, das russische Kapital nicht besiegen können im Bunde mit dem äußeren Feind, dem Weltkapital oder seinen einzelnen Teilen, so können wir auch den äußeren Feind nicht besiegen im Bunde mit dem inneren. Wenn wir zusammen mit den Gutschkows und Miljukows für die deutsche Niederlage eintreten würden, so würden wir nicht nur dem anglosächsischen Kapital – dem stärksten Teil des Weltkapitals – zur Ausbeutung der Welt, sondern auch Plünderung Rußlands helfen. Das russische Proletariat kann direkt nur die eigene Bourgeoisie bekämpfen.
Bürgschaften.
Die Entente verbreitet in Rußland Nachrichten von einer drohen, den deutschen Offensive gegen Petersburg. Und die neuen russischen Machthaber helfen diesen Nachrichten zur größten Verbreitung. Und man soll sich darüber keine Illusionen machen: die breiten Massen des Kleinbürgertums wie ein Teil der Arbeiterschaft glaubt daran. Die neuen Machthaber Rußlands verbreiten die Nachrichten aus konterrevolutionären, imperialistischen Gründen. Die Gefahr der deutschen Invasion hat im Sommer 1915 den russischen Sozialpatriotismus aus der Taufe gehoben. Aus Furcht vor Kontributionen, vor der Hemmung der wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands, hat ein Teil der Arbeiterschaft den Sozialpatrioten Gehör geschenkt, die da sagten: mit dem russischen Zarismus werden wir mit der Zeit fertig; wird aber die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands gehemmt, so werden auch die antizarischen Kräfte gefesselt. Also verteidigen wir das Land trotz des Zarismus! Diese Stimmung erlaubte den Bourgeois einen Teil der Arbeiterschaft für die Mitarbeit an den Kriegsindustriekomitees zu gewinnen. Jetzt, wo die Revolution den Zarismus niedergeworfen hat, wo die Bourgeois sich bemühen müssen, möglichst viel vom alten Regime zu retten, jetzt, wo die Entfaltung der Revolution den Kampf um den kommenden Frieden zu entfachen droht, jetzt ist die deutsche Gefahr das einzige Mittel, das die revolutionären Kräfte der Arbeiterschaft lähmen kann. Das Spiel der russischen Imperialisten ist klar: Sie wollen unter der Losung: Das Vaterland ist in Gefahr! die antikriegerischen Tendenzen der Arbeiterklasse niederhalten, ihren Haß gegen die Gefahr der nationalen Unterdrückung als Wasser auf die Mühle des Kampfes um die imperialistischen Kriegsziele leiten.
Aber was den imperialistischen Machthabern imperialistische, konterrevolutionäre Mache ist, das ist für die Volksmassen in Rußland bitterer Ernst. Sie haben erst geblutet für die demokratischen Rechte, haben den Zarismus gestürzt, kämpfen um die Republik, von der sie im Überschwange des ersten Sieges alles Heil erwarten. Da sagt man ihnen: die deutsche Regierung hat Anno 1871 den französischen Junkern die in Deutschland gefangenen französischen Truppen zur Verfügung gestellt, um die Kommune von Paris niederzuwerfen. Da sagt man ihnen: Deutschland hat dem Zarismus geholfen die russischen Revolutionäre zu verfolgen: in Frankreich, England konnten sie sich vor dem Kriege frei bewegen, in Deutschland waren sie gehetztes Wild. Da sagt man ihnen endlich: Deutschland ist eine Monarchie, die im Westen an eine Republik grenzt; kann es nun auch noch einen republikanischen Nachbar im Osten ertragen? Das wird den russischen Volksmassen gesagt, und ein Teil von ihnen zieht den Schluß: Deutschland will die Revolution in Rußland ausnützen, um im Osten den Hauptschlag gegen die Entente zu führen; wird Rußland geschlagen, dann hilft Deutschland den Romanows, die dafür Zugeständnisse in der auswärtigen Politik machen werden, wieder auf den Thron. Also schließt die Reihen um Gutschkow und Miljukow, ihr verteidigt die Revolution, ihre jetzigen und zukünftigen Errungenschaften.
Es unterliegt keinem Zweifel – wir wiederholen es –, daß diese Agitation bei einem Teil der russischen Arbeiterschaft, vom Kleinbürgertum gar nicht gesprochen, großen Erfolg hat und die Kriegsstimmung stärkt, daß sie die Position unserer Gesinnungsgenossen, der Bolschewiks, bedroht, die in dem unerschrockenem Klassenkampf gegen den Krieg und die russischen Imperialisten das beste Mittel sehen, Verteidiger der russischen Revolution auch in anderen Ländern in Bewegung zu setzen.
Die deutschen Sozialpatrioten, die nichts dagegen hätten, wenn die Revolution in Rußland den Frieden bringen würde, sind über die Verdächtigungen der Absichten des deutschen Imperialismus sehr empört. Und sie bombardieren Herrn Bethmann Hollweg, er solle doch eine Erklärung abgeben, daß die deutsche Regierung solche Absichten nicht hege. Und Herr Bethmann Hollweg hat am 29. März im Reichstag erklärt, Deutschland habe sich niemals in die russischen Dinge eingemischt und wolle es auch jetzt nicht tun; wenn Rußland einen ehrenvollen Frieden haben will, so kann es ihn haben. Ob diese Erklärung des Herrn Bethmann Hollweg die Besorgnisse der russischen Volksmassen aus der Welt schaffen kann, ist sehr zweifelhaft. Sie werden sich sagen: es ist nicht die Pflicht eines Staatsmannes, dem Feinde die Wahrheit zu sagen, und kann die Regierung den sich im Westen versteifenden Krieg im Osten entscheiden, so wird sie mit ihren wahren Plänen nicht herausrücken. Ob diese Entscheidung im Osten möglich ist, werden die Militärs beurteilen können. Man mag es bedauern, daß die Scheidemanns den russischen Arbeitern den rücksichtslosen Glauben an die Erklärungen der deutschen Regierung nicht beigebracht haben, aber dieser Mangel wird dadurch nicht aus der Welt geschafft.
Ja, aber Herr Noske hat ausdrücklich gesagt: »Ich erkläre, daß wir allen Bestrebungen, die darauf hinauslaufen, die russischen Verhältnisse zu Eroberungszielen auszunutzen, mit aller Entschiedenheit entgegentreten.« Nun ist Herr Noske ein mächtiger Herr. Aber Herr Noske fordert ebenso »entschieden« das preußische Wahlrecht, wie er entschieden der Ausnutzung der russischen Verhältnisse zu Eroberungszwecken entgegentritt. Und einstweilen lehnt die Regierung seine entschiedenen Forderungen ab, und was sie mit seinem entschiedenen Protest gegebenenfalls tun würde, wissen wir auch nicht. Das wird die russische imperialistische Presse den russischen Volksmassen ganz gewiß sagen, und sie wird vielleicht zur Beleuchtung der »Entschiedenheit« der Noske und Co., eine Stelle aus dem »Vorwärts« vom 18. März zitieren, in der es hieß: »Innere Kämpfe während des Krieges wollen wir nicht. Das politisch reife Volk Deutschlands begreift, daß wir uns in der Lage, in der wir uns befinden, diesen Luxus nicht erlauben können, und darum erträgt es die Belastungsproben, die ihm auferlegt sind, in einer Weise, die den Reichskanzler zu Ausdrücken der Bewunderung hinreißt.« Wenn die Sozialpatrioten sich den Luxus innerer Kämpfe nicht leisten können, wie können sie dann irgend einem Volke etwas garantieren, was ohne »innere Kämpfe« gegebenenfalls nicht garantiert werden kann?
So werden die Volksmassen in Rußland sagen, in denen der Zusammenbruch der Internationale den Glauben an die Volksgegengewichte gegen die Regierungspolitik zertrümmert hat. Die Internationale, die Arbeiterklasse, befindet sich in dem ersten entscheidenden Wendepunkt seit dem Kriegsausbruch. Ein heroisches Proletariat hat den Zarismus zu Boden geworfen. Aber allein auf die eigenen Kräfte angewiesen, kann es den Frieden nicht bringen. Dieser kann nur das Resultat internationaler Bemühungen sein. Mag der entschiedenste Teil des russischen Proletariats sein Herzblut hergeben, mag es wie Winkelried alle Spieße in seiner Brust auffangen, um dem internationalen Sozialismus, dem Frieden den Weg zu bahnen, es wird verbluten, wenn sein heroischer Kampf nicht die internationalen Kräfte auslöst, wenn den russischen Arbeitern, dem russischen Volke nicht gezeigt wird, daß der russischen Revolution keine Gefahren drohen. Und das kann das internationale Proletariat nur tun, wenn es seine eigenen Interessen, die solidarisch sind mit denen der russischen Arbeiterklasse mit allen Kräften vertritt. Wer seine eigenen Interessen nicht verteidigt, der kann niemanden Bürgschaft leisten. Die internationale Arbeiterklasse befindet sich in einer Schicksalsstunde. Zum erstenmal seit dem Kriegsausbruch steht eine Wendung in greifbarer Nähe bevor. Die Arbeiterklasse wird mit ihrer ganzen Zukunft dafür büßen, wenn sie ihr Interesse nicht versteht und es nicht mit allen Kräften verteidigt.
Die deutsche Reformation.
Solange der Krieg dauert, keine »Neuorientierung«, keine inneren Reformen – erklärte bisher die deutsche Regierung. Tiefer greifende Reformen müssen den schärfsten Kampf der Parteien hervorrufen, denn wenn man dem einen gibt, so muß man dem andern nehmen. Solche Kämpfe sind aber dem Burgfrieden, der Einheit der Nation nicht bekömmlich, und ohne Burgfrieden wiederum kann man keinen Krieg führen. Diese Argumentation der deutschen Regierung fand volle Zustimmung bei den Konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen, d. h. bei den Vertretern der schweren Industrie und des Agrariertums. Nur die Freisinnigen, die Vertreter der Handelsbourgeoisie, wagten sofortige Reformen zu fordern, ohne jedoch den Kampf um sie zu entfalten. Und vom Standpunkt des Imperialismus ließ sich gegen die Vermeidung der Kämpfe um die Reformen so wenig sagen, daß auch die Sozialpatrioten keinen stärkeren Druck auf die Regierung riskierten, obwohl ihnen bei ihrer Abhängigkeit von breiteren Volksmassen in erster Linie diese Beruhigungsmittel notwendig erscheinen mußten.
Auf einmal setzte ein neuer Wind ein. Im Reichstag trat nicht nur der Freisinnige Müller-Meiningen mit einer Philippika auf, in der er in energischsten Tönen sofortige Reformen forderte, in der er rief: öffnet die Ventile!, auch der Nationalliberale, Syndikus des Industriellenverbandes, Herr Stresemann, donnerte in flammenden Worten gegen die Herrschaft des Militärabsolutismus und drohte, daß, wenn die Regierung nicht sofort zu Reformen schreite, der Reichstag das Werk in die Hand nehmen müsse. Und die Sozialpatrioten Noske und David wandten sich zwar gegen alle Versuche, die deutschen Verhältnisse mit den russischen zu vergleichen, aber sie beschworen den Reichstag und die Regierung der Volksstimmung Rechnung zu tragen; sie verlasen eine ganze Litanei von Reformen, deren Durchführung sie sofort forderten. Das Wunder geschah, daß der Reichstag mit allen Stimmen gegen die der Konservativen die Einsetzung einer Verfassungsreformkommission beschloß, die sich die notwendigsten Reparaturen am stolzen Bau des Reiches ansehen soll.
Die Regierung erklärte durch den Mund des Reichskanzlers, daß sie auch für eine Neuorientierung sei, aber sie könne nicht so ohne weiteres ihre Meinung über die Gefahr solcher Neuorientierungen im Kriege ändern, eine Meinung, die bisher die Mehrheit der bürgerlichen Parteien teilte. Aber ein schroffes Nein hat Herr Bethmann Hollweg nicht ausgesprochen.
Nun mag die Regierung nachgeben oder nicht, wenn die Herren Freikonservativen, Nationalliberalen, Freisinnigen und Sozialpatrioten sich zusammentun, so werden sie ganz gewiß kein Werk zusammenbauen, das den Volksmassen auch in »normalen« Zeiten munden könnte. Sie können weder die Ungleichheit der Reichstags-Wahlkreiseinteilung aufheben, noch das preußische Wahlunrecht wirklich abschaffen, sie können weder die Verantwortung der Regierung vor dem Parlamente, noch die Demokratisierung des Heeres beschließen. Selbst wenn der Hohe Bundesrat all diesen Herrlichkeiten zustimmen würde, die Vertreter des Kapitals würden sie ihm nicht vorschlagen. Aus dem einfachen Grunde, weil niemand neben seinen eigenen Schatten springen kann, und die Vertreter des Kapitals dem arbeitenden Volke in Deutschland keine demokratischen Rechte gewähren können. Demokratische Rechte bedeuten in einer so kapitalistisch zerklüfteten Nation wie der deutschen und besonders bei der ungeheuren Zuspitzung der sozialen Gegensätze, wie sie der Krieg mit sich brachte, eine Auslieferung der Kampfpositionen an die Volksmassen, auf die man eben 1½ Milliarden Mark Steuern lädt. Wenn die Herren bürgerlichen Abgeordneten und die Sozialpatrioten so furchtbar nach der Neuorientierung schrien, so ist ihre Anstrengung viel mehr darauf zurückzuführen, daß sie sich von ihrem lauten Geschrei wunder was versprachen, als daß sie in diesem Geschrei ihre Sehnsucht nach Demokratie ausdrückten.
Aber nehmen wir einmal an, daß die Herren ernste politische Reformen durchzuführen geneigt wären und daß die Junker und die Bureaukratie sich ohne Gegenwehr in so freundlich parlamentarischer Weise das Genick brechen ließen, wie sie es nebenbei gesagt – niemals und nirgend in der Geschichte getan haben. Politische Reformen – auch die gründlichsten – bedeuten die Öffnung des Weges zu sozialen Reformen. Ihr Zweck ist, den Volksmassen zu zeigen, daß sie zwar langsam, aber friedlich, ihre Lage bessern können. Kann dieser Zweck in den durch den Krieg geschaffenen Verhältnissen erreicht werden?
Und wie denken die Herren eine Staatsschuld von 100 Milliarden Mark zu reformieren, gerecht zu zerlegen? Wir fanden bisher in der finanzpolitischen Literatur keine Vorschläge dafür. Alle die gemacht werden, drehen sich nur um die Erfindung neuer Lasten. Denn wenn die schönste Frau nicht mehr geben kann als sie hat, so kann auch der beste Finanzkalkulatur 100 Milliarden Staatsschulden nicht verzinsen – von anderen Folgen des Krieges, die schwere Milliarden jährlich schlucken werden, gar nicht zu sprechen – ohne die breitesten Volksmassen schwer zu belasten.
Wie man die Sache auch dreht und wendet, die Reformatoren sind etwas spät aufgestanden. Die preußische Wahlreform konnte Anno 1911, als die Herren Revisionisten und Zentrumsleute den Kampf um sie unterdrückten, ein Schlachtruf sein. Heute sie auf das Banner des Kampfes zu setzen, ist lächerlich. Der Organismus der Staaten und der Gesellschaft fordert ganz andere Heilmittel.
Wir glauben keinen Augenblick, daß die Staatsmänner der Bourgeoisie und die Scheidemänner des Sozialpatriotismus dies verstehen werden. Niemand kann »verstehen«, daß er sich den Grund unter den Füßen weggraben soll. Aber es ist ein Zeichen der Zeit, daß die Arbeitsgemeinschaft mit einem »Reformprogramm« in dem Moment auf den Plan gerückt kam, als der Schrei nach Reformen von allen bürgerlichen Parteien und den Sozialpatrioten ausgestoßen wurde. Nicht einmal darum handelt es sich hier in diesem Moment, daß dieses Programm der Arbeitsgemeinschaft, das wir noch analysieren werden, jedem wahrhaft demokratischen Grundsatz ins Gesicht schlägt, daß es rein politisch ist, während die soziale Frage die brennendste ist.
Das Charakteristische ist, daß die alten und jungen Herren von der Arbeitsgemeinschaft die Möglichkeit der schmerzlosen Reform unterstützen, daß sie direkt erklären, sie drohen nicht. Das beweist, daß sie nur der linke Flügel des bürgerlichen Reichstages, nicht seine sozialistischen Antipoden sind, daß sie nicht einmal die Harfe sein können, auf der der neue Wind der Geschichte sein Sturmlied singt, geschweige denn, daß sie selbst das Lied der Zeit verstünden. Reformation! Reformation! Wohl bekomm's, ihr Herren!
Fußnoten
- ↑ Siehe Briefe Lassalles an Marx. S. 189–190. Die ganze Kontroverse legt Möhring sehr klar dar in seinen Anmerkungen zu der Korrespondenz, S. 206–218, in denen er sich auf die Seite Lassalles stellt. Der Aufsatz von Hugo Schulz (Kampf, Nr. 8. Mai 1909, »Friedrich Engels über den österreichischen Feldzug im Jahre 1859«) gibt keinen gehörigen Begriff von der Kompliziertheit der Angelegenheit.
- ↑ Die territoriale Entwicklung der europäischen Kolonien, Gotha 1906, S. 254.
- ↑ Natürlich läuft die Geschichte nicht in jedem kapitalistischen Lande in derselben Weise ab; es handelte sich aber bei dieser Darstellung nicht um die Entstehung der imperialistischen Politik in einem Lande – den Werdegang der deutschen werden wir noch speziell schildern –, sondern um eine Gruppierung der allgemeinen Triebkräfte des Imperialismus. Eingebender schildert sie Rudolf Hilferding in seinem Finanzkapital, Wien 1910 (S. 374–477), Otto Bauer in der Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien. 1907 (S. 400–490), Parvus in seiner Kolonialpolitik und Zusammenbruch (Leipzig 1907), Kautsky in seiner Kolonialpolitik (Leipzig 1907).(Leipzig 1907).
- ↑ Beweggründe zu dem deutsch-englischen Abkommen vom 1. Juli 1890.
- ↑ Für diese und die späteren Ausführungen, soweit sie die marinistische Seite betreffen, siehe: Foß: »Marinekunde«, Berlin 1910; Admiralitätsrat Koch: »Geschichte der deutschen Marine« 1906; derselbe: »Die neueren Tendenzen der Marinepolitik« (in »Zeitschrift für Politik«, Band III, S. 93 bis 137); Graf E. Reventlow: »Die deutsche Marine« (in »Deutschland als Weltmacht«, Berlin 1911) S. 727–745). Die politischen und wirtschaftlichen Hoffnungen des deutschen Imperialismus dieser Zeit, wie auch seine Argumente findet man gut ausgedrückt in den damals gehaltenen Vorträgen der »Leuchten« der deutschen Wissenschaft, die gesammelt unter dem Titel: » Handels- und Machtpolitik« (II. Band, bei Cotta in Stuttgart 1900 erschienen sind.
- ↑ Über die wirtschaftlichen Grundlagen des deutsch-englischen Gegensatzes siehe die knappe aber gut informierende Schrift von Schulze-Gävernitz: Deutschland und England, Berlin, Verlag Hilfe 1911; über die weltpolitische Seite der Frage, die verhältnismäßig objektive und ruhige Schilderung Paul Rohrbachs in seinem Buche: Deutschland unter den Weltvölkern, Berlin 1911 (dritte Ausgabe).
- ↑ Darüber bei Schulze-Gävernitz: Der britische Imperialismus, Leipzig 1907; Leutschau: Großbritannien, Halle 1907; kritische sozialdemokratische Stellungnahme in den entsprechenden Kapiteln des schon zitierten Buches von Parvus über die Kolonialpolitik.
- ↑ Aus der reichhaltigen, aber in vielen Fällen recht phantastischen Literatur über die wirtschaftlichen Verhältnisse Marokkos ist die objektiv geschriebene Abhandlung von Nauticus (für das Jahr 1909): » Marokko und seine Beziehungen zur deutschen Volkswirtschaft« (S. 270–296) hervorzuheben.
- ↑ Der französische Ökonomist Blondel berechnet in den »Questions diplomatiques et coloniales« (Sommer 1911), daß der deutsche Kapitalexport vor 15 Jahren 10, vor 10 Jahren 16 Milliarden betragen hat; für das Jahr 1908 beziffert er die Wachstumsrate auf 744, für das Jahr 1909 auf 977 Millionen. Den Zuwachs im Jahre 1910 berechnet die Frankfurter Zeitung« mit 20 Prozent.
- ↑ Wer sich die Mühe gibt, die Reden unserer Reichstagsabgeordneten zum Etat des Auswärtigen, zum Militär- und Marineetat für die letzten 20 Jahre durchzustöbern, wird sehen, daß es sich hier um wirkliche Entwicklungsstufen der sich in der Partei durchsetzenden Erkenntnis des Imperialismus handelt. Das Studium der Behandlung dieser Fragen in unseren großen Blättern wird dieses Urteil nur bestätigen.
- ↑ Was in diesem Punkte über die alldeutschen Enthüllungen über die Absicht der Regierung, einen Teil Marokkos an sich zu reißen, zu halten ist, sagt treffend der Lassallebiograph Professor Hermann Oncken: »Gewagt bis zum äußersten, auf des Messers Schneide verlaufend, war freilich da« ganze Spiel von Anfang an. Schon mit dem Erscheinen des ›Panther‹ vor Agadir wurde ein Mittel gewählt, dessen Intensitätsgrad auf das schärfste überlegt war; ein Rippenstoß von höchstmöglicher Energie und Deutlichkeit, um die Franzosen überhaupt zu Verhandlungen zu nötigen, und doch gerade noch nicht so feindselig, um England und Frankreich verbunden in den Krieg zu treiben. Und zur Gewagtheit dieses Dessins gehörte es weiter, daß Herr v. Kiderlen seine letzte Karte nicht aufdecken konnte: er mußte möglichst lange die Franzosen im Glauben erhalten, daß es ohne anderweitige Konzessionen auf eine Festsetzung in Marokko selbst abgesehen sei, und eine Zeitlang sogar die Engländer (das war die Karte, deren Aufdeckung sie alsbald ihm zu entreißen suchten) in eine gewisse Unklarheit darüber versetzen, was eigentlich mit der symbolischen Form militärischer Pression bezweckt werde. Er mußte ebensosehr die Alldeutschen in dem Glauben lassen oder gar befestigen, daß Marokko das eigentliche Ziel sei, denn er brauchte nach außen hin auch diese lärmende Dissonanz; er ließ eben nach Bismarckschem Rezept alle Hunde bellen um seinen Zweck, die Nötigung zur Kompensation, der englischen Weltkonstellation zum Spotte mit höchster Kaltblütigkeit zu erreichen.« Hermann Oncken, Deutschland und England. Heidelberg 1911. S. 27/28.
- ↑ Die Auffassung selbst, als habe die Arbeiterklasse ein Interesse an der überseeischen Expansion, brauche ich wohl an dieser Stelle nicht zu widerlegen.
- ↑ Interessantes Material, wenn auch nicht vertieft, darüber in dem gut dokumentierten Werke Dr. Kurt Herrfuhrts: Fürst Bismarck und die Kolonialpolitik. Berlin 1909.
- ↑ Ich versuche sie in meiner Broschüre: Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse. Bremen. Verlag der Brem. Bürgerztg., 1912, darzustellen.
- ↑ In diesem Sinne einer vollen Durchführung des Milizgedankens, der Umwandlung des Militarismus in eine wirkliche Volkswehr, ist sie im Rahmen des Kapitalismus nicht zu verwirklichen, wie auch eine volle Volksherrschaft im Kapitalismus unmöglich ist, unter dem das private Eigentum an Produktionsmitteln die Menschen beherrscht. Insoweit hat Freund Pannekoek recht, wenn er in seinem Artikel gegen Grimm (»Leipziger Volkszeitung« vom 7. Juli) von der Undurchführbarkeit der Miliz im Rahmen des Kapitalismus spricht. Aber auch kein Jota weiter. Denn die Demokratisierung der Heeresorganisation ist in demselben Maße im Rahmen des Kapitalismus möglich wie jede andere Form der Demokratie.
- ↑ Das ist nicht der einzige Punkt, in dem sich dem Genossen Kautsky in dieser Polemik die Kenntnis der Tatsachen entzieht. Wenn er in seinem letzten Artikel vom 6. September schreibt: »Deutschland besitzt ein unbegrenztes Menschenmaterial, seine Flotte zu vermehren, England findet es immer schwerer, die neuen Schiffe, die es hat, zu bemannen«, oder wenn er in demselben Artikel erklärt, weder in Afrika noch in Asien stünden größere territoriale Verschiebungen bevor, so muß festgestellt werden, daß ihm die sachlichen Unterlagen fehlen. Es muß festgestellt werden aus sachlichen Gründen. Denn es ist klar, daß, obwohl selbst ein Mann, dem die Partei so unendlich viel verdankt, wie Kautsky, keinesfalls alle Gebiete der Politik mit gleicher Gründlichkeit beherrschen muß, ja kann, die Diskussion über neue Erscheinungen doch ein gründliches Studium erfordert. Ohne Kenntnis der Tatsachen muß sie in Kannegießereien ausmünden.
- ↑ Da ich den mir zu Gebote gestellten Platz überschritten habe, muß ich von der Darstellung dieser Frage an der Hand von Tatsachen, Ziffern usw. jetzt absehen.
- ↑ Der Grimmsche Artikel räumt sehr glücklich mit mancher kleinbürgerlichen Illusion über die Miliz auf, die von der Sozialdemokratie zusammen mit der Milizidee vom Kleinbürgertum übernommen wurde. Warum er ihn polemisch gegen mich zuspitzt, ist mir unerklärlich, da – wie er zugestehen muß – meine Artikel so sehr von den landläufigen Illusionen über die Wunder der Miliz fern waren, wie meines Wissens keine anderen in der Parteipresse. Wenn ich trotzdem in der Beurteilung der Machtverschiebung, wie sie die Entwicklung zur Miliz in Deutschland herbeiführen würde – was auch die Sozialpolitik beeinflussen müßte –, dem etwas zu engen Standpunkt des Genossen Grimm nicht zustimmen kann, so geschieht es aus dem Grunde: Grimm untersucht die Miliz, wie sie unter dem Einfluß der Entwicklung der militärischen Technik und des Kapitalismus sich aus einer kleinbürgerlichen in eine kapitalistische verwandelt, während in Deutschland zu untersuchen ist, wie sich im kapitalistischen Militarismus unter dem Drucke des Proletariats die demokratischen Tendenzen durchsetzen. Die Verschiedenheit der Perspektive schafft die scheinbare Differenz in meiner und Grimms Auffassung der Miliz. Die Differenz wird ernst, wenn er aus Katzenjammer über den Bankrott kleinbürgerlicher Milizhoffnungen in die Illusionen der Abrüstungsspekulation verfällt, was bei ihm noch durch die Enge der Schweizer Verhältnisse entschuldbar, wenn auch sachlich nicht zu akzeptieren ist.
- ↑ Der Artikel war geschrieben vor dem Erscheinen des Artikels des Genossen Pannekoek über die Massenaktionen.
- ↑ Am grellstes tritt diese Konfusion in den Artikeln des Genossen Eckstein in der »Neuen Zeit« hervor. – Wir gaben hier vor einigen Monaten eine Probe, an Hand seines Artikels über die Gegenwartsforderungen der Sozialdemokratie, in dem er sich in die Behauptung hineinredete, alle unser Forderungen seien in der kapitalistischen Gesellschaft undurchführbar – wie in denen von Spectator aus der »Dresdner Volkszeitung« Ober das gleiche Thema.
- ↑ Hier sei darauf hingewiesen, daß die entscheidende Ursache des Niedergangs des Rittertums in diesen allgemeinen Zusammenhängen und nicht in der Entdeckung des Schießpulvers liegt. Wenn also Engels im Anti-Dühring (S. 173) sagt: »im Anfang des 14. Jahrhunderts kam Schießpulver von den Arabern zu den Westeuropäern und wälzte die ganze Kriegführung um«, so vergißt er in diesem Moment, was er weiter selbst betont, daß dieser Prozeß drei Jahrhunderte dauerte. Das mindert natürlich nicht den Wert seiner weiteren Ausführungen, wie der ganzen Skizze über die Entwicklung des Militärwesens, die in wahrhaft genialer Weise einen Rahmen für die Geschichte des Kriegswesens darbietet.
- ↑ Die Schilderung aller dieser Zusammenhänge findet der Leser im trefflichen ersten Teil Kautskys Werkes: »Thomas Morus« (Dietz, Stuttgart), in dem ersten Kapitel von Engels: »Bauernkrieg« (Berlin, Vorwärtsverlag), und in Mehrings: »Gustav Adolf« (Berlin, Vorwärtsverlag).
- ↑ Das Material zu diesem Kapitel, das das Aufkommen des Söldnerwesens betrifft, wurde aus H. Schulz: »Blut and Eisen«, das, welches seine Weiterentwicklung in Preußen betrifft, aus der Lessinglegende Mehrings geschöpft. Die bürgerlichen Quellen, wie Osten-Sackens Werk: »Preußens Heer von seinen Anfängen bis zur Gegenwart« (Berlin 1911, I. Bd.), – das eine Zusammenfassung der sämtlichen entsprechenden militärischen Literatur darstellt – geben dem Leser des Mehringschen Buches nichts als illustratives Material; dafür fehlt ihm auch alles, was dem Buche Mehrings nicht nur den Wert einer klassischen historischen Darstellung, sondern eine aktuelle Bedeutung in unserem Kampfe um die Miliz gibt: das ist die Methode, nach der er die Entwicklung des Heerwesens darstellt. In unserer Propaganda für die Miliz wurde gerade hierin am meisten gesündigt: die Miliz wurde oft als fertiges Gebäude dem stehenden Heere entgegengestellt, als nationalistisch begründete Forderung, ohne inneren Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung des Heereswesens wie des Kapitalismus. Dieser Fehler und seine Folgen werden dem Leser speziell einleuchten, wenn er sieht, wie ganz entgegengesetzt Mehring die Entwicklung der Heeresorganisation behandelt. Auch in dem folgenden Kapitel gebrauchen wir die Lessinglegende.
- ↑ Es ist ergötzlich zu lesen, wie Daniels in seiner »Geschichte des Kriegswesens« (Bd. 5, S.99) die sozialen Gründe der Tapferkeit der »Independenten« – es drohte ihnen voller Ruin seitens der Großgrundbesitzer – in rein ideologische (religiöse) umzuwandeln sucht.
- ↑ Um dem Leser einen Begriff zu geben, wie sehr sich damals die Öffentlichkeit für die Frage des Heerwesens interessierte, sei nur gesagt, daß die Broschüren-Literatur der Heeresreform der sechziger Jahre in der bremischen Stadtbibliothek 16 große Bände (durchschnittlich 6 Nummern enthaltend) einnimmt.
- ↑ Engels: »Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei 1865.« Dieses sehr wichtige Dokument ist abgedruckt im 5. Halbjahrsband 1905 der von der »Frankfurter Volksstimme« herausgegebenen Sammlung: »Aus der Waffenkammer des Sozialismus«. Die Engelssche Broschüre ist sehr wichtig vom methologischen Standpunkt für die Frage vom Verhältnis der sozialen Demokratie zur Milizfrage. Wir werden auf sie zurückkommen.
- ↑ Schon während der Abfassung dieses letzten Teiles des Kapitels über die Entwicklung der Heeresorganisation fällt uns die kleine Schrift: »Staatsverfassung und Heeresverfassung« (Dresden 1906, Zahn und Jaensch) von Otto Hintze in die Hände. Sie gibt auf 99 Seiten eine treffliche Skizze. Nach der Engelsschen aus dem Anti-Dühring gelesen, kann sie den Lesern, die keine Möglichkeit haben, die Frage in größerem Umfang zu studieren, sehr gute Dienste leisten.
- ↑ Es kommen in der Hauptsache zwei Werke Rüstows in Betracht: »Untersuchungen über die Organisation der Heere.« Basel 1855. Und: »Der Krieg und seine Mittel«, eine allgemein faßliche Darstellung der ganzen Kriegskunst. Leipzig 1856.
- ↑ W. Rüstow: »Der Krieg und seine Mittel«, S. 50. Das Kapitel: Heeresformen (S. 49–60 dieses Buches), aus dem die folgenden Zitate entnommen sind, ist knapp und übersichtlich, und verdient ganz abgedruckt zu werden als gute wissenschaftliche Zusammenfassung der damaligen Auffassung der Milizfrage.
- ↑ »Vorwärts« 1893, später zu einer Broschüre abgedruckt, deren Zweitdruck sich im 5. Halbjahrband der schon einmal angeführten, von der »Frankfurter Volksstimme« herausgegebenen Sammlung befindet. Da er am leichtesten zugänglich ist, zitieren wir nach ihm: S. 106.
- ↑ Wenn auch nicht zur Vorbereitung der von der Arbeitsgemeinschaft einberufenen Konferenz geschrieben, so erscheinen die Artikel Karl Kautskys über die Kriegsfragen (Nr. 13, 14, 19 und 20 der »Neuen Zeit«) sehr glücklich vor ihr, um die zentrümliche Politik in allen ihren Widersprüchen zu zeigen, und den oppositionellen Arbeitern vorzudemonstrieren, daß das »vorläufige Banner«, das ihnen die Zentrumsleute mit der unschuldigsten Miene in die Hand drücken wollen, kein Kampfbanner des Sozialismus, sondern ein aus pazifistischen und sozialpatriotischen Fetzen zusammengeflickter durchlöcherter Regenschirm ist, mit dem man sich kaum in die Stürme der Zeit hinauswagen kann. Gleichzeitig mit den Kautskyschen Artikeln erschien in Bern eine Broschüre Spektators: »Vaterlandsverteidigung und Auswärtige Politik der Sozialdemokratie« (31 S.). Spektator ist ein ehrenwerter Mitarbeiter der »Neuen Zeit«, er hat mehr Bücher gelesen, als er verdauen kann. Ein solch gelehrtes Haus verdient achtungsvolle Behandlung. Da er aber Kautsky nur abgeguckt hat, wie er sich räuspert und spuckt, wird er uns nicht verübeln, wenn wir ihn nur da heranziehen, wo er die Argumente Kautskys »ergänzt«. Daß wir den Famulus nur in Fußnoten behandeln, erfordert die Achtung vor dem Magister.
- ↑ Verehrter Spektator! Spitzen Sie die Ohren und schreiben Sie in ihrer Broschüre (S. 29) den Satz: »Es handelt sich (bei der imperialistischen Politik) immerhin bloß um Extraprofite, nicht um den Profit selbst. Auf Extraprofite verzichtet man, wenn es nicht anders geht« usw. Spektator scheint als des Typus des modernen Kapitalisten einen kleinen Krämer anzusehen, der sich duckt. Das Großkapital der imperialistischen Staaten wird um den Extraprofit bis zum Letzten kämpfen, bis es mit dem Extraprofit zusammen fällt. Jetzt, nachdem es von Kautsky »selbst« beglaubigt ist, wird es wohl auch der Famulus glauben.
- ↑ Der gute Spektator zitiert sogar die Rede Herrn Bethmann Hollwegs und die Bemühungen Mister Wilsons für die Schaffung einer »zwischenstaatlichen Organisation«, als Beweis des Realismus der zentrümlichen Politik. Wir wissen nicht, ob wir dem Zentrum oder Herrn Bethmann Hollweg oder Wilson zu diesem Jünger Kautskys gratulieren sollen.
- ↑ Der Kautskysche Adjutant Spektator lehnt jede Umwälzungsperspektive für absehbare Zeit im vorhinein ab: »Wenn es sich nicht bloß um moralische Kundgebungen, sondern um wirkliche proletarische Massenkämpfe handelt, (so) sind diese nicht bald zu erwarten. Jedenfalls gerade nicht sofort nach diesem Kriege.« (S. 7.) »Daß auf den Krieg sofort die soziale Revolution folgen würde … wird wohl kein ernst zu nehmender Mensch behaupten.« (25.) Wenn sie aber nicht »sofort«, d. h. an einem bestimmten Datum »beginnt«, dann muß der »ernst zu nehmende« – mit Respekt zu sagen – Theoretiker des Marxismus Herrn Bethmann Hollweg und Wilson als die Verkünder des Weltfriedengedankens feiern. Und das alles wirft nur so mit dem »Marxismus«, »Dialektik« usw. herum!
- ↑ Wir gaben sie schon im Jahre 1909 in der »Bremer Bürger-Zeitung« in unserer Artikelserie: »Die auswärtige Politik der deutschen Sozialdemokratie«, wie auch in der theoretischen Revue der polnischen »Przeglond Socjaldemokratyczny«. Oktober 1909: Die Politik des Imperialismus und das Proletariat, S. 459–475. Diese Artikel enthalten schon in Umrissen die Haltung, wie wir und andere Vertreter des Linksradikalismus sie später positiv und kritisch entwickelt haben.
- ↑ 1,0 1,1 M. Schanz: Algerien, Tunis, Tripolitanien. Verlag: Angewandte Geographie, Frankfurt a. M.(S. 37, 134).
- ↑ Roscher: Kolonien, Kolonialpolitik und Auswanderung, Leipzig 1885 (S. 377).
- ↑ 3,0 3,1 Statistisches Jahrbuch für 1911 (S. 29).
- ↑ Deutsche Revue, Oktober 1911.
- ↑ Die Baumwollfrage. Denkschrift des Kolonialamtes. Jena 1910, Verlag Fischer.
- ↑ Otto Jöhlinger: Die wirtschaftliche Bedeutung unserer Kolonien, Berlin 1910, S. 81.
- ↑ Geheimrat Wohltmann im »Tropenpflanzer« (1909, Nr. 1).
- ↑ Th. Rothstein: Egypt's Ruin, London 1910 (S. 40).
- ↑ The Nineteenth Century, Juni 1909. Arthur von Gwinner: The Bagdad Railway usw.
- ↑ Deutsche Aufgaben in der Gegenwart in »Roschers Kolonien«, S. 371, Leipzig 1885.
- ↑ Graf Ernst Reventlow: Was würde Bismarck sagen. Berlin 1909, S. 13–31.
- ↑ Bismarck: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2, S. 239–287. Cottaische Ausgabe 1909.
- ↑ M. Koschitzky: Deutsche Kolonialgeschichte. Leipzig 1887, 2. Bd.
- ↑ Köbner: Einleitung in die Kolonialpolitik. Jena, Fischer 1909, S. 210–224. Dr. A. Zimmermann: Kolonialpolitik. 1905, S. 361–365.
- ↑ Karl Peters: Zur Weltpolitik. Berlin 1911, Verlag Sigismund, S. 154
- ↑ A. Wirth: Weltgeschichte der Gegenwart. Wien 1910, S. 40.
- ↑ Bebel: Die Sozialdemokratie im Deutschen Reichstage. Berlin 1909, S. 437.
- ↑ »Die chinesische Frage« von Pierre Leroy-Beaulieu. Leipzig, Wigand, J., 1900, S. 95–149
- ↑ Nauticus: Jahrbuch für Deutschlands Seeinteressen für 1900. Siehe Abhandlung: Die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in China, S. 248–273.
- ↑ G. Egelhaaf: Geschichte der neuesten Zeit. Berlin 1910, S. 394.
- ↑ J. Kraus: Deutsch-türkische Handelsbeziehungen. Jena 1901. – W. Kind: Die Zukunft unseres Seehandels. – Nauticus 1907: Das Wirtschaftsleben in der Türkei und seine Beziehungen zu der deutschen Volkswirtschaft.
- ↑ Paul Dehn: Deutschland und die Orientbahnen. München 1883.
- ↑ Plüdemann, »Modernes See-Kriegswesen« 1907.
- ↑ Th. Rothstein: Der Niedergang der englischen Industrie. »Neue Zeit« 1905. In englischer Sprache in Buchform erschienen.
- ↑ Professor O. Franke: »Ostasiatische Neubildungen«, Hamburg 1911. Für diesen Zeitabschnitt S. 20–96.
- ↑ Aus dem Tagebuch Li Hung Tschangs, abgedruckt bei Franke l. c. S. 111.
- ↑ Dr. Hans Plehn: »Weltpolitik«, Berlin 1909, S. 1–74 und 167–202; Fritz Wertheimer: »Die japanische Kolonialpolitik, Hamburg 1910; Franke l. c. d., S. 136–137.
- ↑ A. Paquet: »Die ostasiatischen Reibungen«, München 1910.
- ↑ Galster: »Die Türkei im Rahmen der Weltwirtschaft«, Greifswald 1907, Seite 63.
- ↑ Rohrbach: Die Bagdadbahn, Berlin 1911 (Seite 19).
- ↑ Siehe Werner Stahl: Französisch-Kongo im Lichte der amtlichen französischen Berichterstattung des letzten Jahrzehnts. Berlin 1911.
- ↑ Nauticus für 1910: Zehn Jahre Flottengesetz, S. 15–42.
- ↑ Siehe Berechnungen im Buche Gradnauers »Der Wahlkampf«, S. 50, Dresden 1911.
- ↑ Nauticus: Jahrbuch für Deutschlands Seeinteressen 1910, S. 40.
- ↑ Parvus: Kolonialpolitik und Zusammenbruch, Leipzig 1907, S. 126/127.
- ↑ Neue Zeit (vom 16. Juli 1911).
- ↑ Handels- und Machtpolitik. Cotta 1900. Vortrag von Prof. Franke über Weltpolitik und Sozialreform.
- ↑ A. Zimmermann, Kolonialpolitik. Leipzig 1905, S. 46.
- ↑ Zu unserem Kampfe gegen den Imperialismus. »Neue Zeit«, letzter Band, S. 233–236.
- ↑ Prof. Dr. Rudolf Kobatsch: »Die volks- und staatswirtschaftliche Bedeutung der Rüstungen«, Wien 1911, Verlag K. Konegen, S. 54.
- ↑ Hugo Schulz: Blut und Eisen, S. 16–18. Berlin, Vorwärts-Verlag.
- ↑ Zitiert bei Sombart: »Krieg und Kapitalismus«, S. 27, Berlin 1913.
- ↑ Seumes ausgewählte Werke, Leipzig 1912, S. 37.
- ↑ Engels: Anti-Dühring, S. 175.
- ↑ v. d. Golz: »Kriegsgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert«, Bd. 1, S. 187, Berlin 1910, Bondi.
- ↑ Othomar von der Osten-Sacken: »Preußens Heer von seinen Anfängen bis zur Gegenwart«, Bd. I, S. 376, Berlin 1911, Mittler.
- ↑ v. d. Osten-Sacken: »Preußens Heer usw.«, Bd. 2, S. 2.
- ↑ Heinrich von Treitschke: »1813« (S. 80). Leipzig 1913, Verlag Hirzel.
- ↑ O. v. d. Osten-Sacken: »Preußens Heer.« Bd. 2, S. 158, Mittler 1912.
- ↑ W. Rüstow: »Die preußische Armee und die Junker.« Hamburg 1862, S. 39.
- ↑ Rüstow: »Die Wahrheit über den preußischen Wehrgesetzentwurf«. Nördlingen 1860. Er bewies, daß 120 000 Mann dienstfähig sind. S. 12 seiner Broschüre.
- ↑ Carl von Clausewitz: »Vom Kriege«, S. 179, Berlin 1912, Verlag Dümmler.
- ↑ Clausewitz l. c. S. 493.
- ↑ Denkschriften militärisch-politischen Inhalts aus dem Nachlaß des k. k. Feldmarschalls Grafen Radetzky. Stuttgart 1853, S. 445–456. Da uns das Buch unzugänglich war, zitieren wir nach G. Fr. Kolb: »Die Nachteile des stehenden Heeres«. Leipzig 1862.
- ↑ Siehe: »Die Turnkunstbund-Wehrverfassung im Vaterlande.« Eine Denkschrift des Berliner Turnrates, Berlin 1860.
- ↑ Rüstow: »Der Krieg«, S. 59.
- ↑ G. Fr. Kolb: »Die Nachteile des stehenden Heeres und die Notwendigkeit der Ausbildung eines Volkswehrsystems.« Leipzig 1862, S. 35.
- ↑ Klein (Hattingen): »Die Geschichte des deutschen Liberalismus.« Berlin 1911, S. 232.
- ↑ Siehe sein Buch: »Zarbefreier« (Stuttgart, Dietz, J. 1898) und seine neueste Arbeit: »Das Heer« (Frankfurt 1912, Rütten-Löhning). Mit welcher Vorsicht Bleibtreus Arbeiten zu gebrauchen sind, zeigte Mehring in seiner Besprechung des letzten Buches Bleibtreus in der »Neuen Zeit« (1918).
- ↑ F. v. Bernhardi: »Vom heutigen Kriege«, Bd. I, S. 67. Berlin 1912, Mittlers Verlag.
- ↑ Generalmajor A. v. d. Lippe: »Gedanken über eine neue Wehrverfassung.« Berlin, Verlag Salle 1912, S.18.
- ↑ v. Bogueslawski: »Die zweijährige Dienstzeit und ihre Ergebnisse.« Berlin 1912, Militärische Zeitfragen, Heft 4.
- ↑ M. Schneesieber: »Zwei Jahre Dienstzeit.« Straßburg, Verlag Singer 1909, S. 32.
- ↑ Engels »Anti-Dühring«, S. 176.
- ↑ v. Schlieffen: »Der Krieg in der Gegenwart«. Deutsche Revue, Januar 1909.
- ↑ Bernhardi: »Vom heutigen Kriege«, Bd. 1, S. 344/46.
- ↑ Berlin 1906.
- ↑ »Berliner Tageblatt« vom 9. September 1912.
- ↑ Karl Bleibtreu: »Das Heer.« Frankfurt a. M. 1911, S. 168/69.
- ↑ »Die ersten deutschen Sozialistenkongresse«. Abgedruckt in der Sammlung: »Aus der Waffenkammer des Sozialismus.« 6. Halbjahrsband, S. 101–105. Frankfurt 1906.
- ↑ Paris 1911. Jules Rouff. Eine deutsche Übersetzung des Buches soll bei Diederich in Jena erscheinen.
- ↑ Marx: »Zur Kritik des sozialdemokratischen Parteiprogramms.« Abgedruckt in der Sammlung: »Aus der Waffenkammer des Sozialismus.« 10. Halbjahrsband, Frankfurt 1908.