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Kleine politische Schriften | |
|---|---|
| Autor*in | Wilhelm Liebknecht |
| Quelle | https://www.projekt-gutenberg.org/liebknec/polschri/polschri.html |
Die umfangreiche Broschüre – 1. Auflage (1874) 128, 2. Auflage (1876) 200 Druckseiten – konnte hier nur in gekürzter Fassung gebracht werden. Liebknecht kam erst während der Hubertusburger Haft dazu, die im Frühjahr 1870 von ihm gehaltenen Reden zur Grund- und Bodenfrage zu einer selbständigen Schrift auszuweiten. Von der 2. Auflage (1876), die durch Tatsachenmaterial sowie umfangreiche Belege aus dem »Kapital« wesentlich erweitert worden war, übernehmen wir in Fußnoten die Erweiterungen bzw. Veränderungen Liebknechts, die auf die Marxsche Kritik des Gothaer Programmentwurfs zurückgehen. Unsere Wiedergabe des Grundtextes beruht auf der in der Zentralbibliothek der Gewerkschaften, Berlin, vorhandenen 1. Auflage, Leipzig 1874.
Die Grund- und Bodenfrage
Vortrag, gehalten im Saal des Schützenhauses zu Meerane am 11. März 1870 [Auszug]
Aus zwei Gründen habe ich die Einladung angenommen, hier in öffentlicher Volksversammlung einen Vortrag über die Grund- und Bodenfrage mit besonderer Berücksichtigung der Baseler Beschlüsse[Anmerkung 1] zu halten. Erstens wegen der großen Wichtigkeit, welche die Grund- und Bodenfrage an sich hat; und zweitens, weil eine Klarlegung dieser Frage und der Stellung der sozialdemokratischen Partei zu ihr in unserem unmittelbarsten Parteiinteresse ist. Daß die Frage eine brennende, wird durch die außerordentliche Aufregung bewiesen, welche die Baseler Beschlüsse hervorgerufen haben; und daß eine Klarlegung notwendig, durch die schiefen Urteile, welche fast allgemein in der Presse über diese Beschlüsse gefällt werden. Da aber unsere Partei, soweit die deutschen Vereinsgesetze[Anmerkung 2] es erlauben, zur Internationalen Arbeiterassoziation gehört, so stehen wir den Beschlüssen des letzten Kongresses der Internationalen Arbeiterassoziation nicht als Fremde, Unbeteiligte gegenüber, sondern haben uns auszusprechen, ob wir dieselben billigen oder nicht. Unser Verhältnis zur Internationale läßt uns die Entscheidung vollständig frei: eine starke Minorität hat auf dem Baseler Kongreß gegen die Beschlüsse gestimmt, ohne damit aus der Internationale auszutreten; und ebensogut könnte die sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands als Ganzes, oder einzelne Mitglieder derselben als Privatpersonen, sich mißbilligend über die Beschlüsse aussprechen, ohne dadurch das bisherige Verhältnis zur Internationale im mindesten zu verändern oder gar zu lösen. Die Internationale Arbeiterassoziation ist keine Gesellschaft von sozialistischen Unfehlbarkeitsjüngern, welche nach einer Schablone denken und jede unabhängige Geistesregung verfemen. Sie umfaßt Männer der verschiedensten Anschauungen und heißt jeden willkommen, der ernstlich die Befreiung der arbeitenden Klassen und die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit erstrebt – mag er betreffs der einzuschlagenden Wege Ansichten haben, welche er wolle.
Die sogenannte Volkspartei[Anmerkung 3] – ich sage mit Bedacht: sogenannte, denn schon der Ausdruck »Volkspartei« ist eine contradictio in adjecto, eine Zusammenstellung zweier einander widersprechender Wörter, weil der Begriff »Volk« das Ganze, der Begriff »Partei« aber nur einen Teil umfaßt, und ein Teil nicht das Ganze, das Ganze nicht ein Teil sein kann –, also die sogenannte Volkspartei, ein aus den ungleichartigsten Elementen bestehendes Konglomerat, zusammengekittet durch Preußenhaß, hat, obschon sie seinerzeit dem durchaus sozialistischen Nürnberger Programm[Anmerkung 4] zustimmte, an uns das Ansinnen gerichtet, die Baseler Beschlüsse öffentlich und feierlich zu verleugnen; und es sind, da dem Ansinnen nicht willfahrt werden konnte, sogar unterderhand von jener Seite aus mancherlei Versuche gemacht worden, die Baseler Beschlüsse als trennenden Keil in unsere Parteiorganisation einzuschieben und sie zur Aufhetzung der ländlichen Bevölkerung gegen uns zu benutzen. Es ist eine Tatsache, daß es Organe der Volkspartei sind, welche in der gehässigsten, leidenschaftlichsten und unvernünftigsten Weise über die Baseler Beschlüsse gezetert haben.
Ich werde zeigen, daß die Baseler Beschlüsse in dem Stand der Landfrage ihre vollste Berechtigung finden; daß das Geschrei gegen die Baseler Beschlüsse nur Ignoranz oder bösem Willen entspringen kann; und daß unsere Partei, wollte sie die Baseler Beschlüsse verleugnen, ihre eigenen Prinzipien, ihr eigenes Programm verleugnen würde.
Zunächst eine kurze Auseinandersetzung, die nur den Pfad ebnen, ihn von etlichem, den Fuß hemmenden Gestrüpp reinigen soll. Man hat das Publikum daran gewöhnt, das Privateigentum, namentlich das ländliche Privateigentum, mit einer Art von heiliger oder abergläubischer Scheu zu betrachten, als ein unantastbares Wesen, als eine Gottheit sozusagen, die ewiges Leben habe und die angebetet worden sei zu allen Zeiten und angebetet werden müsse in alle Ewigkeit. Es ist das eine total falsche Auffassung. Gleich den übrigen Göttern und Götzen ist das Eigentum ein menschliches Produkt; und man weiß ja, die praktischen Wilden schlagen die Götzen in Stücke, wenn sie ihnen nicht die erwarteten Dienste leisten. Der Eigentumsbegriff ist nur der Reflex, das Erzeugnis der Staats- und Gesellschaftszustände, und mit diesen naturgemäß einer beständigen Veränderung unterworfen. Der Eigentumsbegriff von heute ist nicht der Eigentumsbegriff von gestern, wie der Staat und die Gesellschaft von heute nicht der Staat und die Gesellschaft von gestern sind. Es kann deshalb nichts lächerlicher sein, nichts mit der ganzen geschichtlichen Entwicklung mehr in Widerspruch stehen, als von einem feststehenden »Eigentumsprinzip« zu reden, das unverrückbar in der Mitte des politisch-sozialen Weltsystems befestigt sei, dasselbe »harmonisch« bewegend und lenkend, wie unsere Sonne die Erde und deren himmlische Geschwister. Der Eigentumsbegriff verschiebt sich wie der Flugsand, und wer auf die »Ewigkeit« des heutigen Privateigentums baut, baut auf Flugsand. [...]
Ich habe nun in kurzen Umrissen gezeigt, wie der Eigentumsbegriff im Lauf der Zeiten sich verändert hat, wie das Recht auf Privateigentum weder von der klassischen griechischen Kultur anerkannt wurde noch vor der christlichen Lehre besteht; wie Römertum sowohl als Germanentum trotz kräftiger Ausbildung des Eigentumsbegriffs dennoch das Privateigentum dem Staat und der Gemeinde absolut untergeordnet haben; wie namentlich in bezug auf das Grundeigentum zu allen Zeiten kommunistische Anschauungen entweder praktisch geherrscht oder wenigstens theoretisch von den hervorragendsten Geistern vertreten worden sind.
Damit ist der Weg gebahnt – der Baseler Beschluß verliert sein Überraschendes, Erschreckendes. Wir stehen vor einem uralten Problem; und statt mit einem urplötzlich hereingeschneiten Fremdling haben wir es mit einem alten Bekannten zu tun.
Die Internationale Arbeiterassoziation hat sich in Basel nicht zum erstenmal mit der Grund- und Bodenfrage beschäftigt. Schon auf dem Kongreß des Jahres zuvor, der in Brüssel statthatte,[Anmerkung 5] wurde die Frage eingehend erörtert und eine Resolution gefaßt, die wesentlich dasselbe besagt wie die Baseler Beschlüsse und das Verdienst vor ihnen voraushat, daß sie die Motive kurz darlegt. Und eigentümlich: die damalige Resolution erregte, obgleich die Presse sie veröffentlichte und überhaupt dem Brüsseler Kongreß mit großer Aufmerksamkeit folgte, nur wenig Aufsehen; man fand sie offenbar ganz natürlich von Seiten einer sozialistischen Gesellschaft, welche sich die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise und die radikale Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse zum Ziel gesteckt hat. Wie anders die Baseler Beschlüsse! Es war, wie wenn in die bürgerliche Gesellschaft urplötzlich eine Bombe gefallen wäre, die, zerplatzend, Tod und Verderben ausstreut und zugleich mit Blitzhelle furchtbare Schrecknisse dem Blicke erschließt, welche die Dunkelheit bisher verschleiert hatte. Das Fehlen der Motivierung bei den Baseler Beschlüssen reicht nicht, wie man vielfach gemeint hat, zur Erklärung dieses Unterschieds in der Aufnahme aus. – Die Forderungen des Sozialismus sind schon so oft begründet worden, daß die Begründung auch dem unwissendsten Journalisten – trotzdem der Unwissenheit unserer Journalisten die Krone gebührt im Reich der Unwissenheit – mehr oder weniger geläufig sein muß. Nein – nicht hierin ist der Grund der veränderten Aufnahme zu suchen, sondern in den veränderten Verhältnissen, in den Fortschritten der sozialistischen Bewegung während des letzten Jahres. Zwischen Brüssel und Basel liegt Eisenach. Bis zum August des vorigen Jahres hatte unsere deutsche Bourgeoisie den Sozialismus für eine exotische (ausländische) Pflanze gehalten, die auf deutschem Boden nicht Wurzel fassen könne. Der Eisenacher Kongreß zerstörte die Illusion: er enthüllte der Bourgeoisie die unangenehme Wahrheit, daß die Internationalität des Sozialismus keine harmlose Phrase, daß der Sozialismus auf deutschem Boden so gut gedeiht wie auf fremdländischem und bereits zu einem »Faktor geworden ist, mit dem man rechnen muß«. Der Hintergrund von Eisenach, der dem Brüsseler Beschluß fehlt, verlieh den Baseler Beschlüssen eine unmittelbar praktische Bedeutung. Es handelte sich nicht mehr um Hirngespinste, um Träumereien, schlimmstenfalls um zeitlich wie räumlich ferne Möglichkeiten – nein, die Gefahr war nahe gerückt, sie brannte auf die Nägel –, und statt sich ruhig das furchtbare Gespenst anzusehen, es anzugreifen und zu begreifen, stieß die Bourgeoisie ein Zetergeschrei aus, wie wenn sie, gleich Rip van Winkle, seit Jahren geschlafen und keine Ahnung davon hätte, daß, was ihr solche Angst in die Glieder jagt, während sie schnarchte, jedem Nichtschläfer sichtbar am hellen Tageslicht lustig und munter emporgewachsen ist.
Betrachten wir uns jetzt das Gespenst. Zunächst will ich den Brüsseler Beschluß mitteilen. Derselbe lautet:
»In Erwägung, daß die Erfordernisse der Produktion und die Anwendung der bekannten Gesetze der Agronomie (Wissenschaft des Landbaus) den Großackerbau erheischen und die Einführung der Maschinenarbeit und die Organisation der ländlichen Arbeitskraft notwendig machen und daß im allgemeinen die moderne ökonomische Entwicklung dem Großackerbau zustrebt;
in Erwägung, daß demgemäß die ländliche (Ackerbau-)Arbeit und das Landeigentum auf denselben Fuß gesetzt werden muß wie die Bergwerke;
in Erwägung, daß die produktiven Eigenschaften des Bodens das Urmaterial aller Produkte, die Urquelle aller Produktionsmittel und aller brauchbaren Dinge bilden und daß diese produktiven Eigenschaften nicht durch Arbeit erzeugt sind;
ist der Kongreß der Meinung, daß die ökonomische Entwicklung der modernen Gesellschaft es zu einer gesellschaftlichen Notwendigkeit machen wird, Grund und Boden in gemeinschaftliches gesellschaftliches Eigentum zu verwandeln, und daß der Boden von Staats wegen an Ackerbaugesellschaften (Genossenschaften) zu verpachten ist, unter ähnlichen Bedingungen wie die Bergwerke und Eisenbahnen«.
Dies der Beschluß des Brüsseler Kongresses. Die betreffende Stelle des darin erwähnten Beschlusses, welcher die Erhebung der Bergwerke und Eisenbahnen zu Staatseigentum verlangt, lautet:
»Die Arbeiter sind kontraktlich verpflichtet, die Eisenbahnen und Bergwerke in vernünftiger und wissenschaftlicher Weise auszubeuten und den Preis für das Publikum möglichst den Betriebskosten anzupassen. Der nämliche Kontrakt muß dem Staat das Recht wahren, die Rechnungen der Gesellschaften zu prüfen, damit keine Monopole entstehen können. Ein zweiter Kontrakt muß die Rechte jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds gegenüber seinen Kollegen wahren.«[Anmerkung 6] Ich mache auf die Bestimmung hinsichtlich des Preises (der Bergwerksprodukte, der Eisenbahnbenutzung usw.) aufmerksam; es erhellt daraus, daß der Internationale Kongreß, als er diese Beschlüsse faßte, durchaus nicht an einen in der Idee vorhandenen fertigen Zukunftsstaat ohne Privateigentum dachte, sondern an einen Übergangszustand, in welchem die heutigen Produktionsverhältnisse zum Teil noch fortbestehen. In einem Staat oder einer Gesellschaft ohne Privateigentum kann überhaupt – außer allenfalls dem noch nicht auf gleicher Grundlage organisierten Auslande gegenüber – von Preisen der Arbeitsprodukte und Arbeitsleistungen nicht die Rede sein. Alle Arbeit würde im Auftrage, unter der Leitung und zum Nutzen der Gesamtheit stattfinden, welche für die Verwendung der Produkte und Leistungen im Interesse der Gesamtheit und jedes einzelnen zu sorgen hätte. In einer solchen Gesellschaft würden überhaupt keine gesonderten Assoziationen bestehen; die ganze Gesellschaft wäre eine einzige große Assoziation. Und dies ist auch unzweifelhaft das Ziel, dem die menschliche Entwicklung zustrebt. Jedenfalls aber ist durch den Wortlaut des fraglichen Beschlusses die Verleumdung widerlegt, die Internationale Arbeiterassoziation suche mit gleichen Füßen blindlings aus der alten bürgerlichen Gesellschaft in die neue kommunistische Gesellschaft hinüberzuspringen.
Der Vollständigkeit wegen muß ich noch eines anderen in Brüssel gefaßten Beschlusses erwähnen, der die beiden soeben mitgeteilten ergänzt. Ich meine die Resolution hinsichtlich der Maschinen, welche also lautet:
»In Erwägung, daß einerseits die Maschinen eines der mächtigsten Instrumente des Despotismus und der Aufsaugung des Nationalreichtums in den Händen der Kapitalisten sind;
daß andererseits die Entwicklung der Maschinerie die notwendige Bedingung zur Andiestellesetzung eines wahrhaft sozialen Kooperativsystems (Systems der genossenschaftlichen Arbeit) ist;
daß die Maschinen dem Arbeiter nur dann wahre Dienste leisten werden, wenn sie im Besitze des Arbeiters sind:
erklärt der Kongreß, daß die Maschinen, wie alle anderen Arbeitsinstrumente den Arbeitern selbst gehören und zu dem Vorteil der Arbeiter funktionieren (verwendet werden) müssen;
daß jedoch schon im heutigen Zustande die in Widerstandsgesellschaften (Sociétés de resistance – Trades Unions – Gewerkschaften) organisierten Arbeiter bei Einführung neuer Maschinen darauf hinwirken sollen, daß diese Maschinen nur unter gewissen Bürgschaften oder Entschädigungen für die Arbeiter in die Werkstätten und Fabriken eingeführt werden.«[Anmerkung 7] Fassen wir die Beschlüsse des Brüsseler Kongresses zusammen, so ist ihr Inhalt: »Der Grund und Boden, Bergwerke, Maschinen und alle sonstigen Arbeitsinstrumente sowie die Kommunikationsmittel (Eisenbahnen usw.) müssen gemeinschaftliches (Staats- und Gesellschafts-)Eigentum sein, weil sie, im Privatbesitz einzelner Individuen, diesen Individuen die Macht verleihen, alle übrigen Glieder der Gesellschaft in ökonomischer und politischer Abhängigkeit zu halten.« Die Baseler Beschlüsse, zu denen ich nun komme, sind nur die Wiederholung jener Brüsseler Beschlüsse, insoweit dieselben den Grund und Boden betrafen. Sie wurden am 10. September des vorigen Jahres (1869) mit großer Mehrheit gefaßt und lauten:
- Der Kongreß erklärt, daß die Gesellschaft das Recht hat, das individuelle Eigentum an Grund und Boden abzuschaffen und den Grund und Boden in Gemeineigentum zu verwandeln.«
- »Der Kongreß erklärt, daß es im Interesse der Gesellschaft notwendig ist, den Grund und Boden in Gemeineigentum zu verwandeln.«[Anmerkung 8]
Der erste Beschluß wurde mit 54 gegen 4 Stimmen angenommen (13 Delegierte enthielten sich der Abstimmung); der zweite Beschluß mit 53 gegen 8 Stimmen (10 enthielten sich der Abstimmung; 4 Delegierte waren bei beiden Abstimmungen abwesend). Die Vertreter aus England, Deutschland, Belgien waren einstimmig für die Beschlüsse, die Franzosen nur zur kleineren Hälfte; die gegen die Beschlüsse stimmenden sowie die sich der Abstimmung enthaltenden Delegierten waren sämtlich Franzosen. Dies ist bemerkenswert, und es wird sich im weiteren Verlauf meines Vortrags herausstellen, warum die Franzosen der hauptsächlich durch die Engländer repräsentierten Majoritätsgruppe in dieser Weise gegenübertraten oder neutral blieben.
Ich selbst war gegen eine neue Beschlußfassung in der Grund- und Bodenfrage, da die Brüsseler Beschlüsse ja den Standpunkt der Internationalen Arbeiterassoziation zur Genüge dargelegt hatten. Als es aber trotz der von Eccarius und mir erhobenen Einwendungen dennoch zur Abstimmung kam, mußte ich natürlich meiner Überzeugung gemäß für die Anträge stimmen, obgleich mir auch deren Wortlaut keineswegs zusagte; denn erstens gehörten beide Anträge zusammen; und zweitens ist »Recht« ein vieldeutiges Wort, das wohl hübsch klingt, aber bei bestimmten Forderungen vermieden werden sollte. Was ist Recht? Das Recht des Junkers ist Junkerrecht; das Recht des Bourgeois ist Bourgeoisrecht; das Recht des Arbeiters ist Arbeiterrecht. Das einzige berechtigte Recht, wenn wir den Ausdruck einmal annehmen wollen, ist das Recht, sich nicht unterdrücken zu lassen, und diesem Recht steht die Pflicht zur Seite, keinen anderen zu unterdrücken; das heißt, einem jeden das gleiche Recht, welches man für sich selber beansprucht, zuzuerkennen. Also gleiches Recht und gleiche Pflichten für alle. In einem Wort: Gerechtigkeit. Gerechtigkeit als Gesellschaftsgrundsatz setzt aber gleiche Interessen aller Gesellschaftsglieder voraus, während jetzt die Interessen der Gesellschaftsglieder sehr verschiedenartige, einander widerstreitende sind. Ein abstraktes oder absolutes, unbedingtes Recht, von dem unsere Philosophen faseln, gibt es nicht; jeder Mensch, jeder Stand, jede Klasse hat sein, hat ihr eigenes Recht; und in jedem Fall ist das Recht bei Lichte betrachtet nichts anderes als der Ausdruck des Interesses; das Recht des Junkers ist das Interesse des Junkers, das Recht des Bourgeois das Interesse des Bourgeois, das Recht des Arbeiters das Interesse des Arbeiters. Wird der Arbeiter Bourgeois, was freilich höchst selten vorkommt, obgleich unsere Gegner behaupten, es stände in der Macht eines jeden Arbeiters – es müssen sonderbare Schwärmer sein, diese Arbeiter, sich freiwillig zum Elend zu verurteilen und sich abzurackern von morgens früh bis spät in die Nacht, aus purem Privatvergnügen! –, geschieht einmal das Wunder, daß ein Arbeiter Bourgeois wird, so ist hundert gegen eins zu wetten, daß er das »Arbeiterrecht« ablegt und das »Bourgeoisrecht« anzieht; wird ein Bourgeois in den Adelsstand erhoben, so schwärmt er plötzlich für das »Adelsrecht« usw. Interesse und Recht sind bloß verschiedene Bezeichnungen desselben Dinges. Wenn der Kongreß erklärt: die Gesellschaft hat das Recht, das Grundeigentum zu Gemeineigentum zu machen, so heißt das präziser ausgedrückt: der Kongreß ist der Ansicht, daß das Interesse der Gesellschaft die Verwandlung des Grund und Bodens in Gemeineigentum erheischt. Und in diese Fassung war zugleich die zweite Resolution eingeschlossen; denn das Interesse der Gesellschaft ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit, wie es nach gewöhnlicher Phrase ein Recht der Gesellschaft ist.
Doch das ist Formsache. Über den Inhalt und die Tragweite der Beschlüsse kann kein Zweifel obwalten. Der Kongreß erklärt, daß er die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden und die Verwandlung desselben in Gemeineigentum für eine gesellschaftliche Notwendigkeit hält.
Der Kongreß stellt damit einen Grundsatz auf, erläßt aber keinen Ukas. Er spricht eine Konsequenz der sozialistischen Anschauung aus, dekretiert aber nicht Maßregeln zur Verwirklichung dieser Konsequenz. Kurz, die Baseler Beschlüsse sind wesentlich theoretischer Natur und haben keinen unmittelbaren praktischen Charakter. Das haben die Gegner entweder übersehen oder nicht sehen wollen. Sie tun, als ob in Basel die sofortige Depossedierung sämtlicher Landbesitzer angeordnet worden sei und nun jeder Grundbesitzer darauf gefaßt sein müsse, jeden Moment den Besuch eines internationalen Hänge-Gendarmen mit feuerroter Bluse und Hahnenfeder zu empfangen, der ihm die angenehme Wahl stellt, entweder sofort gutwillig von Haus und Hof zu ziehen oder am nächsten besten Haken oder Baumast aufgeknüpft zu werden. Das absichtliche oder unabsichtliche Mißverständnis wäre zum Lachen, wenn es nicht so gefährlich wäre. An diesem Mißverständnis ist die französische Februarrepublik zugrunde gegangen, und dieses Mißverständnis kann der Volksbewegung in Deutschland unsagbaren Schaden zufügen, wenn ihm nicht zeitig gesteuert wird.
Den Urhebern und Kolporteuren des Mißverständnisses, insbesondere den sich »demokratisch« nennenden, will ich bloß die Frage vorlegen, ob sie uns für Tollhäusler halten. Und wenn, wie sie sich vor solchen Tollhäuslern fürchten können, die, ohne daß die gewöhnliche Gendarmerie um einen Mann verstärkt zu werden brauchte, von den Bauern selbst eingefangen und, mancher mit blauen Malen bedeckt, in das Landesgefängnis oder das Landesirrenhaus würden abgeliefert werden, welche letztere Versorgung gewiß ganz in der Ordnung wäre! Fürwahr, die Angst macht kindisch!
Statt altweibergleich zu kreischen und sich die Hand vor die Augen zu halten, zeige man doch etwas männliche Besonnenheit, stelle das Zetern ein und öffne vor allem die Augen, um das Schreckensgespenst zu betrachten!
Es gibt keine Gespenster! haben wir schon in der untersten Schulklasse gelernt. Und doch haben wir erwachsene, sich nicht bloß gebildet nennende, nein sogar die Verbreitung der Bildung geschäfts- und berufsmäßig treibende Personen, die in bezug auf die soziale Frage der lächerlichsten Gespensterfurcht huldigen, diese auch anderen einzuflößen beflissen sind und Staatshilfe gegen das von ihnen selbst geschaffene Gespenst anrufen. Gegen Gespenster hilft keine Polizei, da hilft nur Wissenschaft, nur Erkenntnis. Fassen wir das Gespenst ins Auge, betrachten wir es mit dem forschenden Blick der Kritik, und es wird sich in sein Nichts auflösen.
Machen wir uns zunächst den gegenwärtigen Stand der Grund- und Bodenverhältnisse klar. Ist derselbe ein befriedigender oder nicht? Ist er befriedigend, das heißt, sind die heutigen Grund- und Bodenverhältnisse im Einklang mit den Interessen der Gesellschaft, ihnen förderlich, dann haben wir überhaupt keine Grund- und Bodenfrage, und diejenigen, welche sich vermessen wollten, an diesen Verhältnissen zu rütteln, würden es mit dem nämlichen Erfolg tun wie das Kind, welches nach dem Mond greift, um ihn vom Himmel herunterzuholen. Ist dagegen der Stand der Grund- und Bodenverhältnisse nicht befriedigend, das heißt nicht im Einklang mit den Interessen der Gesellschaft, läßt es sich nachweisen, daß unsere heutigen Grund- und Bodenverhältnisse den Interessen der Gesellschaft, dem Gemeinwohl, den Kulturaufgaben der Menschheit, der Humanität und Gerechtigkeit zuwiderlaufen – wohlan, dann erheischen die Interessen der Gesellschaft eine Reform der Grund- und Bodenverhältnisse; wem die Interessen der Gesellschaft am Herzen liegen, der muß eine solche Reform wünschen, für sie wirken; und wer sich ihr entgegenstemmt, ist ein gemeinschädliches Individuum, ist ein Feind der Gesellschaft, dem es, sei seine Stellung welche sie wolle – und kommandiere er Hunderttausende von Bajonetten – nimmermehr gelingen wird, die im Interesse der Gesellschaft notwendige Umgestaltung zu verhindern.
Jetzt zur Sache.
Die zwei in der heutigen bürgerlichen Welt einzig möglichen Landsysteme – Pol und Gegenpol der Landfrage –, das System des Privatkleingrundbesitzes (Parzellensystem) und das System des Privatgroßgrundbesitzes, sind, mit einer charakteristischen internationalen Teilung der Arbeit in den beiden ökonomisch entwickeltesten Kulturländern, jenes in Frankreich, dieses in England, wahrhaft klassisch verwirklicht, und zwar noch nicht zu den allerletzten Konsequenzen, aber doch so weit durchgeführt worden, daß die letzten Konsequenzen klar und deutlich vor jedem daliegen, der Augen hat zu sehen.
[...] Bei vernünftigen gesellschaftlichen Einrichtungen würde England gleich den übrigen Kulturländern ein Paradies für alle seine Bewohner sein können. Und jetzt? Von 30 Millionen Engländern höchstens 1 Million im Wohlstand, zum Teil im überschwenglichsten, unnatürlichsten Reichtum lebend; eine zweite Million in den Armenhäusern auf dem sozialen Kehrichthaufen verfaulend, wie wertloses Gerümpel in die Ecke gefegt von dem Stahlbesen der »freien Konkurrenz«; und die übrigen 28 Millionen, darunter 2 ½ Millionen Halbpaupers, sich abschindend, um jene 2 Millionen freiwilliger und unfreiwilliger Müßiggänger, die ersteren in ihrem Luxus, die letzteren in ihrem Elend zu erhalten – läßt sich der Aberwitz, die greuliche Mißwirtschaft der in England auf den höchsten Gipfel gelangten bürgerlichen Gesellschaftsordnung schärfer verurteilen, blutiger geißeln?
Nach einer mir vorliegenden Berechnung könnte England, gegenwärtig von allen Großstaaten der dichtestbevölkerte (es enthält 8384 Einwohner auf die Quadratmeile), bei rationeller Bewirtschaftung schon jetzt das Achtfache seiner heutigen Bevölkerung ernähren, nämlich 200 Einwohner auf je 100 Acker,[Anmerkung 9] anstatt bloß 26, von denen obendrein je einer ein erklärter Pauper ist – im ganzen 184 Millionen statt 23. Der bekannte englische Geschichtsschreiber Alson kommt in seinem Werk »Über die Bevölkerung« zu einem ähnlichen Resultat; er meint, England könne bequem 180 Millionen ernähren und die gesamte Erde mindestens 6600 Millionen, das Sechsfache der jetzigen Anzahl. In bezug auf letztere Berechnung bleibt er unzweifelhaft hinter der Möglichkeitsziffer zurück, da zum Beispiel der kolossale Kontinent von Afrika, wenn einmal der Kultur erschlossen, mindestens für das Hundertfache der heutigen Bevölkerung ausreicht. Ein anderes Zeugnis. Herr Mechi, ein namhafter englischer Agronom (Landwirt), Bourgeois vom Scheitel bis zur Sohle, hat ausgerechnet, daß, wenn der Boden in ganz England so bebaut würde, wie er seit Jahren seine Musterfarm in Tiptree bebaut, der Ertrag der 44 ½ Millionen Acker englischen Landes von 170 000 000 Pfd. St. jährlich auf 534 000 000 Pfd. St. erhöht würde, also eine Steigerung des Produktes um mehr als das Dreifache.
Wir sehen daraus, daß die intensive Privatgroßproduktion im Ackerbau, welche in England besteht, obschon weit ergiebiger als die ackerbauliche Kleinproduktion, doch lange nicht den Ertrag gibt, welchen eine durchaus vernünftig organisierte Produktion gäbe. Der Privatgrundbesitz hat eben nur seinen Sondervorteil im Auge. Ob der Ertrag groß oder klein, das Brot billig oder teuer – dem Landlord und Farmer ist's einerlei: wenn nur die »Profite« hoch sind; und bei hohen Brotpreisen, das heißt, wenn der Ertrag niedrig, sind die Profite ja bekanntlich am höchsten. Und solange der Grund und Boden Privateigentum ist, wird es nicht anders sein.
Man hört in England neuerdings vielfach von »freiem Land« reden. Lasse sich niemand durch diese Phrase irreführen! Es sind die radikalen Freihändler, welche diesen Ruf ausstoßen, und: freies Land! heißt nichts anderes als: das Land für die Bourgeoisie! Das Gesetz der Erstgeburt und andere auf die Erhaltung des Bodens in den Händen der »kleinen aber mächtigen Partei« der Landlords hinzielende Gesetze sollen abgeschafft und das Land »dem Volke freigegeben werden«. Das heißt: denjenigen aus dem Volke, welche mit Geld und Gut gesegnet sind und anderen schönen Dingen dieser Erde ein schönes Landgut hinzufügen möchten; und auch nicht »freigegeben«, das heißt, nicht gratis auf dem Präsentierteller, sondern für schweres, gutes, klingendes Geld. »Freies Land« ist die »freie Konkurrenz«, wie sie in Handel und Industrie herrscht, ausgedehnt auf das Grundeigentum: es ist die Vollendung des Werkes der Manchesterschule,[Anmerkung 10] die Krönung des Gebäudes, die zweite Auflage der Landeroberung: nach der normannischen[Anmerkung 11] die Eroberung Englands und der englischen Erde durch die Bourgeoisie. Es fehlt selbstverständlich nicht an Gimpeln, die sich durch das Wörtchen »frei« fangen lassen, doch sind diese Gimpel in England, wo der Bourgeoisliberalismus längst alle seine Karten ausgespielt und alle seine Versprechungen auf dem Prüfstein der unerbittlichen Praxis in ihrer Nichtigkeit zeigen gemußt hat, weit seltener als in unserem lieben Deutschland, das, trotzdem es vom »Denkervolk« bewohnt wird, auf ökonomischem Gebiet ebensoweit hinter England zurück ist wie auf politischem hinter Frankreich. »Freiheit« im Munde der Bourgeoisie heißt: Entfernung aller Fesseln und Schranken, welche die Bourgeoisie an Erringung der sozialen und politischen Weltherrschaft hindern. »Freiheit« heißt Herrschaft, und die Freiheit wird somit, da Herrschaft die Unfreiheit des Beherrschten zur notwendigen Voraussetzung hat, im Munde des Bourgeois in ihr Gegenteil verwandelt. Beiläufig hat das Wort Freiheit die nämliche Bedeutung im Munde aller Parteien, die nicht die vollständige Gleichheit aller Staatsbürger, sondern die Herrschaft, sei es einer Klasse, eines Standes oder einer Person erstreben. Freiheit der Bourgeoisie ist Herrschaft der Bourgeoisie, unbeschränkte Freiheit unbeschränkte Herrschaft. Die unbeschränkte Herrschaft ist überall das Ziel der Bourgeoisie; selbst in Deutschland, wo die Bourgeoisie sich so feig unter die Machthaber des Staats beugt, sucht sie den Staat sich ökonomisch dienstbar zu machen, ihn ökonomisch lahmzulegen. Sie stärkt ihn politisch, indem sie tatsächlich auf das Steuerbewilligungsrecht verzichtet und riesige Armeen bewilligt – freilich mit dem Hintergedanken, sie einst gegen die Arbeiterbataillone zu verwenden; und gleichzeitig sucht sie den Staat ökonomisch auf Null zu reduzieren, indem sie ihm die Domänen, die Eisenbahnen, die Bergwerke entreißt, ihm jedes industrielle Unternehmen verbietet. »Wir, die Bourgeoisie von Geldsacks Gnaden, haben das Monopol der ökonomischen Ausbeutung; uns gehört alle Produktion, uns gehört alles Eigentum, der Staat hat unser Monopol zu schützen; die, welche sich dagegen auflehnen sollten, erforderlichenfalls niederzukartätschen; aber darüber geht auch seine Aufgabe nicht hinaus. Begnügt sich der Staat nicht mit der Rolle unseres bezahlten Schutzmannes, erdreistet er sich, uns Konkurrenz zu machen, unser Monopol anzutasten, so verfehlt er seinen Beruf, verletzt er ›Recht‹ und ›Freiheit‹: ›unser Recht, unsere Freiheit‹!«
Das ist der Sinn des »freien Landes«, des Freihandels, der Industriefreiheit, des bürgerlichen »Rechtsstaats«, der ganzen Bourgeoisfreiheit.
Die Zahl der Landeigentümer in England vermindert sich von Jahr zu Jahr. Unmittelbar nach der normannischen Eroberung, 1066, betrug sie bei kaum einem Zehntel der heutigen Bevölkerung 40 000, wie aus dem Doomsday Book[Anmerkung 12] erhellt, und vor 200 Jahren, bei einer Bevölkerung von nicht 15 Millionen, 165 000. Innerhalb der letzten 200 Jahre ist die Bevölkerung von 14 ½ Millionen auf 30 Millionen gestiegen, und die Zahl der Grundeigentümer, unter stetiger Abnahme, von 165 000 auf 30 000 gefallen. In diesem Zeitraum hat sich sonach die Zahl der Einwohner mehr als verdoppelt, die Zahl der Grundeigentümer um fünfhundertundfünfzig Prozent vermindert. Noch vor 200 Jahren kam ein Grundeigentümer auf 88 Einwohner; jetzt kommt ein Grundeigentümer auf 1000 Einwohner. Das sind Ziffern, deren Beredtheit durch keine Beredsamkeit gesteigert werden kann. Man pflegt diese zunehmende Konzentration des Bodens in den Händen weniger ausschließlich dem Erstgeburtsrecht und den die Zertrümmerung der großen Adelsgüter verbietenden oder doch sehr erschwerenden Gesetzen zuzuschreiben, allein mit Ungrund. Es wäre töricht zu leugnen, daß die erwähnten Gesetze auf die Gestaltung der Eigentumsverhältnisse von bedeutendem Einfluß gewesen sind und wesentlich dazu beigetragen haben, die heutige englische Landaristokratie ins Leben zu rufen; auf der anderen Seite steht aber fest, daß bei der außerordentlichen kapitalistischen Entwicklung Englands die Aufsaugung des kleinen durch den großen Grundbesitz erfolgt wäre, auch wenn jene Gesetze nicht bestanden hätten. Der einzige Unterschied wäre gewesen, daß das Land den alten Adels-, das heißt durch die normannische Eroberung zum Grundbesitz gelangten Räuberfamilien und nach deren Aussterben oder Ausrottung in den Bürgerkriegen den neuen Adelsfamilien (gegründet von königlichen Günstlingen, Speichelleckern, Bankerten, Kupplern und sonstigem glänzenden, das heißt von Fäulnis phosphoreszierenden Menschenkot) – daß das Land ganz oder zum größten Teil dieser Adelskaste entrissen worden und in den Besitz der modernen Bourgeosie übergegangen wäre. Man beseitige die Primogenitur (das Erstgeburtsrecht und was drum und dran hängt), und das Grundeigentum wird zwar rasch die Hände wechseln, aber die von einigen geträumte Wirkung, das Entstehen eines freien Kleinbauernstandes, wird sicherlich nicht eintreten, ebensowenig wie die großen Kapitalien sich in kleine zerbröckeln, die großen Fabriken in kleine Werkstätten zusammenschrumpfen werden. Der Zug der ökonomischen Entwicklung geht in der entgegengesetzten Richtung. Nicht aus dem Großeigentum ins Kleineigentum, sondern umgekehrt aus dem Kleineigentum ins Großeigentum. Jeder Versuch, das englische Großgrundbesitzsystem zugunsten des französischen Parzellensystems aufzuheben, wäre ein gemeinschädlicher Rückschritt. Der Weg geht über den Privatgroßgrundbesitz und die Privatgroßproduktion überhaupt hinaus in die genossenschaftliche Großproduktion auf dem Gebiet des Ackerbaues und der Industrie.
Jedes falsche System erliegt seinen Konsequenzen.
Die letzte Konsequenz des Privatgrundbesitzes und der kapitalistischen Privatproduktion ist: Konzentrierung des Besitzes, der Reichtümer und der Macht in einer Hand. – Ein Landlord, der Herr allen Grund und Bodens, Herr aller Fabriken ist, die gesamte Ackerbau- und Industrie monopolisiert, alle Staatsbürger in seinem Lohn hat, die Preise aller Lebensmittel und sonstigen Waren nach Gutdünken regelt. Ein Hirt und eine Herde; ein Sklavenbesitzer, welcher durch seine Sklavenpeitscher seine Land- und Stadtsklaven an die Arbeit treiben läßt. Kurz, eine politische und ökonomische Abhängigkeit, neben der selbst die Lage der alten Ägypter unter den Pharaonen urdemokratisch erscheint.
Das ist der Gipfel, das Endziel, das erfüllte Ideal der modernen kapitalistischen Kultur! Aber zum Glück läßt sich der Satz »summum jus summa injustitia« auch umdrehen und wird die summa injustitia zum summum jus. Die auf die Spitze getriebene Ungerechtigkeit ist die Mutter der strafenden Nemesis und der sühnenden Gerechtigkeit.
Warum aber habe ich die französischen und englischen Landverhältnisse so ausführlich behandelt? Aus dem einfachen Grund, weil sie das Wesen und die Wirkungen des Privatgrundbesitzes nach seinen beiden einzig möglichen Entwicklungsformen hin, schärfer, als es irgendwo anders der Fall ist, zum Ausdruck bringen. Dem Anatomen, der die Natur und Wirkungen einer bestimmten Krankheit studieren will, ist auf dem Seziertisch ein Körper um so wertvoller, je weiter in demselben die Krankheit gediehen war und je anschaulicher sie sich folglich darin darstellt. Das gleiche gilt für die soziale Anatomie; zum Studium der gesellschaftlichen Krankheiten ist ein Gesellschaftskörper, in dem diese Krankheiten zu höchster Entwicklung gelangt sind, besser geeignet als ein Gesellschaftskörper, in dem sie sich noch in den Anfangsstadien befinden. Die höhere Entwicklung schließt die niedere in sich nicht aber umgekehrt. Wer ein höher entwickeltes Land kennt, kann deshalb ein niedriger entwickeltes richtig beurteilen; wohingegen, wer nur ein niedriger entwickeltes Land kennt, außerstande ist, ein höher entwickeltes richtig zu beurteilen. Frankreich und England sind aber Deutschland in der ökonomischen Entwicklung voraus; und zwar ersteres ungefähr ebensoweit, wie ihm seinerseits England voraus ist. England ist das ökonomisch entwickeltste Land der Welt, das klassische Revier und Versuchsfeld der Menschheit auf ökonomischem, wie Frankreich auf politischem Gebiet. Da keine Theorie denkbar ohne Praxis und die Wissenschaft nur das Resultat der Erfahrung sein kann, ist darum auch England die eigentliche Heimat der Nationalökonomie. Der Mann, welcher die Nationalökonomie auf den Gipfel gebracht und von den Fälschungen und Irrtümern des Klassengeistes und Klassenvorurteils gereinigt hat, Karl Marx, der Kritiker und Vernichter der Bourgeoisökonomie, der Begründer der wissenschaftlichen Gesellschaftsökonomie, hat sich in England, wo er seit fünfundzwanzig Jahren ununterbrochen lebt, die Vorarbeiten und das Material zu seinem »Kapital« geholt. Er nimmt seine Beispiele fast ausschließlich aus England. Daß sie »fremd« sind, tut ihrer Beweiskraft keinen Abbruch. Für die Ökonomie, wie überhaupt für die Wissenschaft, gibt es kein fremd und einheimisch, kein Inland und kein Ausland. Die Wissenschaft kennt keine Nationalität. Es gibt keine englische, französische, deutsche Ökonomie, weshalb auch die übliche Benennung: Nationalökonomie eine sehr unpassende ist. Es gibt nur eine Ökonomie, deren Gesetze für England, Frankreich, Deutschland und alle übrigen Länder, die eine Gesellschaft haben, die nämlichen sind, die nämliche zwingende Gewalt haben. Mensch ist Mensch – als »Gesellschaftstier« ist er überall den gleichen Gesetzen unterworfen, ist die Wirkung derselben auf ihn die gleiche, ob er in diesem Lande wohnt oder in jenem. Was für den Engländer und Franzosen, gilt auch für den Deutschen; die nämlichen Erscheinungen, welche das Parzellensystem in Frankreich zutage gefördert hat, muß es auch in Deutschland zutage fördern, sobald es zu gleicher Entwicklung gelangt. Und zu gleicher Entwicklung muß es im Laufe der Zeit gelangen, mag sich der Staat noch so eifrig auf Palliativmittelchen gegen die allzu große Güterzersplitterung verlegen. Ebenso muß der Privatgroßgrundbesitz im Laufe der Zeit in Deutschland genau dieselben Wirkungen haben wie in England, mögen sich unsere Regierungen noch so sehr mit dem hoffnungslosen Problem abquälen, die gemeinschädlichen Wirkungen des Großgrundbesitzes aufzuheben oder zu mildern. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung ist durch kein Dekret, durch keine Maßregel, durch kein Machtaufgebot aus der Welt zu schaffen. Die Ursache bestehen lassen und die Wirkungen beseitigen wollen ist Narrenwerk. Vom russischen Regierungssystem hat ein Franzose (Custine) einst gesagt: »Es ist der Absolutismus, gemildert durch den Meuchelmord.« Gut – in ähnlicher Weise kann man von dem Großgrundbesitz sagen: es ist der kapitalistische Absolutismus, gemildert durch das Workhouse.[Anmerkung 13] Eine andere »Milderung« wird der genialste Staatsmann des Klassenstaats nicht entdecken.
In den englischen Landzuständen drückt sich am klassischsten das Wesen des modernen Privatgrundbesitzes aus. Darum mußte ich sie so eingehend behandeln. Das französische Parzellensystem ist ökonomisch ein überwundener Standpunkt. Die landwirtschaftliche Kleinproduktion kann die Konkurrenz mit der landwirtschaftlichen Großproduktion nicht aushalten und muß dieser geradeso Platz machen wie die industrielle Kleinproduktion der industriellen Großproduktion. Bleibt der heutige Klassenstaat mit seiner Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital und seiner Aufsaugung des kleineren Kapitals durch das größere bestehen, so ist infolge der zunehmenden Überschuldung und Unergiebigkeit der kleinen Bauerngüter die Verdrängung des Parzellensystems durch das englische Landsystem nur eine Frage der Zeit. Ob die mittelalterlichen Landgesetze in England aufgehoben werden oder nicht, ist von untergeordneter Bedeutung. Die Aufhebung dieser Gesetze würde wohl große Veränderungen im Personal der Landbesitzer hervorbringen, aber das Wesen des Landbesitzes unberührt lassen. Das Landmonopol, welches die mittelalterlichen Adelsgesetze erstreben, ist auch das Ziel des modernen Bourgeoiskapitalismus. Les extrêmes se touchent; und wie in Frankreich der durch die Revolution geschaffene freie Kleingrundbesitz nach dritthalb Generationen den Bauer in die Misere des vorrevolutionären Feudalstaats zurückgeworfen hat, so würde in England der »Freihandel in Land«, und zwar ohne die dem französischen Bauer gewährte Galgenfrist der Illusionen, dem agricultural labourer sans façon das Joch der feudalen Leibeigenschaft, obendrein mit gesteigerter Ausbeutungskraft, auflegen. Der Kapitalismus ist raffinierter, potenzierter Feudalismus, und der englische Feudalismus hat dies so wohl begriffen, daß er seit vorigem Jahrhundert einen eminent kapitalistischen Charakter trägt.
Die englischen Zustände zeigen uns um einige Stationen voraus die Gestaltung unserer eigenen Zustände. Was in England ist, wird in Deutschland. Was hier unreife Frucht, der zum Teil noch die verdorrten Blüten anhängen, zum Teil freilich auch schon die Fäulnis am Kern frißt, ist dort reif, vollentwickelt, mit goldglänzender Schale, doch innen vermodert, gleich jenen Äpfeln, welche am Toten Meer wachsen sollen. Wir sehen in England unsere Zukunft. Der englische Landarbeiter, dieser Elendeste der Elenden, ist das getreue Bild der deutschen Bauern der nächsten Generationen – vorausgesetzt, daß der deutsche Bauer das warnende Exempel sich nicht zu Herzen nimmt und nicht rechtzeitig noch das Veto der Tat ausspricht. Fassen wir zusammen:
In Frankreich Kleingrundbesitz.
In England Großgrundbesitz.
In Frankreich der Grund und Boden in zahlreichen Händen (7 846 000 bei einer Bevölkerung von 38 Millionen) zersplittert; Kleinbetrieb des Ackerbaues; die Bauern durchschnittlich verschuldet; nicht Lohn-, aber Hypothekensklaven, indirekte Sklaven des Kapitals, der großen Mehrzahl nach in den jämmerlichsten Verhältnissen lebend; infolge Kapitalmangels irrationelle Bewirtschaftung des Bodens, geringe Produktivität der Arbeit (das Produkt gleich 215 Francs auf den Kopf, Männer, Frauen und Kinder der ackerbautreibenden Bevölkerung zusammengerechnet – nicht der dritte Teil dessen, was in England auf den Kopf kommt) und bei unsinniger Arbeitsvergeudung karger Bodenertrag (sieben französische Bauern verrichten die Arbeit von zwei englischen Landarbeitern, und der Acre in Frankreich ergibt 18 Bushel[Anmerkung 14] gegen 30 in England) – der französische Parzellenbauer sich plackend für seinen Gläubiger, wie der englische agricultural labourer für den Pächter und Landlord.
In England der Grund und Boden in wenigen Händen (30 000 bei einer Bevölkerung von 30 Millionen) konzentriert; kapitalistischer Großbetrieb des Ackerbaues; der unabhängige Bauernstand bis auf die letzte Spur ausgetilgt; statt freier Bauern unglückliche Lohnsklaven, die selbst unter den Komfort des Workhouses herabgedrückt sind; dagegen vergleichungsweise rationelle Bewirtschaftung, mit Benutzung – natürlich nur, soweit es das Interesse des Landlords und Farmers erheischt – der durch Wissenschaft und Kapital gebotenen Vorteile; infolgedessen intensive Produktivität der Arbeit (das Produkt gleich 715 Francs per Kopf, die gesamte ackerbautreibende Bevölkerung, Weiber und Kinder eingerechnet, und reichlicher Bodenertrag) zum ausschließlichen Nutzen der Landlords und Pächter.
Das französische System ruiniert den Staat; ruiniert das Land; ruiniert den Bauer; führt, wenn eine vernünftige, das Volkswohl erstrebende Politik nicht vorher eingreift, zum allgemeinen Bankrott und muß schließlich durch Anheimfallen der kleinen Höfe an die kapitalistischen Gläubiger oder durch Versteigerung an den Meistbietenden und Meisthabenden in das englische Landsystem übergehen.
Und das englische Landsystem? Es ermöglicht zwar eine relativ rationelle Bewirtschaftung des Bodens, raubt aber dem arbeitenden Volke die Früchte derselben und wirft sie den wenigen Monopolisten in den Schoß; es verurteilt die sich abschindenden Bebauer des Bodens zur hoffnungslosen Armut und häuft auf die müßiggängerischen Eigentümer unermeßliche Schätze, die sie teils in wüster Immoralität verprassen, teils unter Anwendung der korruptesten Mittel zur Befestigung ihrer ökonomischen und politischen Herrschaft benutzen. Es führt dahin, daß in nicht ferner Zeit eine Koalition von wenigen Familien, ja daß eine Familie den ganzen Grund und Boden in ihrem Besitz vereinigt und das Land nach Belieben aushungern kann.
Das ist der Stand der Grund- und Bodenfrage in den zwei ökonomisch fortgeschrittensten Kulturländern. Und nun zur Heimat.
In Deutschland haben sich die Grund- und Bodenverhältnisse infolge der Vielstaaterei und der Abwesenheit einer einheitlich gleichförmigen politischen Entwicklung nach keinem einheitlich gleichförmigen System ausgebildet. Wir begegnen in den verschiedenen Staaten und Landesteilen den verschiedensten und mannigfaltigsten Arten und Abarten des Grundbesitzes und entsprechend vielgestaltigen Zuständen der Landbevölkerung. Während wir im östlichen Teile Preußens und in Mecklenburg den englischen Großackerbau haben, herrscht am Rhein und überhaupt in Westdeutschland das französische Parzellensystem vor. Zwischen dem englischen und französischen System bewegen sich unsere deutschen Grundeigentumsverhältnisse: hier das eine, dort das andere mehr oder weniger entfaltet, häufig, ja wohl in den meisten Landstrichen, beide nebeneinander bestehend, ineinander überspielend. Um ein Beispiel zu wählen: in Hessen-Darmstadt haben wir vorwiegend das französische System, aber zwischen die kleinen Bauerngütchen haben sich die Großgüter der Standesherren, der Fürsten von Solms-Lich, Solms-Laubach, Grafen von Erbach usw. eingeschoben, die vollständig englisch bewirtschaftet werden und von Jahr zu Jahr mehr anschwellen durch die unaufhörliche Aufsaugung der kleinen Bauerngütchen. Diese großen Gutsherren sind richtige Hechte im Karpfenteich. Die armen Karpfen, das heißt die Kleinbauern, sind bloß dazu da, um die vornehmen Hechte zu mästen. Fürsten brauchen dies nicht zu sein, nicht einmal Adlige; ein guter Bürgerlicher, der sich für »sein« aus dem Mark des arbeitenden Volkes geschlagenes Geld ein »Rittergut«, oder was sonst die Bezeichnung sei, kauft, wird ein ebenso guter Hecht wie ein reichsunmittelbarer Fürst oder Landjunker mit ellenlangem Stammbaum. Wenn man Hechtszähne und einen Hechtsmagen hat und Karpfen in der Nähe, so lernt sich der Karpfenfang und das Karpfenfressen gar rasch. Mitunter hat der Hecht philanthropische Anwandlungen; er sucht das Bäuerchen, welches zu den verspeisten Äckern gehörte, wenigstens vor unmittelbarem Verderben zu retten. So ist es im Odenwald vorgekommen, daß ein ganzes Dorf von dem Grafen von Erbach gekauft und die Einwohnerschaft samt dem Bürgermeister und Dorfpolizeidiener dann hübsch fürsorglich nach Amerika geschickt wurde, wo die Leute nun die Segnungen republikanischer Freiheit genießen. Das war gewiß »liberal«, in doppelter Beziehung, und – der Herr Graf hat unzweifelhaft seine Rechnung dabei gefunden.
Man kann zugeben, daß die Lage unserer Landbevölkerung in manchen Gegenden Deutschlands nicht so schlimm ist wie in England und Frankreich; auch unsere industriellen Zustände, für welche die gleichen ökonomischen Gesetze gelten, sind noch nicht so auf die Spitze getrieben wie in den beiden genannten Ländern, was aber nicht hindert, daß sie, und zwar mit wachsender Geschwindigkeit, genau in der nämlichen Richtung vorwärts drängen. Mag hier und da auf dem Lande der Bauer und Landarbeiter sich noch vergleichungsweise eines idyllischen Daseins erfreuen – nach den ehernen Gesetzen der heutigen Gesellschaftsorganisation eilen wir unaufhaltsam im Norden und Osten englischen, im Süden und Westen zunächst französischen, schließlich aber, wenn nicht beizeiten die Entwicklung in andere, heilsame Bahnen geleitet wird, ebenfalls durch die notwendige Aufsaugung der kleinen Bauerngüter englischen Zuständen zu. Der mecklenburgische und ostpreußische Bauernknecht ist schon jetzt nicht besser dran als der englische agricultural labourer (Landarbeiter); ja in mancher Beziehung noch schlimmer, denn er vereinigt in seiner Person das Elend des modernen Lohnsklaven und die Rechtlosigkeit des mittelalterlichen Leibeigenen. Der deutsche Ackerknecht steht unter dem Stock, kann von seinem Gutsherrn zum Krüppel, ja totgeschlagen, wenn er sich muckst, niedergeschossen werden, ohne daß ein Hahn danach kräht. Das wenigstens kann dem englischen Landarbeiter nicht geschehen. Aushungern darf ihn der Pächter oder Gutsherr, ihm das Mark aussaugen, ihn ins Armenhaus werfen, nachdem er den letzten Rest von Arbeitskraft aus ihm herausgepreßt hat, aber ihn schlagen! Nimmermehr. Abgesehen davon, daß kein englischer Landarbeiter es sich ungestraft gefallen ließe, würden auch die eigentumstollsten englischen Friedensrichter und Geschwornen dem Pächter oder Gutsherrn, der einen Arbeiter, ohne von ihm angegriffen zu sein, körperlich mißhandelte, zu einer empfindlichen Strafe verurteilen.
Es fehlt uns für Deutschland jene Fülle des statistischen Materials, die für die ländlichen Verhältnisse Englands vorhanden ist; hat man doch vor einer die sozialen Zustände beleuchtenden Statistik bis jetzt in unserem Vaterlande eine heilige Scheu. Wenn Kinder vor etwas Unangenehmem die Augen zukneifen, vermeinend, daß das nicht Gesehene auch nicht existiere, so können wir ob solch kindlicher Naivität lachen. Wenn aber Staatsmänner, wenn Regierungen dasselbe tun, so ist das sicherlich nicht zum Lachen und verrät jedenfalls, abgesehen von der törichten Handlungsweise, ein sehr schlechtes Gewissen. Indes ermangeln wir doch nicht aller statistischen Anhaltspunkte. Nach einer Berechnung in den »Landwirtschaftlichen Annalen« des Mecklenburger patriotischen Vereins betrug 1865 die jährliche Gesamteinnahme einer wohlsituierten Landarbeiterfamilie, einer Familie von Dienst- oder Instleuten 283 Taler, wovon jedoch 100 Taler für sogenannte »Scharwerker« abzuziehen sind, so daß sich die Einnahme auf 183 Taler, das ganze Jahr hindurch, für die Arbeit von Mann, Frau und Kindern, beläuft. Und wohlgemerkt: diese Berechnung ist von Gutsbesitzern gemacht, die ein Interesse daran haben, die Dinge in rosigem Licht erscheinen zu lassen. Mit den »Scharwerkern« aber hat es folgende Bewandtnis: Unter den ländlichen Arbeitern gibt es verschiedene Abstufungen; die höchste und relativ am günstigsten gestellte Klasse sind die eben erwähnten »Dienstleute« oder »Instleute«, ehemalige Leibeigene oder Abkömmlinge von Leibeigenen. Dieselben stehen zu dem Gutsherrn in einem dauernden Dienstverhältnis, welches sich von der Leibeigenschaft nur durch den Namen unterscheidet; sie sind verpflichtet, das ganze Jahr hindurch mit Frau und Kind gegen Tagelohn und Naturalemolumente [Naturaleinkommen] zu arbeiten. Der Tagelohn bewegt sich zwischen 2 und 5 Silbergroschen,[Anmerkung 15] und die Naturalemolumente sind: eine Wohnung, die der des englischen Landarbeiters an Komfort ungefähr gleich ist, die Nutznießung von ½ bis 3 Morgen Landes, welches für den Gutsherrn den mindesten Wert hat, Futter für eine Ziege, wenn's hoch kommt für eine Kuh. Dafür haben die »Dienstleute« jahraus, jahrein an allen Werkeltagen, im Sommer auch am Sonntag, im Winter durchschnittlich elf, im Sommer sechzehn Stunden den Tag zu arbeiten. Der Drescherlohn wird meistens in Getreide verabfolgt und beträgt »in guten Jahren« für die Familie 30 bis 36 Scheffel.[Anmerkung 16] Wie wir gesehen haben, wird der Gesamtwert dieser Vergütungen in Geld und Naturalemolumenten von den Gutsherren auf zirka 283 Taler pro Familie veranschlagt. Um die geheischte Arbeit verrichten zu können, ist nun aber jede Familie kontraktlich verpflichtet, auf ihre Kosten einen oder zwei »Scharwerker« zu halten, junge Personen männlichen oder weiblichen Geschlechts, meist des letzteren, die als Untersklaven dieser Sklaven die Arbeit des Gutsherrn zu tun haben.
Ist die Ernte gut auf den Äckerchen, welche der gnädige Gutsherr den »Dienstleuten« überlassen hat, so halten diese mit Ach und Krach Leib und Seele zusammen; ist die Ernte jedoch schlecht – und das ist nichts Seltenes, da in der Regel das Land von der miserabelsten Qualität ist –, so tritt ein entsetzlicher Notstand ein.
Ich stellte die Wohnungen der »Dienstleute« mit denen der englischen Landproletarier auf eine Stufe. Man höre: Nach zuverlässigen Schilderungen sind drei, vier, oft noch mehr Familien in eine Wohnung zusammengepfercht, die kaum für eine einzige Familie ausreicht; die Betten sind schmutzige Lappen, die zerbrochenen Fensterscheiben mit Papier verklebt oder mit Lumpen zugestopft, die halbnackten Kinder im Schmutz fast verkommend.
Natürlich kann in solchen verpesteten Räumen kein gesundes Geschlecht aufwachsen; die Sterblichkeit der Kinder ist außerordentlich groß, woran insbesondere die erzwungene Abwesenheit der Mütter, die wenige Tage nach dem Wochenbett wieder zur Arbeit gehen müssen, wesentlichen Anteil hat. Die Weiber altern sehr früh, junge Mütter von vierundzwanzig, fünfundzwanzig Jahren sind runzlig und verblüht, als wären sie fünfzig, wie denn überhaupt die Weiber auf dem Lande, im Widerspruch mit der gewöhnlichen Ansicht, weit rascher altern als in der Stadt, wo die Frauen wenigstens nicht so allgemein zu schweren, die Leistungsfähigkeit des weiblichen Organismus übersteigenden Arbeiten angehalten werden. Der Gutsherr hat seinen »Kontrakt«, seinen »Schein«, und er besteht auf seinem Schein wie Shylock. Die ganze Arbeitskraft der ganzen Familie gehört ihm – da darf die Frau sich nicht schonen, wenn sie das Kind unter ihrem Herzen trägt –, sie muß schanzen für den Gutsherrn, dem ihre Arbeitskraft gehört, laut »Schein«; und ist das Kind zur Welt gekommen, so darf sie ihm ihre Muttersorge nicht widmen, nicht an die eigene Stärkung denken – sie muß hinaus, das arme Würmchen daheim lassen im Schmutz, mit dem vergiftenden Lutschbeutel im Mund, in der Pflege von kleinen, unverständigen Kindern, die noch zu schwach und unverständig sind, um mit Nutzen ins Joch des Kapitals gespannt zu werden – sie muß hinaus auf den Hof, für den Gutsherrn schanzen, dem ihre Arbeitskraft gehört, laut »Schein« – ihre ganze Arbeitskraft, ihr ganzes Mark bis auf den letzten Tropfen. Bricht sie zusammen, wird sie infolge der Überanstrengung durch eine akute Krankheit schnell weggerafft oder durch ein chronisches Leiden auf das Siechbett geworfen, arbeitsunfähig, sich selbst und den Ihrigen zur Last – nun, »es ist die erste nicht«, der Gutsherr hat nur getan, was »Recht« war, er hat nur auf seinem »Schein« bestanden. Wer will ihn anklagen? Er ist unschuldig wie das neugeborene Kind, dessen Mutter der »Schein« so schlecht bekommen ist, und das vermutlich so klug sein wird, der besten der Welten wieder Valet zu sagen, ehe es zur Vermehrung der Konkurrenz und zur Verschärfung der sozialen Gegensätze beitragen kann. Und verloren hat er auch nichts. Ja, wäre es ein Pferd, ein Ochse, ein Schaf, eine Ziege – das repräsentiert einen Wert, der sich in Geld ausdrücken läßt und der auf das Verlustkonto geschrieben werden muß, falls das betreffende Stück Vieh krepiert oder verunglückt; aber dieses unbefiederte zweibeinige Stück Vieh, das von unvorsichtigen Gefühlsduselern unter die Menschen gerechnet wird, repräsentiert, abgesehen von der Arbeit, die es im Dienste des Kapitals zu verrichten hat, nur einen ideellen, eingebildeten Wert, der sich nicht in klingender Münze ausdrücken läßt; »fällt« dieses zweibeinige Stück Vieh, so erwächst daraus dem Besitzer nicht der mindeste Schaden – es wird durch ein anderes zweibeiniges Stück Vieh ersetzt, ohne daß es nur einen Pfennig aus der gefüllten Tasche zu holen hat.
Von Erziehung der Kinder kann bei den »Dienstleuten« nicht die Rede sein; die Eltern haben keine Zeit, der »Schein« treibt sie aus dem Hause; und der Schulunterricht ist trotz des Schulzwangs ein so unregelmäßiger – während der Zeit der Feldarbeiten müssen die Kinder, sobald sie stark genug sind, um zu jäten, Vieh zu hüten usw., dem Gutsherrn sich zur Verfügung stellen, das will der »Schein«! – und überdies, soweit Schulunterricht erteilt wird, ein solch mangelhafter, daß er als Bildungsmittel gar nicht in Anschlag gebracht werden kann.
Was es aber mit dem vielgerühmten »deutschen Familienleben« bei diesen Parias für eine Bewandtnis hat, das mag sich jeder an den fünf Fingern abzählen.
Noch schlimmer als die »Dienstleute« sind die »Einlieger« dran. Sie sind ganz »freie« Arbeiter, nicht an ein bestimmtes Gut gefesselt, haben kein festes Kontraktverhältnis, sondern arbeiten auf Tagelohn, der sich im Sommer auf elf bis fünfzehn Silbergroschen für die Männer, auf sieben bis zehn Silbergroschen für die Weiber beläuft. Von diesem kärglichen Lohn müssen sie – allerdings ein Kunststück, welches der Sparapostel Schulze in höchsteigener Person schwerlich fertigbringt – so viel »sparen«, daß sie den Winter hindurch, wo es nur selten etwas zu verdienen gibt, davon leben können. Wie man sich denken kann, gelingt dieses Sparkunststück nicht immer, und dann muß der Hungertyphus das gesellschaftliche Gleichgewicht wieder herstellen. Im Winter 1867 auf 68 durchzog dieser Gesellschaftsretter die Provinz Ostpreußen und räumte unter dem Landproletariat, besonders den »Einliegern«, mit erschreckender Gründlichkeit auf!
Die dritte Klasse des ländlichen Proletariats, das Gesinde, ist gegen den Hungertod gesichert, solange es sich die »Zufriedenheit« der Herrschaft zu erhalten vermag; dieser Vorteil wird aber durch die Intensität des Abhängigkeitsverhältnisses aufgewogen, die schon in den Bezeichnungen »Knecht«, »Magd« zutage tritt. Beständiger Aufsicht unterworfen, die Arbeitskräfte aufs äußerste angespannt, führt das Gesinde das traurigste Sklavenleben. War der Haussklave doch bereits bei den alten Römern der elendste der Sklaven. Der Lohn ist nach den verschiedenen Beschäftigungen ein verschiedener; in den seltensten Fällen erreicht er eine Höhe, die dem Sparsamsten die kärglichsten Ersparnisse möglich macht. Wird der »Knecht«, wird die »Magd«, denen beiläufig der Regel nach das Heiraten, also die Gründung einer »Familie«, von der – selbstverständlich für das »heilige Institut der Familie« fanatisch begeisterten – »Herrschaft« bei Strafe sofortiger Entlassung, das heißt des Hungertods, verboten ist –, wird das Gesinde zu schwach, um den Reichtum der »Herrschaft« in dem von ihr »rechtmäßig« gewünschten Maße vermehren zu können, so wird es sans façon (ohne Umstände) an die Luft gesetzt und mag betteln gehen.
Die absolute Rechtlosigkeit des Gesindes spiegelt sich am besten ab in den »Gesindeordnungen«, die dem »black code«, dem »schwarzen Gesetzbuch« für die amerikanischen Sklaven, abgeschrieben zu sein scheinen. Das »Gesinde« hat nach denselben bloß Pflichten, die Herrschaft bloß Rechte, darunter das Recht der körperlichen Züchtigung!
Wie zahlreich die soeben aufgeführten Klassen des ländlichen Proletariats sind, kann ich in Ermangelung statistischen Materials nicht angeben. So viel aber ist gewiß, daß sie, außer in denjenigen Gegenden Deutschlands, wo das Parzellensystem herrscht oder vorherrscht, weitaus die Majorität der ländlichen Bevölkerung bilden.
Zwischen den Landarbeitern und den Kleinbauern in der Mitte stehen die Häusler (Büdner, Eigenkätner), die ein kleines Häuschen (Kote, Kate) und etwas Land als Eigentum besitzen, von dem Ertrag ihrer paar Morgen jedoch nicht leben können und darum einen Teil des Jahres über für Tagelohn arbeiten müssen. Gerade auf die Grenzlinie des Proletariats verwiesen, sinken sie in dasselbe hinab, sobald längere Krankheit, Mißwachs auf ihrem Gütchen oder ein sonstiger Unfall sie betrifft. Die Klasse der Häusler verschwände sehr rasch, erhielte sie nicht beständigen Zuzug aus der Klasse der Kleinbauern.
Und nun zu diesen.
Was ist die Lage unserer deutschen Kleinbauern in den Landstrichen, wo das Parzellensystem herrscht? Führen sie etwa eine so beneidenswerte Existenz? Der Engländer Howitt, der in dem Parzellensystem das zu erstrebende Ideal erblickt, sagt von den Bauern der Pfalz: »Sie arbeiten fleißig früh und spät, weil sie das Bewußtsein haben, daß sie für sich selbst arbeiten. Sie placken sich von Tag zu Tag, jahraus, jahrein; sie sind die geduldigsten, unermüdlichsten und beharrlichsten aller Tiere.« Nicht ein menschliches Leben führen sie nach dem Zeugnis des zu günstiger Beurteilung geneigten Engländers, sondern das Leben von Tieren! Das ist aber zu mild ausgedrückt: Kein Tier ist imstande, die permanente Abrackerung, die Entbehrungen, zu denen diese »freien Grundeigentümer« verurteilt sind, auch nur ein Jahr lang zu ertragen...
[...] Wer sich einbildet, die Landfrage ließe sich auf Grundlage der heutigen Eigentumsverhältnisse lösen, täuscht sich über die Natur des Übels und kann demzufolge nicht die richtigen Heilmittel anwenden.
Daß die Lage der ländlichen Arbeiter und des Kleinbauerntums eine ungünstige, sich mehr und mehr verschlimmernde, der Abhilfe dringend bedürftige sei, wird, trotz der Loblieder auf den glücklichen deutschen Bauersmann, die hier und da noch aus dem Mund gutsituierter Gutsbesitzer und gedankenloser Zeitungsschreiber ertönen, von allen sich ernsthaft mit der Sache Beschäftigenden zugegeben, und die meisten unserer Kammern und Regierungen haben es tatsächlich durch gesetzgeberische Maßregeln verschiedentlicher Art anerkannt. Man hat die Nachteile der Güterzersplitterung durch Zusammenlegung der Äcker zu neutralisieren und durch landwirtschaftliche Vereine usw. einen rationellen Ackerbau und eine verbesserte Viehzucht herbeizuführen gesucht, jedoch ohne den beabsichtigten Zweck zu erreichen. Der Mangel an Kapital läßt sich durch derartige Auskunftsmittel nicht ersetzen. Die Zusammenlegung der Äcker erleichtert dem Kleinbauer deren Bearbeitung, er bleibt aber immer ein Kleinbauer, der durch die Konkurrenz des Großgrundbesitzers und kapitalistischen Gutspächers allmählich erdrückt werden muß; und was nützen ihm die besten Rezepte für rationelle Bewirtschaftung, wenn er nicht Geld hat, sie zu befolgen? Es ergeht ihm wie einem halbverhungerten, an Blutarmut leidenden Proletarier, dem der Arzt Madeirawein, Roastbeef und ein halb Dutzend Eier pro Tag verschreibt. Auf dem Gebiet der Landwirtschaft nicht minder als auf dem der Industrie herrscht heutzutage die Großproduktion, und so wenig wie die Schulzeschen Pillen das Kleinbürgertum, können diese Palliativmaßregeln das Kleinbauerntum retten.[Anmerkung 17]
Nicht besser ist es mit den jetzt vielfach, auftauchenden Vorschlägen zur Schaffung eines halbwegs menschenwürdig lebenden Landarbeiterstandes bestellt. Sie laufen, von einem mehr oder weniger dünnen Humanitätsfirnis verhüllt, sämtlich darauf hinaus, die Misere zu verewigen, die Klassenabhängigkeit zu einer permanenten Institution zu erheben. Der »freie« Arbeiter soll in einen seßhaften Leibeigenen verwandelt werden. Der Großgrundbesitzer soll einen Stamm von Tagelöhnern bekommen, die durch ein Häuschen und ein Gärtchen oder Äckerchen an die Scholle gefesselt werden, so daß sie ihm stets zu Diensten sind, seiner Ausbeutung sich nicht entziehen können. Es ist das beiläufig keine neue Idee: Von den englischen Fabrikanten und Kohlengrubenbesitzern ist sie seit Menschenaltern verwirklicht und hat zur abscheulichsten Sklaverei geführt. Frage man die englischen Arbeiter nach den »wohltätigen Wirkungen« des Cottage-Systems[Anmerkung 18][Anmerkung 19] – ein Fluch wird die Antwort sein.
Da der Arbeiter von einem solchen »Eigentum« nicht leben und es auch nicht auf dem Rücken forttragen kann, so wird er dadurch an den Grundbesitzer »gebunden«, wird, was die Landarbeiter des östlichen Deutschland bereits sind: Dienstmann, Landsklave. Und das nennt man eine Reform! Durch derartige Vorschläge bekunden unsere Gegner nur, daß sie entweder selbst grenzenlos unwissend sind oder das Publikum für grenzenlos unwissend halten.
Es ist eine Wahrheit, die nur bestreiten kann, wer die Vernunft bestreitet: daß die Wirkung nicht beseitigt werden kann ohne die Ursache. Aus dem Privateigentum am Land ist der Zwillingsgiftbaum des Parzellensystems und Großgrundbesitzes hervorgewachsen. Solange das Privateigentum am Land existiert, wird dieser Giftbaum grünen und blühen und Früchte tragen, zum Sondernutzen einer kleinen Minderheit, zum Verderben der großen Mehrheit des Volkes, zum endgültigen Verderben aller. Jede Bemühung, dem Baum seine giftigen Eigenschaften zu nehmen, ist notwendig eine erfolglose, weil mit seinen Existenzbedingungen im Widerspruch. Hier heißt es: entweder – oder. Entweder das ganze Übel oder eine durchgreifende Kur. Entweder wir lassen sehenden Auges das Verderben sich vollziehen, oder wir rotten das Übel mit der Wurzel aus und entfernen die Ursache, indem wir das Privateigentum am Land aufheben, das Privateigentum durch Gemeineigentum ersetzen.
Das klingt dem ungewohnten Ohr gar gräßlich, verliert aber bei Licht betrachtet seine Schrecknisse und erscheint als die einfache Forderung der Gerechtigkeit und Notwendigkeit: der Gerechtigkeit, die es verbietet, daß die Mehrheit, daß die Allgemeinheit dem Sonderinteresse einiger wenigen geopfert werde – der Notwendigkeit, welche den Bruch mit den heutigen Eigentumsverhältnissen zum eisernen Gebot der Selbsterhaltung macht.
»Aber Aufhebung des Privateigentums, das ist ja Kommunismus!« Gut, doch wer wird sich vor einem Wort fürchten? Wortfurcht ist noch schlimmer und lächerlicher als Gespensterfurcht. Auf die Sache kommt's an; und daß der Kommunismus nicht bloß bei vielen Völkern in verschiedenen Kulturepochen bestanden und für etwas Selbstverständliches gegolten hat, sondern auch vom Christentum und von vielen der bedeutendsten Denker gefordert wird, das habe ich schon zu Anfang nachgewiesen. Also wozu dieser Schrecken vor einem System, dessen Durchführbarkeit und Nützlichkeit durch die Praxis und dessen »Sittlichkeit« durch den Charakter der Autoritäten, die es befürwortet haben, genügend festgestellt ist?
Doch ich will hier noch einen Gegner des Kommunismus und Sozialismus reden lassen.
»Wenn«, so schreibt der berühmte bürgerliche Ökonom John Stuart Mill in seinen »Prinzipien der politischen Ökonomie«, »wenn die Wahl wäre zwischen dem Kommunismus mit all seinen Chancen (Ungewißheiten) und dem gegenwärtigen Zustand mit all seinen Leiden und Ungerechtigkeiten; wenn die Institution des Privateigentums es als notwendige Folge mit sich brächte, daß das Produkt der Arbeit, wie wir jetzt sehen, in beinahe umgekehrtem Verhältnis zur Arbeit verteilt wird – die größten Anteile an die, welche nie gearbeitet haben, die zweitgrößten an die, deren Arbeit beinahe nur nominell (dem Namen nach, zum Schein) ist, und so in absteigender Linie die Remuneration (Belohnung) immer mehr abnehmend, je härter und unangenehmer die Arbeit wird, bis die ermüdendste und erschöpfendste körperliche Arbeit nicht mit Sicherheit darauf rechnen kann, auch nur des Lebens Notdurft zu verdienen –, wenn zwischen diesem Zustand und dem Kommunismus die Wahl wäre, würden sämtliche großen und kleinen Schwierigkeiten des Kommunismus nur wie Staub in der Waagschale sein.«
Die Wahl ist aber zwischen diesem Zustand und dem Kommunismus; die furchtbaren Ungerechtigkeiten des Privateigentums, gegen welche sich Stuart Mill in diesem berühmt gewordenen Ausspruch wendet, sind nicht bloße Zufälligkeiten, wie Mill vermeint, sondern naturgemäße, notwendige Wirkungen des Grundeigentums selbst, Wirkungen, die nur mit ihrer Ursache, d. i. mit dem Privateigentum selbst verschwinden können. Das Privateigentum, insoweit es nicht rein persönliches Eigentum ist, das heißt: was wir persönlich brauchen und verbrauchen – läßt sich nur denken entweder als tot daliegender wertloser Schatz oder als Mittel zur Ausbeutung der Arbeitskraft anderer. Hätte jeder als Privateigentum gerade so viel, daß er bei vernünftiger Arbeit davon leben könnte, so würde allerdings von einer Ausbeutung der Arbeit anderer nicht die Rede sein können, allein ein solcher Zustand hat niemals existiert, und obgleich die Poeten ihn als das Ideal menschlicher Glückseligkeit empfehlen, so wäre er auch keineswegs wünschenswert; denn die gesonderte Einzelarbeit oder höchstens Familienarbeit kann nur eine sehr niedrige Stufe der Produktion erreichen.[Anmerkung 20] Der Traum Jean-Jacques Rousseaus, der aus Ekel vor unserer Afterkultur und vor der Korruption der herrschenden Klassen sich in die Wälder flüchten und die Gesellschaft der wilden Tiere aufsuchen wollte, würde bittere Wahrheit werden. Es ist eigentümlich, freilich auch leicht erklärlich, daß die Menschen, wenn sie die Unerträglichkeit der Gegenwart zu begreifen anfangen, den Blick nicht gleich vorwärts lenken, sondern erst rückwärts in die Vergangenheit, welche sich ihnen in dem rosigen Licht der Überlieferung und der Phantasie zeigt.
Weit mehr als durch ihre vererbten Einrichtungen hemmt uns die Vergangenheit durch die Mythen, in welche sie sich hüllt. Eine so treffliche, untrügliche Lehrerin die Geschichte ist, das heißt die wahrheitsgemäße Schilderung und Erklärung des Geschehens, ein so gefährliches Irrlicht ist die Mythe, jener blendende Nebelschleier, den menschliche Einbildungskraft und Unwissenheit, zum Teil auch absichtlicher Betrug, um die Ereignisse und Zustände der Vergangenheit gewoben haben.
Von allen Irrtümern ist aber wohl der gefährlichste der: daß das Menschengeschlecht früher einmal, sei es im biblischen oder einem sonstigen Paradies, ein glückseliges Dasein geführt habe, das auf die eine oder andere Weise ihm später geraubt worden. Diese Umkehrung der geschichtlichen Entwicklung, dieses Auf-den-Kopf-Stellen der Wirklichkeit macht jeden menschlichen Fortschritt zu einem Rückschritt, beklagt jede Neuerung als eine Verschlechterung und sucht aus der Gegenwart das Heil in der Vergangenheit. Vor uns liegt das Paradies, nicht hinter uns. Die Fata Morgana eines vermeintlich hinter uns liegenden Paradieses verlockt nur in unfruchtbare, dem Wanderer oft den Tod bringende Wüsteneien. Die griechische Mythologie drückt dies schön aus durch die Sage von Epimetheus und Prometheus: Dem rückwärts schauenden Epimetheus verdankt das Menschengeschlecht die Öffnung der Pandorabüchse,[Anmerkung 21] aus der alle Übel sich über die Welt ergossen – dem vorwärts schauenden Prometheus verdankt es das himmlische Feuer, das er den Göttern ablistete, um den Menschen Licht und den Hebel der Kultur zu geben. Für dieses Verbrechen gegen die olympischen Götter wurde Prometheus von Jupiter an einen Felsen geschmiedet und den grausamsten Martern überliefert – bekanntlich lieben es die irdischen Götter noch heute, in ähnlicher Weise sich an denen zu rächen, die im Dienst der Menschheit das göttliche Feuer verbreiten.
Doch weiter. Liebig, auf dessen Zeugnis ich mich vorhin berief, zeigt uns in seinen Schriften den richtigen Weg, allerdings ohne sich der Tragweite seines Rates vollkommen bewußt zu sein, denn leider, wie bereits angedeutet ward, zählt er zu jenen Männern der Wissenschaft, die nicht den Mut der Konsequenz haben, weil sie, aus persönlichem Interesse oder aus Furcht vor Kollisionen, den herrschenden Gewalten, den bestehenden Zuständen Rechnung tragen. In den schon zitierten »Chemischen Briefen« (S. 475) schreibt Liebig: »Die regellose Beraubung unserer Wälder führte mit dem Herannahen ihrer Gefahren für den Staat und die Gesellschaft zu einer bewunderungswürdig geordneten Forstwirtschaft. Wäre der Wald in ebensoviel Parzellen geteilt und in ebensoviel törichten Händen wie das Ackerfeld, so würden wir längst kein Holz mehr haben; täglich rückt uns die Gefahr näher, durch die Ausrottung der Chinabäume eines der unschätzbarsten Arzneimittel für die menschliche Gesellschaft zu verlieren, und es bleibt uns nur der Trost, daß mit dem allerletzten Baum die rationelle Kultur derselben beginnen wird, die uns nach einer Reihe von Jahren für immer damit versorgt.«
Wohlan, sollen wir warten, bis wir zum »allerletzten Baum« gelangt sind? Sollen wir die »Not« an uns herankommen lassen und an eine rationelle Kultur erst denken, wenn uns das Feuer auf den Nägeln brennt und infolge des herrschenden Raubbaus eine vollständige Erschöpfung des Bodens mit allgemeiner Hungersnot über die Menschheit hereinbricht? Oder sollen wir die Landwirtschaft ebenso behandeln wie die Forstwirtschaft? In allen halbwegs geordneten Staaten ist man durch die »Not« dazu gedrängt worden, die Forstwirtschaft zur Staatssache zu machen. Entweder sind die Forste direkt Staatseigentum, oder sie werden unter staatlicher Aufsicht bewirtschaftet. Dieselben Gründe, welche zur staatlichen Bewirtschaftung der Forste geführt haben, erheischen nun aber auch die staatliche Bewirtschaftung des Grund und Bodens, ich meine des Agrikulturlandes, und zwar noch mit weit zwingenderer Gewalt, weil die Ernährung des Volks denn doch von weit dringenderer und unmittelbarer Wichtigkeit ist als die Lieferung von Brenn- und Bauholz.
Das Beispiel der Forstwirtschaft ist für das Prinzip entscheidend: Der Staat hat damit anerkannt, daß, wo das Privateigentum und der Privatbetrieb gemeinschädlich ist, das Staatseigentum und der Staatsbetrieb an die Stelle des Privatbetriebs treten muß. Daß diese Notwendigkeit aber für den Grund und Boden vorliegt, kann kein Unbefangener leugnen.
Mit Bezug auf den Grund und Boden hat sich der Staat aber auch schon in positivster Form das oberste Eigentumsrecht gesichert in dem sogenannten Expropriationsrecht.[Anmerkung 22] Jedes Stück Land, welches zu öffentlichen Zwecken geheischt wird, muß an den Staat oder die Gemeinde abgelassen werden. Allerdings gegen Entschädigung; was jedoch an der Tatsache nichts ändert, daß der Staat das oberste Verfügungs- und Eigentumsrecht für sich in Anspruch nimmt. Und das von Rechts wegen. Was aber gegen den einen Recht ist, ist auch gegen den anderen, ist gegen jeden Recht. Mit demselben Recht, womit jetzt in Ausnahmefällen die Expropriation durchgeführt wird, kann sie allgemein durchgeführt werden. Damit maßt sich der Staat kein neues Recht an, sondern übt ein ihm bereits gehörendes, von niemand bestrittenes Recht bloß in größerem Umfang aus. Will morgen der Staat sämtliche Grundeigentümer expropriieren, so bedarf er dazu gar keiner Ausdehnung seines Expropriationsrechts; er kann es auf Grund der bestehenden Gesetze tun. Das ist keine revolutionäre, gewaltsame Auslegung der Gesetze. Ich befinde mich in Übereinstimmung mit den konservativen Rechtslehrern. Ein Gewährsmann sei aus vielen herausgegriffen: Savigny, eine der bedeutendsten juristischen Autoritäten, der Gründer der sogenannten »historischen Schule«,[Anmerkung 23] während längerer Jahre preußischer Justizminister – gewiß ein Zeuge, dem niemand revolutionäre und kommunistische Tendenzen wird vorwerfen können!
In Savignys »System des heutigen römischen Rechts«, erster Band, Paragraph 56, lesen wir unter dem Titel »Vermögensrecht«:
»Um uns aber das Wesen des Eigentums klarzumachen, müssen wir von folgender allgemeiner Betrachtung ausgehen. Jeder Mensch hat den Beruf zur Herrschaft über die unfreie Natur; denselben Beruf aber muß er ebenso in jedem anderen Menschen anerkennen, und aus dieser gegenseitigen Anerkennung entsteht, bei räumlicher Berührung der Individuen, ein Bedürfnis der Ausgleichung, welches zunächst als ein unbestimmtes erscheint und nur in bestimmter Begrenzung seine Befriedigung finden kann. Diese Befriedigung nun erfolgt, vermittelst der Gemeinschaft im Staat, durch positives Recht. Wenn wir hier dem Staate die Gesamtherrschaft über die unfreie Natur innerhalb seiner Grenzen beilegen, so erscheinen die einzelnen als Teilhaber dieser gemeinsamen Macht, und die Aufgabe besteht darin, eine bestimmte Regel zu finden, nach welcher die Verteilung unter die einzelnen ausgeführt werde. Für eine solche Verteilung gibt es drei Wege, die nur nicht in einem ausschließenden Verhältnis zueinander gedacht werden müssen, sondern vielmehr in gewissem Maße gleichzeitig zur Anwendung kommen können. Wir können diese drei Wege folgendergestalt bezeichnen:
- Gemeingut und Gemeingenuß,
- Gemeingut und Privatgenuß,
- Privatgut und Privatgenuß.«
So Savigny. Mit dürren Worten erklärt er, daß »der Staat die Gesamtherrschaft über die unfreie Natur innerhalb seiner Grenzen« hat und berechtigt ist, je nach dem »Bedürfnis der Ausgleichung« die »Verteilung« dieser Gesamtherrschaft »unter die einzelnen« durchzuführen. Und um ja keinen Zweifel über den Sinn aufkommen zu lassen, zählt Savigny die verschiedenen Formen auf, in denen sich diese »Verteilung unter die einzelnen« vollziehen kann, und stellt dabei bezeichnenderweise, als naturgemäß sich zuerst darbietend, »Gemeingut und Gemeingenuß«, das heißt das gemeinschaftliche kommunistische Grundeigentum, in die vorderste Linie.
Die Berechtigung des Staats, das Privateigentum an Land abzuschaffen, wird, wer der Autoritäten bedarf, einer Autorität wie Savigny gegenüber nicht abstreiten können. »Aber es wäre nicht zweckmäßig, hört das Privateigentum auf, so hört auch der Antrieb zur Arbeit auf; ein jeder arbeitet nur gerade so viel, als er muß, und die Allgemeinheit kommt dabei schlechter weg als jetzt.« Dieser Einwand, der uns häufig gemacht wird, entbehrt jeglicher Begründung, und betrachtet man ihn genau, so stellt sich heraus, daß er seine Spitze nicht gegen uns richtet, sondern gegen die heutige Gesellschaftsform. Die Anschauung, auf der er fußt, ist: Bloß wer Privateigentum hat, arbeitet mit Lust und Liebe, weil er ein Interesse daran hat, die Produktivität seiner Arbeit möglichst zu steigern. Nun hat aber unter den heutigen Eigentumsverhältnissen nur die Minderheit des Volkes Privateigentum; wo der Großgrundbesitz herrscht, ist die landbesitzende Minderheit eine verschwindend kleine; und wo das Parzellensystem herrscht, ist die Mehrheit der Landbesitzenden notorisch so arm, daß sie bloß dem Namen nach Eigentum hat, in Wirklichkeit nur für die Hypothekengläubiger arbeitet. Mit dem anderen Privateigentum verhält es sich nicht anders. Kurz, die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung arbeitet gegenwärtig nicht unter dem Stachel des Privateigentums, sondern zur Bereicherung anderer. Und gerade diese für fremde Rechnung arbeitende Majorität hat fast ausschließlich die landwirtschaftlichen Arbeiten zu verrichten; denn die wirklich besitzende Minorität arbeitet entweder gar nicht oder vergleichsweise sehr wenig. Die Sache steht demnach so, daß in der heutigen Gesellschaft die Arbeit wesentlich auf den Nichtbesitzenden ruht und daß die Besitzenden wesentlich von der Arbeit der Nichtbesitzenden leben; wer arbeitet, hat der Regel nach nicht den Ertrag seiner Arbeit; und wer den Ertrag der Arbeit hat, arbeitet in der Regel nicht. Das ist die Ordnung der Dinge unter der Herrschaft des Privateigentums. Haben wir dagegen Gemeineigentum, so ist ein jeder Eigentümer, wenn auch nicht Sondereigentümer; ein jeder hat folglich ein Interesse, die Produktivität seiner Arbeit möglichst zu steigern, denn er weiß, daß das, was er erarbeitet, ihm selber zugute kommt. Und er hat nicht bloß ein Interesse, selbst tüchtig zu arbeiten, sondern auch darüber zu wachen, daß sein Nachbar es tut, da ihm aus dessen Faulenzerei Schaden erwachsen würde. Also nicht in der heutigen Bourgeoisgesellschaft, sondern umgekehrt in der von uns erstrebten sozialistischen Gesellschaft, welche das Gemeineigentum an Stelle des Privateigentums setzt, hat die Masse des Volks ein direktes, unmittelbares Interesse an möglichst gesteigerter Produktivität der Arbeit.
Dazu kommt, daß für das Gemeineigentum alle Vorteile der modernen Großproduktion in Kraft treten, und zwar mit potenziertester Intensität, erstens, weil der Staat ungleich größere Mittel zur Verfügung hat als der reichste Grundeigentümer; zweitens, weil er die Fähigkeit hat, die Gesamtproduktion des Landes nach einem einheitlichen Plan zu regeln, was heutzutage unmöglich; und drittens endlich, weil er als Ausdruck der Gesamtheit genötigt ist, im Interesse der Gesamtheit zu handeln, wohingegen für den Privatgrundbesitzer, den großen und kleinen, ausschließlich das eigene Sonderinteresse maßgebend ist und das allgemeine Interesse nicht in die Waagschale fällt.
Die Haltlosigkeit des Einwandes, mit dem ich mich soeben beschäftigt, wird von John Stuart Mill ohne weiteres zugegeben [...]
[...] Hierzu nur einige kurze Bemerkungen: Zu so »kräftigen« Anstrengungen wird nach Aufhebung des Privateigentums allerdings kein Mensch »aufgestachelt« werden, daß er sich zu Tode arbeitet, sich »abrackert« – ebensowenig, wie es in der heutigen Gesellschaft noch vorkommt, daß der Sklavenbesitzer seinen Sklaven mit der Peitsche oder einem vorn mit einer eisernen Spitze versehenen Stock oder »Stachel« so lange zur Arbeit zwingt, bis der Gemarterte leblos zu Boden stürzt. Die Peitsche, der »Stachel« im unfigürlichen Sinne sind durch unsere humane Gesetzgebung längst abgeschafft; wir haben bloß noch die moralische Peitsche, den moralischen Stachel, womit die Arbeitgeber Hunderttausende und Millionen von männlichen und weiblichen Lohnsklaven vor die Hörner des Dilemmas treiben: entweder Hungers zu sterben oder sich im Dienste des Kapitals zu Tode zu arbeiten. Dieser Stachel wird in der sozialistisch organisierten Gesellschaft fehlen, aber der edle Wetteifer, das gesteigerte Pflichtgefühl – nicht eitle Sucht nach Bewunderung – der von dem Joch der niederen Selbstsucht befreiten Menschen sind mehr als genügender Ersatz; und erwägen wir ferner, daß der Hebel des Interesses, der jetzt nur auf eine winzige Minorität wirkt, dann (freilich in geläuterter Form, das persönliche Interesse mit dem Gemeininteresse zusammenfallend) auf sämtliche Mitglieder der Gesellschaft wirken, und – nicht minder bedeutendes Moment! – daß die sozialistische Gesellschaft für die Entfaltung der Fähigkeiten eines jeden Gesellschaftsglieds sorgen wird, während die heutige Gesellschaft der Majorität der Menschen die Bildung einfach unmöglich macht, so leuchtet es ein, daß, auch abgesehen von der besseren Organisation der Arbeit im allgemeinen, die persönliche Arbeit der einzelnen Gesellschaftsglieder eine ungleich produktivere sein muß als in der heutigen Gesellschaft. Im dem soeben verlesenen Zitat kommt eine Stelle vor, welche der Aufmerksamkeit unserer Gegner in den Beamtenkreisen ganz besonders zu empfehlen ist – ich meine den Vergleich der Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft mit der Arbeit der Beamten im heutigen Staat. Wie Mill richtig hervorhebt, würden bei ersterer alle diejenigen Garantien für tüchtige Leistung vorhanden sein wie jetzt bei letzterer.[Anmerkung 24] Diesen Garantien ist aber noch die alle anderen an Gewichtigkeit übertreffende hinzuzufügen, daß der sozialistische Arbeiter oder meinetwegen Gesellschaftsbeamte nicht, gleich dem heutigen Staatsbeamten, ein Rädchen, ein Maschinenteil in einer Maschine, sondern ein selbständiger, in der Gemeinschaft seine Individualität zu vollster Geltung bringender Mensch ist, der das Bewußtsein hat, durch seine Arbeit sein eigenes Wohl mit dem Wohl der Gesamtheit zu fördern. Soviel steht aber unter allen Umständen fest: Ein Staatsbeamter, der die Ergiebigkeit der Arbeit im sozialistischen Gesellschaftsorganismus leugnet, bricht über seine eigene Arbeit und über sich selbst den Stab. Es wäre daher im Interesse der Beamten zu wünschen, daß wenigstens aus ihren Kreisen das Gerede vom kommunistischen Faulenzertum verstumme.
Doch zurück zur Landfrage!
[...] Die Rücksicht auf das allgemeine Interesse und, da das Interesse der einzelnen nicht von dem allgemeinen Interesse zu trennen ist, auch die Rücksicht auf das Interesse der einzelnen – welches nicht zu verwechseln ist mit dem Sonderinteresse einiger Privilegierter, Bevorzugter, deren Interesse dem der Allgemeinheit zuwiderläuft –, also die Rücksicht auf das allgemeine Interesse des Staats und der Staatsbürger ist der Boden, auf den wir uns in der Grundeigentumsfrage stellen, von dem aus wir unsere Schlüsse ziehen und auf dem wir unüberwindlich sind.
Daß dem allgemeinen Interesse das Sonderinteresse unterzuordnen und daß das Wohl des Staats das oberste Gesetz sei – salus rei publicae suprema lex –, das ist ein Axiom so alt wie der Staat, ein Axiom, dessen Richtigkeit niemals bestritten worden ist und das alle Regierungssysteme und Regierungen, von welchen die Geschichte uns Kunde gibt, als obersten Regierungsgrundsatz anerkannt und ausgeübt haben. Freilich, die Auffassungen des Begriffs Staatswohl sind ebenso mannigfaltig und verschiedenartig als die Auffassungen des Begriffs Staat. Das »Staatswohl« – unsere Herrscher nennen es mitunter: »Staatsräson« – stählte die römische Republik in ihrem Verzweiflungskampf gegen die Karthagenienser, als der furchtbare Ruf erdröhnte: Hannibal ante portas! Hannibal vor den Toren! Das »Staatswohl« drückte der Soldateska bei den Proskriptionen und in den Bürgerkriegen der zerfallenden, dem blutigen Schmutz des Kaiserreichs zueilenden Republik den Mordstahl in die Hand. Das »Staatswohl« stampfte aus dem revolutionären Frankreich des vorigen Jahrhunderts Millionen von Streitern für Freiheit und Vaterland und »organisierte den Sieg« der Republik über das verbündete monarchische Europa. Das »Staatswohl« war in des ehrgeizigen Bonaparte Mund, als dieser »geniale« Erzschelm und glänzendste Vertreter des modernen Cäsarentums und Kaiserschwindels die französische Republik erdrosselte; und das »Staatswohl« schützte er vor, als er, um seinem räuberischen Ehrgeiz zu frönen, die halbe Welt ein halbes Menschenalter hindurch mit seiner Blut-und-Eisen-Politik verheerte. Das »Staatswohl« trieb die amerikanischen Südstaaten in den Kampf für die Sklaverei und die Zerreißung der Union; und das »Staatswohl« wappnete die Bürger der amerikanischen Nordstaaten mit Heldensinn und Ausdauer, so daß sie in vierjährigem Ringen nicht erlahmten, aus jeder Niederlage frische Kraft schöpften und nach Anstrengungen, für welche in der neueren Geschichte nur die Nationalerhebung Frankreichs in den Jahren 1792, 93 und 94 ein Seitenstück bildet, der südstaatlichen Rebellen Herr wurden und die amerikanischen Freistaaten von dem Schandfleck der Sklaverei reinigten. Im Namen des »Staatswohls« sanktionierten vor zweiundzwanzig Jahren unsere deutschen Regierungen die Märzrevolution; und im Namen des »Staatswohls« stießen sie ihr, sobald die Gelegenheit günstig, den Dolch in den Rücken und verhängten über das Volk jene reaktionären Knebelgesetze, die, wenn auch zum Teil in etwas modifizierter Gestalt, noch heute auf uns lasten. Genug, es bedarf keiner weiteren Beispiele; jede Regierung, sei sie revolutionär oder reaktionär, republikanisch oder monarchisch, demokratisch oder konservativ, hat theoretisch und praktisch das »Staatswohl« als obersten Leitstern der Politik hingestellt. Nur, daß jede Regierung unter »Staatswohl« etwas anderes versteht. Was Goethe vom Zeitgeist sagt, daß er »der Herren eigener Geist« sei, das gilt auch vom »Staatswohl«; es ist der Herren eigenes Wohl; im Junkerstaat das Wohl der Junker, im Pfaffenstaat das Wohl der Pfaffen, im Bourgeoisstaat das Wohl der Bourgeois. Wir Sozialdemokraten, die wir weder den Junker- noch den Pfaffen-, noch den Bourgeoisstaat wollen, sondern den freien Volksstaat, der auf gleichen Rechten und Pflichten beruht und weder Herrscher noch Beherrschte, weder Ausbeuter noch Ausgebeutete duldet, wir verstehen unter Staatswohl folgerichtig nicht das Wohl der Junker, Pfaffen, Bourgeois, sondern das allgemeine Wohl, das Wohl der Gesamtheit, welches nur die Summe des Wohls aller einzelnen ist.
Obgleich unser »Staatswohl« nun etwas Verschiedenes ist von dem »Staatswohl« derer, die sich gewöhnt haben, den Staat für ihre Privat-, Standes- oder Klassendomäne anzusehen, so verkünden wir durch Erhebung des Staatswohls zum obersten Staatsprinzip doch kein neues Prinzip, sondern wenden nur ein allgemein anerkanntes Prinzip, statt im Interesse einzelner Individuen, im Interesse des Gesamtvolks an. Was speziell das Recht, in die Verhältnisse des Grundeigentums einzugreifen, anbelangt, so ist es von allen Regierungsformen und von allen Klassen geübt worden. Der Adel hat überall das Land zu seinen Gunsten konfisziert und annektiert; die Bourgeoisie hat in der Französischen Revolution das Land konfisziert und in ihrem Sinn verteilt; die monarchischen Regierungen des europäischen Festlands haben durch Abschaffung der Leibeigenschaft die Grund- und Bodenverhältnisse revolutioniert; sogar der russische Zar, der strammste Vertreter des Absolutismus, hat neuerdings diese Revolution in seinem Reiche durchgeführt und damit den Adel teilweise expropriiert; die amerikanische Republik hat durch Abschaffung der Sklaverei und Konfiskation des Grundbesitzes der gegen diese Maßregel sich auflehnenden Sklavenhalter der Südstaaten die Grund- und Bodenverhältnisse revolutioniert. Wie kann man nach solchen großen weltgeschichtlichen Vorgängen die Beschuldigung gegen uns erheben, indem wir in die Grund- und Bodenverhältnisse eingreifen wollten, schlügen wir aller Überlieferung ins Gesicht, forderten Unerhörtes, noch nie Dagewesenes, erstrebten die Zerstörung der Gesellschaft?[Anmerkung 25] Wir verlangen nichts weiter – und dies zu verlangen haben wir das Recht und die Pflicht –, als daß der Staat sein bisher nur im Interesse einer herrschenden und bevorzugten Minorität ausgeübtes Recht über Grund und Boden im Interesse der Gesamtheit ausübe. Wir verlangen nur, daß für das Gesamtvolk getan werde, was bisher nur für den Adel, die Dynastien und die Bourgeoisie getan worden ist.
Macht sich der Staat zum Werkzeug der herrschenden Minorität und stemmt er sich in deren Sonderinteresse gegen die vom Gemeininteresse erheischte Reform der Grund- und Bodenverhältnisse, nun, so wird das Notwendiggewordene dennoch zur Wirklichkeit werden. Es ist mit den gesellschaftlichen Vorgängen ähnlich wie mit den Naturvorgängen. Die treibenden Kräfte sind uns bekannt, wenigstens genügend, um die Wirkung im allgemeinen zu berechnen, allein die Einzelheiten der Wirkung entziehen sich der Berechnung.
Wir kennen die Gesetze der staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, wie wir die Gesetze der Windströmungen, der Witterung kennen, aber sowenig der kundigste Meteorologe die Witterung des folgenden Tages genau bestimmen kann, weil zu viele, in unendlich verschlungener Wechselbeziehung stehende und darum nicht mit mathematischer Gewißheit zu berechnende Faktoren im Spiel sind, ebensowenig kann der kundigste Sozialpolitiker den Verlauf der Gesellschaftskrise, in der wir jetzt stehen, in allen Einzelheiten vorausbestimmen. Die Logik lehrt uns zwar, nach welchen Gesetzen der Mensch denkt, die Psychologie, nach welchen Gesetzen er empfindet und handelt, allein wir sind nicht imstande, unseren Mitmenschen ins Hirn und ins Herz zu sehen. Ist es doch schon sprichwörtlich schwer, sich selber zu kennen, geschweige denn ein fremdes Individuum oder gar eine Klasse von Individuen. Und inmitten dieser millionenfachen Verschlingungen, Wechselwirkungen des gesellschaftlichen Lebens!
Wir wissen, die heutigen Eigentumsverhältnisse sind eine vorübergehende Gesellschaftsform, die sich zu einer höheren Gesellschaftsform entwickeln muß. Wir wissen aber nicht, welche Beschleunigung oder welche Hemmnisse dieser Entwicklungsprozeß finden wird.
Emanzipiert sich der Staat freiwillig, das heißt infolge richtigerer Anschauungen der Regierenden, von dem Klassencharakter, den er heutzutage hat; wird er, was er sein soll, Volksstaat, Ausdruck des Gesamtwillens, Verwirklicher des Gesamtinteresses, so vollzieht sich die Umgestaltung allmählich, ohne gewaltsame Schädigung der Privatinteressen, auch der unberechtigten, aber bisher von dem Gesetz sanktionierten. Das ist Reform. – Bleibt dagegen der Staat starrer Klassenstaat, so verschließt er freilich den Weg friedlicher Reform; ein Moment wird kommen, wo die Unerträglichkeit der Zustände die Menschen in die Alternative versetzt, entweder zugrunde zu gehen oder den Staat zu zertrümmern, der ihnen die Möglichkeit der Existenz raubt. In solchen Lagen ist der Entscheid nie zweifelhaft, ebensowenig wie der Erfolg. Das ist Revolution.
Reform oder Revolution – das Endziel wird in beiden Fällen erreicht. Reform oder Revolution auf die Landfrage angewandt heißt aber: Expropriation oder Konfiskation. Expropriation, das ist volle Entschädigung der Besitzer; Konfiskation, das ist Beschlagnahme ohne Entschädigung, zur Strafe für unberechtigten Widerstand. Selbstverständlich könnten die Kleinbauern, die auf den Staat keinen Einfluß haben und durch ihr Interesse auf Seiten des Proletariats gedrängt werden, für die Sünden des Staats nicht verantwortlich gemacht werden, ebensowenig wie für den etwaigen Widerstand der Großgrundbesitzer und dessen Folgen.
Expropriation, als Forderung der Landreform aufgestellt, heißt aber nicht, daß sofort mit einem Schlag der ganze Grund und Boden den bisherigen Privatbesitzern genommen und zu Staatseigentum verwandelt werden solle. In England sind die Verhältnisse allerdings so reif, daß die »Expropriation des Expropriateurs«, um Marx' Ausdruck zu gebrauchen, die Expropriation sans phrase und ohne Übergangsmaßregeln auf der Tagesordnung steht und bei Zerstörung der Klassenherrschaft unzweifelhaft einer der ersten Akte des englischen Proletariats sein wird. Der Privatgrundbesitz ist das vornehmste und augenfälligste Mittel zur Knechtung des Volks, die Hauptstütze der Klassenherrschaft – das Monopol einiger weniger, welches von diesen in jeder Beziehung auf gemeinschädlichste Weise zum Nachteil des Volks ausgebeutet wird. Kein berechtigtes Interesse hängt an dem Landbesitz; jedes berechtigte Interesse wird durch ihn verletzt. So ist die Frage klar gestellt und die Antwort von vornherein gegeben. Unter den englischen Arbeitern herrscht daher auch vollkommene Einstimmigkeit, und das Votum der englischen Delegierten auf dem Baseler Kongreß war in der Tat das Votum des englischen Proletariats in der Landfrage. Nicht so einfach ist die Frage in Frankreich oder gar erst in Deutschland. Der Kleinbauer, obgleich tatsächlich Proletarier oder dem Proletariat unaufhaltsam zutreibend, hängt großenteils sehr fest an seinem Eigentum, wenn es auch schon in den meisten Fällen nur nominelles, eingebildetes Eigentum ist. Ein Expropriationsdekret würde unzweifelhaft die Mehrzahl der Kleinbauern zum heftigsten Widerstand, vielleicht zu offener Rebellion reizen. Es gilt hier also mit Behutsamkeit und mit möglichster Rücksichtnahme auf die Vorurteile und eingebildeten Interessen zu verfahren. Der Staat muß mit peinlichster Sorgfalt alles vermeiden, was ihn den Kleinbauern als Feind könnte erscheinen lassen. Er muß dieselben systematisch über ihre wirklichen Interessen aufklären und sie von der Hoffnungslosigkeit ihrer jetzigen Lage überzeugen. Hand in Hand mit dieser theoretisch-propagandistischen Tätigkeit müssen aber praktische Maßregeln zur unmittelbaren Erleichterung gehen: In erster Linie sind die Hypothekenschulden auf den Staat zu überschreiben, so daß der Bauer aus den Klauen seines Privatgläubigers befreit wird. Es braucht dies keine Zwangsmaßregel zu sein: die Vorteile, welche der Staat bietet, werden genügende Anziehungskraft üben. Diese Vorteile – ein niedrigerer Zinsfuß, die Sicherheit gegen plötzliche Kündigung, Bereitschaft zu weiteren, sich als notwendig herausstellenden Darlehen – sind jedoch an Bedingungen zu knüpfen, welche das allgemeine Wohl erheischt, nämlich daß sich die Bauern zu einem rationellen Ackerbau verpflichten und unter Staatsunterstützung und Staatskontrolle den Einzelkleinbetrieb allmählich in den genossenschaftlichen Großbetrieb überleiten. Durch zweckmäßigen Unterricht in den Volksschulen und durch landwirtschaftliche Akademien – ich brauche nicht zu bemerken, daß im freien Volksstaat aller Unterricht unentgeltlich ist – lassen sich die nötigen agronomischen Kenntnisse schnell verbreiten.
Auf den Staatsdomänen, die in Deutschland zum Glück noch sehr bedeutend sind, wären Ackerbaukolonien zu gründen, die, nach sozialistischen Grundsätzen eingerichtet, unmittelbar für den Staat zu produzieren und zu gleicher Zeit als landwirtschaftliche Musteranstalten zu dienen hätten. Jedenfalls darf nicht zum zweitenmal der Fehler begangen werden, den die Franzosen in ihrer Revolution begingen: das Staatseigentum in Privateigentum zu zersplittern. Das Schicksal der französischen Parzellenbauern sei uns ein warnendes Exempel. Oder soll dieser Cercle vicieux ewig dauern? Dieser verhängnisvolle verrückte Kreis, in dem wir, dem Übel zu entrinnen trachtend, stets wieder in das Übel zurückrennen? Wir müssen diesen Kreis durchbrechen.[Anmerkung 26] Auf den Staatsdomänen kann sofort ein namhafter Teil der Landproletarier untergebracht werden; aber auch dem nicht direkt versorgten Teil derselben wird dadurch indirekt wesentlich aufgeholfen, und zwar in zweifacher Hinsicht, materiell und moralisch: indem die Entfernung zahlreicher Landarbeiter vom Arbeitsmarkt die Löhne der Zurückbleibenden steigert; und indem die menschenwürdige Existenz, welche den Landarbeitern der Staatsackerbaukolonien gesichert wird, in den übrigen Landarbeitern das Streben erweckt, sich eine ähnliche Existenz zu sichern. Mit einem Wort, es wird eine Art Regulator geschaffen. Die Staatsdomänen müssen der Kern werden, um den sich die künftige Gesellschaft kristallisiert: das Vorbild der Assoziation, Musterorganisationen, welche einesteils durch das Beispiel anfeuern, andernteils durch ihre Leistungen in berechtigter Konkurrenz vorandrängen. Die vereinzelten Privateigentümer werden nicht lange gegen diese Konkurrenz anzukämpfen vermögen und schließlich mit Freuden in ihre Expropriation einwilligen. Auch die Privatassoziationen können sich nicht auf die Dauer behaupten: Die Mitglieder werden bald einsehen, daß es für sie selbst und für die Allgemeinheit besser ist, wenn sie die Fiktion des Privateigentums aufgeben und direkt für Rechnung des Staats arbeiten. Sieht dieser oder jener es nicht ein, nun so lasse man ihm die »Freiheit«, sich als »Privateigentümer« nach Herzenslust abzuquälen – vorausgesetzt, daß er nichts Gemeinschädliches unternimmt. Falls das öffentliche Interesse es nicht gebieterisch erheischt, wird ein demokratischer, ein sozialdemokratischer Staat – und nur von diesem kann hier die Rede sein – keinen Zwang anlegen.[Anmerkung 27]
Anders wird natürlich der Verlauf sein, wenn die herrschenden Klassen in ihrem Sonderinteresse den Gang der Entwicklung gewaltsam zu hemmen suchen und eine revolutionäre Katastrophe hervorrufen. Dann wird voraussichtlich, statt eines langsamen Übergangs unter möglichster Schonung aller Sonderinteressen, ein plötzlicher, gewaltsamer Bruch mit dem Bestehenden erfolgen, ohne jegliche Rücksicht auf Sonderinteressen. Das Volk hilft sich, wie es kann; der Ertrinkende fragt nicht danach, wen er in die Fluten hinabreißt, rettet er nur sich selber. In Revolutionen gleicht aber die Gesellschaft einem Ertrinkenden – es gibt für sie bloß ein Gesetz: das der Selbsterhaltung. Lassen die herrschenden Klassen es in Verteidigung ihrer Sonderinteressen aufs äußerste ankommen – um so schlimmer für sie. Eine Abrechnung ist unvermeidlich; die Frist kann verschoben werden, aber nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Und bei jeder Abrechnung ist's gut, wenn beide Teile sich verständigen. Namentlich ist das gut für den Teil, welcher im Fall der Nichtverständigung alles zu verlieren und nichts zu gewinnen hat. Und je länger verschoben, desto schwieriger wird die Abrechnung, desto härter die Bedingungen. Die Sybille der Weltgeschichte verbrennt ihre Bücher nicht und hat nicht einen festen Preis, wie die Sybille des Römerkönigs; von Stunde zu Stunde erhöht sie den Herren der Erde gegenüber den Preis des Schicksalsbuches, bis er zuletzt so hoch wird, daß die Verblendeten ihn nicht mehr bezahlen können.
Als in den Vereinigten Staaten von Nordamerika Lincoln zum Präsidenten gewählt wurde (1860), lautete die Devise des Nordens: Ablösung der Sklaverei – Expropriation in schonendster Form. Die Sklavenhalter des Südens verschanzten sich in ihr starres »Recht«, wiesen, pochend auf ihre Macht, jeden Kompromiß zurück und entfalteten trotzig die Fahne der Revolution. Die Abschaffung der Sklaverei war eine Lebensfrage für das Volk der Vereinigten Staaten; das Volk nahm den Kampf auf, und nach titanischem Ringen wurden die Sklavenhalter besiegt und die Sklaven ohne Entschädigung emanzipiert. Die Expropriation war verweigert worden – es folgte die Konfiskation.
Die Sklavenhalter und herrschenden Klassen Europas mögen sich die Lehre hinter die Ohren schreiben!
Hier eine kurze Bemerkung:
Man macht unserer Partei häufig den Vorwurf, sie verstehe sich wohl auf die Kritik des Bestehenden, aber sie bleibe die Antwort schuldig, was anstelle des Bestehenden zu setzen sei; wir wüßten wohl zu zerstören, aber nicht wiederaufzubauen. Der Vorwurf ist ein unverdienter und nimmt sich besonders in dem Mund von Männern, die auf ökonomischem Gebiet das laisser faire, laisser aller[Anmerkung 28] predigen, gar komisch aus. Wer, wie unsere freihändlerischen Bourgeois, den Satz verficht, daß die Gesellschaft die höchstmögliche Vollkommenheit erreichen werde, wenn man die Menschen nur sich selber überlasse, sie in ihrem Kampf ums Dasein nicht durch äußere Einwirkungen und Hemmungen störe, der hat fürwahr nicht das Recht, von einer andern politischen Partei zu verlangen, sie sollt den Zustand, welchen sie erstrebt, in allen Details vorauszeichnen. Die menschliche Gesellschaft ist keine Maschine, die gemacht worden ist und von Zeit zu Zeit mechanisch repariert werden muß. Sie ist ein lebendiger Organismus, der wie eine Pflanze wächst; der gleich der Pflanze gedeiht, wenn er sich in gesunden, seiner Natur entsprechenden Bedingungen befindet; gleich ihr verkommt, wenn sein Wachstum durch schädliche Einflüsse gehemmt ist; und, gleich ihr, sich nur dann wieder erholen kann, wenn diese schädlichen Einflüsse entfernt werden. Die Entfernung der schädlichen Einflüsse ist die Heilung. Die Negation (Verneinung) des Schlimmen ist die Bejahung, die Feststellung des Guten. Das Leben ist die Negation des Todes. Die Geschichte ist eine permanente Negation; Negation der Vergangenheit und Gegenwart, des vergangenen und gegenwärtigen Zustandes. Und nicht bloß die Geschichte der Menschheit, sondern auch die jedes einzelnen Menschen, überhaupt jedes Organismus, ja jedes Dinges. Zerstören und Schaffen ist ein und dasselbe, wo es sich um die Zerstörung des Lebensfeindlichen handelt: das Schlechte zerstören heißt das Gute schaffen. Der Zerstörung des Lebensfeindlichen, soll sie gründlich und von dauernder Wirkung sein, muß dessen Kritik vorhergehen. Die Kritik hat das Schädliche zu zeigen, damit die Praxis es entfernen kann ...
[...] Genug. Ich glaube, in dem Bisherigen den versprochenen Beweis dafür geliefert zu haben,
»daß die Baseler Beschlüsse in dem Stand der Landfrage ihre vollste Berechtigung finden; und
daß das Geschrei gegen die Baseler Beschlüsse nur der Ignoranz oder bösem Willen entspringen kann«.
Es ist mir jetzt nur noch übrig zu zeigen, »daß unsere Partei, wollte sie die Baseler Beschlüsse verleugnen, ihre eigenen Prinzipien, ihr eigenes Programm verleugnen würde«.
Das Eisenacher Programm[Anmerkung 29] sagt im dritten Punkt des die allgemeinen Grundsätze enthaltenden Teils (II):
»Die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters von dem Kapitalisten bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, und es erstrebt deshalb die sozialdemokratische Arbeiterpartei, unter Abschaffung der jetzigen Produktionsweise (Lohnsystem), durch genossenschaftliche Arbeit den vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter.«
So deutlich als Worte es aussprechen können, ist hier ausgesprochen: erstens die negative Forderung, daß wir die jetzige (kapitalistische) Produktionsweise, mit dem ihr zugrunde liegenden Lohnsystem, das heißt der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital, abschaffen wollen;[Anmerkung 30] daß nur ein Teil des Ertrags der Arbeit dem, der sie geleistet hat, zugute kommt, während der andere, größere oder geringere Teil in die Tasche eines sich Arbeitgeber, Meister, Fabrikant, Unternehmer, Pächter, Grundbesitzer, Gläubiger nennenden Individuums fließt, welches die Arbeit nicht geleistet hat und in sehr vielen Fällen überhaupt gar nicht arbeitet. Die jetzige Produktionsweise, welche wir abschaffen wollen, beschränkt sich aber nicht auf die Industrie, sondern herrscht auch in der Landwirtschaft, für welche die nämlichen ökonomischen Gesetze in Kraft sind wie für die Industrie. Die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital ist, wie wir gesehen haben, auf dem Gebiete des Ackerbaus nicht weniger allgemein und intensiv als auf dem Gebiete der Industrie – bei den Kleinbauern in Form von Hypothekenschulden und Wucherzinsen – beim Großackerbau in Form von Hungerlöhnen für den eigentlichen Produzenten; und die Erlösung durch genossenschaftliche Produktion ist darum für den ländlichen Arbeiter ein ebenso dringendes Bedürfnis wie für den städtischen Arbeiter. Daß zur Durchführung der genossenschaftlichen Produktion die Hilfe des Staates notwendig ist, da auf privatem Weg nur kleine, die Opfertätigkeit einzelner beweisende, im ganzen jedoch völlig einflußlose und unfruchtbare Versuche gemacht werden können, ist gleichfalls in dem letzten (10.) Punkt der »nächsten Forderungen« (III) des Eisenacher Programms ausgesprochen, und es ergibt sich somit, daß die Baseler Beschlüsse, weit entfernt, mit unserem Programm im Widerspruch zu stehen, nur dessen Konsequenzen für die landwirtschaftliche Produktion enthalten. In der längeren Abhandlung, welche unser Freund Bebel jetzt im »Volksstaat« veröffentlicht (»Gegen die demokratische Korrespondenz«),[Anmerkung 31] wird dies des Näheren nachgewiesen und überhaupt die Landfrage mit großer Schärfe und Gründlichkeit erörtert, weshalb ich auch hier auf diese Ausführungen verweise.
Man hört vielfach die Behauptung aufstellen, die sozialistischen Ideen möchten wohl für die städtischen Verhältnisse, für die eigentliche Industrie passen, seien aber nicht auf die ländlichen Verhältnisse, auf die Landwirtschaft, anzuwenden. Das ist ein Irrtum, der in der unbestreitbaren Tatsache wurzelt, daß die ländliche Bevölkerung sich bisher den sozialistischen Strebungen gegenüber größtenteils entweder gleichgültig oder geradezu feindlich verhalten hat. Diese Gleichgültigkeit, wo nicht Feindschaft, beruht aber nur auf mangelnder Kenntnis der sozialistischen Grundsätze. Die Landbevölkerung wohnt zerstreut; die gesellschaftliche Reibung, die in den Industriemittelpunkten, in den Städten, stattfindet und geistige Funken hervorsprühen läßt, ist auf dem Land nur in geringem Maß vorhanden, wozu noch kommt, daß aus demselben Grund auch die Verbreitung neuer Gedanken auf dem Land weit schwieriger ist als in den Städten, namentlich den großen Städten, die darum allen Feinden des menschlichen Fortschritts, von Ludwig XIV., dem Urheber des berüchtigten »Der Staat bin ich«, bis herunter auf den preußischen Junker Bismarck, ein Dorn im Auge sind. Ebensogut könnte man sagen, die Politik sei nicht für die Landbevölkerung, denn es steht fest, daß das politische Leben auf dem Land durchschnittlich weit weniger ausgebildet ist als in den Städten.
Nicht nur ist der Sozialismus dem Landbau nicht antagonistisch (feindlich), sondern er ist, wie ich gezeigt habe, für seine Fortentwicklung geradezu unerläßlich! Und was die Verwirklichung des Sozialismus angeht, so ist sie für den Landbau sogar noch weit leichter als für die städtische Industrie. Die Gemeinde, das Dorf, ist eine natürliche Assoziation,[Anmerkung 32] und mit vollständiger Schonung der bestehenden Eigentumsverhältnisse lassen sich die heutigen Dorfgemeinden in Assoziationen verwandeln, zum unmittelbaren und augenfälligen Vorteil aller Gemeindemitglieder. Die nämlichen Motive, welche bei allen Völkern und bei den hervorragendsten Denkern dem Land einen besonderen, es über Privateigentum erhebenden Charakter verliehen haben: die absolute Notwendigkeit des Landes für alle Menschen und die Einheit und Gleichartigkeit des Landes bei aller qualitativen Verschiedenheit der Bodensorten, erleichtern die Assoziation und machen sie bis zu einem gewissen Punkt selbst unter den heutigen Zuständen relativ leicht. Die Produkte des Landes, weil unentbehrlich zum Leben, sind des Absatzes sicher, während die Industrieprodukte zum Teil der Mode unterworfen und den verheerenden Wirkungen der Handels- und Industriekrisen ausgesetzt sind; und ein Zusammenwerfen der den einzelnen Besitzern gehörigen Grundstücke bietet bei der Natur des Landes weit geringere Schwierigkeiten als die sozialistische Organisation der verschiedenen Industriezweige, in denen der individuelle Besitz sich nicht so leicht gegenseitig abwägen läßt.[Anmerkung 33]
Es wäre leicht, die sozialistische Neugeburt der Gesellschaft detailliert auszumalen und an die Phantasie zu appellieren. Hierfür ist aber der Gegenstand zu ernst. Die angedeuteten Grundzüge und Umrisse genügen. Es reicht hin, daß die Unhaltbarkeit, die Gemeinschädlichkeit der bestehenden Zustände bewiesen ist und damit die Notwendigkeit der Umgestaltung. Die Notwendigkeit ist das Recht und die Pflicht. So notwendig es für den menschlichen Körper ist, daß der Krankheitsstoff ausgetrieben werde, so notwendig ist es für die menschliche Gesellschaft, sich von Systemen und Einrichtungen zu befreien, welche die Weiterentwicklung hindern, weil die Gesellschaft über sie hinausgewachsen ist. Der junge Aar der neuen Gesellschaft muß die Eierschale der alten Gesellschaft zerbrechen, oder er erstickt. Wie Marx es ausdrückt: »Die Konzentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt.« Die Naturgesetze, welche uns in die heutigen Zustände hineingeführt haben, werden uns auch aus ihnen herausführen. Stillstand gibt es nur für den Ignoranten. Die Frage ist bloß, ob wir uns durch die zwingenden Verhältnisse voranstoßen lassen oder ob wir freiwillig und selbstbewußt voranschreiten wollen. Das Ziel liegt erkennbar da – der Weg ist uns noch teilweise verborgen –, im Voranschreiten werden wir ihn finden. Fehltritte, Abirrungen werden uns nicht erspart sein; aber die Notwendigkeit wird uns stets wieder auf den richtigen Pfad bringen. Wir Sozialdemokraten rühmen uns nicht der Unfehlbarkeit. Zugegeben, wir irrten in diesem und jenem Punkt, die Praxis wird alle Irrtümer rektifizieren; und jede Veränderung der herrschenden gesellschaftlichen Zustände ist eine Verbesserung. Die sicherste Bürgschaft einer gedeihlichen Zukunft und einer ruhigen, organischen Entwicklung liegt aber in dem Zusammengehen des arbeitenden Volkes in Land und Stadt.
Man hat uns häufig als eine ausschließliche Arbeiterpartei hingestellt, das Wort Arbeiter im engsten Sinne des Industrielohnarbeiters genommen. Eine Arbeiterpartei sind wir. aber nicht in diesem beschränkten Sinne.[Anmerkung 34] Jeder Mensch soll arbeiten, und wer arbeitsfähig ist und nicht arbeitet, hat kein Recht zu leben. In der heutigen Welt aber ist der arbeitende Mensch unterdrückt, ausgebeutet, zum Elend verdammt; und der Faulenzer herrscht und schwelgt. Soll das so fortgehen? Will das arbeitende Volk ewig das Joch der Faulenzer tragen? Will es? Nein: kann es? Es kann nicht. Es kann nicht, wenn es nicht auf sein Menschenrecht, seine Menschenwürde und seine Menschenexistenz verzichten will. Aus den Reihen der städtischen Arbeiter ertönt schon der Donnerruf: »Tod der Not und dem Müßiggang!« Wie lange wird's dauern, bis er auf dem Land seinen Widerhall findet? Wir haben bisher vielleicht nicht genug für die Verbreitung der sozialdemokratischen Ideen unter der Landbevölkerung getan – die Schwierigkeiten der Propaganda mögen uns zur Entschuldigung dienen! Das Versäumte muß aber noch nachgeholt werden. Pflicht und Parteiinteresse schreiben es uns vor.
Wir brauchen die Landarbeiter und Kleinbauern, soll unser Ringen nicht ein hoffnungsloses sein. Der unheilvolle Gegensatz zwischen Stadt und Land, der bisher jede freiheitliche Bewegung gehemmt, vereitelt hat, muß aufhören. Das warnende Exempel Frankreichs ist nicht an uns verloren. Am 24. Februar 1848 stürzte Paris, die Stadt, den Thron des korrupten Bürgerkönigs; und neun Wochen später schickte das Land eine reaktionäre Nationalversammlung nach Paris, welche die neugegründete Republik untergrub und die Juni-Insurrektion zur Niederwerfung des sozialdemokratischen Industrieproletariats organisierte. Fünf und einen halben Monat nach der Junischlacht wählte das Land mit überwältigender Majorität Louis Bonaparte zum Präsidenten der Republik und bereitete dadurch den Staatsstreich vor, welcher drei Jahre später die Republik vollends beseitigte und Frankreich der bonapartistischen Räuberbande zu systematischer Ausplünderung überlieferte. Das Land, das sind die Bauern. Die französischen Bauern haben das Kaiserreich gemacht aus blinder Furcht vor dem städtischen Sozialismus, in der törichten Hoffnung, das Empire werde sie aus dem Elend reißen. Wohlan, sie sind aus dem Regen in die Traufe gekommen; die Säbeldiktatur, der sie in ihrer Angst vor den eingebildeten Schrecknissen des Sozialismus sich in die Arme geworfen, hat ihnen in Wirklichkeit die Übel gebracht, denen sie ausweichen wollten: Seit dem 2. Dezember 1851 hat die Verarmung des französischen Bauerntums infolge der schamlosen Mißregierung des Empire in furchtbar beschleunigter Progression zugenommen. Die Sozialisten hätten die Bauern aus den Händen der Wucherer, in denen sie sich jetzt winden, zu reißen gesucht, durch Anwendung des Assoziationsprinzips auf die Landwirtschaft und durch Staatskredit bessere Zustände angebahnt; das Kaiserreich saugt den Bauern die letzten Säfte aus – die Herren in den Tuilerien denken: Wenn es nur uns aushält! Wenn wir nur schlemmen und im Mark der Nation schwelgen können – après nous le deluge! (Nach uns die Sintflut!)
Nach Berichten aus Frankreich beginnt es dort in den Köpfen der Bauern zu tagen. Ich will wünschen, daß dem so sei, im Interesse Frankreichs und der Bauern! Gewiß ist: für die Bauern gibt's keine andere Rettung als im Sozialismus. Das rote Gespenst ist der Heiland. Gewiß ist jedoch auch, daß die Masse der französischen Bauern den Sozialismus noch immer mit einem geheimen Grauen betrachtet und daß die sozialistische Propaganda mit einem schwer zu überwindenden Mißtrauen zu kämpfen hat. Diesem Mißtrauen trugen die französichen Delegierten des Baseler Kongresses Rechnung, als sie gegen den Grundeigentumsbeschluß stimmten oder sich der Abstimmung enthielten.[Anmerkung 35] So tief eingewurzelte Vorurteile lassen sich nicht mit einemmal ausrotten; und ehe sie ausgerottet sind, erheischen sie Schonung, sollen nicht schlimme Folgen eintreten. Die Zeit und die Verhältnisse werden das ihrige tun. Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen. Der ländliche Arbeiter hat genau dasselbe Interesse wie der städtische Arbeiter; der Kleinbauer genau dasselbe Interesse wie der Kleinhandwerker und Kleinkrämer. Der ländliche Arbeiter ist Proletarier, der Kleinbauer wird es; jener ist Sklave des Kapitals, dieser Rekrut für die Armee der Sklaven des Kapitals – das ist der ganze Unterschied. Die städtischen Arbeiter und die Verständigen unter den städtischen Kleindhandwerkern und Kleinkrämern haben begriffen, daß ihre traurige Lage die Folge der heutigen Produktionsweise ist, und suchen dieselbe durch genossenschaftliche Produktion zu ersetzen. Die ländlichen Arbeiter und Kleinbauern haben bisher ihrer Mehrzahl nach diese Bestrebungen ihrer verkannten Brüder bekämpft, sich zu Werkzeugen des gemeinsamen Feindes hergegeben. Mögen sie das Selbstmörderische ihres Handelns einsehen! Der Tag, an welchem der ländliche Arbeiter und Kleinbauer dem städtischen Arbeiter und Kleinbürger die Hand reicht, ist der Tag der Befreiung beider. Nicht: Hie Stadt! Hie Land! sei die Losung, sondern: Hie Stadt und Land, brüderlich verbündet gegen die gemeinsamen Feinde der ehrlichen Arbeit!...
Zu Trutz und Schutz
Festrede, gehalten zum Stiftungsfest des Crimmitschauer Volksvereins am 22. Oktober 1871
Freunde! Der Altmeister der deutschen Demokratie, Johann Jacoby, hat in seiner berühmten Rede »über die Ziele der Arbeiterbewegung« gesagt: »Die Gründung des kleinsten Arbeitervereins wird für den künftigen Kulturhistoriker von größerem Wert sein als der Schlachttag von Sadowa.«[Anmerkung 36] Hätte er ein Jahr später gesprochen, so würde er haben hinzufügen können: »und als alle glorreichen Siege und schönen Kavalleriegefechte des heiligen Kriegs der Herren Bonaparte und Bismarck.«[Anmerkung 37] Es ist zwar nicht dem Namen nach ein Arbeiterverein, dessen Stiftungsfest wir heute feinern, aber der »Volksverein« von Crimmitschau besteht fast ausschließlich aus Arbeitern und huldigt den Prinzipien der Sozialdemokratie; er ist also ein Arbeiterverein der Sache nach, und Jacobys Wort findet daher auf ihn seine Anwendung.
Ja, die Gründung des kleinsten Arbeitervereins ist eine wichtigere Kulturtat als alle »Großtaten«, welche das militärische und monarchische Europa auf dem sogenannten Feld der Ehre vollbracht hat und noch vollbringen wird; in dem kleinsten Arbeiterverein leben und treiben die Ideen der Gegenwart, wird die Lösung der gewaltigen Fragen vorbereitet, welche unsere Zeit bewegen, während die Hand des Soldaten die Mordwaffe nur führen muß, um die überlebten Schöpfungen der Vergangenheit zu verteidigen und aufrechtzuerhalten. Jeder Arbeiterverein ist ein Reis der modernen Kultur, gepflanzt in den Weinberg der Menschheit, den die »herrlichen Kriegsheere« nur verwüsten; eine Schule echter, menschenbefreiender Bildung, die von den Siegern der Schlachten beleidigt und bedroht wird; ein Stück der neuen Welt, das, wie ein Keil in die alte Welt hineingetrieben, dazu beitragen wird, sie zu zersprengen.
Zwei Welten stehen jetzt schroff einander gegenüber – die Welt der Besitzenden und die Welt der Nichtbesitzenden, die Welt des Kapitals und die Welt der Arbeit, die Welt der Unterdrücker und die Welt der Unterdrückten, die Welt der Bourgeoisie und die Welt des Sozialismus – zwei Welten mit entgegengesetzten Zielen, Bestrebungen, Anschauungen und mit verschiedener Sprache, zwei Welten, die nicht nebeneinander bestehen können, von denen die eine der andern Platz machen muß.
Im letzten Krieg zeichneten sich beim Schein der Brandkugeln und der auflodernden Städte und Dörfer die Umrisse der beiden Welten, auch dem blödsichtigsten Auge erkennbar, scharf voneinander ab: hier, die Vertreter der alten Welt, Haß und Verachtung predigend gegen das Nachbarvolk, den Menschenmord im großen als des Menschen höchstes Ziel hinstellend, mit allen Mitteln die Leidenschaften aufstachelnd, das Denken erstickend und auf dem Altar eines engherzigen fanatischen Patriotismus die Humanität opfernd – dort, abseiten stehend, die Vertreter der neuen Welt; ruhig neben dem wildtobenden Strom; nüchtern inmitten der Orgien des nationalen Deliriums; unerschüttert durch Vorwürfe, Anklagen, Verfolgung; stolz den Gegnern die Stirn bietend und ihnen zurufend: »Was Ihr zu den vornehmsten Pflichten stempelt, erscheint uns unsittlich; was Ihr als die erhabensten Güter preist, widerstreitet den Forderungen der Vernunft und Gerechtigkeit. Der Mensch, welcher jenseits unserer Grenzpfähle wohnt, ist ein Mensch so gut wie wir; die Völker sind Brüder und sollen einander lieben, statt sich gegenseitig zu erwürgen. Mord bleibt Mord, auch wenn der Mörder und der Ermordete verschiedene Sprachen sprechen und bunte Röcke tragen statt einfarbiger; der Mord aber ist ein Verbrechen, und das Verbrechen hört nicht auf, Verbrechen zu sein, wenn es in riesigem Maßstab ausgeübt wird. Der Erfolg verwandelt Unrecht nicht in Recht. Was Ihr Ruhm nennt, ist uns das Gegenteil des Ruhmes, was Ihr Ehre nennt, das Gegenteil der Ehre; die Triumphe, mit denen Ihr prahlt, sind uns nur Triumphe der Barbarei; der Krieg, und wäre er der glorreichste, ist eine Sünde wider den heiligen Geist der Menschheit – ein Unglück für den Sieger wie für den Besiegten. Das Wort ›Vaterland‹, das Ihr im Munde führt, hat keinen Zauber für uns; Vaterland in Eurem Sinne ist uns ein überwundener Standpunkt, ein reaktionärer, kulturfeindlicher Begriff; die Menschheit läßt sich nicht in nationale Grenzen einsperren; unsere Heimat ist die Welt: ubi bene ibi patria – wo es uns wohl geht, das heißt, wo wir Menschen sein können, da ist unser Vaterland; Euer Vaterland ist für uns nur eine Stätte des Elends, ein Gefängnis, ein Jagdgrund, auf dem wir das gehetzte Wild sind und mancher von uns nicht einmal einen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann. Ihr nennt uns, scheltend, ›vaterlandslos‹, und Ihr selbst habt uns vaterlandslos gemacht! Und wie könnt Ihr, die Ihr salbungsvoll Euer Christentum beteuert, uns vorwerfen, daß wir nicht ›national‹ seien? Ist es nicht etwa ein auszeichnendes Merkmal der christlichen Religion, daß sie den nationalen Gott der Hebräer zu einem allgemein menschlichen Gott erweiterte, also modern ausgedrückt, das Nationalitätsprinzip zerstörte und den nationalen Gedanken durch den internationalen Gedanken verdrängte? Aus Euch spricht nur das Vorurteil und der Eigennutz; das Interesse der Menschheit erheischt, daß falle, was Ihr vertretet! Und das Interesse der Menschheit wird Euer Sonderinteresse überwinden. Eure Triumphe beschleunigen nur Euern Sturz. In dem Glockengeläute zur Feier Eurer Siege hören wir schon das Grabgeläute Eurer Herrlichkeit.«
Mit unheimlichem Erstaunen sahen die Gegner das unerwartete Schauspiel, hörten sie die fremd klingende Sprache der neuen Welt. Wohl war es nur eine winzige Minorität, die Protest erhob im Namen der Menschheit; aber jede um die Herrschaft ringende Wahrheit ist in der Minorität – und die siegreiche Wahrheit hat stets die Majorität. Wohl bestand diese Minorität fast ausschließlich aus Arbeitern, aus den Enterbten der heutigen Gesellschaft – allein, wie wäre es auch anders denkbar? Die Unterdrückten sind es zu jeder Zeit gewesen, welche die Flamme der Freiheit und Humanität gepflegt; denn die Not ist die beste, ja die einzige Lehrmeisterin der Menschheit. Dem Schwachen lehrt sie beten, dem Starken seine Kräfte gebrauchen – zu seiner Befreiung denken und handeln. Heute sind es die Arbeiter, die, von der Not gedrängt, sich dem Emanzipationswerk gewidmet haben – wie es im Mittelalter die Bauern waren, welche das Evangelium der Freiheit und Gleichheit verkündeten; wie zu Beginn unserer Ära in den Armen und Leidenden die christliche Lehre entsprang. Es ist jetzt nicht zu erstenmal, daß sich in solcher Weise zwei Welten gegenüberstehn. Im vorigen Jahrhundert, als das Bürgertum noch politisch unterdrückt war, hatte es sich bereits eine eigene Welt der Gedanken und Anschauungen geschaffen, die mit der herrschenden Welt im schroffsten Widerspruch stand und sich dieselbe zuletzt geistig unterwarf – ein »moralischer Sieg«, dem der materielle in der Französichen Revolution auf dem Fuße folgen mußte.
Doch die Geschichte bietet eine noch schlagendere Parallele: Das alte Römerreich hat den Gipfel der Macht bestiegen: es hat nichts mehr zu erobern, weil alle Länder der Erde ihm schon tributpflichtig sind. Die Großen schwelgen in unerhörtem Luxus, die Massen darben in dumpfer Sklaverei. Da lehnt sich in der geknechteten herabwürdigten Menge das Gewissen auf gegen solch schmachvolle Zustände, und eine Bewegung hebt an, die, anfangs von den Machthabern und Großen verachtet, verlacht, allmählich ihnen Furcht einflößt und sie zu den heftigsten, grausamsten Verfolgungen gegen die Bekenner der neuen Lehre veranlaßt. Doch die Verfolgungen schaffen nur Märtyrer und kräftigen die Sache, die sie zerstören sollen. Man verbietet den gefürchteten »Feinden des Staats und der Gesellschaft« (denn das waren die Christen), man verbietet ihnen, sich zu versammeln – sie versammeln sich in den Katakomben; man erfindet die raffiniertesten Qualen, umringt den Tod mit tausend Schrecknissen – umsonst, der Tod hat keinen Stachel für die Verfolgten, und unter den ausgesuchtesten Martern haben sie nur ein mitleidiges Lächeln für die Toren, welche eine Idee töten zu können wähnen. »Ist unsere Sache Gottes, dann werdet Ihr sie nicht zugrunde richten können; ist sie aber nicht Gottes, dann wird sie auch ohne Euch zugrunde gehn!« So rufen sie ihren Henkern zu und eilen freudig, siegesgewiß auf den Richtplatz. »Ist unsere Sache Gottes« – das heißt in die moderne Sprache übersetzt: Ist das, was wir erstreben, eine Kulturforderung, ist es im Einklang mit den geistigen, sittlichen und materiellen Interessen der Menschheit, dann ist es durch keine Gewalt auszurotten; ist es aber nicht »Gottes«, das heißt: ist es im Widerspruch mit diesen Interessen, dann muß es an diesem Widerspruch zugrunde gehen – ohne daß es gewaltsamer Unterdrückungsversuche bedarf, die höchstens dem Absterbenden noch ein Scheinleben einhauchen.
Wohlan, der Löwenzwinger, die Schlangenverließe, das Kreuz, der Scheiterhaufen – was war ihre Wirkung? Die Revolution des menschlichen Gewissens schritt unaufhaltsam vorwärts, das Christentum überwand das allmächtige Heidentum, die neue Welt stürzte die alte.
Hier eine Bemerkung. Ich bin weit davon entfernt, die gewöhnlichen Traditionen über das sogenannte »Urchristentum« zu glauben; noch weiter bin ich davon entfernt, die moderne Zivilisation als eine Folge des Christentums zu betrachten. Letztere Auffassung ist entschieden unrichtig, ist sogar eine absolute Umdrehung der Wahrheit; es läßt sich mit Leichtigkeit der Beweis führen, daß jede geistige und materielle Errungenschaft der Menschheit seit der Zeit, wo das Christentum Staatsreligion geworden, im Kampf mit dem Christentum, gegen das Christentum durchgesetzt werden mußte. Was aber jene Epoche betrifft, wo das Christentum noch die Dornenkrone der Verfolgung trug, so gehören zwar die Legenden, die Mythen älteren und neueren Datums, die man uns vorerzählt, in das Bereich der Fabelwelt, und so kann zwar nicht geleugnet werden, daß Wissenschaft und Kunst den Bekennern der neuen Lehre fremd waren und selbst, weil vermeintlich untrennbar von der Sache des Heidentums, von ihnen aufs erbittertste bekämpft wurden – allein, es wäre eine ebenso große Torheit, wie die ist, deren man sich jetzt gegen uns schuldig macht, wollten wir in Abrede stellen, daß die christliche Bewegung sich mit Notwendigkeit aus den damaligen Verhältnissen entwickelt hat und daß es dieses Protestes der Sittlichkeit des in den Menschen wohnenden Gleichheitsgefühls bedurfte, um die durch und durch verfaulte, auf Sklaverei begründete heidnische Gesellschaft aufzulösen und damit der Menschheit den Pfad zu weiterem Fortschritt zu öffnen. Wohl folgte dem Sturz des klassischen Heidentums eine lange, düstere Nacht. Das Christentum, zur Staatsreligion geworden, entfernte sich von den Prinzipien, denen es seinen Sieg verdankt hatte, und wurde selber ein Werkzeug der Unterdrückung. Doch die Menschheit ließ sich in ihrem Gang nicht aufhalten. Die Ideen der Gleichheit, der Brüderlichkeit, der Freiheit wucherten fort unter der Oberfläche der Gesellschaft. Vergebens suchte die Staatskirche dem Geist Fesseln anzulegen, vergebens errichtete sie ihr Inquisitionsgericht. Sie konnte die Leiber verbrennen, aber die ewigen Gedanken erhoben sich, phönixgleich, mit unversehrten Fittichen aus der Asche. Hunderttausende von Ketzern wurden dahingeopfert, die Schergen der »Unfehlbarkeit« feierten die glänzendsten »Erfolge « – für den Augenblick. Der Enderfolg war, daß die Ketzer über die Ketzerrichter siegten. Die Reformation brach die Macht des Papsttums, und heute ist der unfehlbare Papst der Gnade seiner Feinde überliefert, ein Gegenstand des Mitleids, nicht mehr der Furcht.
Fürwahr, wer überhaupt fähig ist, zu lernen, der sollte aus der Geschichte der religiösen Verfolgungen lernen, daß es ein Wahnsinn ist, das Rad des menschlichen Fortschritts zurückdrehen zu wollen. Wie die Ketzerrichter des Mittelalters verdammt sind vor dem Richterstuhl der Menschheit, so werden auch die modernen Ketzerrichter, die sich unterfangen, die neue Lehre des Sozialismus durch politische Verfolgungen zu ersticken, verdammt dastehn vor dem Richterstuhl der Menschheit; und wie die Ketzer des Mittelalters zuletzt über die Ketzerrichter siegten, so werden auch die Ketzer der Gegenwart über die Ketzerrichter der Gegenwart den Sieg davontragen. Oder glaubt man, es sei weniger Lebenskraft in unsern Ideen als in denen der christlichen Märtyrer? Eitler Wahn!
Die gleiche Rolle, wie beim Zerfall der altrömischen Welt das Christentum, spielte jetzt der Bourgeoiswelt gegenüber der Sozialismus. Wie damals haben wir eine Auflehnung des Gewissens gegen den rohen Materialismus, der, jedes Ideals bar, den Menschen zum Vieh oder zur Ware herabwürdigt; wie damals sind es die Armen und Enterbten, in denen der Same der neuen Welt aufgegangen ist; wie damals haben wir den Bruch mit den nationalen Vorurteilen. Aber ein wesentlicher Unterschied ist da: Der Sozialismus hat nicht die Wissenschaft gegen sich, sondern er hat in ihr seine unumstoßbare Stütze, obschon die Priester der Wissenschaft zum größten Teil im Dienste des Mammons sind; er ist nicht bloß Sache des Gefühls, sondern auch des Verstandes; er beruht auf einer klaren Erkenntnis der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse und hat ein bestimmtes, durchführbares Programm für die Reorganisation der Gesellschaft und des Staats, oder sagen wir bloß: der Gesellschaft, denn der Staat ist nichts anderes als die (mehr oder weniger gut) organisierte Gesellschaft. Als Sache des Gefühls und des Gewissens hat er die ganze Stärke des Christentums – wohlgemerkt, ich rede hier nur von der christlichen Bewegung im ersten Stadium –, als Sache des Verstandes hat er die Stärke der Wissenschaft. Wenn aber das Gefühl allein schon die ersten Christen unwiderstehlich machte, wie hoffnungslos ist dann erst der Kampf gegen den Sozialismus, dem das Gefühl die Stärke der Religion, der Verstand die Stärke der Wissenschaft gibt? Könnte das Wort Religion nicht mißdeutet werden, so würde ich sagen: Der Sozialismus ist Religion und Wissenschaft zugleich. Im Kopf und im Herzen der Arbeiter wurzelnd, ist der Sozialismus weder durch List noch durch Gewalt, weder durch sophistische Scheingründe noch durch Polizei und Zündnadelgewehr auszurotten. In jedem Arbeiter steckt bewußt oder unbewußt mehr oder weniger entwickelt der Keim des Sozialismus, und dieser Keim, der Keim der neuen Welt, läßt sich nicht ersticken. Da hilft kein Leugnen, da hilft kein Augenverschließen, kein Denunzieren, kein Dreinschlagen, kein Massakrieren. Die Bewegung vollzieht sich mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes, Verfolgungen kräftigen den Sozialismus bloß, wie sie das Christentum gekräftigt haben. Die Arbeiter können für ihre Überzeugung sterben, wie die Christen es getan. Der Sozialismus hat seine Märtyrer, wie das Christentum sie hat, und werden noch Zehntausende, noch Hundertausende getötet, der Sozialismus wird dadurch so wenig am endgültigen Sieg verhindert werden wie einst das Christentum. Aus dem Blute eines jeden Märtyrers werden Hunderte von neuen Märtyrern entstehen; die vermehrte Gefahr wird den Mut stählen und – um mich eines Ausspruches der Französischen Revolution zu bedienen: wer mit dem Tod einen Pakt gemacht hat, dem ist der Sieg verbürgt. »Blut und Eisen« mag Feiglingen Angst einjagen, wir spotten der Drohungen und der Gefahren.
Blicken wir hin auf Frankreich, das große politische und soziale Versuchsfeld, wo sich jüngst die furchtbar großartige Tragödie der Kommune abspielte. Das sozialistische Proletariat, das durch die brandenden Wogen der Ereignisse in Paris auf den Gipfel der politischen Gewalt erhoben worden war, es erlag nach heroischem Riesenkampf den vereinigten Anstrengungen der preußischen und der französischen Armee; vierzigtausend Arbeiter wurden im Kampf und nach dem Kampf niedergemetzelt, ebenso viele wurden gefangen, um in ungesunden Kerkern, in mephitischen Schiffsräumen, in den giftigen Sümpfen von Cayenne der »trockenen Guillotine« zum Opfer zu fallen. Welcher Jubel unter den Vertretern der alten Welt! Die soziale Frage war aus der Welt geschafft, der Sozialismus in der Person von achtzigtausend Sozialisten getötet oder dem Tod geweiht!
Der Sozialismus getötet? Die Herren haben ein kurzes Gedächtnis. Dreiundzwanzig Jahre vor dieser Katastrophe war Paris der Schauplatz einer ähnlichen Tragödie, nicht minder großartig, wenn auch nicht von ebenso großen Dimensionen. Die französische Februarrevolution ist Ihnen, den Umrissen nach, bekannt. Das Pariser Proletariat hatte den Julithron gestürzt. Es hatte die Entrüstungsphrasen des liberalen Bürgertums über die Verderbtheit des Bürgerkönigtums ernst genommen und das Übel an der Wurzel angepackt. Aber die Revolution war ihm keine bloße Phrase; es wollte nicht die Ausbeutung und Korruption in einer Gestalt beseitigen, um sie in der anderen wieder auf den Thron zu heben.
Eine provisorische Regierung wurde geschaffen – der Mehrzahl nach aus honetten Republikanern bestehend, mit einigen Vertretern des Sozialismus als Zugabe. Die Arbeiter, vertrauensvoll und großmütiger als klug, erklärten der Regierung: »Wir wissen, daß die Majorität von Euch unseren Bestrebungen nicht freundlich ist, aber wir wollen womöglich weiteres Blutvergießen vermeiden – wir geben Euch drei Monate des Elends; drei Monate werden wir in Geduld alle Entbehrungen ertragen; diese drei Monate sind Eure Probezeit. Sehen wir nach Ablauf der Frist, daß Ihr ehrlich seid, daß Ihr den guten Willen habt, etwas für das hungernde Proletariat zu tun, gut, so wird die soziale Frage sich in Frieden lösen. Sehen wir aber, daß wir wieder betrogen sind, nun dann müssen wir uns selbst helfen.« Die Regierung versprach alles und – brach alles. Die Nationalwerkstätten,[Anmerkung 38] die unsere unwissende Bourgeoispresse zu Schöpfungen des Sozialismus gemacht hat, wurden eingerichtet, um eine Arbeiterarmee gegen den Sozialismus zu gewinnen, ein Versuch, der jedoch an dem regen Klassenbewußtsein der französischen Arbeiter scheiterte. Man konnte das Proletariat nicht nasführen, man mußte es niederkartätschen. Die erforderlichen Maßregeln wurden getroffen, und als die (in der provisorischen Regierung und der unterdessen zusammengekommenen Nationalversammlung vertretene) Bourgeoisie sich des Erfolges sicher glaubte, warf sie die dreißigtausend Arbeiter der Nationalwerkstätten auf die Straße und zwang sie, Hungers zu sterben oder zu kämpfen. Der dreimonatige »Hungerwechsel«, ausgestellt am 17. März, war gerade abgelaufen. Den 21. und 22. Juni bereitete das Proletariat sich zum Kampf vor – den folgenden Tag entbrannte die Schlacht. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, die Einzelheiten der Juni-Insurrektion zu entrollen. Genug – nach viertägigem heldenmütigem Kampf erlagen vierzigtausend Arbeiter dem langgeplanten Angriff einer Armee von achtzigtausend regulären Soldaten und vierzigtausend National- und Mobilgarden. Entsetzliche Greuel wurden von den Siegern verübt – Tausende von Gefangenen ermordet; man schätzt die Zahl der Arbeiter, die im Kampf blieben und nachher massakriert wurden, auf zwölftausend; und ungefähr ebensoviel Gefangene, die man sich scheute, sofort zu töten, wurden nach Lambessa und Cayenne deportiert, wo die meisten von ihnen den Mißhandlungen und dem Klima erlegen sind.
Namenlos war der Jubel der Bourgeoisie über die Niederlage der Junikämpfer. Der Sozialismus war vernichtet, die »Gesellschaft gerettet«, samt allem, was drum und dran hängt: »Familie«, »Eigentum«, und der Himmel weiß, was für schönen Dinge, welche die Bourgeoisie in Worten verehrt und in der Wirklichkeit mit Füßen tritt und schändet. Der Sozialismus war tot! Zwölftausend »Banditen«, »Mordbrenner«, »moderne Barbaren« – doch ich kann die Schimpfwörter nicht alle aufzählen, die damals im Schwange waren; lesen Sie die Artikel der heutigen Presse über die Pariser Kommune, und Sie haben das ganze Verzeichnis; die journalistischen Handlanger der Bourgeoisie haben sich nicht die Mühe genommen, neue Schimpfwörter zu erfinden – zwölftausend Sozialisten tot, zwölftausend auf dem Weg zur »trockenen Guillotine«[Anmerkung 39] – wer konnte da noch an Gefahr denken für die Zukunft? Der Sozialismus war tot und begraben; über der Leiche wurde die Erde festgestampft – wie konnte der Sozialismus wieder auferstehen? Die Zeit verstrich – die Republik mußte bald ins Grab gelegt werden neben den Sozialismus. Und oben auf das Grab stelle Bonaparte seinen Thron – wie konnte der tote Sozialismus wieder auferstehen? »Blut und Eisen« regierte; die Presse wurde geknebelt und gekauft; nichts unversucht gelassen, um die Arbeiterklasse für das Empire zu gewinnen; das Gemüt der Massen systematisch vergiftet; die öffentliche und geheime Polizei in beispielloser Ausdehnung organisiert und zur obersten Staatsinstitution erhoben; die Armee, was ihre wahre Bestimmung im heutigen Staate ist, zu einer Prätorianergarde gemacht, wie eine Bulldogge auf den Mann – aufs Volk dressiert; kurz, alle Hilfsmittel der reaktionären Staatskunst wurden aufgeboten, um einem neuen Ausbruche vorzubeugen. Mehr konnte keine Regierung tun, als Bonaparte getan hat, und ich glaube nicht, daß es eine zweite Regierung gibt, die gleich viel zu tun imstande ist. Was Bismarck und Stieber jetzt in dieser Richtung leisten, ist nur dem Empire abgelernt. Kein Wunder, daß Bonaparte der Abgott der Bourgeoisie wurde; nicht bloß der französischen, nein, der Bourgeoisie aller Länder, insbesondere auch der deutschen. Jeder von Ihnen, meine Freunde, dessen Gedächtnis einige Jahre zurückreicht, wird sich der byzantinischen Verehrung erinnern, die unsere liberale Presse: »Kladderadatsch«, »Volkszeitung«, »Nationalzeitung« – je »liberaler«, desto inbrünstiger – dem Mann des zweiten Dezember[Anmerkung 40] angedeihen ließ. » Er« war die menschgewordene Vorsehung, ausgestattet mit den göttlichen Attributen der Allweisheit und Allmacht. Und das Ende vom Lied? Nachdem er zweiundzwanzig Jahre lang in der Erde gelegen, begann der totgeglaubte Riese die Glieder zu recken, und am 4. September 1870 erhob er sich und stieg hervor aus seinem Grab – der Thron Bonapartes fiel, und der Sozialismus lebte.
Ein halbes Jahr später erstand die Pariser Kommune. Der Sozialismus, der 1848 sich nur vier Tage behauptet hatte, trotzte jetzt länger als zwei Monate den vereinigten Anstrengungen der von den Preußen unterstützten französischen Ordnungssoldateska und konnte erst nach achttägigem Straßenkampf überwältigt werden. Die Metzelei war größer als 1848, die Zahl derer, die deportiert werden sollen, ist doppelt so groß. Die französische Bourgeoisie wollte diesmal reinen Tisch machen, und die Bourgeoisie der übrigen Länder klatschte ihr begeisterten Beifall. Allein schon heute, kaum vier Monate nach dem Sieg, fängt die Bourgeoisie an einzusehen, daß sie nur einen Pyrrhussieg erfochten, daß sie sich ins eigene Fleisch geschnitten hat. Sie hat so gründlich aufgeräumt, daß es ihr an Arbeitern mangelt für ihre Werkstätten, für ihre Fabriken. Und – der Sozialismus ist nicht tot. Er lebt in Paris, in Frankreich, in Deutschland, in allen Kulturländern – er lebt in der Brust eines jeden Arbeiters, der ein Herz hat, zu fühlen, und einen Kopf, zu denken. Die Bourgeoisie kann doch nicht jeden Arbeiter töten, und gelänge es ihr, was hätte sie erreicht? Sie hätte Selbstmord begangen. – Die Bourgeoisie existiert durch die Arbeiter; ohne Arbeiter hört sie auf zu existieren, und durch die Arbeiter wird sie gestürzt – aus diesem unerbittlichen Dilemma kommt sie nicht heraus. Die Entfaltung der Bourgeoisie bedingt ein wachsendes Massenproletariat, und das Proletariat wird durch die ökonomischen Verhältnisse zum Sozialismus gedrängt. Je mächtiger die Bourgeoisie, desto massenhafter das Proletariat, desto stärker die sozialistische Bewegung, desto mächtiger die Gegner der Bourgeoisie. Will die Bourgeoisie Bourgeoisie bleiben, so muß sie das Proletariat und damit den Sozialismus stärken, der sie vernichten wird. Bekämpft sie das Proletariat und den Sozialismus, so zerstört sie die Grundlagen ihrer eignen Macht, ihrer Existenz. In diesem vicieux, diesem »schlimmen Zirkel« muß sie zugrunde gehen.
Mit »Blut und Eisen« ist die sozialistische Bewegung nicht aus der Welt zu schaffen. Im Juni 1848 ist es umsonst versucht worden; und nicht besseren Erfolg hat die Pariser Bluthochzeit vom Mai 1871 gehabt. Wie die Juni-Insurrektion in der Kommune ihre Auferstehung feierte, so wird auch die Kommune einst ihre Auferstehung feiern; und die Ausbrüche werden sich mit wachsender Macht wiederholen, bis die alte Welt ihre Hilfsmittel erschöpft hat und in Trümmer sinkt – es sei denn, daß ein friedlicher Ausweg gefunden werde. Doch davon später.
Rohe Gewalt ist unfähig, den Sozialismus zu ersticken. Wer vom Bewußtsein seines Rechts durchdrungen ist, kennt keine Furcht. Man werfe uns ins Gefängnis, man töte uns – unsere Sache wird darunter nicht leiden. Der unbezwingliche Geist, der die alten Christen lächelnd das Martyrium ertragen ließ, er beseelt auch die Sozialdemokraten. Wir schreiten fort auf dem Pfad, den die Überzeugung uns zu wandeln gebietet, und ob er sich auch mit Leichen bedecke, wir marschieren vorwärts wie eine Sturmkolonne, deren Reihen die feindlichen Kugeln lichten – bis wir das Ziel erreicht.
Daß Gewalt allein ohnmächtig ist gegen die Sozialdemokratie, das begreifen nachgerade auch unsere Gegner; sie wollen uns mit »geistigen« Waffen bekämpfen. Sie gründen Arbeitervereine, in denen den Arbeitern gelehrt wird, zwischen Kapital und Arbeit herrsche die vollständigste »Harmonie«, das wahre Interesse des Arbeiters erheische, daß er mit dem Arbeitgeber zusammengehe, der Zankapfel der sozialen Frage sei nur von einer Handvoll ehrgeiziger, gewissenloser oder toll überspannter Leute zwischen die beiden Klassen geworfen worden. Nun mögen die Gegner fortfahren, Arbeitervereine zu gründen; sie gründen dieselben für uns! Die Falschheit der Harmonielehre wird dem Arbeiter in empfindlichster Weise durch die tägliche Praxis bewiesen, und ist er anfangs unter dem Einfluß der Bourgeoisiepresse auch noch so sehr gegen die Sozialdemokratie eingenommen, bald wird er, um einen populären Ausdruck zu gebrauchen, mit der Nase auf den Klassengegensatz und mit Leib und Seele in den sozialen Konflikt gestoßen und durch die Erfahrung belehrt, daß bei der heutigen kapitalistischen Produktion die Interessen des Arbeiters und Arbeitgebers einander schnurstracks gegenüberstehen: daß es zum Beispiel das Interesse des Arbeiters ist, einen möglichst hohen Lohn zu fordern, das des Arbeitgebers, einen möglichst niedrigen Lohn zu geben. In dieser Differenz – von der allgemeinen politischen und sozialen Stellung der zwei Klassen gar nicht zu reden – liegt allein schon die Quelle endloser, unaufhörlicher Reibungen und Streitigkeiten, mit einem Worte, der Klassenkampf in mehr oder weniger akuter Form. Und so haben wir denn in neuerer Zeit die sonderbare Ironie der Geschichte erlebt, daß die erbittertsten und ausgedehntesten Streiks – und der Streik, die Arbeitseinstellung, ist nach der Straßenschlacht die heftigste Form des Klassenkampfes –, daß die größten und hartnäckigsten Streiks in Deutschland, die von Waldenburg, Forst[Anmerkung 41] usw., von Arbeitern ausgegangen sind, die in den Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften[Anmerkung 42] das Evangelium der Harmonielehre studiert hatten, denen sich aber die theoretische Milch der frommen Denkungsart infolge der praktischen Behandlung seitens der Arbeitgeber in gärendes Drachengift verwandelt hatte. Bei dieser Gelegenheit ist zu erwähnen, daß der ärgste »Arbeiterexzeß« der Neuzeit auf einem preußischen Staatsbergwerk (Königshütte)[Anmerkung 43] vorgekommen ist, von dem jedes Atom »sozialistischen Gifts« ferngehalten worden war.
Ich dächte: dies allein genügte, um das Alberne der Behauptung, die soziale Bewegung sei von einzelnen »gemacht«, in das gehörige Licht zu stellen. Doch gehen wir etwas tiefer in diese Frage ein. Also ein paar Männer sollen die Urheber einer Bewegung sein, welche gleichförmig alle Kulturländer ergriffen hat und welche seit fast einem Menschenalter direkt die Geschicke Europas bestimmt, eine Bewegung, ohne die wir uns u. a. das zweite französische Empire nicht denken können, ohne das wiederum die Bismarcksche Wirtschaft undenkbar wäre. Welche Beleidigung für die Arbeiter liegt in jener Annahme! Hunderttausende, Millionen von Arbeitern sollen sich durch ein paar Leute die Köpfe haben verdrehen lassen und blind hinter ihnen herlaufen, wie Schafherden hinter den Leithammeln! Oh, Ihr Herren Bourgeois und sonstigen Reaktionäre! Wenn die Arbeiter so unselbständig wären, wie Ihr von ihnen voraussetzt oder doch zu glauben vorgebt, dann würden sie in Euren Netzen zappeln, denn Ihr laßt es wahrlich nicht an Anstrengungen fehlen, um sie zu fangen, und Ihr verfügt doch wahrhaftig über tausendmal mehr Mittel der moralischen und materiellen Beeinflussung als die Sozialdemokratie! Überdies ist es ein wesentliches Merkmal unserer Partei, daß sie den Autoritätsglauben prinzipiell bekämpft und jeden Gedanken persönlicher Führerschaft grundsätzlich zurückweist. Doch die Annahme ist nicht bloß eine Beleidigung für die Arbeiter, nicht bloß unrichtig im vorliegenden Fall, sondern sie ist auch an sich durch und durch unwissenschaftlich, der Ausfluß einer Anschauung, die auf vollkommener Unkenntnis des geschichtlichen Entwicklungsprozesses beruht.
Das Kind mit seiner regen Phantasie und seinem unentwickelten Verstand bevölkert die Welt mit Prinzen, Riesen und Zauberern. Es sieht überall nur Außerordentliches, Wunderbares, wittert überall das Walten geheimer Kräfte. Auf demselben kindlichen oder sagen wir lieber kindischen Standpunkt stehen alle diejenigen, welche die menschliche Geschichte als das Produkt einiger außerordentlicher, über das gemeine menschliche Maß vorragender Männer, bald guter, bald schlechter, betrachten und in jedem Ereignis, in jeder Bewegung die Laune, die Willkür dieses oder jenes Individuums erblicken, das, um für die ihm zugedachte Rolle tauglich zu sein, mit allen möglichen übernatürlichen Eigenschaften ausstaffiert wird. Von diesem Standpunkt ging bis in die jüngste Zeit mehr oder weniger unsere ganze Geschichtsschreibung aus, die nichts anderes war und leider auch für die große Masse, der die neueren Werke der Wissenschaft nicht zugänglich sind, noch ist – als eine Aneinanderreihung von Namen berühmter Fürsten, Feldherren und sonstiger Heroen mit eingestreuten Berichten von Schlachten, Mordgeschichten, Haupt- und Staatsaktionen, Verschwörungen – kurz ein Sensationsroman niedrigster Gattung, halb Ritter-, halb Räubergeschichte, halb Kindermärchen. Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung (wohl zu unterscheiden von der gelehrten), die noch sehr jungen Datums ist und in dem Engländer Buckle ihren Hauptvertreter hat, faßt die menschliche Entwicklung als das notwendige Resultat der Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur auf. Sie kennt, wie überhaupt die Wissenschaft, keine Willkür, nur Notwendigkeit, keine Laune, nur Mannigfaltigkeit, nichts Wunderbares und Außerordentliches, nur Natürliches und allgemeinen Gesetzen Folgendes. Die Wundergestalten der altmodischen Märchengeschichten oder Geschichtsmärchen verschwinden vor der Kritik wie ungeheuerliche Nebelgebilde vor den Strahlen der Morgensonne; der Heroenkultus wird in die Rumpelkammer des Aberglaubens geworfen – die »großen Männer« werden erniedrigt und die Menschheit erhöht.
Der Gang der Geschichte ist ein unaufhörliches Ringen des Menschen mit der Natur, ein ununterbrochener Kampf um das Dasein – erst Kampf, um nicht von der Natur überwältigt zu werden, dann Kampf, um die Natur zu überwältigen. Die Errungenschaft dieses hunderttausendjährigen Kampfes ist unsere heutige Kultur. Meine Freunde, Sie alle wissen unzweifelhaft, daß die biblische Schöpfungstheorie durch die Wissenschaft umgestoßen worden ist. Der Mensch ist nicht vollendet aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen und dann allmählich entartet, so daß Gott Propheten, Heilande und sonstige Wunderwesen auf die Welt schicken mußte, um seine »Ebenbilder« vor gänzlicher Verkommenheit zu retten; das Alter des Menschengeschlechts beträgt auch nicht bloß fünf oder sechs Jahrtausende. Die geologischen Forschungen haben zur Gewißheit erhoben, daß die Erde in ihrer festen Gestalt – vom Alter der Materie, aus der die Erde besteht, können wir nicht reden, da die Materie weder Anfang noch Ende hat –, daß die Erde in ihrer festen Gestalt Millionen von Jahren alt ist und daß der Mensch in einer seiner heutigen schon annähernd ähnlichen Gestalt seit Hunderttausenden von Jahren existiert. Schon vor Myriaden von Jahren, zur Zeit des Mammuts, hatte der Mensch, wie wir aus den aufgefundenen Steinwerkzeugen erfahren, eine Kultur erreicht, die ihn hoch über die anderen Tiere stellt und die auf die vorhergegangene Arbeit zahlloser Generationen schließen läßt. Nach dem Geschwindschritt der Gegenwart dürfen wir nicht die Fortschritte der Urzeit berechnen. Heute, wo wir auf den Schultern aller früheren Geschlechter stehn und deren aufgesammelte Kulturarbeit in und um uns haben, sind die Faktoren des Fortschritts kolossal potenziert (gesteigert), während der geringste Fortschritt der Urzeit das Werk von Jahrtausenden war, wie aus dem geringen Unterschied der ausgegrabenen Werkzeuge und Gerätschaften zeitlich weit auseinanderliegender Epochen gefolgert werden muß. Der Urmensch war nicht jenes aufrecht einherschreitende, stolz gen Himmel schauende, auf der gewölbten Stirn einen Adelsbrief als Herr der Schöpfung tragende Wesen, von dem die Mythe des Alten Testaments erzählt. Sein Stammbaum stellt ihn entschieden in die Reihe der anderen Tiere – gleich ihnen hat er die Eintwicklungsphasen aus der einfachen Zelle heraus durchgemacht; dank einem Zusammentreffen günstiger Bedingungen gelang es ihm aber, seinen Verwandten den Rang abzulaufen. Welch kolossale Zeiträume verstrichen sind, bis der Mensch in das historische Zeitalter eintrat, das läßt sich nur ahnen, nicht berechnen. Jedenfalls erfüllt letzteres nur einen winzigen Zeitraum, verglichen mit der vorgeschichtlichen Zeit, daß heißt der dunklen Periode, in welcher der Mensch keine bleibenden Denkmäler seiner Existenz schaffen konnte. Die geschichtliche Zeit dämmert erst auf mit der sich bekundenden Fähigkeit des Menschen, Gesellschaften zu gründen. Solange der Mensch für sich allein stand, höchstens zur Herdenbildung gelangte, wie das bei vielen Tieren der Fall ist, hatte er keine Geschichte. Erst von dem Moment an, wo er Gesellschaftstier, »politisches Tier«, zoon politikon wird, beginnt seine Geschichte. Als einzelner konnte er sich nicht über die Tierheit erheben, das konnte er nur in der Gesellschaft, in der Gemeinschaft mit seinesgleichen. Erst durch die Gesellschaft wird der Mensch Mensch. Aller Fortschritt, alle Kultur ist Gesellschaftswerk. Und je weiter der Gesellschaftskreis sich erweitert, desto rascher der Fortschritt, desto intensiver die Kultur. Von vereinzelten Individuen ausgehend zum Stamm, zur Nation und schließlich zum Weltbürgertum sich erweiternd – das ist der Gang der Menschenentwicklung.
Erst in der Gesellschaft liegt auch der Keim der Sittlichkeit. Der Mensch mußte erst begreifen, daß es vorteilhafter für ihn ist, sich mit seinen Mitmenschen zu verbinden, als im Krieg mit ihnen und damit in beständiger Furcht und Gefahr zu leben. Der Fundamentalsatz aller Moral: Tue deinem Nächsten, was du willst, daß er dir tue, ist das Produkt der Not, welche die Erkenntnis hervorrief, daß die Menschen solidarische Interessen haben. Freilich, diese Solidarität galt anfangs nur für den engsten Kreis der Angehörigen und wurde nur in einer langen Schule unangenehmer Erfahrungen allmählich erweitert, bis wir jetzt endlich so weit gelangt sind, daß die letzten Schranken der Solidarität bloß noch durch die Gewalt der Bajonette aufrechterhalten werden können. Der Begriff der allgemeinen menschlichen Solidarität ist der höchste Kultur- und Moralbegriff; ihn voll zu verwirklichen, das ist die Aufgabe des Sozialismus.
Also Gesellschaftswerk ist die Kultur. Ein jeder Mensch, der jemals gelebt, hat den Kampf um das Dasein kämpfen müssen und in diesem Kampf die Herrschaft des Menschen über die übrigen Geschöpfe und die Natur begründen helfen. Jeder einzelne hat seinen Teil beigetragen zu der Summe der aufgespeicherten Kulturerrungenschaften. Die »großen Männer«, von denen die Geschichtsmythe uns meldet, haben, insoweit sie wirklich gelebt, ebenfalls ihr Scherflein dazu gegeben – begünstigt durch die Umstände möglicherweise ein etwas größeres als ihre unbekannt gebliebenen Mitmenschen –, in jedem Fall aber wurden sie zu dieser Mehrleistung nur durch die Gesellschaft befähigt. Während die Geschichtsmythe die Völker durch die wunderbaren Taten einiger großer Männer zu dem werden läßt, was sie sind, läßt umgekehrt die kritische Geschichte diese sogenannten großen Männer als das Produkt der Völker erscheinen. Vor den Augen der Wissenschaft finden die politischen Götzen so wenig Gnade wie die religiösen. Wie die Christen weiland die Götzenbilder der Heiden von ihrem Piedestal herabwarfen und dem erschreckt zuschauenden Volk zeigten, daß der gefürchtete wunderkräftige Gott nichts anderes war als morsches Holz oder ein Steinhaufen, so reißt die Wissenschaft die »großen Männer« von ihrem Sockel herunter und beweist, daß die Völker in ihnen nichts anderes angestaunt haben als ihre eigenen Hirngespinste. Betrachten wir, um den in der Geschichtsmythe vielleicht Gewaltigsten herauszugreifen: Napoleon – den Napoleon. Welche Legenden knüpfen sich nicht an seinen Namen! Welche übermenschlichen Taten werden ihm nicht zugeschrieben! Wohlan, die historische Kritik hat ihm den Glorienschein abgestreift und den Wundermann zu einem einfachen Abenteurer degradiert, der mit dem Geschicke eines routinierten Spielers den Rückschlag der Revolutionsbrandung benutzte und sich in eine Stellung hineinschwang, die durch die Verhältnisse dargeboten war: Seine militärischen und gesetzgeberischen Leistungen sind ihres erborgten, gestohlenen Glanzes beraubt und der Nachweis geliefert worden, daß er auf allen Gebieten seinen Ruhm den Schöpfungen der Französischen Revolution – also nicht denen eines großen Einzelmenschen, sondern einer großen Menschengemeinschaft verdankt. Im Einklang mit dem Verdikt der Geschichte und in der richtigen Einsicht, daß die Menschen nicht frei sein können, solange sie sich nicht von jedem Aberglauben und namentlich von dem Personenkultus befreit haben, welcher der schlimmste ist von allen Götzendiensten, weil die auf der Erde wohnenden Götzen uns näher und darum gefährlicher sind als die in den Himmel verbannten – in Erkenntnis dieser Wahrheit hat die Pariser Kommune die Vendômesäule[Anmerkung 44] zerbrochen: und wir wollen nur hoffen, daß bald alle derartigen Götzen, die lebendigen wie die toten, die von Fleisch und Bein so gut wie die von Eisen und Marmor, in Trümmer zerschlagen werden.
Die wissenschaftliche Geschichte ist die gründlichste Lehrerin der Demokratie, weil sie die Prätensionen der Aristokratie in ihrer Nichtigkeit darstellt. Sie läßt die Heroen, die Hexenmeister verschwinden und bringt dafür den Menschen zur Geltung und Ideen zur Geltung. Nicht der Wunderkraft einiger Auserlesenen danken wir unsere Kultur – nein, die Menschheit ist emporgestiegen, wie die Koralleninseln der Südsee emporsteigen durch die Kollektivarbeit der Millionen und Milliarden von Individuen zahlloser Generationen. Oder, um ein anderes Gleichnis zu gebrauchen: Sie haben gewiß, meine Freunde, von dem Infusionstierchen gehört, die, winzig klein, nur durch das Vergrößerungsglas sichtbar, doch vermittelst ihrer Massenarbeit die Erdoberfläche verändert haben. Sie haben wohl auch gehört, daß Berlin zum Teil auf einer Schicht von Infusionstierchen steht. Nun, wie diese Infusionstierchen durch Tausende und aber Tausende von Jahren wirken und schaffen mußten, um das Fundament für die Prachtbauten der »neuen Kaiserstadt« zu bilden, so mußten Tausende und aber Tausende von Menschengenerationen wirken und schaffen, um das Fundament unserer modernen Kultur zu bilden. Nicht dieser und jener Mensch hat uns auf die gegenwärtige Höhe gebracht – nein, es ist die Kollektivarbeit aller; und angenommen, die sämtlichen Wundermenschen, gute und böse, hätten nicht gelebt, so würden wir genauso weit sein, als wir sind.
Unsere Gegner erkennen dies unbewußt an, indem sie – den Wilden gleich, welche ihre Götzen durchprügeln oder in Stücke schlagen, wenn sie ihnen nicht die verlangten Wunder tun – ihre menschlichen Abgötter in den Kot werfen, sobald sie ihnen nicht mehr die erwarteten Dienste leisten. Bonaparte, der falsche Neffe des Onkels, gestern noch der größte Staatsmann der Welt, heute liegt er, verachtet von seinen ehemaligen Anbetern, im Staub, und an seiner Stelle wird Bismarck als Abgott verehrt. Auf wie lange? Das wissen wir nicht; aber was wir wissen, ist, daß auch dieser Götze gestürzt werden wird und daß ihn die am heftigsten verdammen werden, die ihm heute den sklavischsten Weihrauch spenden. Unser Urteil wird dann gerechter und maßvoller sein, denn wir werden keine Enttäuschung erlebt haben und nach seinem Fall nicht besser und nicht schlechter von ihm denken als jetzt.
Freunde! Verzeihen Sie mir diese kurze Abschweifung! Ich wollte nur dartun, auf welch unbegründeten Voraussetzungen die Annahme beruht, die menschliche Entwicklung sei das Werk einzelner, im Guten oder Schlimmen ausgezeichneten Individuen. Was von der Vergangenheit gilt, gilt auch von der Gegenwart. Die Behauptung, die jetzige soziale Bewegung sei durch eine Handvoll Leute künstlich nach Willkür, aus strafbarer Laune erzeugt, ist durch und durch unwissenschaftlich und kann nur von Kindern, Ignoranten oder Polizeiseelen ausgehen, nur von Kindern, Ignoranten oder Polizeiseelen geglaubt werden.
Doch unser Streben ist ein »revolutionäres«! Revolution! Furchtbares Schreckbild für alte Weiber beider Geschlechter! Ja, wir sind Revolutionäre! Wir wollen eine Umgestaltung der heutigen Gesellschaft an Haupt und Gliedern. Aber blicken wir dem Schreckbild fest ins Auge, und es verliert seine Schrecknis. Wir leben inmitten der Revolution, und wir leben durch die Revolution. Die ganze menschliche Geschichte ist eine fortwährende Revolution. Die Geschichte ist die Revolution in Permanenz – sie ist Werden, Wachsen, Wechsel, Fortschritt – beständige Umänderung, weil beständig schaffendes Leben. Solange der Mensch lebt, ist er Revolutionär. Daß er unzufrieden ist mit dem, was er ist, was er hat, stets nach Höherem strebt – darin liegt gerade sein menschliches Wesen. Hört der Mensch, hört die Menschheit auf, revolutionär zu sein, so hört der Mensch, so hört die Menschheit auf zu existieren: Die Revolution, die Bewegung ist Leben – die Nichtrevolution, der Stillstand ist Tod.
Allerdings hat das Wort Revolution noch eine andere, engere Bedeutung. Man versteht darunter den »gewaltsamen« Bruch mit den vorhandenen Staats- und Gesellschaftsformen. Wohlan, dieser gewaltsame Bruch – wodurch, durch wen wird er hervorgebracht? Wer trägt die Verantwortlichkeit für alle bisherigen »Revolutionen«? Nicht diejenigen, welche nach den Gesetzen der menschlichen Entwicklung neue Formen für den neuen Inhalt, neuen Ausdruck für die neuen Ideen erstreben – nein. Die haben die Schuld, welche den naturgemäßen, notwendigen Gang der menschlichen Entwicklung aus Kurzsichtigkeit oder Egoismus zu stören suchten. Wie der Strom – es ist das ein oft angewandtes, aber sehr treffendes Gleichnis – ruhig dahinfließt, wenn kein Hindernis seinen Lauf aufhält, aber, durch Fesseln gehemmt, wild tobende Wasserfälle bildet oder sich verheerend über die Ufer ergießt – so der Verlauf der Weltgeschichte. Nur wo sich ihm Hindernisse entgegentürmen, entstehen Stromschnellen, Wasserfälle, Überschwemmungen – Aufruhr, Rebellion, Revolution. Alle Revolutionen in diesem engeren Sinne des Worts, von denen die Geschichte uns Kunde gibt, sind nicht das Werk der sogenannten Revolutionäre gewesen, sondern derer, die dem natürlichen Gang der Entwicklung Hindernisse in den Weg warfen. Alle Revolutionen tragen darum nicht einen aggressiven, sondern einen defensiven Charakter. Defensiv war der Bauernkrieg – er wurde geführt in Verteidigung der heiligsten Menschenrechte, denen der Feudalstaat seine Anerkennung verweigerte; defensiv war die Erstürmung der Bastille – sie war notwendig gemacht durch die drohenden Bewegungen der Hoftruppen; defensiv war der Tuileriensturm des 10. August 1792[Anmerkung 45] und die Schreckensherrschaft[Anmerkung 46] – notwendig, um Frankreich vor den Verschwörungen im Innern und den Angriffen von außen zu schützen, defensiv war die Julirevolution – gegen die Angriffe des Bourbonenkönigs auf die bürgerlichen Freiheiten; defensiv die Februarrevolution – gegen die korrupten Einflüsse der bürgerköniglichen Wirtschaft; defensiv die deutsche Märzrevolution – gegen das volksfeindliche Treiben der Kamarillen; defensiv war die Junischlacht – dem Proletariat aufgezwungen durch die Bourgeoisie, welche den Sozialismus um jeden Preis erdrosseln wollte; defensiv die Septemberrevolution[Anmerkung 47] – um Frankreich vor den Folgen des schmachvollen Staatsstreichs von Sedan zu bewahren; defensiv endlich war die Kommune, dieser tragische Versuch zur Rettung der Französischen Republik, nachdem Frankreich zum zweitenmal binnen Jahresfrist von seiner Regierung verraten worden war.
Und so wird es auch in Zukunft keine Revolution geben, außer zur Verteidigung. Wir sind revolutionär, aber die revolutionäre Bewegung, in der und für die wir tätig sind, wird nur dann zu Gewalttätigkeiten und Blutvergießen führen, wenn unsere Gegner es wollen, das heißt die Regierung und die Bourgeoisie.
Freunde! Nachdem ich nun im allgemeinen den Beweis geführt habe, daß unsere Bewegung nicht künstlich gemacht, sondern organisch aus den Verhältnissen hervorgewachsen ist und folgerichtig nicht eher aufhören kann, als bis die Ursachen entfernt sind, will ich jetzt im einzelnen die hauptsächlichsten Vorwürfe, Einwendungen und Anklagen besprechen, welche die feindliche Presse gegen uns erhebt und durch welche man unsere Partei teils in der öffentlichen Achtung herabzusetzen, teils in sich selber zu spalten sucht.
Zunächst ist man systematisch bemüht, die sogenannten »Führer« anzuschwärzen, um sie des Vertrauens der übrigen Parteigenossen zu berauben. »Die Führer«, sagt man – und wir können es täglich in den großen und kleinen Amts- und Bourgeoisieblättern lesen –, »die Führer nähren sich vom Schweiß der Arbeiter«, »sie leben in Saus und Braus auf Kosten der Arbeiter«, »sie betrachten ihre politische Tätigkeit bloß als einträgliches Geschäft« usw. – Nun, ich kenne allerdings Leute, die vom Schweiß der Arbeiter sich mästen, auf Kosten der Arbeiter in Saus und Braus leben – und das sind die Herren Bourgeois, welche durch die nicht vollbezahlte Arbeit ihrer Lohnsklaven reich werden; und was die Herren Beamten angeht, wenigstens die oberen – denn der Subalternbeamte ist ein Proletarier trotz einem und hat ein Interesse, gemeinschaftliche Sache mit uns zu machen –, so frage ich: Woher kommt denn das Geld für die Beamtengehälter? Etwa nicht aus den Steuern? Und wer zahlt denn die Steuern! Niemand anders als der Arbeiter: der Industrie- und Landarbeiter, der alle Steuern zu entrichten hat, auch die, welche er nicht direkt in der Form von Steuern entrichtet. So mögen sich denn die Herren an der eignen Nase zupfen! »Vom Schweiß der Arbeiter leben!« Fürwahr, die Herren Bourgeois betreiben das selber so gründlich, daß keine Nachlese mehr möglich ist. Was ist denn bei dem Arbeiter zu holen! Er hat ja, dank dem heutigen Ausbeutungssystem, nicht so viel, um sich und seine Familie in einer annähernd menschlichen Existenz zu erhalten.
Wären die sogenannten »Führer« Männer, die nicht aus Überzeugung, sondern aus Eigennutz handeln, wohlan – so würden sie sich an die richtige Schmiede wenden, dahin, wo etwas zu holen ist: an die Herren Bourgeois und an die Regierungen, die so heidenmäßig viel Geld haben. Wer sich verkaufen will, verkauft sich dem, der ihm das meiste Geld geben kann. Ich will den betreffenden Journalisten, welche uns im Auftrage ihrer Brotherren diese Beschuldigung ins Gesicht schleudern, den ehrlichen Glauben an das, was sie sagen, nicht abstreiten, aber jedenfalls haben sie das – Glück, einer Sache zu dienen, die das meiste Geld, ja die alles Geld hat und die sie gut, sehr gut, und wenn sie Talent haben, sogar glänzend bezahlen kann. Die Millionen des Preußischen Preßfonds,[Anmerkung 48] die wohlhonorierten Pfründen in Staat und Gesellschaft, sie sind nicht für uns.
Und, ganz abgesehen von pekuniären Rücksichten, welche »Vorteile« haben denn die »Führer«? Daß sie, im Vorderkampf stehend, den Angriffen der Gegner, den Verfolgungen der Behörden zur Zielscheibe dienen? Und was schlimmer: daß sie aus dem regelmäßigen Erwerb, den gewohnten Bahnen des Lebens, herausgerissen werden? Der Kampf selbst – mit so unehrlichen Waffen er gegen uns geführt wird, denn wir sind nicht bloß politisch vogelfrei, sondern auch moralisch, und man befolgt auch gegen uns das contra haereticos nulla fides: den Ketzern nicht Treu und Glauben! –, der Kampf selbst hat seine Aufregungen und seinen Genuß; aber das gestörte, oft zerstörte Familienglück, die Ungewißheit der Existenz, die Nahrungssorgen, die sich in nicht seltenen Fällen zur absoluten Not steigern – ist das ein beneidenswertes Los? Wer sich verkauft, verkauft sich, um ein Leben des Luxus führen zu können, nicht um zu darben, nicht um zu hungern. Unter den sogenannten »Führern« unserer Partei ist mir kein einziger bekannt, der nicht durch seine Stellung in der Partei materiellen Schaden erlitten hätte. Hierin liegt aber der sicherste Beweis der Ehrlichkeit, der Selbstlosigkeit. Freilich, für unsere Gegner, die den Egoismus in der Praxis zu ihrem einzigen Leitstern erhoben, in der Theorie zum Eckstein ihrer angeblichen Volks-, das heißt, Bourgeoisie-Wirtschaftslehre gemacht haben, ist solche Selbstlosigkeit ein Buch, verschlossen mit sieben Siegeln: sie sind unfähig, zu begreifen, daß es Prinzipien, daß es Ideale gibt, die den, der sie erfaßt hat, unempfindlich machen für Not und Gefahr. Könnten sie es begreifen, sie wären nicht unsere Gegner. Der Ehrgeiz, der Wetteifer sind mächtige Hebel, allein ein tausendmal mächtigerer Hebel ist das Gefühl der Pflicht, das Bewußtsein des Rechts. Mit diesem Hebel werden wir die Welt aus den Angeln heben!
Meine Freunde! Ich komme jetzt zu den verschiedenen Vorwürfen, die man der Sozialdemokratie überhaupt macht, und zwar in der doppelten Absicht: die öffentliche Meinung gegen uns aufzuhetzen und die schwachmütigen, nicht völlig prinzipienfesten Mitglieder unserer Partei ins Wanken zu bringen. Ob und wieweit ersteres gelungen ist, haben wir hier nicht zu untersuchen; was letzteres angeht, so ist das Bemühen zwar ein eitles, allein es läßt sich doch nicht leugnen – und in meiner Stellung am Parteiorgan habe ich mannigfache Gelegenheit gehabt, es zu erfahren –, daß Parteigenossen sehr häufig durch derlei Beschuldigungen in den Lokalblättern momentan verwirrt worden sind. Betrachten wir nun die wichtigsten Anschuldigungen der Reihe nach.
Erstens – und damit beginne ich, weil es für die Gegner in vorderster Linie steht – wirft man uns vor, wir wollten das Eigentum abschaffen. Nun, meine Freunde! Eine bodenlosere Lüge ist nie ausgesprochen worden! Was ist Eigentum? Wie die Vernunft und die Wissenschaft lehren, gibt es nur eine Quelle der Wertproduktion im ökonomischen Sinn, die Arbeit. Nur die Arbeit schafft ökonomische Werte. Das Kapital, das die im Sold der Bourgeoisie befindlichen Volkswirtschaftler als zweiten Faktor der Wertproduktion hinstellen, ist selbst nur ein Produkt der Arbeit. Wenn aber die Arbeit den Wert schafft, dann hat auch die Arbeit ein Recht auf den von ihr geschaffenen Wert, und zwar ein Eigentumsrecht. Dieses Eigentumsrecht ist der Fundamentalsatz der Sozialdemokratie. Jeder Arbeiter soll den vollen Ertrag seiner Arbeit haben – in anderen Worten: Jeder Arbeiter hat das Eigentumsrecht auf den vollen Ertrag seiner Arbeit. Mein Eigentum soll sein das Produkt meiner eigenen Arbeit; und da den Satz: Jeder hat das Recht auf den Ertrag seiner Arbeit, der andere Satz ergänzt: Niemand hat ein Recht auf den Ertrag fremder Arbeit, so läuft der Sozialismus darauf hinaus, jeden zum Eigentümer zu machen, der arbeitet, und jeden hungern (ich sage nicht: verhungern) zu lassen, der arbeitsfähig ist und nicht arbeitet. Ich dächte, entschiedener könnte man doch nicht für das Eigentum eintreten, wie wir es tun! Schon in der heutigen Welt, in der Müßiggang höher geschätzt wird als die Arbeit und die materielle Stellung der Menschen im umgekehrten Verhältnis zur Produktivität ihrer Arbeit und zur Nützlichkeit ihrer Beschäftigung steht, muß die ungeheure Mehrzahl der Menschen arbeiten, ich meine wirklich arbeiten, nicht zum Vergnügen oder »geistig«, wie die Herren Bourgeois das mitunter in scherzhaftem Humor von sich behaupten – also nach unseren Eigentumsbegriffen müßte schon in der heutigen Welt die ungeheure Mehrzahl des Volks aus Eigentümern bestehen. Wie ist es aber nach dem herrschenden Eigentumsbegriffe, nach dem Eigentumsbegriffe unserer Gegner? Nur eine winzige Minorität der Bevölkerung hat Eigentum; das Eigentum ist das Monopol einer Klasse, der Rest der Bevölkerung, die ungeheure Majorität, muß für sich selbst auf Eigentum verzichten und für die Minorität Eigentum schaffen. Gerade deshalb bekämpfen wir die Bourgeoisie, weil sie dem Proletariat den Besitz von Eigentum unmöglich macht, weil sie den Arbeiter um sein rechtmäßiges Eigentum bestiehlt. Man mißverstehe mich nicht. Ich will nicht jeden einzelnen Bourgeois zum Dieb stempeln. Wir haben es überhaupt nicht mit Personen zu tun, sondern mit dem System – umgekehrt wie unsere Gegner, die sich hüten, unser System zu kritisieren, uns dagegen persönlich zu beschmutzen suchen – das sichere Zeichen, daß sie nicht an die Rechtmäßigkeit und Stärke ihrer eigenen Sache glauben. Ich rede hier nicht von den einzelnen Bourgeois, es sei ferne von mir, sie persönlich verantwortlich machen zu wollen für die Übel der heutigen Gesellschaft. Unsere Auffassung der geschichtlichen und ökonomischen Entwicklung schließt dies von vornherein aus. Die bürgerliche Welt ist mit Naturnotwendigkeit aus der feudalen Welt hervorgewachsen wie die feudale Welt ihrerseits aus der antiken Welt. Wir fassen die Geschichte organisch auf, nicht mechanisch; wir wissen, daß jedes Ding seine Ursache, seinen zureichenden Grund haben muß und daß nur die krasseste Ignoranz in den Erscheinungen der Welt Willkür, sei es im guten oder im schlimmen, erblicken kann. Wir unterfangen uns nicht zu sagen: »Die Menschheit ist bisher auf falschen Bahnen gegangen; wir wollen ihr den einzig richtigen Weg weisen, und wer nicht so denkt wie wir, ist ein Dummkopf oder ein Schurke!« Das wäre die Sprache von unreifen Knaben oder Scharlatanen. Die Wissenschaft kennt keinen Irrtum in den Dingen, sie kennt bloß einen Irrtum in der Auffassung der Dinge. Die heutige Produktion hat sich organisch aus den früheren Produktionssystemen entwickelt, sie ist ein höheres Produktionssystem als alle früheren und hat also ihre volle Berechtigung. Aber jetzt tritt ihr ein neues Produktionssystem gegenüber – das sozialistische –, dem sie ebenso gewiß wird weichen müssen, als vor ihr selbst die mittelalterliche und kleinbürgerliche Produktion weichen mußte.
Genug, nicht das Eigentum überhaupt greifen wir an, sondern nur das Eigentum in seiner heutigen Form – das Eigentum, welches durch die Ausbeutung anderer Menschen erworben wird, die selber zur Eigentumslosigkeit verurteilt sind.
Werfen wir einen flüchtigen Blick auf die Art, wie das Eigentum heute entsteht. Ich sagte schon: der Satz, daß die Arbeit die Quelle allen Reichtums ist, wird von der wissenschaftlichen Nationalökonomie einstimmig zugestanden. Daraus folgt, daß niemand ein Anrecht auf Werte hat, die nicht das Produkt seiner eigenen Arbeit sind. Nun ist aber erwiesenermaßen die Arbeitskraft und Produktionsfähigkeit der Menschen so ziemlich gleich – der eine schafft etwas mehr, der andere etwas weniger, aber das Mehr wie das Weniger entfernen sich nicht weit von der Durchschnittslinie. Hieraus folgt weiter, daß der Ertrag der Arbeit aller Menschen bei Benutzung gleicher Produktionsinstrumente – wie dies doch innerhalb eines und desselben Volkes der Fall – so ziemlich gleich ist und daß also, wenn jeder Mensch den Ertrag seiner individuellen Arbeit empfinge, eine ziemliche Gleichheit des Eigentums herrschen würde. Diese herrscht nun aber bekanntermaßen nicht, sondern im Gegenteil die größte Ungleichheit. Woher das? Sie, meine Freunde, die Sie in einer Fabrikstadt wohnen, haben die beste Gelegenheit, zu beobachten, wie die gesellschaftliche Ungleichheit entsteht. Jeder von Ihnen kennt gewiß irgendeinen Fabrikanten, den er hat reich werden sehen. Nehmen wir zum Beispiel den Herrn Zimmermann aus Chemnitz, einen richtigen Musterbourgeois, von dem Sie alle wenigstens gehört haben – in Crimmitschau fehlt es mir an Bekanntschaften unter den Fabrikanten –: Derselbe kam vor zwanzig oder dreißig Jahren nach Chemnitz, so arm wie der Ärmste unter uns. Es gelang ihm, ein kleines Kapital zusammenzubekommen – damals ließ sich noch, weil die Großindustrie noch nicht so entwickelt, das Kapital noch nicht so konzentriert war wie jetzt, mit Hunderten von Talern etwas ausrichten, wozu heute Tausende nicht genügen. »Er hatte Glück«, das heißt, er bekam Aufträge auf Arbeit, die er durch das von ihm gemietete Arbeiterpersonal tun ließ, mit Ausnahme des auf seine eigene Person entfallenden Anteils, der indes nicht größer war als der seiner einzelnen Arbeiter; denn es ist notorisch – und das macht das Beispiel so besonders lehrreich –, daß die Fähigkeiten des Herrn Zimmermann in keiner Hinsicht sich über den Durchschnitt erheben. Wohlan, anfangs beschäftigte Herr Zimmermann ein Dutzend Arbeiter, dann hundert, zuletzt über tausend, und Herr Zimmermann ist heute Millionär, also Eigentümer comme il faut, während seine Arbeiter Habenichtse sind, eigentumslose Proletarier. Woher der Unterschied? Aus der Qualität der Arbeit läßt er sich nicht erklären, da die persönliche Arbeit des Herrn Zimmermann der Qualität nach gewöhnliche Durchschnittsarbeit ist. Er hat gewiß nicht besser und obendrein gewiß nicht so viel gearbeitet als die Mehrheit seiner Arbeiter. Und doch ist er Millionär geworden, und sie sind Proletarier geblieben. Der Ertrag seiner eigenen Arbeit konnte ihn nicht zum Millionär machen; denn wäre die Arbeit in seiner Fabrik so einträglich, daß sie den einzelnen Arbeiter zum Millionär machen könnte, dann hätten alle, wenigstens die Mehrzahl seiner Arbeiter, Millionäre werden müssen. Sie sind aber Proletarier geblieben, und da, meine Freunde, liegt der Hase im Pfeffer. Herr Zimmermann hat mehr, und seine Arbeiter haben weniger bekommen als jeder den Ertrag seiner eigenen Arbeit. Die Arbeiter des Herrn Zimmermann mußten Proletarier bleiben, damit er Millionär werden konnte. Und wenn auch nicht jeder Arbeitgeber ein Zimmermann wird, so ist doch jeder, der es ist, im wesentlichen auf die nämliche Weise Großkapitalist geworden wie Herr Zimmermann – das heißt durch die Arbeit seiner Arbeiter. Das Resultat springt in die Augen, nicht so klar treten die Ursachen zutage.
Ich gebrauchte eben das Wort Arbeitgeber; eigentlich sollte es heißen Arbeitnehmer. Die alte Welt liebt Ausdrücke, durch welche die Begriffe entstellt, oft geradezu auf den Kopf gestellt werden. Sie nennt Arbeitgeber den, welcher die Arbeit anderer nimmt, und Arbeitnehmer den, welcher seine Arbeit einem andern gibt. Die heutige Großproduktion erlaubt es dem einzelnen nicht, auf eigne Faust, für sich allein produktiv zu arbeiten; sie macht das Zusammenarbeiten vieler zur Notwendigkeit; sie bedingt ferner komplizierte Arbeitsinstrumente, deren Anschaffung die Kräfte eines jeden übersteigt, der nur über den Ertrag seiner eigenen Arbeit verfügt insoweit sie ihm bei der heutigen Produktion Ertrag liefert. Die Folge davon ist, daß alle diejenigen, die nicht über ein genügendes Kapital verfügen – und bei der heutigen Produktionsweise kann keiner es durch seine eigne Arbeit erwerben –, dazu gezwungen sind, ihre Arbeit einem Dritten zu verkaufen, der das nötige Kapital besitzt. Der Kaufpreis, den dieser für die Arbeit zahlt, ist der Lohn. Und – beiläufig bemerkt – für den Lohn kauft er nicht bloß die Arbeit, sondern zugleich den Arbeiter, der sich ja von seiner Arbeit nicht trennen kann, mit seiner Arbeit sich selber verkaufen muß. Wie Sie wissen, behauptet der Käufer, der »Wohltäter« des Gekauften zu sein – er »gibt« ihm ja Arbeit und damit Brot, das er sonst nicht haben würde. So nach der Theorie des sogenannten Arbeitgebers. In Wirklichkeit gestaltet sich die Sache aber anders. Bezahlte der »Wohltäter« dem Arbeiter den vollen Wert dessen, was derselbe für ihn schafft, so würde er am Ende des Jahres – und beschäftigte er tausend und zehntausend Arbeiter – um keinen Pfennig reicher sein als am Anfang des Jahres. Das liegt aber nicht im Plan des »Wohltäters« – er will reicher werden, sein Kapital vermehren; und um das zu können, muß er seinem Arbeiter weniger bezahlen, als derselbe für ihn schafft. Mit anderen Worten: der Lohn, den er gibt, ist nicht ein volles Äquivalent der geleisteten Arbeit, der Arbeiter schafft über den bezahlten Wert hinaus einen Mehrwert, der ihm nicht bezahlt wird; und dieser Mehrwert ist es, der das heutige Bourgeoiskapital erzeugt. Tiefer kann ich in die Geheimnisse dieses Erzeugungsprozesses hier nicht eingehen. Ich verweise Sie auf »Das Kapital« von Karl Marx, der auf ökonomischem Gebiet ist, was Buckle für die Geschichtsschreibung, Darwin für die Naturwissenschaften. Genug – nicht der sogenannte Arbeitgeber ist der Wohltäter des Arbeiters, sondern der Arbeiter ist der Wohltäter des sogenannten Arbeitgebers. Allerdings ein unfreiwilliger Wohltäter. Denn seine Wohltätigkeit macht ihn zum Proletarier, zum Lohnsklaven dessen, den er bereichert. Ist das in der Ordnung? Ist das Recht? Nur wer seinen persönlichen Vorteil dabei findet, kann es bejahen. Die Arbeiter aber müßten Freude haben am Elend, an der Knechtschaft, wenn sie nicht alles aufbieten wollten, um einem solchen Zustand ein Ziel zu setzen.
Das Lohnverhältnis ist der Eckstein der heutigen Klassenherrschaft und all der Übel, welche sie mit sich bringt. Das Lohnverhältnis abzuschaffen, ist darum vornehmstes Ziel der sozialdemokratischen Bewegung. Der Arbeiter soll den vollen Ertrag seiner Arbeit und seine Arbeit soll die durch die moderne Wissenschaft gesteigerte Produktivität der kollektiven Arbeit haben: das ist unser Ziel. Damit beabsichtigen wir keinen Angriff auf das Eigentum, keine Zerstörung des Eigentums. Was wir wollen, ist: jeden in den Stand setzen, Eigentum zu haben; das Eigentum des Arbeiters vor den Klauen des Kapitals schützen. Und dies wollen wir erreichen durch die Assoziation. Statt daß die Arbeiter für Rechnung eines Dritten arbeiten, der sie ausbeutet und sie zu seinen Sklaven macht, sollen sie auf eigne Rechnung, gleichgeordnet nebeneinander arbeiten und als freie Männer den vollen Ertrag ihrer Arbeit empfangen.
Wir verkennen nicht die Vorteile der konzentrierten Produktion, wir wissen, wie die Zusammenarbeit den Ertrag der Arbeit steigert. Wir wollen deshalb die Vorteile der heutigen Großproduktion erhalten, ja durch freie Entfaltung des Individuums noch mächtig steigern, aber wir wollen diese Vorteile auf alle gleichmäßig ausgedehnt haben, nicht Monopol einiger weniger bleiben lassen.
Besteht die heutige Produktionsweise in der bisherigen Gestalt fort, so eilen wir den Zuständen des alten Rom entgegen, wo zuletzt aller Besitz in den Händen von einigen Dutzend Menschen konzentriert und die übrige Bevölkerung der grauenhaftesten Armut und Verkommenheit überliefert war. Ganz Nordafrika zum Beispiel gehörte zwei oder drei Grundeigentümern, die Nero in der naturwüchsigsten Weise expropriierte, indem er ihnen den Kopf abschlagen ließ. Würden die Dinge jetzt ähnlich auf die Spitze getrieben, so wäre es vermutlich das Volk, nicht der Kaiser, das die Expropriation vornehmen würde. Die Expropriation aber wäre unvermeidlich. Ins Unendliche können diese Zustände nicht fortdauern, weil sie den Interessen der Gesamtheit zuwiderlaufen, weil sie sich auf die Länge mit der Existenz der Gesellschaft nicht vertragen, trotz der »Harmonie«, von der man uns vorredet und die wir bösen Sozialdemokraten durch unsere »Wühlereien« zu stören suchen. Wo ist denn diese Harmonie? Sie ist eine Erfindung der Herren Bourgeois, ein Ammenmärchen für kindische Philister und für Arbeiter, die noch nicht zu denken gelernt haben. Die Streiks, von denen ich schon vorhin gesprochen und die überall in Deutschland, in Belgien, in England, Amerika – kurz in allen Staaten mit moderner Produktion, ohne Zutun der »Führer«, ja meist gegen deren Wunsch losbrechen und trotz der empfindlichsten Niederlagen sich immer wieder erneuern –, sie sind die beste Antwort auf diese Harmoniephrasen, die beste Illustration dieser Harmonielehre.
Wir sollen die »Harmonie« zu stören suchen? Alberne Lüge. Wir wollen die Harmonie schaffen, wir wollen den jetzigen Gesellschaftszustand reformieren, weil er die Interessen der Menschen in feindlichen Konflikt gebracht hat, weil er Unterdrücker und Unterdrückte, Ausbeuter und Ausgebeutete einander gegenüberstellt. Die Harmonie, die wir anstreben, sie liegt in der Genossenschaft. Nicht Herren und Knechte soll es mehr geben, sondern Genossen, Menschen mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten.
Nur in der Genossenschaft, die auf dem Prinzip der Gleichheit beruht, ist die Harmonie möglich. Das ist kein Traum – die Idee ist eine tausendjährig erprobte. Seit Tausenden von Jahren haben wir bereits eine Genossenschaft, in der die ganze menschliche Kultur wurzelt – die Ehe. Mann und Frau haben gemeinschaftliche Interessen. Ich will hier bloß vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus sprechen. Der eine oder andere von Ihnen, meine Freunde, ist vielleicht in der Lage gewesen, sich eine Wirtschafterin halten zu müssen. Er wird dann die Erfahrung gemacht haben, daß, von sonstigen Unannehmlichkeiten nicht zu reden, die Kosten der Haushaltung unverhältnismäßig hoch waren. Warum? Die Wirtschafterin hat ihr eigenes Sonderinteresse, das dem des Hausherrn schnurstracks entgegenläuft. Sie sieht zunächst auf ihren eigenen Vorteil. Anders die Frau. »Mann und Weib sind ein Leib«, sagt das Sprichwort. Die Frau hat das gleiche wirtschaftliche Interesse mit dem Mann, sein Vorteil ist ihr Vorteil und sein Schaden ihr Schaden. Betrügt die Frau den Mann, so betrügt sie sich selbst. Kurz, es besteht Harmonie der Interessen, und in dieser Harmonie finden beide Teile ihren wirtschaftlichen Vorteil. Und das ist der Grund, warum man mit einer Frau billiger haushält als mit einer Wirtschafterin. Genau dasselbe gilt von der heutigen Bourgeoisproduktion. Der sogenannte Arbeitgeber hat andere Interessen als der Arbeiter. Die Interessen beider sind einander feindlich. Der Arbeiter hat ein Interesse, für seinen Lohn möglichst wenig zu arbeiten, der sogenannte Arbeitgeber hat ein Interesse, möglichst viel Arbeit für den Lohn, den er zahlt, herauszuschinden. (Verzeihen Sie das etwas unparlamentarische Wort – es fällt mir im Moment kein anderes gleichbezeichnendes ein.) der Arbeiter hat ferner ein Interesse, seine Arbeit auf möglichst kurze Zeit zu verkaufen; der sogenannte Arbeitgeber, sie auf möglichst lange Zeit zu kaufen, also die Arbeitszeit möglichst auszudehnen, unbekümmert darum, ob der Arbeiter körperlich und geistig dabei zugrunde geht. Kurz: feindliche Interessen und die grellste Disharmonie statt der angeblichen »Harmonie«!
Wie gut die Bourgeoisie – das darf ich nicht zu erwähnen vergessen – die wirtschaftlichen Vorteile der Assoziation, das heißt, der wirklichen Harmonie der Interessen begriffen hat, erhellt aus dem Partnership-Humbug, den sie neuerdings aufgebracht hat und der zum einzigen Zweck hat, die Produktivkraft des genossenschaftlichen Prinzips in die Dienste des Kapitals zu pressen. Der Arbeiter wird durch den als Köder dienenden »Anteil am Gewinn« zu einer intensiveren Tätigkeit, als sie beim einfachen Lohnverhältnis stattfindet, angespornt, erarbeitet, und indem er für sich selbst zu arbeiten vermeint, sich zuschanden, um dem »menschenfreundlichen« Kapitalisten, der mit der Wurst nach der Speckseite wirft, den Löwenanteil des durch diese intensivere Tätigkeit erlangten Mehrprofits zu erschanzen. Die Zahl der Arbeiter, die auf den Köder angebissen haben, ist übrigens eine sehr geringe – ein Zeichen, daß dieser Mißbrauch des Assoziationsprinzips durch und für die Feinde des Assoziationsprinzips von der Masse unserer Arbeiter durchschaut wird.
Ich komme nun zu dem Vorwurf zurück, wir wollten das Eigentum zerstören, jedoch zu einer anderen Ausdrucksform dieses Vorwurfs: wir wollten »teilen« oder, wie die Gegner in ihrer »gebildeten« Weise meist sagen: wir wollten »teelen«! Natürlich mit denen, die etwas haben, also mit den besitzenden Klassen. Nun, es hat sich in neuerer Zeit wiederholt ereignet, daß das Proletariat die besitzenden Klassen in der Gewalt und folglich die beste Gelegenheit hatte, mit ihnen zu »teilen« oder, ohne Beschönigung, sie auszuplündern. Ich erinnere an die Februarrevolution, an die Märztage in Wien,[Anmerkung 49] Berlin und anderwärts, an die Kommune. Trotz mancherlei Lügen, die geflissentlich verbreitet worden sind, ist es aber eine Tatsache, daß zu keiner Zeit das Eigentum mehr respektiert und, ganz abgesehen vom »Teilen« im Großen, weniger »Verbrechen gegen das Eigentum« begangen wurden als während dieser Krisen. Es hat dies seinen zwiefachen Grund: Erstens macht das Proletariat einen Unterschied zwischen Menschen und Zuständen und weiß, daß die Zustände nicht zu ändern sind durch einfachen Händewechsel des Eigentums. Zweitens sind in revolutionären Perioden die Gemüter exaltiert und drückt sich den verdorbensten Naturen ein idealer Stempel auf. Letzteres zeigt sich in der (beiläufig statistisch nachgewiesenen) Abnahme nicht bloß von Eigentums-, sondern auch von allen sonstigen gemeinen Vergehen in revolutionären Zeiten. In Paris nach der Februarrevolution trieben die Arbeiter den Respekt vor dem Eigentum so weit, daß sie, um ihre heilige Sache rein zu halten, die Diebe erschossen. Ich selbst fand noch Ende Februar 1848 an den Tuilerien die mit Kreide geschriebenen Worte: Les voleurs sont mis à mort. »Die Diebe werden getötet.« Dies erinnert mich an einen köstlichen Witz Heinrich Heines, des größten deutschen Dichters seit Goethes Tod. »Die Bourgeois«, so ungefähr schrieb er – ich glaube in einem Brief an die »Augsburger Allgemeine Zeitung« –, »sahen dem Sturz des Julithrons[Anmerkung 50] mit großer Gelassenheit zu; als sie aber erfuhren, daß die Diebe erschossen wurden, ergriff sie ein panischer Schrecken, und die Herren Rothschild und sonstige Großkapitalisten entflohen aus Paris, wo sie sich nicht mehr sicher fühlten.« – Ja, die – ich will nicht sagen Diebe, aber die »Teiler«, die wirklichen Teiler, denen die summarische Volksjustiz damals in die Glieder fuhr, es sind nicht die Arbeiter, nicht die Sozialisten, es sind die Herren Kapitalisten. Und auch diesen Vorwurf geben wir also unseren Gegnern zurück. Wie die Arbeitgeber mit ihren Arbeitern »teilen«, habe ich schon auseinandergesetzt. Noch krasser und augenfälliger wird das »Teilen« an der Börse betrieben, nur daß hier nicht der Arbeiter, sondern der Kleinbürger, der Mittelstand im weiteren Sinne des Worts das Wild abgibt. Worauf läuft der Gründungsschwindel[Anmerkung 51] hinaus, dem jetzt fast die gesamte Presse dient? Auf Plünderung des Publikums durch geschickte Spekulanten. Lesen Sie nur die Börsenberichte des »Leipziger Tageblatts«, das im übrigen unseren Anschauungen sehr, sehr fernsteht. In diesen wirklich vortrefflichen Aufsätzen wird die Börsenspekulation als das reinste, nur modernisierte Raubrittertum charakterisiert. Der Börsenspekulant spannt seine Netze aus, und die unglücklichen Grünlinge, die hineinfliegen, sind seine Beute. – Jeder von Ihnen hat von Strousberg gehört. Wie hat er sich seine Millionen erworben? Nicht durch Arbeit, sondern durch sein Talent, das Geld anderer Leute in seine Taschen zu eskamotieren. Doch Strousberg ist nach den herrschenden Eigentumsbegriffen ein ehrenwerter Mann; ein königlich-preußischer Staatsbeamter[Anmerkung 52] hilft ihm bei seinen Operationen, denen so das königlich-preußische Staatssiegel aufgedrückt wird; und die Blüte des preußischen Adels macht Kompanie mit ihm, damit ja kein Zweifel darüber obwaltet, daß diese Jagd auf das Eigentum im Geiste der heutigen Gesellschaft und des heutigen Staates ist.
Wenden wir uns von den großen »Teilern« zu einer Gattung von kleinen, die Ihnen zum Teil aus eigner Erfahrung bekannt sind: ich meine die Verleger oder Faktoren. Der Weber im Erzgebirge arbeitet an sich schon für einen Hungerlohn, aber dieser wird ihm noch verkürzt durch jene Menschenart, die sich zwischen ihn und den Kaufmann oder Fabrikant gedrängt hat. Der Weber, der den Tag über zwölf, vierzehn, sechzehn Stunden arbeitet, wird von Jahr zu Jahr ärmer, die Faktoren dagegen, deren einzige »Arbeit« ist, vom Kaufmann zum Weber das Rohmaterial und vom Weber zum Kaufmann die fertige Ware zu bringen, werden mit seltenen Ausnahmen reich. Warum? Weil sie das »Teilen« verstehen. Nehmen wir ein anderes Beispiel: Sie erinnern sich der Volksversammlung, die wir vor einigen Monaten in Leipzig zur Besprechung der städtischen Verwaltung hatten. Unser Freund Bebel führte damals aus, wie die städtischen Steuern von den besitzenden Klassen, die das Heft in den Händen haben, hauptsächlich aus den Beuteln der Armen gezogen und wesentlich zum Vorteil der Wohlhabenden verwandt werden. Für Crimmitschau ist ähnliches nachgewiesen worden, und wenn wir genau untersuchen, werden wir die Erscheinung überall finden, wo Klassenherrschaft existiert, im Staat sowohl als in der Gemeinde. Es liegt eben, in der Natur der Klassenherrschaft, daß die herrschende Klasse ihre Macht zu ihrem privaten und Klassenvorteil ausnutzt. Darum bekämpfen wir die Klassenherrschaft als die Wurzel aller sozialen Übel und der durch sie bedingten politischen Mißstände.
Kurz – nicht wir sind es, die »teilen« wollen, wir schleudern auch diesen Vorwurf auf seine Urheber zurück. Wir sind die prinzipiellen Gegner des »Teilens« in jeder Gestalt. Die Sozialdemokratie will den »Teilern« das Handwerk legen; den »Teilern«, welche dem Arbeiter einen Teil des Ertrags seiner Arbeit vorenthalten; den »Teilern«, welche das kleine Eigentum verschlingen; den »Teilern«, welche durch Steuern das Volk aussaugen. Gegen diese Horde von »Teilern«, die wie ein Heuschreckenschwarm im Staat und in der Gemeinde, auf der Börse, in der Industrie und im Handel – denn auch der Handel gehört hierher – die Früchte des Fleißes verzehren, wollen wir die Gesellschaft, wollen wir die Arbeit, wollen wir das Eigentum schützen.
Noch eins: Wie stellen sich unsere Gegner denn eigentlich das »Teilen« vor, das sie uns so hartnäckig in die Schuhe schieben suchen? Trauen sie dem Arbeiter denn wirklich die Einfalt zu, er glaube eine Verbesserung seiner Lage dadurch herbeizuführen, daß von Staats wegen eine Vermögensteilung nach der Kopfzahl vorgenommen wird? Ich bin seit fünfundzwanzig Jahren in der sozialistischen Bewegung, allein bis auf den heutigen Tag ist mir noch kein Parteigenosse vorgekommen, der eine so klägliche Ignoranz bekundet hätte. Jeder Arbeiter weiß: Wenn wir, bei Fortdauer des heutigen Produktionssystems, alle vorhandenen Werte – Grundeigentum und bewegliches Kapital – in gleiche Teile zerlegen und nach der Kopfzahl verteilen, so ist damit absolut nichts am Wesen der Gesellschaft geändert; die Symptome sind momentan beseitigt, die Ursachen aber bestehen fort und müssen die früheren Wirkungen wieder hervorbringen; den Moment, nachdem die Verteilung erfolgt und die Gleichheit mechanisch hergestellt ist, muß unter dem Einfluß der jetzt waltenden ökonomischen Gesetze die Gleichheit organisch wieder verschwinden, und es wird nicht lange dauern, so ist die Ungleichheit in ihrer früheren Schroffheit zurückgekehrt; wir stünden auf dem alten Fuß und müßten von neuem »teilen«. Nein, solche Albernheiten können nicht in dem Kopf eines Sozialdemokraten entspringen; die Sozialdemokratie betrachtet die Gesellschaft als einen lebendigen Organismus, nicht als toten Mechanismus, als einen Organismus, der, wie jeder individuelle Tier- oder Pflanzenorganismus, beständigem Wechsel unterworfen ist und sich aus dem Niederen zum Höheren entwickelt – nur mit dem Unterschied, daß der Kollektivorganismus, den wir Gesellschaft nennen, unsterblich, unvergänglich ist und aus allen Krisen, die ihm nach Ansicht der Kleingeister und Kleinmütigen tödlich sein sollen, verjüngt, mit frischen Kräften hervorgeht. Nicht mechanische, sondern organische Veränderungen sind es, was wir erstreben. Das System der Lohnarbeit, auf dem die heutige Gesellschaft mit ihren Ungerechtigkeiten beruht, soll abgeschafft und durch das System der genossenschaftlichen Arbeit ersetzt werden, die jedem den Ertrag seiner Arbeit gewährleistet und damit der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital einen Riegel vorschiebt. Nur vermittelst dieser Ausbeutung ist aber die Ansammlung großer Privatkapitalien möglich. Wir haben deshalb gar nicht nötig, die vorhandenen Privatkapitalien prinzipiell zu expropriieren: die Produktivassoziationen – mit denen selbstredend das ganze Gebiet des Handels umfassende Konsumvereine Hand in Hand zu gehen haben, werden allmählich, ohne daß es einer gewaltsamen Massenexpropriation bedarf, das Privatkapital aufsaugen. Die Herren Kapitalisten haben dann entweder in die Assoziationen einzutreten, oder ihr Kapital liegt tot da und ist für sie wie für die Gesellschaft verloren, so daß es in diesem Fall freilich in ihrem eigenen und der Gesellschaft Interesse wäre, wenn die Gesetzgebung gegen solch törichte Auflehnung Maßregeln anordnete, Maßregeln, wie sie schon der heutige Staat Verschwendern, Geistesschwachen, kurz unzurechnungsfähigen Personen gegenüber trifft. Doch, wie dem auch sei, ist einmal die Gesellschaft in bezug auf Produktion sowohl als Konsumtion, also in Industrie und Handel, genossenschaftlich organisiert, so ist dem Privatkapital der Lebensnerv abgeschnitten, und es muß absterben wie ein gegürtelter Baum, während die allschöpferische Arbeit unaufhörlich neue Werte erzeugt und für das Abgestorbene doppelten und zehnfachen Ersatz schafft.
Da redet man uns allerdings vor – und die deutschen Volkswirtschaftler, darunter sogar gelehrte Leute wie Professor Roscher in Leipzig, behaupten es –, die Arbeit sei nicht der einzige wertschaffende Faktor; es gebe noch zwei weitere Faktoren: die Naturkräfte und – das Kapital. Diese Theorie bildet einen schlagenden Beleg dafür, wie beschränkt oder unredlich das Klassenvorurteil machen kann und wie wenig Gelehrsamkeit und Denken identisch sind. Daß wir ohne die Naturkräfte nicht arbeiten können, versteht sich von selbst, die Arbeit ist ja nichts anderes als eine Benutzung der Naturkräfte. Ohne den Boden, auf dem ich stehe, ohne die Luft, die ich atme, kann ich keinen Finger erheben: die Naturkräfte sind unerläßliche Voraussetzungen der Arbeit, aber ohne die Arbeit vermögen sie keine gesellschaftlichen Werte hervorzubringen, erst durch die Arbeit werden sie der Produktion dienstbar. Es ist also durchaus ungerechtfertigt, sie als Produktionsfaktor neben die Arbeit zu stellen. Doch hier haben wir es mehr mit einem unpräzisen Ausdruck zu tun als mit einer tendenziellen Unrichtigkeit, wie eine solche unzweifelhaft bezüglich des angeblichen dritten Faktors, des Kapitals, vorliegt. Das Kapital hilft allerdings bei der Produktion, fördert und steigert sie auch, aber da das Kapital nur aufgespeicherte Arbeit oder genauer: aufgespeichertes Produkt der Arbeit ist, so kann es nicht als selbständiger Faktor neben die Arbeit gestellt werden, sondern es fällt mit dem Faktor Arbeit zusammen, bildet einen Teil desselben. In der einfachsten Arbeit des simpelsten Tagelöhners steckt beiläufig die aufgespeicherte Kulturarbeit von Jahrtausenden, und dieses Kapital, das die Herren Volkswirtschaftler, weil es ihnen nicht in den Kram paßt, den Produktionsfaktoren nicht beigezählt haben, ist für die Produktion unendlich wichtiger als das gewöhnliche Kapital.
Um uns recht anschaulich zu machen, daß die Arbeit es ist, welche das Kapital schafft, und daß das Kapital ohne die Arbeit nichts ist, der Arbeit alles verdankt, brauchen wir uns bloß vorzustellen, es käme eine gewaltige Sintflut, welche sämtliche Arbeiter, namentlich die bösen Sozialdemokraten, von der Welt wegfegte, dagegen die Herren Bourgeois mit all ihren Kapitalien, ihren Fabrikgebäuden, ihren Maschinen, ihren glänzenden Palästen, ihrem Schmucke verschonte. Was würde geschehen? Entweder müßten die Kapitalisten selber arbeiten, oder inmitten ihres Goldes würden sie Hungers sterben, gleich jenem König der griechischen Fabel (Midas), der, nebenbei und ohne Anspielung bemerkt, auch Eselsohren hatte. Setzen wir aber den umgekehrten Fall: die Sintflut fegt alle Kapitalisten weg – ich will ihnen, selbst in der bloßen Annahme, nicht wünschen, daß sie zu Schaden kommen, sie könnten ja auf irgendeinen der Sterne – etwa auf die Venus – versetzt werden, wo Dante seine Seligen wohnen läßt –, also setzen wir den Fall, die Kapitalisten mit all ihren Kapitalien verschwinden von der Erde, die Arbeiter aber bleiben zurück, ohne Fabriken, ohne Maschinen, ohne Kapitalien irgendwelcher Art, nur mit Nahrungsmitteln bis zur nächsten Ernte. Was wäre die Folge? Die Arbeiter würden sich Werkzeuge schmieden, Häuser bauen, die Erde pflügen, Schächte graben, und binnen weniger Jahre wäre das vernichtete Kapital wiederhergestellt und die letzte Spur der Sintflut verwischt; die Arbeiter aber würden ungleich glücklicher leben als zuvor, sie wären ihre ehemaligen Herren los, sie hätten das Kapital ohne die Kapitalistenklasse. Denn das halte ich für ausgemacht, daß, wenn durch irgendein Natur- oder sonstiges Ereignis die Bourgeoisie samt allem, was drum und dran hängt, vernichtet würde, keiner der Zurückgebliebenen so naiv wäre, sie wieder künstlich ins Leben zu rufen. Genug, das angeführte hypothetische Exempel sollte bloß zeigen, daß der Arbeiter den Kapitalisten nicht braucht und sich ohne ihn weit besser befinden würde, daß aber der Kapitalist den Arbeiter braucht und ohne ihn einfach nicht existieren kann, wenigstens nicht als Kapitalist. Nochmals – wir wollen nicht »teilen«, und wir sind sogar so große Feinde des »Teilens«, daß wir, weit entfernt, mit den Kapitalisten teilen zu wollen, entschlossen sind, die Kapitalisten daran zu verhindern, daß sie mit den Arbeitern teilen; und zwar wollen wir dies erreichen durch allgemeine Einführung der genossenschaftlichen Arbeit. Und ist dies etwa ein utopistisches Bestreben? Ist die praktische Durchführbarkeit des genossenschaftlichen Prinzips in Industrie und Handel nicht tausendfach durch die Erfahrung bewiesen? Die allgemeine Einführung ist eine Geldfrage, nichts weiter. Und die Geldfrage löst sich auf in eine Frage des guten Willens. Lassalle forderte bekanntlich 100 Millionen Taler Staatsunterstützung für Produktivassoziationen und erregte damit das Wutgeschrei der Bourgeoisie, die den Generalbankrott in Aussicht stellte, wenn dem Verlangen willfahrt würde. Ob die von Lassalle angegebene Summe genügt, will ich jetzt nicht erörtern – jedenfalls ist es eine elende Bagatelle, verglichen mit den Milliarden, die heutzutage für unproduktive, kulturfeindliche, Wohlstand zerstörende Zwecke zum Fenster hinausgeworfen werden. Man nehme nur die kolossalen Budgets für stehende Heere, welche doch bloß zur Erhaltung der herrschenden staatlichen und gesellschaftlichen Mißbräuche dienen, und man vergegenwärtige sich die Tausende von Millionen, welche der letzte, durch die Furcht vor dem Sozialismus hervorgerufene Krieg verschlungen hat! Fürwahr, was auch die gesellschaftliche Regeneration kosten mag, so viel wird die Einführung besserer Zustände nicht kosten als die Erhaltung unserer schlechten Zustände. Doch weiter.
Den Vorwurf des Kommunismus, der mit den früheren zusammenhängt, kann ich kurz abtun. Was stellen sich die Gegner unter Kommunismus vor? Daß die Faulenzer, die Nichtarbeiter auf Kosten der Gesamtheit leben wollen. Nun, meine Freunde, dieser Kommunismus besteht heutzutage, er ist das Grundprinzip von Staat und Gesellschaft, und gegen ihn richtet sich ja die ganze sozialdemokratische Bewegung. In Wirklichkeit hat aber das Wort Kommunismus eine sehr verschiedene, ja entgegengesetzte Bedeutung – ich sage: in Wirklichkeit, weil die Kommunisten selbst es in diesem Sinne nehmen. Nicht Ausbeutung der Fleißigen durch die Faulenzer, der Arbeiter durch die Nichtarbeiter bedeutet Kommunismus, sondern Unterordnung der Sonderinteressen unter die allgemeinen Interessen, Rettung der Individualität in der Gemeinschaft und speziell auf das Eigentum angewandt: Erhebung des Eigentums zum Gemeingut; also nicht Abschaffung des Eigentums – solange es Menschen gibt, wird es Eigentum geben –, sondern Verallgemeinerung des Eigentums, das jedem zugänglich gemacht werden soll, während es jetzt bloß das Vorrecht eines winzigen Bruchteils der Bevölkerung ist. Und in diesem Sinn den Begriff richtig aufgefaßt, wollen wir allerdings den Kommunismus.
Mit wenig Sätzen eile ich hinweg über den sich mir nun zunächst darbietenden Vorwurf, wir seien »die Barbaren des 19. Jahrhunderts«, wir wollten »die Kultur zerstören«, der Sieg der Sozialdemokratie sei der »Untergang der Zivilisation«. Eine Partei, welche den unentgeltlichen Volksunterricht und überhaupt die Unentgeltlichkeit aller Erziehungs- und Bildungsanstalten auf ihrem Programm hat, kann sich durch diese Anklage nicht getroffen fühlen. In gewisser Beziehung freilich müssen wir schuldig plädieren. Ja, wir wollen zerstören, was unsere Gegner »Kultur«, »Zivilisation« nennen. Wir wollen zerstören Knechtschaft und Unterdrückung, wir wollen zerstören die Saat des Hasses und der Zwietracht, die zwischen die Menschen gesät ist; wir wollen zerstören die Unwissenheit, die geistige Nacht, in welche die ungeheure Mehrzahl unserer Brüder gestürzt ist. – Ja, Ihr Herren Bourgeois, die Unwissenheit wollen wir zerstören, wir Feinde Eurer Kultur! Eure Kultur ist eben das Gegenteil der Kultur: sie kann sich nur dadurch retten, daß sie das Volk zur Dummheit verdammt, ihm die Schätze der wahren Kultur schnöde vorenthält, den Tempel der Bildung ihm verschließt. Diesen Tempel dem Volk zu öffnen, das ist unser Bestreben; die Wissenschaft, die Ihr zum Monopol einiger Auserwählter gemacht und für die Ihr kein Stück Brot habt, wenn sie nicht Euren Launen schmeichelt, Eurem Eigennutz frönt – die Wissenschaft wollen wir zum Gemeingut aller machen. Und dies soll geschehen durch ein System echter Volksschulen – nicht Dressuranstalten wie die Volksschulen von heute, die ein Hohn sind auf den Namen; nicht Volksschulen, deren Lehrer körperlich und deren Schüler geistig verhungern müssen und die den Kindern der Armen ein paar kümmerliche Brosamen hinwerfen, welche zur Nahrung des Geistes auch nicht entfernt ausreichen, nicht Volksschulen, in denen das niederste Maß der Kenntnisse gelehrt wird – nein, Volksschulen in des Wortes ausgedehntester Bedeutung, Schulen für das Volk, die allen Kindern das höchste Maß der Bildung mitteilen, die in jedem Kind alle Anlagen wecken und entfalten und nicht wie heute, mit einem Lebensalter abschließen, wo die eigentliche Bildung erst beginnt. Der Sozialismus »kulturfeindlich«! Weil er jedem Talent die Möglichkeit bietet, sich zu entwickeln? Welch ein gewaltiger Hebel des Kulturfortschritts liegt nicht in dieser bloßen Tatsache einer wahrhaften Volkserziehung! Die Talente sind gleichmäßig unter die Menschen ausgestreut – es ist dies eine Wahrheit, die durch die Wissenschaft über jeden Zweifel erhoben wird und an der wir festhalten müssen, weil sie die Basis der sozialistischen und demokratischen Weltanschauung bildet –; aber die heutige Gesellschaft erlaubt es nur den wenigsten, ihre Anlagen auszubilden, und auch diesen wenigen, mit seltenen Ausnahmen, nur eine einseitige, verkrüppelte Ausbildung. Die ungeheure Mehrzahl der Talente wird jetzt vollständig erstickt. Man wundert sich oft, warum in gewissen Epochen so viel bedeutende Männer erstehen. Das sind eben Epochen, in welchen den schlummernden Talenten Gelegenheit geboten wird, sich zu äußern und zu betätigen. Namentlich ist das der Fall in revolutionären Epochen, die neue Kräfte zur Verteidigung der neuen Ideen und Einrichtungen erheischen. Man nehme zum Beispiel die Masse großer Staatsmänner, Redner und Feldherrn, welche die Französische Revolution auszeichnen. In solchen Zeiten gibt es nicht mehr Talente als in gewöhnlichen Zeiten, aber um mich eines volkswirtschaftlichen Ausdruckes zu bedienen – es ist mehr Nachfrage nach Talenten. Gelegenheit macht nicht bloß Diebe, sie macht auch »große Männer«. Ein »großer Mann« ist ein gewöhnlicher Mann, der die Gelegenheit gehabt hat, »groß« zu werden. Dies nur zur Erläuterung, um zu zeigen, wie unendlich unsere Kultur gefördert werden muß, wenn die Gesellschaft es einst als ihre höchste Aufgabe betrachtet, die Talente aller zur möglichsten Entwicklung zu bringen. Also, die höchstmögliche Summe der Bildung für alle! Allen zugänglich und frei machen wollen wir die Wissenschaft, sie soll nicht länger in Fesseln geschlagen werden, ihr Dienst nicht länger zur materiellen Armut oder zur geistigen Prostitution verurteilen. Ja, zerstören wollen wir Eure Kultur, zerstören wollen wir sie, weil sie der wahren Kultur feindlich ist, weil sie mit der wahren Zivilisation sich nicht verträgt; weil sie die Wissenschaft zwingt, sich dem Reichtum und der Macht zu prostituieren; weil sie, auf Ungerechtigkeit beruhend, durch und durch unsittlich ist und der Prostitution der Wissenschaft die Prostitution des Weibes hinzugefügt hat – die Prostitution des Weibes, den häßlichsten Schandfleck unserer Afterkultur.
Und die Vertreter dieser Gesellschaft der Prostitution haben die Stirn, uns vorzuwerfen – es ist das ein weiterer Trumpf, den man gegen uns ausspielt –, wir wollten die Familie vernichten, die Weibergemeinschaft, die »freie Liebe« einführen! Nun – die freie Liebe, ja, wir wollen sie; wir wollen die Liebe befreien von den Fesseln, welche die heutige Gesellschaft ihr angelegt hat. Aber wenn die Gegner von Weibergemeinschaft, von Vernichtung der Familie reden, so erblicken sie nur sich selbst im Spiegel. Sie klagen uns ihrer eigenen Sünden an. Weit entfernt, die Weibergemeinschaft zu erstreben, wollen wir die jetzt herrschende Weibergemeinschaft abschaffen; weit entfernt, die Familie vernichten zu wollen, ist es unser Ziel, die Familie, welche jetzt degradiert und in ihrer Reinheit der großen Masse ein unerreichbares Ideal ist, zu adeln und zu bewirken, daß sie ihre Segnungen über alle ergieße. Zu meiner lebhaftesten Freude sehe ich, es sind viele Frauen anwesend in dieser Versammlung; es liefert dies einen Beweis, daß die Frauen begriffen haben, wie nahe die soziale Bewegung sie angeht, welch hohes Interesse sie an dem Sieg unserer Prinzipien haben. Man redet heutzutage viel von einer sogenannten Frauenfrage. Für uns gibt es keine besondere Frauenfrage und kann es keine geben, weil die Interessen der Menschen solidarisch sind. Die Frauenfrage ist ein Teil der großen sozialen Frage; mit ihr wird sie gelöst, ohne sie nimmermehr. Wer die Emanzipation des Weibes will, ohne für die allgemeine soziale Emanzipation zu kämpfen, unternimmt eine hoffnungslose Pfuscharbeit. Wer aber für die allgemeine soziale Emanzipation kämpft, kämpft dann zugleich auch für die Emanzipation des Weibes. Und fürwahr, die Lage der Frauen in der heutigen Gesellschaft würde für sich allein schon genügen, die sozialistische Bewegung zu rechtfertigen und der Gesellschaft, die solche Zustände erzeugt, das Todesurteil zu sprechen. Wo ist denn »die Heiligkeit der Familie«, von der unsere Gegner fabeln? Ist sie zu finden bei den Hunderttausenden von Prostituierten, welche die Straßen der Städte, und zwar der kleinen so gut wie der großen, durchstreifen und ihren Leib an den Meistbietenden verkaufen? Bloß in Berlin rechnet man zwanzigtausend prostituierte Dirnen, und Berlin ist nicht »unmoralischer« als andere Städte. Überall in Deutschland, England, Frankreich, Amerika – überall, wo der Klassengegensatz besteht, wo eine breite Kluft gähnt zwischen arm und reich, wo die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen Regel und Gesetz ist, haben wir das Übel der Prostitution. Die Prostitution, sie ist nicht lokal, sie ist nicht national – keine Nation hat das Recht, pharisäerhaft ihre Hände in Unschuld zu waschen und zu sagen: »Ich danke Gott, daß ich nicht so schlecht bin wie die anderen Nationen.« Die Prostitution ist die notwendige Folge der herrschenden Zustände, sie ist die unvermeidliche Ergänzung der Bourgeoise, ihre widerliche Doppelgängerin; sie ist eine allgemeine gesellschaftliche Institution und spottet daher aller Versuche, sie innerhalb der heutigen Gesellschaft auszurotten. Höchstens läßt sie sich durch eine heuchlerische Sittenpolizei von dem Markt in die abgelegenen Gassen treiben. Solange Hunderttausende von Mädchen die Wahl haben, Hungers zu sterben oder für Geld sich hinzugeben, wird die Prostitution fortdauern. Verschwinden kann sie nur dann, wenn jedem Menschen die Möglichkeit geboten wird, ehrlich zu leben; und dazu bedarf es einer Umwälzung der heutigen Gesellschaft, der heutigen Produktionsweise. Die tiefstgesunkene Dirne ist unseres Mitleids, unserer Sympathie wert; ihre Geschichte ist eine gesellschaftliche Tragödie von erschütternder Wirkung für den, der ein menschliches Herz in der Brust trägt und im menschlichen Herzen zu lesen weiß. Schlechte Erziehung, schlechtes Beispiel, Familienlosigkeit, Hunger – das sind die treibenden Ursachen: Wer wagt es, einen Stein zu werfen auf die Gefallenen, auf die unglücklichen Opfer der Gesellschaft? Was aber ist die Prostitution anders als Weibergemeinschaft? Weibergemeinschaft in der unmoralischsten, rohesten Form? Und uns bezichtigt man, die Weibergemeinschaft zu wollen? Wenn wir sie wollten, so würden wir der heutigen Gesellschaft nicht den Krieg erklärt haben. – Ich sagte vorhin: die Prostitution ist die widerliche Doppelgängerin der Bourgeoise. Betrachten wir doch die Ehe der heutigen Gesellschaft! Ist nicht die Ehe zur Prostitution gemacht durch das Kapital? Beruht sie etwa der Regel nach auf Liebe, auf freier Neigung? Entscheidet nicht wesentlich der Besitz? Ist die Ehe nicht eine Spekulation, nicht ein Geschäft statt eines Bundes der Herzen? Verkauft sich das Weib nicht auch in der Ehe? Wird es nicht verkauft wie eine Ware? Sind in den höheren Klassen nicht Ehen aus Liebe geradezu verpönt? Wird nicht das gegenseitige Vermögen genau abgewogen? Gilt es nicht für eine Torheit, »unter dem Stand« zu heiraten? Gilt es nicht für »klug«, für »praktisch«, daß arme Eltern ihre Tochter nötigen, einem reichen abgelebten Lüstling die Hand zu reichen? Würde der Fabrikant, der seine Tochter einem sie liebenden und von ihr geliebten Arbeiter zur Frau gibt, nicht bei seinen Standesgenossen als Tollhauskandidat gelten? Dagegen, wenn er sie zwingt, sich einem ungeliebten und nur aus »Vernunft« heiratenden Mitbourgeois zu überliefern, wird er nicht auf allgemeine Billigung zu rechnen haben? Ist das aber nicht Prostitution? Ist die Frau nicht Handelsartikel? Und wohlgemerkt, nicht bloß »auf der Höhe« der Gesellschaft geht es so zu – diese Profanation der Ehe, diese Prostituierung der Liebe finden wir in allen Schichten der Gesellschaft, wo der Mammonkultus herrscht.
Es fällt mir da ein Bild aus den »Fliegenden Blättern« ein: Zwei Bauern sitzen zusammen, der Sohn des einen wünscht die Tochter des anderen zu heiraten. »Mein Sohn bekommt soundso viele Morgen Land, soundso viel Ochsen, Kühe und Pferde. Wieviel bekommt deine Tochter?« Ich kann ihr nur soundso viel geben. »Das ist zuwenig, du mußt noch ein paar Ochsen und Kühe zulegen.« Ich kann nicht. »Gut, dann wird aus der Sache nichts.« Das ist ein Bild aus dem Leben, und kein Juvenal könnte eine brennendere Satire schreiben. Wir sind stolz auf unsere Kultur und dünken uns wunderbar erhaben über die Wilden, und doch verschachert man bei uns die Mädchen für Ochsen und Kühe, ganz wie es die Kaffern in Südafrika tun. Und warum auch nicht? Unsere Gesellschaft basiert auf der Degradation des Menschen, den sie zur Ware gemacht hat, und daß die Frau ihren Körper verkaufen muß, ist nur ein Teil jenes Systems, welches den Arbeiter zwingt, seine Arbeit, das heißt sich selbst, Leib und Seele, zu verkaufen. Freilich, ein wesentlicher Unterschied besteht hier: das, wozu der Lohnsklave sich verkauft, ist eine gesellschaftlich notwendige Leistung, die bloß durch die Bedingungen, unter welchen sie stattzufinden hat, zu einem Fluch für den Arbeiter wird, während das, wozu die prostituierte Dirne sich verkauft, die schmachvollste Entweihung der Liebe und damit der Menschennatur ist. Die Liebe gibt sich, sie kann sich nicht verkaufen. Verkauft, sei es mit Ehe, sei es ohne Ehe, ist sie Prostitution. Jede Ehe, die Mammon geschlossen hat, wenn auch vom Priester gesegnet, ist Prostitution; jede Vereinigung von Mann und Weib, die Liebe geschlossen hat, auch wenn vom Priester nicht gesegnet, ist eine wahrhafte Ehe.
Doch auch die andere Form der menschlichen Ware ist dem Weib in der heutigen Gesellschaft nicht erspart. Hat das heißhungrige Kapital, dessen Appetit durch die verschlungenen Opfer nur gesteigert wird, nicht der Frau, so gut wie dem Mann, die Ketten der Lohnsklaverei angelegt, ja sie in die Arbeiterbastillen, genannt Fabriken, hineingerissen? Und hat es damit nicht die »Familie« für das arbeitende Volk tatsächlich zerstört? Doch das ist nicht alles. Selbst die Kinder schleift das Kapital in seiner Unersättlichkeit auf den Altar seines menschenfressenden Witzliputzli. Mann, Frau, Kinder – alles Lohnsklaven! Wo bleibt da das »daheim«, ohne welches Familienleben nicht denkbar? Und trotzdem schlägt sich das fromme Kapital auf die Brust und bittet den Himmel, er möge es vor den bösen Sozialdemokraten bewahren, welche die Familie vernichten wollen! Oh, Ihr Heuchler! Der Arbeiter, er hat keine Familie! Ihr habt sie ihm geraubt! Und weil er eine Familie haben will, um Mensch sein zu können, darum ist er Sozialdemokrat!
Die Arbeit ist die Grundlage allen menschlichen Fortschritts, durch die Arbeit allein ist es der Menschheit gelungen, sich über das Tier zu erheben, sich von der Sklaverei der Natur zu befreien. Aber das Mittel der Befreiung ist zum Mittel der Unterdrückung geworden. Statt frei zu sein durch die Arbeit, ist der Arbeiter Sklave der Arbeit. Von dieser Sklaverei der Arbeit muß der Arbeiter befreit werden. Er soll nicht eine lebende Maschine sein, die – aus einem Menschen zu einem Ding gemacht, oft nur das Anhängsel einer toten Maschine – Weber, Zimmermann, Maschinenbauer heißt; sondern er soll ein Mensch sein, der webt, der zimmert, der Maschinen baut, um seine gesellschaftlichen Pflichten zu erfüllen. Der Arbeiter, welcher zwölf, vierzehn, sechzehn Stunden täglich in der Werkstätte, in der Fabrik zubringt, oft noch einen langen Weg von und nach der Stätte der Arbeit zurücklegen muß, hat keine Zeit, Mensch zu sein. Er kommt todmüde nach Haus, schläft und eilt des anderen Morgens, noch müde vom vorhergehenden Tag, wieder an die Arbeit. Das ist keine menschliche Existenz, kaum eine tierische. Kein Bauer wird seine Pferde, sein Zugvieh so abzurackern für gut finden. Doch der Mensch ist duldsamer als das Tier und zum Glück auch zäher. Wohlan, gerade durch die Zerstörung der Familie, gerade durch die Herabwürdigung des Weibes hat die heutige Gesellschaft, weit mehr als durch ihre sonstigen Verbrechen, sich die moralische Berechtigung auf Fortexistenz entzogen, sich ihr Todesurteil gesprochen. Eine Gesellschaft, welche die Prostitution zur offiziellen Gesellschaftseinrichtung gemacht hat, darf das Wort Sittlichkeit nicht in den Mund nehmen, ohne zu erröten, sie ist gerichtet, und sie muß an der Empörung des menschlichen Sittlichkeitsgefühls zugrunde gehen, das in der Brust der Unterdrückten lebt. – Das Weib, mit feineren Nerven, mit feineren Empfindungen ausgestattet als der Mann, fühlt seine Entwürdigung tiefer als der Mann. Darum der begeisterte Anteil der Frauen an der sozialistischen Bewegung, die ihnen die Freiheit, die Würde verheißt. Darum die hervorragende Stellung, welche die Frauen neuerdings in dem Heldenkampf der Kommune eingenommen haben. Junge Mütter, mit dem Säugling an der Brust, trotzten den Chassepotkugeln und ermunterten die Männer zur Tapferkeit; Mädchen ergriffen die Fahne, welche der Hand eines sterbenden Blusenmannes entfallen war, und trugen sie todverachtend dem Feind entgegen, bis sie, den Busen vom Blei der schnapstrunkenen Ordnungssoldateska durchbohrt, leblos dahinsanken; Hunderte von gefangenen Frauen und Mädchen empfingen stolz, trotzig die Todeswunde mit dem Ruf: »Es lebe die Kommune!« und aus dem brechenden Auge noch den Siegern die Verachtung zuschleudernd. »Niederträchtige Petroleusen!« »Prostituierte Dirnen!« »Verworfene, die nur Abscheu einflößen können!« brüllt im Chorus die reaktionäre Bourgeoispresse!
»Niederträchtige Petroleusen«? Niederträchtige Bourgeoislüge! Elendes Märchen, erfunden von Schurken, geglaubt von Dummköpfen – schon heute durch das Zeugnis ehrlicher Gegner widerlegte Verleumdung! »Prostituierte Dirnen«? Kein Zweifel, es waren zum Teil, freilich zum kleinsten Teil »prostituierte Dirnen«. Aber war es die Kommune, die sie dazu gemacht? Nein, Ihr Herren Bourgeois, es war Eure Gesellschaft, Eure »beste der möglichen Welten«, die ihnen das Mal der Infamie eingebrannt, die sie entweiht hatte. Die Kommune dagegen hatte ihnen die Möglichkeit geboten, sich wieder aus dem Schlamme zu erheben und von dem Schmutz Eurer Gesellschaft zu reinigen. Und Ihr wollt Euch wundern, daß glühende Begeisterung für die Kommune, wütender, dämonischer Haß gegen die alte Gesellschaft, die Gesellschaft der Prostitution, sie in den Kampf trieb, daß sie, halb Engel, halb Furien, das erlittene Unrecht zu rächen, ihr Leben der Schmach durch den Tod für eine heilige Sache zu sühnen suchten? Ach, das »ewig Weibliche« in diesen entweihten Verstoßenen ist gleich dem getretenen Wurm emporgeschnellt und hat Eure Gesellschaft in die Ferse gebissen. Ihr nennt Euch Christen – habt Ihr vergessen, wie Euer Jesus die scheinheiligen Heuchler beschämte, welche die Ehebrecherin steinigen wollten? Und Ihr wagt es, sie noch im Tod zu beschimpfen, diese Opfer Eurer Gesellschaft, diese Märtyrerinnen der neuen Lehre, die dem Sklaven das Ende seiner Knechtschaft, dem Weib das Ende seiner Prostitution zeigt?
Sie, meine Freunde, haben es wohl begriffen, daß die »Frauenfrage« untrennbar ist von der allgemeinen sozialen Frage und das es von größter Wichtigkeit für uns ist, die Frauen in unsere Bewegung hineinzuziehen: die Gewerksgenossenschaft der Fabrik- und Handarbeiter,[Anmerkung 53] die hier in Crimmitschau ihren Vorort hat, macht keinen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Arbeitern und hat durch diese tatsächliche Anerkennung der Gleichberechtigung beider Geschlechter mehr für die Frauenemanzipation getan als alle unsere Frauenvereine zusammengenommen, welche die »Frauenfrage« gepachtet zu haben vermeinen.
Die Frau ist die notwendige Ergänzung des Mannes – ohne die Frau kann der Mann nicht Mensch sein, ohne Teilnahme der Frau kann der Mann kein menschliches Ideal verwirklichen. Wir bedürfen deshalb der Hilfe der Frauen in unserer Bewegung. Und Pflicht wie Interesse gebieten es ihnen, uns im Kampf zur Seite zu stehen. Die Frauen, sie fühlen am meisten die Misere der heutigen Gesellschaft, sie werden auch am meisten die Vorteile der sozialen Emanzipation fühlen. Möge drum jedes Weib, jedes Mädchen, statt den Mann, statt den Geliebten von der Bewegung zurückzuhalten, ihn anfeuern, ihm Mut einflößen, wenn er erlahmt; und jede Mutter, möge sie ihren Kindern das Evangelium der Freiheit und Gleichheit predigen, damit ein Geschlecht heranwachse, das im stolzen Bewußtsein der Menschenwürde nicht will, daß es noch Herren und Knechte gebe auf Erden! – Freundinnen und Freunde! Noch einen Vorwurf habe ich zurückzuweisen, und ich bin mit diesem Teil meines Vortrags zu Ende. Man sagt, wir wollten die Bourgeoisie stürzen, um auf ihren Trümmern die Herrschaft der Arbeiterklasse zu errichten. Unser Programm widerlegt diese Anklage. Es ist wahr, wir wollen die Herrschaft der Bourgeoisie brechen, aber nur um jede Klassenherrschaft zu brechen. Die Bourgeoisie beurteilt uns nach sich selbst; sie beseitigte den Feudalstaat bloß, um den Bourgeoisstaat an seine Stelle zu setzen. Sie verdrängte eine Klassenherrschaft durch die andere. Das Proletariat hat ein höheres Ziel. Es hat zu sehr unter der Klassenherrschaft gelitten, um nicht prinzipiell der Klassenherrschaft feind zu sein. Und welche Klasse soll es denn beherrschen wollen? Es ist ja die »unterste Klasse« und hat folglich keine Klasse, die es beherrschen und ausbeuten könnte. Was wir erstreben, ist die genossenschaftliche Organisation der Gesellschaft, die Gleichheit der Rechte und Pflichten. Wie die Solidarität die Schranken des Stamms, der Nation (letztere wenigstens geistig und ökonomisch, wenn auch noch nicht politisch) niedergeworfen hat, so muß sie auch die Schranken der Klassen und Stände zu Boden werfen, damit der Menschheitsbegriff zu freier Entfaltung gelange. Keine Ausbeuter und keine Ausgebeuteten! Keine Herren und keine Knechte! Keine Herrschaft und keine Knechtschaft! Ordnung in der Gleichordnung anstatt der Unordnung in der Unterordnung! Das ist es, was wir wollen. Und welcher ehrliche Mann kann dies ungerecht finden? –
Ich habe nun der Reihe nach die Hauptverleumdungen, die man gegen uns vorzubringen pflegt, durchgenommen und die Haltlosigkeit derselben nachgewiesen. Ich habe gezeigt, daß diese Verleumdungen nur das Zerrbild der Bourgeoisgesellschaft selbst sind, die unter dem Einfluß des bösen Gewissens im Nebel ihrer erhitzten Phantasie das eigene häßliche Konterfei sieht. Ich habe gezeigt, daß, was die Vertreter und Lobredner der alten Gesellschaft uns vorwerfen, die Laster, die Gebrechen, die Verbrechen der alten Gesellschaft sind. Ich habe gezeigt, daß das »Teilen«, die »Weibergemeinschaft«, systematisch in der alten Gesellschaft geübt wird. Ich habe gezeigt, daß es die alte Gesellschaft ist, welche das Eigentum mit Füßen tritt, die Familie zerstört, die Segnungen der Zivilisation dem Volke entzieht, die Kultur mißbraucht und gefährdet. Ich habe gezeigt, daß wir, die Sozialdemokraten, der Bourgeoisie gegenüber die Vorkämpfer des Eigentums, der Familie, der Zivilisation, die Bekämpfer des »Teilens« und der Weibergemeinschaft sind. Ich habe gezeigt, daß wir es sind, die in die Welt des Zwiespalts und der Unordnung Harmonie und Ordnung bringen wollen. Kurz, ich habe gezeigt, daß wir alle Vorwürfe unserer Gegner umdrehen und ihnen zurückschleudern können: nicht gegen, sondern für das Eigentum kämpfen wir; nicht gegen, sondern für die Familie; nicht gegen, sondern für die Kultur; nicht gegen, sondern für die Ordnung; nicht gegen, sondern für die »Harmonie«.
Ich habe gezeigt, daß die Arbeiterbewegung eine Kulturbewegung ist, die nicht der Laune, der Willkür, dem Zufall ihren Ursprung verdankt, sondern mit Naturnotwendigkeit entstanden ist, mit Naturnotwendigkeit sich erfüllen muß. Ich habe gezeigt, daß nur Gedankenlosigkeit und Ignoranz die Berechtigung der sozialdemokratischen Bewegung in Zweifel ziehen können und daß jeder Versuch, diese Bewegung zu hemmen, ebenso hoffnungslos und unsinnig ist wie der Versuch des Stiers, eine heranbrausende Lokomotive aufzuhalten. Wie die Lokomotive zermalmend über ihn hinweggeht, so wird die Arbeiterbewegung über alle Hindernisse hinweggehen.
Das sollten die Gegner begreifen. Sie sollten begreifen, daß es in ihrem Interesse ist, eine Katastrophe zu verhüten. Die heutige Welt kann nicht zur Ruhe kommen. Die Interessen sind in Konflikt miteinander, und Klassenkampf und Krieg sind die notwendige Folge. Verdient ein solcher Zustand die Mühe, welche man sich gibt, ihn zu erhalten? Man kann unsere Gegner in zwei Rubriken einteilen: die, welche uns aus Unwissenheit, und die, welche uns aus bösem Willen bekämpfen. An erstere richte ich die Mahnung: Lernt unsere Bewegung kennen! Ihr werdet aufhören, sie zu fürchten, sobald Ihr sie kennt. Die Furcht ist der schlechteste Ratgeber. Das rote Gespenst, das Euch entsetzt, ist gleich allen Gespenstern ein Produkt der Unwissenheit und verschwindet vor dem prüfenden Blick des Verstandes. Die Erkenntnis der ökonomischen Verhältnisse beseitigt aber nicht bloß die Furcht, die beseitigt auch den Fanatismus. Die Wissenschaft kennt keinen Fanatismus. Die Wissenschaft appelliert nicht an die Leidenschaften, sie denunziert nicht, sie studiert. Sie weiß, daß alle Erscheinungen ihren zureichenden Grund haben; sie sucht diesen Grund zu erforschen, aber hadert nicht mit den Erscheinungen. Man zeige mir eine frühere Kulturbewegung, die es gelungen wäre zu unterdrücken, die nicht schließlich die Widersacher besiegt hätte. Wozu das tausendmal Mißlungene uns gegenüber versuchen? Hat denn das heutige Geschlecht nichts aus der Geschichte gelernt? Müssen wir denn jede schon längst gemachte Erfahrung noch einmal selber auf unsere Kosten machen? Das hieße ja jede Wissenschaft, jeden menschlichen Fortschritt leugnen.
Und Ihr, die Ihr uns aus bösem Willen bekämpft, die Ihr wißt, daß wir recht haben, und nur aus Eigennutz uns entgegentretet – bedenkt, daß es ein sehr kurzsichtiger Egoismus ist, der Euch leitet. Die heutige Gesellschaft bietet Euch große Vorteile, allein durch keine Macht der Erde werdet Ihr Eure privilegierte Stellung behaupten. Euer Reich neigt sich dem Ende zu. Ihr müßt fallen: versteht Ihr Euer wahres Interesse, so werdet Ihr den Fall zu dämpfen suchen. Ihr habt die Geschichte von den Sibyllinischen Büchern gelesen: je länger Ihr zaudert, gerecht zu werden – gerecht zu werden aus Interesse, desto mehr wird sich Eure Lage verschlimmern, unter desto ungünstigeren Bedingungen werdet Ihr Eure Unterwerfung unter die neue Welt zu vollziehen haben. Uns bekämpfen hat keine andere Wirkung, als die Geburtswehen zu erschweren und vielleicht – die Geburt zu beschleunigen. Jedenfalls habt Ihr nur zu verlieren, wenn Ihr der Krisis durch gewaltsame Störungsversuche einen gewaltsamen Charakter aufdrängt.
Eine Katastrophe zu vermeiden, liegt im Interesse aller, in dem Eurigen so gut als in dem Unsrigen. In dem Interesse aller liegt es, daß eine Brücke gebaut werde, die aus der alten Welt hinüberführt in die neue. Ein englischer Staatsmann hat den Ausspruch getan, die Geschichte der Parteien sei eine Geschichte von Kompromissen. Bis zu einem gewissen Punkt ganz richtig! Schade nur, daß die an der Herrschaft befindlichen Parteien sich meist erst dann zu Kompromissen entschließen, nachdem sie alle Mittel des Widerstands erschöpft haben und oft schon so geschwächt sind, daß der Kompromiß den absoluten Bankrott bedeutet.
Wenn eine herrschende Partei Scharfblick und Klugheit hat, wird sie mit jeder andringenden Volksbewegung einen Kompromiß abschließen.
Nur durch eine Reihe von solchen Kompromissen – man mißverstehe das Wort nicht, Kompromiß heißt, daß statt des abrupten Bruchs mit der Vergangenheit durch Abkommen der Parteien ein Übergangszustand geschaffen wird –, nur durch eine Reihe von Kompromissen, also durch Reformen, kann der sozialen Bewegung ein friedlicher Verlauf gesichert und der Übergang aus der alten in die neue Welt mit möglichster Schonung für die Interessen der jetzt herrschenden Klassen bewerkstelligt werden.
Im Interesse der jetzt herrschenden Klassen ist ein Kompromiß deshalb noch weit mehr als in dem unsrigen, denn wir werden auch ohne Kompromiß das Ziel erreichen, wahrscheinlich sogar früher. Was uns einen Kompromiß empfehlen könnte, sind Rücksichten der Humanität, während er unseren Gegnern durch das persönliche Interesse empfohlen wird. Ob wir einen Kompromiß wünschen oder nicht, ist übrigens sehr gleichgültig: es hängt ausschließlich von unseren Gegnern ab, ob einer zustande kommt oder nicht. Will die Bourgeoisie einen Kompromiß, so wird der Kompromiß zustande kommen, ob wir wollen oder nicht. Die Bourgeoisie verfügt direkt oder durch den Staat über das Heer, über das Kapital, über die Schule und über die Presse, kurz über alle materiellen und geistigen Machtmittel. Sie hat folglich die Macht, die Lösung der sozialen Frage auf dem Wege der Kompromisse und Reformen anzubahnen. Sie braucht bloß zu wollen. Um zu wollen, muß sie freilich zuvor begriffen haben, daß die heutigen Zustände auf Unrecht beruhen und unhaltbar sind. Den ehrlichen Gegnern rufe ich darum nochmals zu: Studiert die soziale Frage! Die soziale Frage verstehen heißt sie lösen. Unverstanden muß sie die furchtbarsten politischen und gesellschaftlichen Erdbeben hervorrufen. Die soziale Frage ist die Sphinx, welche den tötet, der ihr Rätsel nicht lösen kann, die aber sich selbst tötet, sobald ihr Rätsel gelöst ist. Das Rätsel der Sphinx war der Mensch. Und es ist auch das der sozialen Frage. Ehe das Rätsel Mensch nicht gelöst ist, wird die Welt nicht zur Ruhe kommen und die Sphinx der sozialen Frage fortfahren, der Gesellschaft ihr dräuendes Antlitz zu zeigen, sie aus einem Schreck in den anderen, aus einem Blutbad ins andere werfen.
Zwei Welten stehen sich gegenüber: die alte und die neue – die absterbende Welt der heutigen Gesellschaft und die ideale Welt der Zukunft; ein breiter, tiefer Schlund gähnt zwischen ihnen. Die heutige Gesellschaft treibt und stürmt dem Abgrunde zu, ein blinder Schreck hat sich ihrer bemächtigt, sie gleicht einer Büffelherde, die, um dem Präriebrand zu entrinnen, geschlossenen Auges in wahnsinniger Angst voranstürzt, nicht achtend des breiten Felsspalts, der sich vor ihr öffnet; ihn zu überspringen, ist unmöglich und der Anprall zu groß, um noch kehrtzumachen; die Vordersten versinken zuerst, und erst wenn der Abgrund mit Leichen gefüllt ist, können die Überlebenden das rettende Jenseits erreichen. – Soll der Schlund zwischen der alten und neuen Welt mit Leichen ausgefüllt werden? Und der Präriebrand, dem die heutige Gesellschaft zu entrinnen sucht, besteht obendrein nur in ihrer Einbildung, kann nur durch ihre Furcht zur Wirklichkeit werden. Läßt sich denn keine Brücke erbauen, die uns sicher hinüberträgt in die neue Welt! Wir können es nicht. Unsere Gegner können es, und wenn sie es tun, erwerben sie sich ein unauslöschliches Verdienst um die Menschheit.
Ich komme nun zum Schluß. Was wir zu tun haben, ist uns klar vorgezeichnet. Wir marschieren voran auf dem Pfade der Pflicht. Verzichte man darauf, uns abzulenken oder uns einzuschüchtern. In Paris hat die Sozialdemokratie gezeigt, daß sie, wenn es sein muß, für ihre Prinzipien sterben kann. Eingedenk des Wahlspruchs: Noblesse oblige [Adel verpflichtet], werden wir nie vergessen, daß unsere Sache die Sache der Menschheit ist. Die Gegner haben zu entscheiden, ob das Ziel in Frieden erreicht wird oder nach blutigem Kampf. Wie die Entscheidung ausfalle, wir akzeptieren sie. Von persönlichem Haß wissen wir uns frei. Selbst im Feind achten wir den Menschen. Die Polen trugen während des letzten Aufstandes auf ihren Fahnen die Inschrift: Für uns und für Euch! So kämpfen auch wir für uns und für unsere Feinde; denn auch ihnen gilt das Befreiungswerk, denn auch sie bedürfen der Emanzipation. An Sie aber, meine Freunde, richte ich die Mahnung: arbeiten Sie in Ihrem Verein ruhig, unverdrossen fort; erlahmen Sie nicht in Ihrer Tätigkeit, verbreiten Sie unsere Ideen – und sollte Sie je einmal Mutlosigkeit erfassen, dann richten Sie sich auf an dem Beispiel des edlen Jacoby, der nie gewankt, wo alles um ihn wankte, und erinnern Sie sich seines Wortes: »Die Gründung des kleinsten Arbeitervereins wird für den künftigen Kulturhistoriker von größerem Wert sein als der Schlachttag von Sadowa.«
Wissen ist Macht – Macht ist Wissen
Liebknecht hielt diese Rede in Dresden und Leipzig unmittelbar vor Beginn des Leipziger Hochverratsprozesses (11.-26. März 1872). Erst während seiner Hubertusburger Haftzeit konnte er das stenographische Protokoll zur Veröffentlichung bearbeiten. Die Broschüre erschien 1873 in 1. Auflage im Umfang von 48 Seiten. Die 2. Auflage 1875 (63 S.) ergänzte Liebknecht vor allem durch materialreiche Anmerkungen und einen Anhang. Diese Ausgabe lag den folgenden Auflagen zugrunde, die u. a. 1888 als Heft 22 der »Sozialdemokratischen Bibliothek« in Hottingen-Zürich sowie im Verlag der Buchhandlung »Vorwärts« Berlin 1891 (Mindestauflage 10 000 Exemplare), 1894 (Auflage 17 000 Exemplare) und 1896 erschienen. Unsere Wiedergabe folgt der in der Bibliothek des Instituts für Marxismus-Leninismus vorhandenen 1. Auflage.
Vortrag, gehalten zum Stiftungsfest des Dresdener Arbeiterbildungsvereins am 5. Februar 1872 und zum Stiftungsfest des Leipziger Arbeiterbildungsvereins am 24. Februar 1872
Meine Damen und Herren!
Wissen ist Macht! Bildung macht frei![Anmerkung 54] An dieses Wort, das vorhin im Prolog betont wurde und das wir so häufig im Munde unserer Gegner hören, wird mein heutiger Vortrag sich anknüpfen. Ja, im Munde unserer Gegner und gegen uns angewandt, zur Widerlegung des von uns, von der Sozialdemokratie verfochtenen Satzes, daß die Haupttätigkeit des Arbeiters sich auf die Umgestaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu richten habe und daß die ausschließliche Verfolgung von Bildungszwecken für den Arbeiter nichts sei als eine zeitraubende Spielerei, welche weder dem einzelnen noch dem Ganzen zum Vorteil gereicht.
Knowledge is power – Wissen ist Macht! Wohl ist das ein wahres Wort. Wissen ist Macht, Wissen gibt Macht, und weil es Macht gibt, haben die Wissenden und Mächtigen von jeher das Wissen als ihr Kasten-, ihr Standes-, ihr Klassenmonopol zu bewahren und den Nichtwissenden, Ohnmächtigen – von jeher die Masse des Volkes – vorzuenthalten gesucht. So ist es zu allen Zeiten gewesen, so ist es noch heute. Durchfliegen wir die Geschichte der Menschen von den grausamsten Zeiten des Altertums bis heran zur Gegenwart: überall das nämliche Schauspiel. Eine Kaste, ein Stand, eine Klasse hat das Wissen sich angeeignet und benutzt es als Machtmittel zur Unterdrückung und Ausbeutung der übrigen Kasten, Stände und Klassen. Die Priester Ägyptens und Indiens, worauf gründete sich ihre tausendjährige Herrschaft? Sie waren im Alleinbesitz des Wissens der damals vorhandenen Kenntnisse von den Naturkräften, vom Lauf der Gestirne, vom Wesen des Menschen; und dies Wissen war ihnen der Zauberstab, das Zepter, vor welchem die staunenden bewundernden Massen sich andächtig beugten; es war die Kette, mit der die Priester, unterstützt von der Kriegerkaste – denn Krieger und Priester sind stets brüderlich Hand in Hand gegangen bei Knechtung der Welt –, den Staat und die Gesellschaft umschlangen und sich dienstbar machten. Die Priester Griechenlands, Roms, des christlichen Mittelalters, der neuen und neuesten Zeit sehen wir von demselben Bestreben erfüllt: das Wissen als den Urquell der Macht und Herrschaft für sich zu behalten und der Menge zu verschließen. Das Wissen ist für die Herrschenden, die Unwissenheit für die Beherrschten. In den Sklavenstaaten Nordamerikas bestand ein Gesetz, das jedem, der einem Farbigen Lesen und Schreiben lehrte, den Tod androhte. Die Sklavenbesitzer wußten sehr genau, daß, wenn die Sklaven sich ihrer Sklaverei bewußt, wenn ihnen die Augen geöffnet würden, es zu Ende sei mit der »ewigen« und »heiligen« Institution der Sklaverei. Bei uns, in dem »gebildeten« Europa, überhaupt in den sogenannten Kulturstaaten, bestraft man allerdings die Verbreitung des Wissens unter das Volk nicht mit dem Tod, aber es wird nicht minder wirksam dafür gesorgt, daß das Wissen nicht unter das Volk dringe. Das Wissen ist unter dem Verschluß der Herrschenden, den Beherrschten unzugänglich, außer in der Zubereitung und Verfälschung, die den Herrschenden beliebt. Und wenn es einer beherrschten Klasse, wie der französischen Bourgeoisie im vorigen Jahrhundert, einmal gelungen ist, sich Wissen und mit Hilfe des Wissens die politische Macht zu erringen, so hat sie regelmäßig ihre Macht nur gebraucht, um sich selbst in der Macht zu befestigen, um ihr materielles Interesse zu fördern und die »unteren Klassen« in Unfreiheit und geistige Nacht zu stürzen. Ich übertreibe nicht, spreche nur eine unumstößliche, durch die Geschichte auf jeder Seite bestätigte Wahrheit aus, indem ich sage:
Es hat noch nie eine herrschende Kaste, einen herrschenden Stand, eine herrschende Klasse gegeben, die ihr Wissen und ihre Macht zur Aufklärung, Bildung, Erziehung der Beherrschten benutzt und nicht im Gegenteil systematisch ihnen die echte Bildung, die Bildung, welche frei macht, abgeschnitten hätte.
Es liegt das im innersten Wesen der Herrschaft. Wer herrscht, will sich stark und den Beherrschten schwach machen. Und wer allgemeine Bildung will, muß deshalb gegen jede Herrschaft ankämpfen.
Wir Deutschen pflegen uns nicht bloß das Volk der Denker zu nennen, sondern halten uns auch für das gebildetste Volk der Erde. Nun, in seinem unsterblichen Werk über die Zivilisation sagt Buckle[Anmerkung 55] von den Deutschen: »Es gibt keine Nation in Europa, bei der wir einen so großen Abstand (interval) zwischen den höchsten und den niedersten Geistern (minds) finden. Die Volksmassen sind abergläubischer, in Wirklichkeit unwissender und unfähiger, sich selber zu leiten (guide), als die Einwohner von Frankreich oder England. Die großen deutschen Schriftsteller sprechen nicht zu der Nation, sondern zueinander. Ihre Sprache ist den unteren Klassen vollkommen unverständlich.« Kurz, Buckle meint, die Literatur sei in Deutschland ganz losgelöst von dem Volk; die Kluft zwischen Wissenden und Nichtwissenden nirgends so groß als in Deutschland. Im Gegensatz zu Deutschland rühmt der geniale englische Geschichtsschreiber von der amerikanischen Republik: »In keinem anderen Land gibt es so wenig Männer von großer Gelehrsamkeit und so wenig Männer von großer Unwissenheit.«
Ich will hier auf das Urteil Buckles nicht des näheren eingehen. Leichtsinnig gefällt ist es nicht – das kann einem so gewissenhaften Forscher nicht zugetraut werden. Unzweifelhaft zählt Deutschland absolut und relativ weit mehr Menschen, die lesen und schreiben können, als England und Frankreich, allein Lesen und Schreiben sind an sich nicht Bildung, es sind bloß Werkzeuge zur Erlangung von Bildung; und nach meinen persönlichen Beobachtungen stehe ich keinen Augenblick an zu sagen, daß meiner Meinung nach die Arbeiter Englands und Frankreichs in politischer und ökonomischer Bildung, das heißt in der Kenntnis von Staat und Gesellschaft und in der Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten in Staat und Gesellschaft, den deutschen Arbeitern durchschnittlich entschieden überlegen sind, obgleich von ihnen nur die wenigsten, von den deutschen Arbeitern aber fast alle, in der Schule lesen und schreiben gelernt haben. Das entwickeltere politische und ökonomische Leben ersetzt ihnen zum Teil, was in der Jugenderziehung versäumt worden ist; und das Leben ist die beste Schule, die durch keinen theoretischen Unterricht, und wäre er noch so vortrefflich, ersetzt werden kann.
Daß in Deutschland die geistige Kluft zwischen den höheren und niederen Volksklassen breiter ist als in England und Frankreich, scheint mir ebenfalls unbestreitbar; und daß die Sprache unserer sogenannten Nationalliteratur – von der durch ihre Unverständlichkeit berüchtigten Sprache unserer Gelehrten nicht zu reden – der Masse der Nation nicht verständlich ist, das wird ja ziemlich allgemein zugegeben. Indes mehr oder weniger gilt das gleiche von sämtlichen Kulturvölkern. Ein Franzose hat von den Russen gesagt: »Grattez le Russe, et le Tartare apparait!« – Wenn man den Russen kratzt, kommt der Tatar zum Vorschein.[Anmerkung 56] Ähnlich kann man von unserer modernen Kultur sagen: Wenn man die heutige Kultur kratzt, kommt die Barbarei zum Vorschein. Unsere Kultur – und die Kultur eines Volkes repräsentiert die Summe der in ihm vorhandenen Bildung – ist bloß skindeep, hauttief; eine dünne Kruste, glänzender Firnis außen und darunter Roheit, Aberglaube, der Krieg aller gegen alle, ein Vernichtungskrieg, der Starke den Schwachen auffressend, zwar nicht buchstäblich, aber doch wirklich.
In den letzten Jahren ist dies recht deutlich zutage getreten. Sie erinnern sich jedenfalls der ersten internationalen Industrieausstellung, welche 1851 zu London statthatte. Den Stürmen der »tollen Jahre« 1848 und 1849 war Windstille gefolgt. Das Pariser Proletariat trauerte auf den Gräbern der Junihelden.[Anmerkung 57] Die Freiheitsträume des deutschen Volkes waren eingesargt, die Freiheitskämpfer gestandrechtelt, im Gefängnis oder im Exil. Die Bourgeoisie, froh der Ruhe des Kirchhofs, hatte aus der politischen Verwesung wunderbare Kräfte gezogen und sich zu außerordentlicher Blüte entfaltet. »Beispiellose Prosperität« herrschte, und das Bürgertum aller Länder und Zonen wallfahrtete nach London in den Kristallpalast, den Tempel des neuen Gottes, der aus seinem unerschöpflichen Füllhorn Reichtum und Frieden ausschütten werde über das freudetrunkene Menschengeschlecht. Die »modernen Schwerter« hatten sich in segenspendende Maschinen verwandelt. Die Ära der Kriege war auf immer geschlossen – bloß in der Rennbahn der Industrie und des materiellen Fortschritts würden die Völker, von edlem Wetteifer erfüllt, fortan ihre Kräfte noch messen. Die ganze europäische und amerikanische Presse gab damals diesen Illusionen Ausdruck. Wie bald aber »riß der schöne Wahn entzwei«! Noch waren die begeisterten Zurufe nicht verhallt, welche die Bourgeoisie dem vermeintlichen Anbruch des tausendjährigen Reichs widmete, da knatterten in Paris die Flintenschüsse des Dezembers, Tausende von unbewaffneten Männern, von Frauen und Kindern wurden auf Befehl eines meineidigen Schurken durch schnapstrunkene Soldaten niedergeschossen wie wilde Tiere; der bluttriefende Säbel wurde »Gesellschaftsretter« und ließ sich zum Kaiser krönen.[Anmerkung 58] Und die zivilisierte Welt? Die Fürsten umarmten inbrünstig den »lieben Bruder«. Der Adel jubelte ob des neuen Sieges über die »Kanaille«. Und die Bourgeoisie, die gestern noch in Versen und Prosa dithyrambisch den endgültigen Triumph der »Künste des Friedens«, die Absetzung der »modernen Schwerter« verherrlicht hatte, sie warf sich anbetend auf die Knie vor dem bluttriefenden Säbel, der die Gesellschaft gerettet! Drei Jahre später entbrannte der Krimkrieg,[Anmerkung 59] der Hunderttausenden von Menschen das Leben kostete und das Wohl der Menschheit um kein Haarbreit förderte; acht Jahre später der italienische Krieg[Anmerkung 60] mit gleichem Gemetzel und gleichem »Erfolg« für die Menschheit. Und seitdem, bloß auf europäischem Boden, in weniger als einem Dezennium drei Kriege – der folgende den vorhergehenden stets an Größe, Blutvergießen und »Ruhm« übertreffend, und in allen drei Kriegen das »Volk der Denker« voran, die erste Rolle spielend: der Krieg Preußens und Österreichs gegen Dänemark, der Krieg Preußens gegen Österreich und das übrige Deutschland, der Krieg Preußisch-Deutschlands gegen Frankreich![Anmerkung 61] Kriege, die das Leben, den Wohlstand, das Glück von Millionen Menschen zerstört haben und deren Resultate, gewogen auf der Waage der Vernunft, Null ist! Besonders der letzte Krieg, blasphemisch der »heilige« tituliert, hat ein ebenso tiefes als schmerzliches Interesse für den Kulturhistoriker, für den Menschenfreund. Zwei Völker, beide sich einbildend, an der Spitze der Zivilisation zu wandeln, in Wahrheit die zwei vornehmsten Kulturvölker des europäischen Festlandes, stürzen, ohne den geringsten vernünftigen Grund, auf den Wunsch und das Kommando von ein paar Individuen, die ihre Personen dabei in Sicherheit halten, gleich wütenden Stieren aufeinander los, zerfleischen sich und bekunden eine bestialische Freude am Morden, wie man sie höchstens noch bei den Wilden Neuseelands zu finden erwartet hätte. Und nicht bloß die unmittelbar an dem Kampf Beteiligten, denen es zu verzeihen war, weil der Kampf, der tierische Kampf mit Waffen der rohen, wenn auch noch so raffinierten physischen Gewalt, notwendigerweise die tierischen Leidenschaften, »die Bestie im Menschen« entfesselt. Nein, die daheim Zurückgebliebenen, ruhig hinter dem Ofen oder dem Biertisch sitzenden Vertreter der Intelligenz, die Leuchten der Kultur, die Denker par excellence des Denkervolks, Journalisten, Professoren und sonstige Intelligenzen – anstatt gegen den Krieg als einen Hochverrat an der Zivilisation und der Menschheit zu protestieren und die verblendeten Völker zum Frieden zu mahnen, gossen sie Öl ins Feuer, schürten in tollem Fanatismus die Flammen, in denen die wertvollsten Errungenschaften aufloderten und entdeckten, daß die erhabenste Kulturtat, die edelste Betätigung menschlicher Tugend der Krieg sei! Ein deutscher Professor – für welche Niedertracht fände sich nicht ein deutscher Professor? –, Jäger ist sein Name, stellte dies »wissenschaftlich« in einer eigenen, natürlich sehr gelehrten Abhandlung fest, die in dem Satz gipfelte: »Je größer das Arbeitsquantum, welches ein Staat auf seine Mobilmachung verwendet, desto größer ist die Summe der produzierten Tugenden.« Was nur eine etwas schwerfällige Umschreibung des Satzes ist: »Der Massenmord ist die größte Tugend.« Je massenhafter der Massenmord, desto größer die Tugend; je besser die Vorbereitung zum Massenmord, desto tugendhafter der Staat! Und wohlgemerkt: Es war dies nicht das vereinzelte Erzeugnis eines kranken Hirns – bewahre, es war nur der Ausdruck der allgemein herrschenden Stimmung, nur die scharfe Formulierung des blutdürstigen Wahnsinns, den unsere gesamte Presse mit verschwindenden Ausnahmen Tag für Tag dem Publikum vorpredigte. – Die Presse, dieser »Brennpunkt des geistigen Lebens einer Nation«, dieser »Leuchtturm des Rechts und der Wahrheit«, wie gutmütige Phantasten schwärmen, war zu einem Brander geworden, der die Zivilisation einzuäschern und jeden, der diese schmachvollen Orgien der Nationalwut mißbilligte, in das Verderben hineinzuziehen trachtete. Das Volk der Denker hatte vergessen, daß im Denken des Menschen auszeichnende Tätigkeit; hatte vergessen, daß im tierischen Kampf der Mensch dem Tiere hintansteht; hatte vergessen, daß in kriegerischen Tugenden, die jetzt auf einmal höchstes Menschenziel wurden, der Hund und Ochs den Vorrang hat vor dem tapfersten Menschen. Und erlebten wir damals nicht, daß der »Areopag« des neugeborenen Deutschlands, der »Rat der Edelsten und Besten« unserer Nation,[Anmerkung 62] sich gegen die wenigen seiner Mitglieder, die von dem grassierenden Delirium nicht ergriffen worden waren, zu Szenen hinreißen ließ, die man unter »gebildeten Menschen« geradezu für unmöglich halten sollte und die zu gewöhnlichen Zeiten nicht in der niedersten Schenke geduldet würden! Warf man doch die den Wilden sogar fest eingepflanzte Achtung vor dem Alter beiseite und beschimpfte die weißen Haare eines Mannes, dessen Charakter makellos, so verkehrt uns auch seine politischen Ansichten erscheinen mögen, und dessen einziges Verbrechen es war, daß er der Überzeugung eines Lebens nicht in einem Momente der allgemeinen Raserei untreu werden wollte.[Anmerkung 63] Unsere Kultur ist eben nur hauttief; übertünchte, mit einigem Humanitätsflitter beklebte Barbarei; der Krieg hatte die gleißende Zivilisationsschminke abgewischt, die Bestialität spreizte sich ohne Feigheit – und wundern konnte das nur den, der betreffs unserer heutigen Kultur falschen Vorstellungen huldigte.
Aber nicht bloß, daß unsere Kultur nur eine oberflächliche, nicht in die Tiefe gehende ist, erhellt aus solchen Vorkommnissen und solchem Gebaren – auch, daß die Bildung von heute, die Bildung der Gebildeten keine echte, den ganzen Menschen durchdringende und veredelnde Bildung ist. Und wie könnte es anders sein? Die Gesellschaft ist, trotz der in ihr herrschenden Klassen- und Interessengegensätze, doch ein zusammengewachsener Organismus, um dessen Teile sich das Band einer gewissen Solidarität schlingt. Mag der Reiche sich gegen die Solidarität mit dem Armen sträuben, so viel er will, in Zeiten der Cholera und sonstiger Seuchen wird es ihm in empfindlicher Weise klargemacht, daß er zwar das Elend, nicht aber die Folgen des Elends der Armen von seiner Schwelle abweisen kann. Noch weniger als den physischen Wirkungen unnatürlicher, widernatürlicher Gesellschaftszustände vermag er sich deren moralischen Wirkungen zu entziehen. Jedes Unrecht, jede Unterdrückung demoralisiert nach zwei Seiten hin: den, der Unrecht leidet und unterdrückt wird, und den, der Unrecht begeht und unterdrückt; mit der Demoralisation der Sklaven hält gleichen Schritt die Demoralisation des Herrn. Ja, sie ist eine weit schlimmere, ihr Gift tödlicher; denn während im Sklaven der Funke des unter die Füße getretenen Rechts fortglimmt und beim ersten Windstoß zur Flamme auflodern kann, wird im Sklavenbesitzer der Funke des Rechts erstickt. Die Sklaven Roms rafften sich zu einem Befreiungskampfe auf, der, wenn siegreich, die Umgestaltung und Regeneration der alten Welt bewirkt hätte; die Korruption der sklavenbesitzenden Patrizier richtete das gewaltige Römerreich zugrunde. Ob die Sklaverei eine direkte oder indirekte, ob der Sklave Eigentum einer Person oder einer Klasse ist, die Form tut nichts zur Sache – die moderne Lohnsklaverei ist um kein Jota moralischer als die antike Sklaverei, die sich mit den durch die veränderten Gesamtzustände bedingten Abänderungen in der Negersklaverei bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Und so, wie die antike Sklaverei den antiken Staat und die antike Gesellschaft durch und durch in die innersten Fasern hinein vergiftete, auch was nicht direkt mit ihr in Verbindung stand, vergiftete – so die moderne Lohnsklaverei den modernen Staat und die moderne Gesellschaft! Daß eine vom Wurm der Korruption zerfressene Bildung eine durch und durch ungesunde sein muß, liegt aber auf der Hand.
Ich will mich nochmals auf die Autorität Buckles berufen. Derselbe führt an verschiedenen Stellen seines schon erwähnten Werks den Gedanken aus, daß die Kultur eines Volkes im umgekehrten Verhältnis zu dem Einfluß steht, den es kirchlichen und militärischen Dingen einräumt, je höher deren Einfluß, desto niedriger der Kulturstand, je niedriger jener, desto höher dieser.
Der Militarismus ist der Kultus der rohen Gewalt – doppelt roh durch den Kontrast, wenn im Mantel der Wissenschaft und heuchlerisch obendrein, wenn mit Humanitätslappen behängt. Der Klerikalismus, das Kirchentum, gleichviel in welcher Verkleidung, ist der Kultus des Aberglaubens und der Unwissenheit. Und wer wollte dem englischen Denker bestreiten, daß Roheit und Unwissenheit das diametrale Gegenteil der Kultur sind? Nach diesem Maßstab gemessen, muß unsere Kultur ein sehr schlechtes Zeugnis empfangen. Neun Zehntel des Raumes fast aller Zeitungen sind heutzutage mit militärischen und kirchlichen Angelegenheiten gefüllt. Religiöse Fragen sind in keiner Epoche der deutschen Geschichte mit größerem, seit zwei Jahrhunderten nicht mit so großem Eifer behandelt worden wie in diesem Momente. Man glaubt sich in die wüstesten Zeiten nach der Reformation zurückversetzt, so breit macht sich das religiöse Gezanke, und was das schlimmste, es ist keiner der streitenden Parteien Ernst damit – Ernst ist es ihnen bloß mit dem Streben, sich die ausschließliche Herrschaft über die Geister der umnachteten Masse zu sichern. Und gar erst das Soldatentum. Streichen wir die Kasernen, die Zündnadelgewehre, die Stahlkanonen, die herrlichen Kriegstaten und die dicken Militärbudgets aus unserer Tagesliteratur und Tagespresse, so bleibt beinahe nichts übrig! Man muß fürwahr fest überzeugt sein von der Naturnotwendigkeit der menschlichen Fortentwicklung und sich manchmal die aufsteigende Kurvenlinie Humboldts[Anmerkung 64] ins Gedächtnis rufen, um nicht die Hoffnung auf die Zukunft zu verlieren.
Ich sprach von den dicken Militärbudgets. Nicht minder beredt in Sachen unserer Kultur sind die dünnen Unterrichtsbudgets. In Preußen, dem »leitenden« Staat Deutschlands, dem »Staat der Intelligenz«, beträgt der Etat für das Volksschulwesen 2 Millionen Taler, neben 60 Millionen Talern für Armee und Flotte. Auf die Erziehung des Volkes – was für Erziehung der höheren, herrschenden Klassen ausgegeben wird, kommt hier nicht in Frage – wird sonach in Preußen nur der dreißigste Teil der Summen verwandt, welche dem kulturfeindlichen Militarismus in den nimmersatten Rachen gestopft werden. Die Vorbereitung des Menschenmordes ist dem heutigen Musterstaat ein dreißigmal wichtigerer »Beruf« als die Ausbildung der Menschen zu menschlichen Kulturzwecken!
Aristoteles sagt in seinem Buch vom Staat: »Der Staat ist der Verein, der nach dem höchsten Gut trachtet, weil er der bedeutendste Verein ist und alle anderen umfaßt.« Und weiter sagt Aristoteles: »Der Staat ist ein Verein von Gleichen, zum Zweck des besten Lebens.« Das »ist« bedeutet: »soll sein«; der Staat des Aristoteles ist leider noch ein unerreichtes Ideal, ein Ideal, das vor mehr als zweitausend Jahren aufgestellt, die heutige Wirklichkeit durch den Kontrast aufs tiefste beschämt. »Das höchste Gut«, nach dem der heutige Staat trachtet, ist die Erhaltung der Privilegien und Mißbräuche; die »Gleichen« sind die Privilegierten, denen die ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung rechtlos gegenübersteht; und diesen Privilegierten »das beste Leben« zu garantieren, das ist alleiniger »Staatszweck«.
Die dicken Militärbudgets und die dünnen Unterrichtsbudgets sind untrügliche Gradmesser unserer Kultur und die vernichtende Kritik, welche sie ihr in das heuchlerische Antlitz schleudern, läßt sich durch keine schönfärberischen Sophismen abschwächen.
Von legendenhaften Traditionen zehrend, posaunen oberflächliche und gesinnungslose Volks- und Fürstenschmeichler in die Welt hinaus: »Wir sind das gebildetste Volk der Erde, wir haben das beste Schulsystem!« Pharisäerhaftes Gerede das. Was ein Mann von dem Gewichte Buckles, der unsere sämtlichen Tagesschriftsteller hundertfach aufwiegt, von der deutschen Bildung urteilt, habe ich bereits mitgeteilt. Ich habe auch mitgeteilt, daß er dem englischen und französischen Volk eine höhere Bildung zuerkennt als dem deutschen und daß er den großen Vorzug der amerikanischen Republik vor den übrigen Staaten darin erblickt, daß sie die wenigsten Gelehrten und die wenigsten Unwissenden enthält. Gleichmäßigkeit der Bildung ist ein Kulturerfordernis. Gleichheit der Bildung das Kulturideal. Überhaupt liegt der menschliche Fortschritt in der Annäherung an die Gleichheit. Freiheit ist eine Phrase, die alles mögliche umhüllt. Gleichheit ist ein Prinzip. Große Verschiedenheit in der leiblichen und geistigen Stellung der Glieder eines Staats gilt mit Fug und Recht für ein Übel, für ein Zeichen der Unkultur; und man betrachtet es allgemein als den dunkelsten Flecken der asiatischen Halbkultur, daß sie den Herrschern und ein paar Tausenden ihrer Gehilfen die kolossalsten Reichtümer in den Schoß wirft, die Millionen des Volks zu der entsetzlichsten Not verurteilt. In der Türkei, in Indien, in Rußland, in Persien findet man oben einen Luxus, von dem wir uns kaum einen Begriff machen können, unten eine Armut, von der wir uns – leider sehr leicht einen Begriff machen können. Hat doch der moderne Industrialismus und Kapitalismus die Tendenz, diese Schattenseite der orientalischen Halbkultur oder Halbbarbarei bei uns einzubürgern: die Gegensätze zwischen extremem Reichtum und extremer Armut unvermittelt nebeneinanderzustellen. In England, wo der Kapitalismus und Industrialismus am frühesten zur Herrschaft gelangt ist, hat er bereits das asiatische Muster so ziemlich erreicht, nur daß der Luxus raffinierter ist, sich nicht in so roh-demonstrativer Weise dem öffentlichen Blick aufdrängt. Die Verschiedenheit in den Lebensstellungen – nicht Beschäftigungen, denn die Verschiedenheit der Beschäftigung widerspricht nicht dem Gleichheitsprinzip –, die Verschiedenheit der Lebensstellungen, die Scheidung in streng gesonderte, einander über- und untergeordnete Kasten und Stände wird von den Geschichtsforschern bei den meisten Völkern auf Rassenunterschiede zurückgeführt. Eine kräftigere, herrschsüchtige Rasse unterjochte eine schwächere, duldsamere, und da die Besiegten zu töten sich bald als unprofitabel erwies und sie sämtlich zu Sklaven zu machen aus praktischen Gründen nicht anging, wenn das besiegte Volk zahlreich war, so verfielen die glücklichen Sieger auf den Ausweg, die Besiegten zur Arbeit zu verwenden. So entstanden die Kasten in Indien und Ägypten – die höheren umfaßten das erobernde, die unteren das eroberte Volk. Die unteren, die arbeitenden Kasten waren (in Indien ist die Einrichtung noch nicht ausgerottet) nicht persönliche Sklaven, das heißt nicht Eigentum einzelner Personen; dafür waren sie Kollektivsklaven, das heißt Eigentum der herrschenden Kasten – ein Verhältnis, das mit der modernen Lohnsklaverei eine auffallende Ähnlichkeit hat. Oder ist der moderne Lohnsklave nicht Eigentum der Bourgeoisie? Und hier in den Uranfängen der menschlichen Geschichte offenbart sich uns also auch schon die von Unwissenden für eine »Erfindung« der bösen Sozialdemokraten erklärte Wahrheit, daß politische Knechtschaft unzertrennlich ist von ökonomischer Ausbeutung. Wer herrscht, beutet aus: Ausbeutung ist der Zweck der Herrschaft. Nun sind aber die Stände und Klassen der mittelalterlichen und modernen Entwicklung nur den veränderten Produktionsformen angepaßte Modifikationen des Kastenwesens; und es ist historisch festgestellt, daß in der germanischen Welt die Standesunterschiede, wie bei den Indern und Ägyptern die Kastenunterschiede, in Rassen- und Stammesunterschieden ihre Wurzel hatten und ursprünglich aus dem Verhältnis von Siegern zu Besiegten hervorgegangen sind. Die moderne »Gesellschaft«, revolutionär wie sie ist, dreht übrigens den Prozeß der Verwandlung von Rassen in Klassen (oder Ständen und Kasten) um und ist auf dem besten Wege, aus dem Klassenunterschied einen Rassenunterschied zu machen. Der wohlgenährte Bourgeois gedeiht natürlich körperlich weit besser als der schlechtgenährte Arbeiter. Wo der Industrialismus jüngeren Datums ist, läßt sich dies weniger bemerken, obgleich auch schon bei uns in Deutschland ein körperlicher Unterschied zwischen den vollen Gestalten der Arbeitgeber und den hageren der Arbeiter nicht zu verkennen ist. Man wiege die zwölf ersten besten deutschen Bourgeois und die zwölf ersten besten deutschen Arbeiter, und es wird sich ein wesentliches Mehrgewicht der ersteren ergeben. Weit schärfer in die Augen springend ist der Unterschied in England, das uns im Industrialismus um mehrere Generationen voraus ist. Man sehe sich zum Beispiel in Manchester auf der Börse die Herren Bourgeois an und durchwandle dann die Straßen, durch welche die aus oder nach der Fabrik marschierenden Arbeiterbataillone ziehen: und die Beobachtung wird sich jedem sofort aufdrängen, daß er eine verschiedene Menschenrasse vor sich hat. Der physische Unterschied zwischen dem winzigen französischen Chasseur und dem riesigen englischen Guardsman, der auf dem Londoner Pflaster seine Zeit und seinen Sold totschlägt, ist nicht so groß als der zwischen dem Fabrikanten und dem Arbeiter der englischen Industriemetropole. Aus dem hochgewachsenen, breitschultrigen, dickbackigen Fabrikanten kann man mit Leichtigkeit drei der kleinen, dünnen hohlwangigen Arbeiter zurechtschneiden. Und das ist nicht zum Verwundern. Denn jeder dieser Herren Bourgeois und Bourgeoisherren hat durchschnittlich ein paar hundert Arbeiter aufgespeist. Wenn das so fortgeht, wird der Klassenunterschied mit der Zeit zu einem so radikalen Rassenunterschied führen, daß ein zweiter Darwin dazu gehören wird, den gemeinsamen Ursprung nachzuweisen.
Doch nun zu dem »besten Schulsystem«. »Wir Deutschen haben das beste Schulsystem, ergo sind wir das gebildetste Volk.« Der Schluß ist untadelhaft, der Vordersatz aber eine fromme Lüge oder eine gutmütige Selbsttäuschung. Nicht das beste Schulsystem haben wir, nur das bestdurchgeführte. Die Frage ist bloß: in welcher Richtung durchgeführt, nach welchem Ziel hin. Kein anderes der »großen Kulturvölker« besitzt so lange wie wir den durchaus vernünftigen Schulzwang – den man allerdings mit dem weniger anstößigen und das Prinzip besser bezeichnenden Ausdruck Schulpflicht, das heißt Pflicht des Staats und der Eltern, für die Erziehung der Kinder zu sorgen, benennen sollte –, in keinem anderen Staat, die Vereinigten Staaten von Amerika etwa ausgenommen, in denen jedoch der Schulzwang nicht existiert, der Schulbesuch aber infolge der Bildung und des ihr entsprungenen Bildungsbedürfnisses der Bürger, kein geringerer sein dürfte – in keinem anderen Staat ist die Zahl der Einwohner, die lesen und schreiben können, eine so große. Das ist eine Tatsache, die zu bestreiten mir nicht in den Sinn kommt. Schade nur, daß die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, noch lange nicht gleichbedeutend mit Bildung ist. Ich habe schon, unterstützt von dem Zeugnis Buckles, dem englischen und französischen Arbeiter, der nicht lesen und schreiben kann, eine höhere politische und ökonomische Bildung zugeschrieben als dem deutschen Arbeiter, der lesen und schreiben kann. Mit dem Lesen und namentlich dem Schreiben, das in deutschen Schulen erlernt wird, hat es indes auch seine eigentümliche Bewandtnis. Es ist nicht alles Gold, was glänzt, und vieles glänzt nicht einmal, von dem es traditionell behauptet wird. Bei den Rekrutenaushebungen findet sich laut amtlicher Statistik eine ganz beträchtliche Zahl von jungen, in Deutschland geborenen und »erzogenen« Leuten, die weder lesen noch schreiben können. Das zeigt, daß der Schulzwang vom heutigen Staat nicht mit der gleichen Energie gehandhabt wird wie zum Beispiel der Militärzwang. Bei der Rekrutenstellung wird sicherlich keiner vergessen, und werden nicht alle, die man haben will, unter die Fahnen gepreßt, so ist das nicht die Schuld der Behörden. Der Schulzwang besteht eben nur auf dem Papier, es wird »Staat damit gemacht« dem Ausland gegenüber, damit man sich als »Intelligenzstaat« aufspielen kann. Der Staatszweck des heutigen Staats erheischt so ungeheure Geldopfer und die Bildung des Volkes hat mit diesem Staatszweck so wenig zu tun – steht ihm sogar positiv im Wege –, daß die Schule naturgemäß stiefmütterlich bedacht wird. Nach zuverlässigen Mitteilungen sind gegenwärtig in Preußen über tausend Volksschullehrerstellen völlig unbesetzt und über tausendsiebenhundert mit Hilfslehrern und Aspiranten besetzt, das heißt Leuten, die sogar den ultrabescheidenen Anforderungen, die der heutige Staat theoretisch stellt, notorisch nicht genügen. Daß eine Obersten- oder Generals- oder Unteroffiziersstelle je unbesetzt geblieben sei, davon hat noch nichts verlautet. Woher dieser »Lehrermangel«? Je nun, während man siegreiche Generale, »erfolgreiche« Staatsmänner, die auf blutigen Schlachtfeldern den Glanz und die Macht der Dynastie vermehrt haben, mit Dotationen von Hunderttausenden, von Millionen Talern »beschenkt«, während man ein Viertel der gesamten Staatseinnahmen in das siebartig durchlöcherte Faß des Militarismus schüttet, gewährt man den Volksschullehrern eine so kärgliche Besoldung, daß sie in zahlreichen Fällen buchstäblich nicht ausreicht, Leib und Seele zusammenzuhalten, und der unglückliche Staatsproletarier sich durch Nebenverdienste, oft unwürdigster Art, den knurrenden Magen zu füllen bedacht sein muß. Dafür hat er aber die Genugtuung – die freilich kein Stück Brot buttert –, in der neudeutschen Bismarck-Mythe als »Sieger von Sadowa« gefeiert zu werden.[Anmerkung 65] Und er verdient es. Er hat den »Sieg« von Sadowa ermöglichen helfen, freilich nicht in dem Sinne, wie die Mythologen es meinen oder gemeint wünschen. »Wie die Schule, so der Staat«, lautet ein ideologisches Sprichwort. »Wie der Staat, so die Schule«, lautet die realpolitische Über- und Umsetzung. Die Schule ist das mächtigste Mittel der Befreiung, und die Schule ist das mächtigste Mittel der Knechtung – je nach der Natur und dem Zweck des Staats. Im freien Staat ein Mittel der Befreiung, ist die Schule im unfreien Staat ein Mittel der Knechtung. »Bildung macht frei« – von dem unfreien Staat verlangen, daß er das Volk bilde, heißt ihm einen Selbstmord zumuten. Der moderne Klassenstaat bedingt aber seinem Wesen nach die Unfreiheit. Die Schule, wie sie ist, und die Schule, wie sie sein soll, verhalten sich zueinander genau gleich dem Staat, wie er ist, und dem Staat, wie er sein soll. Der Staat, wie er ist, das heißt der Klassenstaat, macht die Schule zu einem Mittel der Klassenherrschaft. Er kann freie Männer nicht brauchen, nur gehorsame Untertanen; nicht Charakter, nur Bedienten- und Sklavenseelen. Da ein »intelligenter« Bedienter und Sklave brauchbarer ist als ein unintelligenter – schon die Römer legten auf Sklaven, die etwas gelernt hatten, einen besonderen Wert und zahlten entsprechende Preise für sie –, sorgt der moderne Staat für eine gewisse Intelligenz, nämlich für Bedienten-Intelligenz, die das menschliche Werkzeug verfeinert und vervollkommnet, so daß sich besser mit ihm »arbeiten« läßt. So wird die Schule zur Dressuranstalt statt zur Bildungsanstalt. Statt Menschen zu erziehen, erzieht sie Rekruten, die aufs Kommando in die Kaserne, diese vornehmste Menschen-Maschinenfabrik, eilen; Steuerzahler, die sich nicht mucksen, wird ihnen das Fell über die Ohren gezogen; Lohnsklaven des Kapitals, die es in der Ordnung finden, daß ihnen das Mark aus den Knochen gesogen wird. Der Hauptzweck der Schule ist aber entschieden, taugliches Rohmaterial für die Kaserne zu liefern. In der Kaserne erst wird der »wahre Mensch« fertiggemacht. Der Schulmeister dressiert, der Unteroffizier drillt. Der Unteroffizier ist die Fortsetzung des Schulmeisters. Die Volksschule ist die Vorschule der Kaserne, die Kaserne die Fortbildungsschule der Volksschule. Ohne den Schulmeister kein Unteroffizier! Wer je auf einem Exerzierplatz gewesen ist und dem Drillungsprozeß, der Anfertigung von Menschenmaschinen zugeschaut hat, wird mir zugeben, daß nur dressierte Geschöpfe sich diesem Prozeß unterwerfen können. Mit Menschen, echt menschlich gebildet, zur Unabhängigkeit erzogen, wäre er einfach unmöglich. Auf der anderen Hand: ohne den Unteroffizier kein Schulmeister! (Ich meine natürlich den Schulmeister des heutigen Klassen- und Musterstaates.) Würde die Dressur nicht in den Kasernen und auf den Exerzierplätzen vollendet, würde sie nicht durch das Drillsystem, welches in das für die Charakterbildung entscheidende Alter fällt, unverlöschlich eingeprägt, so könnte auch das Dressursystem sich nicht auf die Dauer behaupten. Der Schulmeister und der Unteroffizier ergänzen sich gegenseitig. Der dressierende Schulmeister und der drillende Unteroffizier sind die beiden Hauptpfeiler des heutigen Staats; und neben dem drillenden Unteroffizier hat allerdings der dressierende Schulmeister, der Schulmeister, wie er ist, »bei Sadowa gesiegt«.
Der Schulmeister, wie er sein soll, hätte Sadowa nebst allem, was drum und dran hängt, unmöglich gemacht. Eine gebildete Jugend läßt sich nicht zu »Kanonenfutter« verarbeiten. Urteile ich etwa zu hart über die heutige Volksschule? Man blicke in die berüchtigten preußischen Schulregulative, die, mit unbedeutenden Änderungen, für ganz Deutschland gelten, und man wird das Urteil vollauf begründet finden. Nicht das Denkvermögen der Kinder wird geweckt und geschärft, nicht die Kenntnis der Natur und ihrer Gesetze ihnen eingeflößt, das Wesen des Menschen und der Gang der menschlichen Entwicklung ihnen nicht klargemacht, nicht das Selbständigkeitsgefühl gepflegt: Das Gegenteil von alledem. Geschichte und Naturwissenschaften werden so gut wie nicht gelehrt – unter dem Namen »Geschichte« ein wüster Haufen von Jahreszahlen, Fürstennamen und Schlachten, erlogene oder schön gefärbte Anekdoten zur Verherrlichung der betreffenden Landesväter, verleumderische, den rohesten Nationalhaß fördernde Lügen über fremde Nationen, lächerliches Herausstreichen imaginärer Tugenden der eigenen Nation. Durch mechanisches Auswendiglernen wird das Denkvermögen erstickt, blinder Glaube – der Bruder des blinden Gehorsams, welchen die Kinder später in der Kaserne zu üben haben – als oberste Pflicht, die freie Forschung als Teufelswerk hingestellt, jede selbständige Regung ertötet. Und das Lesen und Schreiben sogar wird der Regel nach nur auf das ungenügendste in unserer gepriesenen Volksschule gelehrt. Wer immer mit dem Volke verkehrt, wird mir dies bestätigen. Fließend und richtig lesen können nur die wenigsten Kinder, welche die Schule verlassen. Und was das Schreiben anbelangt, so ist das Resultat ein noch weit ungünstigeres. In meiner Eigenschaft als Redakteur eines Arbeiterblattes habe ich die beste Gelegenheit, mir über diesen Punkt ein Urteil zu bilden. Von den Tausenden von Briefen und Zuschriften, die mir seit Jahren aus Arbeiterkreisen zugegangen sind, ist nur ein verschwindend kleiner Teil orthographisch richtig geschrieben und in stilistischer Hinsicht mäßigen Anforderungen entsprechend. Und die Arbeiter, welche in die politisch-soziale Bewegung eingetreten sind und an ein Arbeiterblatt schreiben, stehen nicht unter, sondern über dem Durchschnittsgrad der in den Arbeiterkreisen verbreiteten Bildung. Durch meine persönlichen Erfahrungen bin ich zu dem Resultat gekommen, daß in Deutschland – meine Erfahrungen umfassen ziemlich gleichmäßig ganz Deutschland –, daß in Deutschland unter je tausend Zöglingen unserer gepriesenen Volksschulen kaum einer imstande ist, seine Gedanken mit einiger Korrektheit schriftlich auszudrücken.
Die Zahl derer, die erträglich lesen können, ist unstreitig weit größer, und ich gebe gern zu, daß das Lesen als Bildungsmittel weit wichtiger ist als das Schreiben. Wer lesen kann und die Neigung hat, sich auszubilden, wird, falls ihm bildende Lektüre zu Gebote steht, die Lücken seiner Erziehung allmählich ausfüllen und sich eine wirkliche Bildung erwerben. Aber steht solche Lektüre unserem Volk zu Gebote? Die Frage muß verneint werden. Jeder Buchhändler kann Ihnen sagen, daß unsere klassische Literatur, wie Buckle uns vorgeworfen hat, für das Volk nicht existiert – erst in neuester Zeit, wo sehr billige Ausgaben veranstaltet werden, beginnen einzelne Werke unserer großen Autoren in die mittleren Schichten der Bevölkerung zu dringen. Die Bücher unserer Gelehrten sind für die Massen mit sieben Siegeln versiegelt; die geistige Nahrung des Volkes ist die Tagespresse: Zeitungen und billige Unterhaltungsblätter. Zum Unglück verhält es sich mit dieser geistigen Nahrung wie mit der körperlichen Nahrung, auf welche das Volk angewiesen ist; gleich ihr ist sie verfälscht und ungesund und dem Geist ebenso schädlich wie jene dem Körper. Wir haben nicht ein Unterhaltungsblatt, das den Sinn der Leser zu veredeln strebte. Reine Geldspekulationen, verfolgen sie nur den Zweck: Geld zu machen. Und das meiste Geld ist zu machen, wenn sie mit dem Strom schwimmen, den modischen Vorurteilen schmeicheln, an die Schwächen, niederen Leidenschaften und gemeinen Instinkte appellieren. So haben sie die Kundschaft des großen Haufens, des »gebildeten« und ungebildeten Pöbels und – die Protektion der Großen, die ein Interesse daran haben, daß der große Haufe, das Volk, nicht die Bildung erlange, welche »frei macht«, nicht das Wissen, welches »Macht ist«. Die billigsten Unterhaltungsblätter, welche hauptsächlich unter das Volk kommen – ich rechne die sogenannten Kolportage- oder Lieferungsromane hier mit –, sind fast ausnahmslos – ich glaube, man kann sagen: ausnahmslos – der Form nach miserabler Schund und dem Inhalte nach Opium für den Verstand und Gift für die Sittlichkeit. Das Beste an dieser Literatur ist, daß sie infolge des selteneren Erscheinens und der nicht so allgemeinen Verbreitung relativ harmlos ist im Vergleich mit der politischen Tagespresse, die ihren Einfluß überallhin, auch in die jeder anderen Lektüre unzugänglichen Kreise erstreckt. Eine Zeitung liest jedermann, der lesen kann – entweder bei sich zu Hause oder beim Nachbar oder im Wirtshaus. Neben der Schule und Kaserne ist die Presse unsere dritte große Bildungsanstalt. Und sie reiht sich ihren Kolleginnen würdig an. Ein Herz und eine Seele mit ihnen, ergänzt sie deren Werk. Was in der Schule und Kaserne gelehrt wird, das trägt sie ins Land, in jedes Haus, in jede Hütte – nur, daß sie nicht immer im Ton des Schulmeisters oder Unteroffiziers spricht, sondern es liebt, ein freisinniges Mäntelchen umzuhängen, gern von Volkswohl, Aufklärung, demokratischen Errungenschaften und sonstigen Modeartikeln redet, weil das »zieht« und die unschmackhafte Ware unter solch hübscher Etikette leichter Absatz findet. Seit unsere Bourgeoisie aus Furcht vor den Arbeitern auf den politischen Kampf verzichtet und sich resigniert dem Säbel des einst so verhaßten Junkertums untergeordnet hat, sucht sie ihr demokratisches Gewissen durch eine gesinnungstüchtige Opposition gegen das Pfaffentum zu beschwichtigen.[Anmerkung 66] (Und Fürst Bismarck, der seine Pappenheimer kennt, hat den »liberalen« Philistern jetzt die Jesuiten hingeworfen, an denen sie mit ihren stumpfen Zähnen herumbeißen mögen.) Es fällt mir nicht ein, die kulturfeindliche Tätigkeit des Pfaffentums irgend unterschätzen zu wollen. Gleich in den ersten Worten meines Vortrags habe ich die unheilvolle Rolle des Pfaffentums in der Menschengeschichte gekennzeichnet. Die Geschichte des Pfaffentums aller Nationen und aller Konfessionen ist ein ununterbrochener Kampf gegen den aufstrebenden menschlichen Geist, eine ununterbrochene Reihe von Attentaten gegen Vernunft und Humanität. Kerker, Gift, Dolche, Scheiterhaufen, Religionskriege, systematische Verdummung als Mittel und Beherrschung der Völker als Ziel – das ist in traurigem Einerlei die Geschichte des Pfaffentums. Jetzt aber herrscht das Pfaffentum nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei, wo die politischen Fragen den religiösen untergeordnet waren. An sich und durch sich hat das Pfaffentum keine Macht mehr. Seine Macht hat es vom Staat. Während im Mittelalter der Staat Diener der Kirche war, ist gegenwärtig die Kirche die Dienerin des Staats. Was sie hat, hat sie vom Staat, was sie tut, tut sie im Dienste des Staats, für den Staat. Der »Kampf« zwischen Kirche und Staat, von dem wir seit einiger Zeit so viel hören, ist eitel Spiegelfechterei zur Belustigung erwachsener Kinder, die man in guter Laune erhalten und vor ernsthaften Gedanken bewahren will. Kein Zweifel, innerhalb der Kirche tauchen hier und da die Erinnerungen an die alte Herrlichkeit auf, an die Zeit, da der Staat Diener der Kirche war, und in dem einen oder anderen Kopf mag diesen Erinnerungen wohl das Gelüste entkeimt sein, die alte Herrlichkeit wiederherzustellen, doch das sind Extravaganzen, die wohl für den Psychologen, nicht aber für den Politiker von Interesse sind. Die Kirche als Großes und Ganzes ist nur noch ein Staatsinstitut, und wenn ich sie vorhin nicht neben der Schule und Kaserne aufgezählt habe, so geschah es, weil die Kirche hauptsächlich in der Schule und durch die Schule wirkt. Ernsthaft gefährlich ist die Kirche nur in der Schule, die sie als gehorsame Dienerin des Staats für dessen Zwecke zurichtet. Der Einfluß, den die Kirche außerhalb der Schule, von der Kanzel und in katholischen Ländern im Beichtstuhl ausübt, ist von sehr untergeordneter Wichtigkeit, trotz allem Geschrei, das diejenigen davon machen, welche die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Übeltäter ablenken wollen; sie übt ihn aus mit der Sanktion und Unterstützung des Staats, wenn nicht im Namen, doch im Auftrage des Staats, und das Nachteilige dieses außerhalb der Schule von der Kirche ausgeübten Einflusses ist von verschwindender Geringfügigkeit, verglichen mit den Wirkungen der gigantischen Verdummungsmaschine, genannt: Presse.
Mit der Schule und Kaserne bildet die Presse die große Dreieinigkeit der Volksverdummung; und dieser heiligen Allianz gegen die Emanzipation der Menschheit wird von der Kirche, wie das ihr Wesen mit sich bringt, aller erdenklicher Vorschub geleistet. Während die Schule nebst Kirche und die Kaserne ausschließlich Bildungsanstalten des Staats sind, ist die Presse gemeinsames Instrument des Staats und der Gesellschaft.
Der Staat hat durch seine Gesetzgebung dafür gesorgt, daß »staatsgefährliche«, das heißt ihm, dem heutigen Klassenstaat gefährliche, seinen Prinzipien zuwiderlaufende Bestrebungen vogelfrei sind; er hat in richtiger Würdigung der Macht der Presse, abgesehen von der allgemeinen, jeden freiheitlichen Aufschwung zu hemmen bestimmten Gesetzgebung, für die Presse noch einen Ausnahmezustand geschaffen, der sie an Händen und Füßen gebunden, seiner Gewalt überliefert und ihn in den Stand setzt, ihr, sobald sie Mißliebiges äußert, den Hals zuzuschnüren.[Anmerkung 67] Jedes Preßgesetz ist ein Preßknebel. Ein freisinniges Preßgesetz ist eine contradictio in adjecto, ein Unding. Das freisinnigste ist die Verneinung der Preßfreiheit. Und selbst Nationalliberale haben sich noch nicht so weit verstiegen, unsere deutschen Preßgesetze freisinnig zu nennen. Doch nicht zufrieden damit, die Presse durch Repressivgesetze an jeder ihm nicht genehmen Bewegung zu hindern, hat der Staat, aus der unfruchtbaren Negation zu positiven Maßregeln übergehend, direkt das Zeitungsgeschäft in die Hand genommen und ist selber Zeitungsunternehmer, oberster Zeitungsfabrikant und damit Preßregulator geworden. Die Art, wie er dabei verfährt, ist, so kompliziert auch der Mechanismus, doch in der Hauptsache sehr einfach – so einfach, daß im Notfall dem ersten besten Unteroffizier die technische Leitung anvertraut werden könnte. An Geld fehlt es dem Staat nicht – er hat ja die Steuerschraube ohne Ende –, und so ist es denn für den Staat kein Kunststück, so viel Zeitungen, lithographierte Korrespondenzen zu gründen, als ihm beliebt. Das ist bloß eine Geldfrage. Die nötigen »geistigen« Kräfte »finden sich« für Geld und ohne gute Worte mit derselben Leichtigkeit wie die Buchdrucker und Papierlieferanten. Zeitungen zu schreiben und Zeitungen zu drucken sind nur zwei verschiedene Abteilungen des nämlichen Geschäfts. Wäre es im Interesse des Staats, das Preßgeschäft im strengsten Sinne des Wortes zu monopolisieren, so würde der Staat es unstreitig tun – moralische Rücksichten halten ihn nicht davon ab. Es ist aber nicht sein Interesse. Es ist vorteilhafter für ihn, die Gesellschaft als Kompagnon zuzulassen. Der Wert eines Urteils sinkt, sobald bekannt wird, daß es abhängig, auf Kommando gefällt ist. Gäbe es bloß königlich oder kaiserlich privilegierte Zeitungen in Deutschland – nach dem Muster der französischen Tabakbüros –, so würde das Publikum zwar bloß Ware von einer durch den Staatsstempel attestierten Güte empfangen, allein das Lob der Regierung würde doch einigermaßen verdächtig sein, und die nicht zu vermeidende Monotonie würde ermüden. So ist denn der Staat auf ein anderes Auskunftsmittel verfallen. Er läßt das Zeitungsgeschäft dem Namen nach frei, erlaubt jedem Privatspekulanten, so viel Zeitungen zu gründen, als ihm beliebt, und behält sich bloß das Recht vor, die Qualität der produzierten Ware zu kontrollieren und je nach Bedürfnis, durch Zusatz eigenen Fabrikats zu verbessern. Ich sage, das Recht. Ich hätte vielleicht sagen sollen, die Macht, doch Macht und Recht sind ja dasselbe Ding, verschieden aufgefaßt. Um der Doppelaufgabe der Kontrollierung und Qualitätsverbesserung zu genügen, hat der Staat eine besondere, mit reichen Geldmitteln ausstattete Anstalt ins Leben gerufen, welche »öffentliche Meinung« en gros zu fabrizieren und die anderweitig privatim fabrizierte »öffentliche Meinung« zu überwachen und zu regulieren hat. Die Anstalt, die in Berlin ihren Sitz hat, ist dem großen Publikum völlig unbekannt, weil man ihm aus naheliegenden Gründen ihre Existenz verschweigt. Den Eingeweihteren ist sie bekannt unter dem Namen des Berliner Preßbüros.[Anmerkung 68]
Es herrscht darin die schönste Teilung der Arbeit. Aus den Ministerien kommen die Aufträge oder Befehle; das dienstbeflissene »Federvieh« fertigt im Nu die »verlangten« Artikel an, und ein kunstvolles Pump- und Röhrenwerk schafft das Produkt sofort in die entferntesten Winkel des deutschen Vaterlandes und darüber hinaus in jede »unabhängige« Zeitungsredaktion.
Ich kann mich in diesem Vortrag nicht mit weiteren Einzelheiten befassen. Genug, das Preßbüro ist eine Tatsache; genug, das Preßbüro versorgt mit seinen Fabrikanten die gesamte Presse. Die großen Blätter wie die kleinen und kleinsten. Die wenigen Zeitungen, die sich rein halten von dem sauberen Staatsprodukt, haben Verfolgungen jeder Art zu erleiden.
Alle »gebildeten« Großstaaten des europäischen Kontinents, das sei noch bemerkt, haben ähnliche Preßinstitute und sind Zeitungsunternehmer und Eigentümer. In keinem Staat, sogar nicht in Frankreich, ist dieser Zweig der Staatsindustrie aber zu solcher Vollkommenheit erhoben worden wie in Preußisch-Deutschland, das auf diesem Gebiet unzweifelhaft »an der Spitze der Zivilisation marschiert«.
So ist denn, teils durch die Gesetzgebung, teils durch die Regierungsblätter und das Preßbüro, die Tagespresse zur willenlosen Handlangerin des Staats geworden. Sie darf Opposition machen, aber nur »loyale« Opposition, welche tadelt, um desto wirksamer zu loben; welche den Schein der Unabhängigkeit annimmt, um desto wirksamer die Servilität zu üben und zu predigen.
Die »Gesellschaft« findet bei diesem Kompaniegeschäft mit dem »Staat« vortrefflich ihre Rechnung. Das Zeitungsgeschäft ist eine der einträglichsten Geldquellen. Die Nachfrage steigt von Tag zu Tag, und indem die Privatzeitungsbesitzer so freundlich oft gratis vom »Staat unterstützt« werden – auch »Staatshilfe«! –, genießen sie den dreifachen Vorteil: mit einem »guten«, zur Befestigung und »Verewigung« der Klassenherrschaft beitragenden »Artikel« versorgt zu werden; an den Betriebskosten zu sparen und die Profite entsprechend zu vermehren und sich der Protektion des Staats zu versichern.
Der schmachvollen Rolle, welche die Presse im Bismarck-Bonaparteschen Krieg gespielt, habe ich bereits gedacht. Sie tat damals nur, was sie immer tut – bloß, daß die Gelegenheit eine ungewöhnlich günstige war und die Leistungen in das grellste Licht gestellt und mit dem brillantesten Erfolg gekrönt wurden. Der Fetischdienst der brutalen Gewalt, das Kreuzigt-ihn! gegen jeden, der dieser verrotteten Gesellschaft die Maske abreißt, die Umdrehung aller Begriffe, die Infamie zur Tugend gemacht, der Kot vergoldet, die List des Roßtäuschers und die Roheit des Stallknechts als staatsmännisches Genie in den Himmel erhoben, die nationalen Vorurteile gepflegt, der Nationalhaß geschürt, wann und wo hätte – kurze Lichtblicke abgerechnet – die Presse je eine andere Mission verfolgt? Dienerin des Klassenstaats und der Bourgeoisiegesellschaft, hat sie nur einen Leitstern: die Interessen des Klassenstaats und der Bourgeoisiegesellschaft. Was ihnen förderlich, das unterstützt, verherrlicht sie, und wäre es der ekelhafteste Auswurf – was im Widerspruch mit ihnen, das begeifert sie, und wäre es das höchste Kleinod echt menschlicher Kultur. Die Charakterlosigkeit wird geachtet, der Charakter in Schmutz gezogen, die Ungerechtigkeit als göttliche Weltordnung gepriesen, die sozialen Schäden mit Schönpflästerchen bedeckt – kurz: Gemeinheit, Lüge, Korruption; Korruption im niedersten Sinn: Alles für Geld – für alles Geld. Wie kein politischer, so ist kein industrieller Schwindel zu schwindelhaft, zu niederträchtig, zu unflätig, um nicht in dieser Presse die begeistertste Unterstützung zu finden – für Geld. Vermittels der Presse treibt der Börsen- und Gründungsschwindel seine Bauernfängerei im großen: er stellt die Fallen, legt die Garne, und die Presse füllt sie ihm – und dabei sich selber die Taschen.
Die Tagespresse ist der treue Spiegel der Staats- und Gesellschaftszustände; und dem unparteiischen und unerbittlichen Geschichtsschreiber der Zukunft wird ein Jahrgang unserer Zeitungen genügen, um den heutigen Staats- und Gesellschaftszuständen das Verdammungsurteil zu sprechen. –
Wir haben nun die bildungsspendende Dreieinigkeit des heutigen Staats und der heutigen Gesellschaft: Schule, Kaserne und Presse, die Revue passieren lassen und die Bestätigung des Satzes gefunden, daß Staat und Gesellschaft von heute nur verfälschte Bildung unter das Volk bringen und prinzipielle Gegner wirklicher Bildung sind; daß unsere moderne Kultur bloß eine dünne Kruste ist, welche bei der geringsten Erschütterung platzt und aus der dann die brodelnde und gärende Lava der Barbarei hervorbricht.
Es bedarf übrigens gar keiner außerordentlichen Vorgänge, um die Wurmstichigkeit unserer Kultur zu enthüllen.
Vor kurzem veröffentlichten die Zeitungen eine amtliche Notiz des Berliner statistischen Büros, nach welcher sich im vorigen Jahr – ich weiß nicht, ob bloß im Bereich der preußischen Monarchie oder des preußisch-deutschen Reichs; doch das ist gleichgültig – 138 000 junge Leute zum Examen für die Einjährig-Freiwilligen gemeldet haben und daß von dieser Zahl nur 48 300 körperlich tauglich befunden wurden, 89 700 aber als körperlich untauglich abgewiesen werden mußten.
Ich würde noch beredtere Ziffern mitteilen können, wenn die Statistik nicht im Dienste des Klassenstaats wäre und die schlimmsten Partien des modernen Gesellschaftskörpers, die parties honteuses, absichtlich im Dunkel beließe. Doch schon diese Ziffer spricht laut und deutlich genug. Wie aus einem einzigen Knochen das ganze Skelett, so läßt sich aus dieser einzigen Ziffer der ganze Kulturzustand der Gegenwart konstruieren. Sie gleicht einer brennenden Fackel, in einen gähnenden Abgrund geworfen. Einjährig-Freiwillige können nur die Söhne der höheren Klassen werden – die Söhne von Beamten, Bourgeois und sonstigen »besser situierten« Personen; und es versteht sich von selbst, zur Prüfung melden sich bloß diejenigen, welche die nötigen Qualifikationen zu besitzen glauben. Die Krüppel, die Kränklichen, die offenbaren Schwächlinge, deren Zahl nicht gering ist, bleiben von selbst fern. Und doch müssen, obgleich der heutige Staat nicht wählerisch ist und jeden nur irgend Tauglichen in die Armee rafft – und doch müssen nahezu zwei Drittel sämtlicher, die sich angemeldet, wegen körperlicher Untauglichkeit momentan zurückgestellt oder definitiv abgewiesen werden! Also von je drei jungen Männern in der Blüte der Jahre, in dem Alter, welches man für die Erfüllung der nobelsten, ehrenvollsten Funktion im heutigen Staat – für den Militärdienst – festgesetzt hat, sind nach Ausmerzung der Unkräftigsten gegenwärtig zwei körperlich in einem so miserablen Zustand, daß sie kein Zündnadelgewehr richtig herumschleppen und abdrücken können, wozu doch eigentlich sehr wenig gehört!
Und wohlgemerkt, hier handelt es sich nur um die Söhne der herrschenden und wohlhabenden Klassen, um Jünglinge, die durchschnittlich unter relativ günstigen Lebensbedingungen aufgewachsen sind, die in den Wohnungen Luft und Licht hatten, denen es an Nahrung, Kleidung und Pflege nicht gefehlt hat. Welch furchtbaren Zustände enthüllen uns diese drei nackten Ziffern! Welch grelles Licht werfen sie auf unsere gerühmte Kultur! Es ist wahr, nur von körperlicher Gebrechlichkeit handelt die Notiz des statistischen Büros. Aber ist die körperliche Ausbildung nicht ein Teil der allgemeinen menschlichen Ausbildung? Ist körperliche Ausbildung von der geistigen zu trennen? Kein Pädagoge behauptet eine solche Monstrosität. Die körperliche und geistige Ausbildung bedingen, ergänzen sich wechselseitig. Die einseitige Ausbildung der geistigen Fähigkeiten bei Vernachlässigung der körperlichen führt mit Notwendigkeit zur körperlichen Verkrüppelung, und ein körperlich verkrüppeltes Geschlecht kann unmöglich geistig und moralisch normal entwickelt sein. Der Geist ist nur eine Eigenschaft des Körpers und das: mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper – ist nicht bloß praktischer Erfahrungssatz, sondern auch ein unumstößlicher Satz höchster Wissenschaft.
Und noch eins: Der heutige Staat und die heutige Gesellschaft haben zwar die gewichtigsten Gründe, die geistige und moralische Ausbildung der Jugend und heranwachsenden Geschlechte zu verhindern; aber sie haben nicht den mindesten Grund, deren physische Ausbildung zu verhindern. Im Gegenteil, sie haben die gewichtigsten Gründe, die physische Ausbildung unter Vernachlässigung der geistigen und moralischen nach Möglichkeit zu fördern. Der Staat kann keine »denkenden Bajonette« brauchen, keine Rekruten, die »räsonieren« und Flausen von »Menschenwürde« im Kopf haben, allein er kann auch keine brauchen, die körperlich mangelhaft entwickelt sind.
Und ähnlich die Gesellschaft. Arbeiter, die denken, die sich als Menschen fühlen, von Rechten und Pflichten einen Begriff haben, kann der heutige Arbeitgeber nicht brauchen; sie sind eine »Pest« der Fabrik oder Werkstätten, sie »vergiften« ihre Umgebung – aber gesunde Gliedmaßen soll der Arbeiter haben, starke Knochen, tüchtige »Hände«. Ein kräftiger, normaler Körper, womöglich ohne Hirn, das wäre der echte Musterarbeiter der Bourgeois. Also, die körperliche Verkrüppelung gehört weder zum Staats- noch zum Gesellschaftszweck, wohl aber die geistige; und wenn wir daher erfahren, daß die große Mehrzahl der Bevölkerung körperlich verkrüppelt ist, so sind wir zu dem Schluß gezwungen, daß die geistige Verkrüppelung noch allgemeiner ist als die körperliche.
Doch, um zunächst bei dem Thema der körperlichen Verkrüppelung zu bleiben – die angeführten Ziffern betreffen ausschließlich die in dieser wie in jeder Hinsicht bevorzugten Klassen. Wenn nun unter diesen so entsetzliche Zustände obwalten, wie muß es erst unter den Klassen aussehen, die schlecht genährt, schlecht behaust, schlecht bekleidet, den ersten Anforderungen der Gesundheitslehre nicht genügen; dem zarten Kindeskörper, dem oft schon vor der Geburt der Keim hoffnungslosen Siechtums eingepflanzt ward, nicht die zum Gedeihen unerläßliche Luft, Nahrung und Pflege angedeihen lassen können? Nur ungern beschäftigt sich die gleich jeder anderen Wissenschaft in den Dienst des Staats und der Gesellschaft gepreßte Statistik mit dieser Nachtseite unserer Zivilisation; aber dennoch hat sie feststellen müssen, daß in den unteren Klassen die Kindersterblichkeit eine weit größere und die durchschnittliche Lebensdauer eine weit niedrigere ist als in den oberen Klassen. Sie hat ferner feststellen müssen, daß die Arbeit, auf der Staat und Gesellschaft beruhen, den Nichtarbeitern, das heißt den oberen Klassen, Reichtum und verlängertes Leben, den Arbeitern selbst, das heißt den unteren Klassen, Armut, Krankheit, Siechtum und frühen Tod bringt. Das Herz krampft sich uns zusammen, wenn wir die Menschenhekatomben betrachten, die unsere »Zivilisation« von Zeit zu Zeit dem blutigen Kriegsgott opfert – was aber sind diese Kriegshekatomben im Vergleich zu den Myriaden, die unsere Gesellschaft ununterbrochen, jahraus, jahrein, Tag für Tag auf dem Altar des Industrialismus und Kapitalismus dahinschlachtet, mordet? Ja, mordet; wer ohne sein Verschulden von seinen Mitmenschen, die Gewalt über ihn erlangt haben, zu einer Lebensweise genötigt wird, die ihm mit mathematischer Gewißheit und für jeden Denkfähigen voraussehbar einen frühzeitigen Tod bringen muß, der ist gemordet, und trägt nicht ein bestimmtes Individuum die Schuld, so tragen sie doch die Verhältnisse und Einrichtungen, die seinen Tod verursacht haben und unzweifelhaft auch in ihrer Gesamtheit, die Individuen, welche in ihrem Privat- und Klasseninteresse diese Verhältnisse und Einrichtungen geschaffen haben und aufrechterhalten, obgleich die verderblichen, menschenmörderischen Wirkungen zutage liegen. Die Ausrede, daß die Wirkung nicht beabsichtigt sei, kann für den einzelnen »mildernde Umstände« begründen, jedoch die Schuld nicht entfernen. Der Mord wird dann höchstens zum Totschlag; und auch die behauptete Unbekanntschaft mit den mörderischen Wirkungen des heutigen Produktionssystems kann nicht als moralische Rechtfertigung dienen. Sprechen unsere Gerichte etwa den Mörder oder Totschläger frei, der den Nachweis liefert, daß er bei Begehung des Verbrechens die auf Mord und Totschlag bezüglichen Paragraphen des Strafgesetzbuchs nicht gekannt habe?
Bewunderer der heurigen Welt reden von den »Schlachtfeldern der Industrie, auf denen es keine Leichen gibt«. O der Selbsttäuschung oder des Betrugs! Keine Leichen! Wenn wir die Leichen der Arbeiter, ihrer Frauen, ihrer Kinder, kurz, aller derer, die in vergifteten Werkstätten und Fabrikräumen den Tod eingeatmet, infolge übermäßiger Arbeit vor Ablauf des von der Natur ihnen zugemessenen Lebens, ja nur vor Ablauf der Hälfte, die Lebenskraft schon erschöpft haben – wenn wir die Leichen aller, die unmittelbar oder mittelbar dem heutigen Produktionssystem zum Opfer fallen, nur während eines Jahres sammeln und in eine Reihe nebeneinanderlegen – und wenn wir daneben die Leichen sämtlicher Soldaten legen, die in sämtlichen »heiligen« und unheiligen Kriegen der letzten zwanzig Jahre getötet worden sind – Deutsche, Franzosen, Italiener, Dänen, Engländer, Amerikaner –, alle brüderlich im Tode vereint, so wird die erste Reihe mit ihren im Bett nach dem ärztlichen Zeugnis eines »natürlichen Todes« Gestorbenen weit hinausreichen über die blutige Reihe der zerfetzten, durchlöcherten, von klaffenden Wunden entstellten Kadaver, die einst Soldaten waren.
Und auch an Blut, an Todeswunden und furchtbaren Verstümmelungen fehlt es nicht auf dem »Schlachtfelde der Industrie«. Gehen Sie in die erste beste Industriestadt – sie sehen sich alle ähnlich wie ein Ei dem anderen, ob englisch, französisch, belgisch, deutsch; beiläufig ein schlagender Beweis für die Albernheit des Ammenmärchens von den Grundverschiedenheiten der verschiedenen Nationen! Gehen Sie in die erste beste Industriestadt, und Sie werden, was man sonst nur nach Kriegen zu beobachten pflegt, ehe Sie weit gegangen sind, Männern begegnen, denen ein Bein, ein Arm, eine Hand fehlt, Unglückliche, denen beide Beine fehlen, verstümmelte Frauen und Kinder. Frauen und Kinder! Denn dadurch unterscheidet sich der Moloch des Kapitalismus von dem Moloch des Krieges: Er ist nicht so wählerisch; er beschränkt sich nicht bloß auf das Fleisch erwachsener Männer in der Blüte der Jahre – ihm ist alles recht, das schwache, zarte Weib, das hilflose Kind, er hat kein Erbarmen, er packt alles, was die Hand heben, eine Maschine bedienen, eine Kurbel umdrehen kann, und verschlingt es.
Die Verstümmelten, die Ihnen in der Industriestadt begegnen, nun sie haben ein »Unglück« gehabt, einen »unglücklichen Zufall«, und zwar meist »durch eigene Schuld« – sie sind einem Maschinenrad zu nahe gekommen, von einem Zahn, von einem Riemen erfaßt worden und – das sind die Überlebenden. Wie mancher, wie manche wird sofort von der Maschine zermalmt und – eine formlose Fleischmasse – aus den Rädern hervorgezogen! Und blicken Sie unter die Erde, in den Schacht, aus dem die fleißigen Hände unserer Bergleute die Licht und Wärme spendende Kohle, diesen »schwarzen Diamant«, der tausendmal wertvoller und nützlicher ist als der »weiße« zutage fördern. In England werden nach amtlicher Statistik jahraus, jahrein gegen tausend Bergleute bei ihrer Beschäftigung getötet, zehnmal soviel verwundet. In Deutschland ist die Zahl der Toten nur um ein Drittel kleiner, die Zahl der Verwundeten verhältnismäßig noch höher. Rechnen Sie dazu die Verluste von Menschenleben und die Verstümmelungen in den französischen, amerikanischen, österreichischen Kohlenbergwerken, und wir gelangen in diesem einen Industriezweig auf eine Gesamtziffer von mindestens viertausend Menschen, die alljährlich plötzlich oder gewaltsam getötet, und von mindestens vierzigtausend die mehr oder weniger schwer verwundet, zum Teil auf Lebenszeit zu Krüppeln gemacht werden! Es gilt schon für eine sehr große, blutige und »ruhmvolle« Schlacht, die eine solche Zahl von Toten und Verwundeten liefert. Und das Grauenhafte ist: Mit sehr seltenen Ausnahmen sind diese Schlachtopfer der Industrie nachweisbar durch liederlichen, gewissenlosen, um das Leben und die Gesundheit des Arbeiters sich nicht kümmernden Geschäftsbetrieb getötet – als Totschlag, selbst nach der juristischen Definition des Worts, jedoch durch den Gebrauch geheiligter, praktisch strafloser Totschlag, denn die Krähe Staat hütet sich wohl, der Krähe Gesellschaft die Augen auszuhacken.
Das zur »Kultur« der heutigen Gesellschaft.
Und nun ein Wort über die »Bildung«, welche sie dem Arbeiter angedeihen läßt. Von der Schule habe ich schon gesprochen, für welche die Gesellschaft nur indirekt verantwortlich ist – aber doch verantwortlich. Staat und Gesellschaft lassen sich nicht trennen, es herrscht moralische Solidarität zwischen ihnen. Ich meine die »zivilisatorischen« Wirkungen der heutigen Produktion auf Geist, Gemüt und Körper des Arbeiters. Wohlan, wenn die Bildung das ist, was die edelsten und erleuchtetsten Männer darunter verstanden haben, wenn sie in der harmonischen Entwicklung aller Fähigkeiten besteht, so wirkt die Gesellschaft diesem Bildungsideal diametral entgegen. Sie bildet den Geist wie den Körper aufs einseitigste aus, entfaltet untergeordnete Fähigkeiten in unnatürlicher Weise, erstickt oder verkrüppelt die wichtigsten Fähigkeiten. Dank der Arbeitsteilung und der Maschinenarbeit wird die Arbeit immer mehr entgeistet. Die Arbeitsteilung, zu deren Lob und Preis uns die Herren Volkswirtschaftler begeisterte Psalmen vorsingen, schränkt den Kreis der körperlichen und geistigen Tätigkeit des Arbeiters dergestalt ein, daß bloß ein paar Sehnen und Muskeln beschäftigt werden und der Geist völlig brachliegt. Geistige Fähigkeiten aber vertrocknen gleich Muskeln, wenn sie nicht geübt werden. Schon das gewöhnliche Handwerk erzeugt körperliche und geistige Einseitigkeit: Das eine schiefe Schultern, unbeholfenen Gang, das andere eingedrückte Brust, hohe Schultern – und das Geistige dem Körperlichen entsprechend. Auf den ersten Blick kann man sagen: das ist ein Schuhmacher, das ein Schneider, das ein Schlosser. In weit höherem Grad wird aber diese Einseitigkeit durch die Großindustrie gefördert, welche die Arbeitsteilung auf die Spitze getrieben und die Beschäftigung so vereinfacht hat, daß sie auf wenige, stets monoton sich wiederholende Handgriffe und Bewegungen, ja oft nur einen einzigen Handgriff zurückgeführt ist.
Fern ist es mir, gegen die Teilung der Arbeit eifern zu wollen. Sie erhöht die Produktivität der Arbeit und ist darum ein wesentliches Element menschlichen Fortschritts. Allein in der heutigen Gesellschaft findet die Teilung der Arbeit statt auf Kosten des arbeitenden Individuums und kommt die erhöhte Produktivität der Arbeit nicht der Gesamtheit, am wenigsten den Arbeitern, sondern der die Arbeit ausbeutenden Minorität zugute. Schon Adam Smith hat die Nachteile, welche die Teilung der Arbeit für den Arbeiter hat, in seinem »Reichtum der Nationen« angedeutet, hat zugegeben, daß die Beschränkung des Arbeiters auf eine bestimmte einfache mechanische Verrichtung ihm in geistiger und körperlicher Hinsicht nachteilig ist, ihm ein einseitiges, beschränktes Wesen gibt. Nicht abschaffen wollen wir die Arbeitsteilung, wohl aber durch Verkürzung der Arbeitszeit, durch Wechsel der Beschäftigung und eine wahrhaft menschliche Erziehung die nachteiligen Wirkungen der Arbeitsteilung auf das Individuum neutralisieren, ohne ihren vorteilhaften Wirkungen auf die Produktivität Abbruch zu tun. Der mittelalterliche Arbeiter war in seiner Art ein Künstler, er hatte Muße, Geist und Körper zu üben – er war, vom Standpunkt seiner Zeit aus beurteilt, ein ganzer Mann, wohingegen der Arbeiter der modernen Arbeitsteilung nur ein halber, nur ein Hundertstel-, ein Tausendstel-Mann ist – oder doch wäre, wenn die Mannhaftigkeit in ihm sich nicht aufbäumte gegen die Mißhandlung seiner menschlichen Natur und ihm nicht die Waffen in die Hand drückte, mit denen er sich das Recht erkämpfen wird, Mensch zu sein.
Fehlt es etwa an den Mitteln, jedem Menschen ein menschenwürdiges Dasein zu sichern? Mitnichten! Der gesellschaftliche Reichtum in den Kulturländern ist schon jetzt so groß, daß für die leibliche und geistige Wohlfahrt aller Mitglieder der Gesellschaft ohne Ausnahme ausreichend gesorgt werden kann. Das ist kein phantastischer Traum – die Produktivität der Arbeit ist schon jetzt so gesteigert, daß es nur einer vernünftigen, sozialen Organisation bedarf, um Elend und Unwissenheit auszurotten. Rechnete doch bereits im Jahre 1827 Robert Owen aus, daß England, dank der von der Wissenschaft ausgebeuteten Industrie, vermittels der Maschinen so viel produziere, »als ob es, bestünde die Maschinenarbeit nicht, neben seiner wirklichen Arbeiterbevölkerung noch vierhundert Millionen Arbeiter zählte – oder als ob für jeden englischen Arbeiter achtzig Sklaven von morgens bis abends arbeiteten, ohne Nahrung und Kleidung zu heischen«. Mit anderen Worten: Die Produktivität der Arbeit war damals in England verachtzigfacht. Heute ist sie noch viel intensiver. Und sie wächst fortwährend. Sie wächst mit jedem Sieg des Menschen über die Materie, mit jedem Fortschritt der Wissenschaft. Die Produktivität der Arbeit ist das untrügliche Barometer des Fortschritts. In jeder Maschine steckt vieltausendjährige Kultur. Aber was nützt das dem heutigen Lohnarbeiter? Er ist der Sklave der Maschine, nicht ihr Herr. Er ist ihr Anhängsel und dem Eigentümer unendlich weniger wertvoll als sie. Im selben Maße, wie das Kapital sich die Wissenschaft dienstbar macht, macht es die Arbeit weniger wissenschaftlich. In der Maschine konzentriert sich die Intelligenz, die dem Arbeiter genommen wird. Die Intelligenz des Menschen verkörpert sich in der Maschine und gibt damit dieser Maschine die Kraft, den intelligenten Menschen in eine Maschine zu verwandeln. Geistlose Arbeit für die geistvolle Maschine – das ist der Charakter der modernen Produktion. Die Maschine repräsentiert den stolzesten Triumph des Menschengeistes; aber der Menschengeist, welcher in der eisernen, toten Maschine triumphiert, wird in dem lebendigen Menschen von Fleisch und Blut, der sie bedient, in den Staub getreten. Statt den Menschen zu erheben, erniedrigt ihn die Maschine, statt ihn zu befreien, knechtet sie ihn; die Materie rächt am Geist den Sieg des Geistes über die Materie; die vom Menschen begeistete Materie lehnt sich auf gegen den Menschen, unterjocht ihn, entgeistet ihn, macht ihn zum Idioten. Oder würde ihn dazu machen, wäre im Menschen nicht eine wunderbar elastische Feder, die ihn, hört der Druck einen Moment auf, auch nach jahrelanger, nach jahrzehntelanger Unterdrückung wieder emporschnellen läßt!
Mißverstehe man mich nicht, ich bin kein Gegner der Maschinen. Die Maschinenstürmern, zu der sich bei Anbruch der Großindustrie die Arbeiter Englands hinreißen ließen, war durchaus reaktionär, beruhte auf einer grundfalschen Auffassung der Dinge und mußte darum mißlingen – zum Heile der Menschheit, nicht der einzelnen arbeitenden Menschen. Das ist eben der Fluch der heutigen Kultur, daß jeder allgemeine Fortschritt nur einer privilegierten Minorität nutzt, die Lage der enterbten Masse dagegen relativ und absolut verschlimmert, daß jede »Segnung« der Zivilisation das Unglück, ja den Untergang, die Ausrottung ganzer Arbeiterstämme im Gefolge hat – ich will bloß an die jetzt im Erzgebirge sich vollziehende Vernichtung der Handweber erinnern, eine erschütternde Gesellschaftstragödie, um die sich niemand kümmert, wenigstens niemand, der helfen könnte und zur Hilfe verpflichtet wäre. Diesen Fluch zu entfernen, das allgemeine Wohl mit dem Wohl jedes einzelnen gleichbedeutend zu machen – das ist das Ziel der Sozialdemokratie. Die Maschine hört auf, den arbeitenden Menschen zu unterdrücken, herabzudrücken auf das Niveau rein mechanischer Verrichtung – denn Tätigkeit kann man das kaum nennen –, sobald sie aufhört, das Eigentum eines Individuums, einer Klasse zu sein. Von dem Augenblick an, wo die Maschine in die Dienste der Allgemeinheit tritt, wird aus der Herrin des Arbeiters dessen Dienerin; sie unterdrückt nicht mehr, sie befreit. Mit Recht wird deshalb von der sozialistischen Partei die Expropriation der Maschinen, wie überhaupt der Arbeitsinstrumente, gefordert – mit Recht, nicht bloß vom Standpunkt der Humanität aus, sondern auch, ich möchte fast sagen, aus juristischen Gründen, in sofern die Maschinen und Arbeitsinstrumente überhaupt das Produkt der Kollektivintelligenz sind und deshalb von keiner Person als absolutes Sondereigentum beansprucht werden können. Die einfachste Erfindung, jede Vervollkommnung der Arbeitsinstrumente setzt die ganze bis dahin erworbene Kultur voraus, folgt aus ihr naturgemäß, logisch, wie das Fazit eines Rechenexempels. Sind doch verschiedene der wichtigsten industriellen Erfindungen, zum Beispiel die Wollkämm-Maschine (nach einem Streik der englischen Wollkämmer), auf Bestellung von Fabrikanten gemacht worden. Die »großen Erfinder«, von denen man in Geschichts- und Geschichtenbüchern so viel liest und aus deren Hirn weltumgestaltende Erfindungen fertig hervorgesprungen sein sollen, wie Minerva aus Jupiters Haupt, sind mythische Figuren gleich dem Rest der »großen Männer«. Die Industrie gelangt in ihrem Fortschreiten stets vor neue Probleme, aber auch stets erst dann, wenn die Möglichkeit, sie zu lösen, bereits in ihren Händen ist. Und es handelt sich dann bloß darum, die Aufgabe richtig zu stellen, und sie wird gelöst mit der Unfehlbarkeit einer mathematischen Aufgabe.
Wohl sagen die Anbeter des Goldenen Kalbs: »Schafft die Aussicht auf Gewinn ab und ihr tötet die Erfindungskraft, den Unternehmungsgeist und damit den Fortschritt.« Nichts kann unrichtiger sein. Schon jetzt ist es nicht die Aussicht auf Gewinn, welche die Menschen vorantreibt. Die Leistungen derer, die durch Gewinnsucht angestachelt werden, sind sehr untergeordneter Natur, verglichen mit den Leistungen der Wissenschaft, denen wir unsere Fortschritte verdanken; und für jene untergeordneten Leistungen wird es zu allen Zeiten leicht sein, geeignete Kräfte zu finden. Die Anbeter des Goldenen Kalbs stellen die Wahrheit auf den Kopf. Für jeden, der unter den herrschenden Produktionsverhältnissen durch die Aussicht auf Gewinn zu einer nützlichen Erfindung, überhaupt zu einer nützlichen geistigen Leistung bewogen wird, werden Tausende, die unter vernünftigen sozialen Verhältnissen Nützliches, das Interesse der Menschheit Förderndes geleistet hätten, durch die herrschenden Gesellschaftszustände daran verhindert und geistig getötet. Und dieser eine, der jetzt nützlich wirkt, würde bei vernünftigen, das heißt gerechten, alle Fähigkeiten entwickelnden, alle menschlichen Bedürfnisse befriedigenden Gesellschaftseinrichtungen nicht nur ebensoviel, sondern weit mehr geleistet haben. Der Durst nach Wissen ist jedem Menschen angeboren, die Fähigkeiten sind gleichmäßig unter den Menschen verteilt. Nicht alle haben gleiche Anlagen, aber bei allen ist die Durchschnittssumme der Anlagen gleich, und von den Verhältnissen hängt es ab, ob und wie die Anlagen und welche Anlagen entwickelt werden.
Die Keime sind in unendlicher Fülle in dem Menschengeschlecht niedergelegt; fast alle aber vertrocknen aus Mangel an den Entwicklungsbedingungen unter den heutigen Gesellschaftsverhältnissen. Es ist purer Zufall, kommt ein Talent zur Entfaltung; eine Menge günstiger Umstände müssen zusammenwirken. Die Talente des Armen haben geradesoviel Aussicht zu wachsen und aufzublühen wie Saatkorn auf die festgestampfte Landstraße gestreut. Wie massenhaft, weil gleichmäßig über das ganze Menschengeschlecht verteilt, die Anlagen, auch für das Höchste sind, das zeigt sich in jenen Sturm-und-Drang-Perioden der Geschichte, wo die Menschheit zwischen den Abgrund oder die Beantwortung einer Sphinxfrage, die Lösung eines Leben und Tod in sich schließenden Kulturproblems gestellt ist und wo jeder einzelne sich gedrungen fühlt, das Ganze zu retten oder doch sein Scherflein zur Rettung beizutragen. Die Talente sprießen dann empor wie das Gras im Frühling. Betrachten Sie das wunderbare Schauspiel, das Frankreich zu Ende des vorigen Jahrhunderts bot. Im Mai 1789 zogen »tausend Unbekannte« nach Versailles, und wenige Wochen darauf waren die Namen dieser Unbekannten im Mund Europas, der Welt.[Anmerkung 69] Frankreich brauchte Gesetzgeber, und die Notwendigkeit stampfte Gesetzgeber aus dem Boden. Frankreich brauchte Kämpfer, Kriegskünstler – und es erwuchsen ihm Kämpfer, Kriegskünstler, welche die Feinde im Innern niederschmetterten und die geschulten Armeen des alten Europas in Scherben zerschlugen. Was wären die Tausende von Helden des Friedens und Kriegs, die im letzten Dezennium des vorigen Jahrhunderts meteorartig aus Frankreich aufschossen – was wären sie ohne die Revolution geworden? Sie wären in ihren Advokatenstuben, in ihren Werkstätten, hinter dem Pflug verkommen! An Talenten fehlt's nicht, nur an der Entwicklung. Was in außerordentlichen Epochen den elementaren Kräften ruck- und stoßweise gelingt, das kann zu allen Zeiten durch systematische Organisation der Erziehung regelmäßig und sicher erreicht werden. Nur müssen wir vorher die Chinesische Mauer zerstören, die um das Reich der Bildung gezogen ist. Gezogen durch die heutige Gesellschaft.
In der heutigen Gesellschaft wird für die Entwicklung der Anlagen nicht nur nicht gesorgt, die Anlagen werden geradezu unterdrückt oder verkrüppelt.
Die heutige Gesellschaft hat darum kein Recht, sich kulturfreundlich zu nennen und uns Kulturfeinde. Sie ist kulturfeindlich, denn sie verhindert den Aufschwung der Kultur – und wir, die Vorkämpfer der neuen, sozialistischen Gesellschaft, sind die Verteidiger der Kultur gegen die ihr feindliche alte Gesellschaft, welche dem Volke das Wissen vorenthält, welche es leiblich und geistig erdrückt, welche das Gemeinwohl gemeinschädlichen Klasseninteressen opfert, das Eigentum zum Monopol einer ausbeutenden Minorität, den Arbeiter zum Ding, die Familie für das Proletariat zu einem frommen Wunsch, die Moral zur Heuchelei, die Bildung zur Lüge macht.
Eigentum, Familie, Moral, Bildung! Es zeugt wahrlich von großer Dreistigkeit, daß unsere Bourgeois diese Worte im Munde führen. Für das Eigentum sind sie – ja, für das Eigentum, das sie dem Arbeiter geraubt haben. Für die Familie sind sie – und die Familie des Arbeiters haben sie zerstört. Für Moral sind sie – und die Moral, welche sie in der Theorie predigen, treten sie in der Praxis mit Füßen. Sie predigen die Freiheit und stoßen den Arbeiter in die Sklaverei; sie predigen Bürgertugend und werfen sich in den Staub vor dem siegreichen Säbel; sie predigen Friede und laben sich an den Greueln des Krieges; sie predigen die »Harmonie der Interessen« und erregen den gesellschaftlichen Krieg. Nie ward diese Heuchelei, dieser Widerspruch zwischen Theorie und Praxis in grellerer Weise offenbar als vergangenes Jahr während der Kommunebewegung. Das Programm der Pariser Kommune war Selbstverwaltung, Abschaffung des Militarismus, Trennung der Schule von der Kirche, unentgeltlicher Unterricht, Trennung der Kirche vom Staat, Abschaffung der Todesstrafe – alles Forderungen, welche auch die Bourgeoisie in der Theorie aufgestellt hatte. Kaum aber sah sie, daß hier der Versuch gemacht wurde, ihre eigenen theoretischen Forderungen im Ernst praktisch zu verwirklichen, so wandte sie sich mit toller Wut gegen die Kommunebewegung und jubelte fanatisch über den Sieg der Versailler Henkersknechte. Für diese schmachvolle Verleugnung des eigenen Glaubensbekenntnisses, für diesen Hochverrat an dem Gewissen und an der Humanität gibt es keine Amnestie.
Und Bildung – von Bildung wagt die Bourgeoisie zu sprechen, sie, die sich nicht damit begnügt, dem Arbeiter, ihrem Lohnsklaven, das Mark auszusaugen, die ihm auch den Geist, die Seele aussaugt, ihn unter das Tier degradiert, ihn zu einer Existenz verurteilt, die sie für ihre Hunde, für ihre Pferde zu schlecht hielte.
Oh, die Bourgeoislüge von Bildung!
Die Bourgeoismoral und die Bourgeoispraxis weichen nicht weiter voneinander ab als die Bildung, welche die Bourgeoisie tatsächlich verbreitet, von der Bildung, welche sie in der Phrase für ihr Ideal ausgibt.
Was ist Bildung? Nach der klassischen Definition der Griechen das Kalon Kagathon, das Schöne und Gute in der Persönlichkeit zum Ausdruck gebracht – »die Entwicklung aller Tugenden«, wie Aristoteles den Zweck der Erziehung bezeichnet, die harmonische Entwicklung aller in dem Individuum schlummernden Fähigkeiten, der körperlichen sowohl als der geistigen. Wie körperliches Ebenmaß nicht denkbar ist, wo nicht alle Muskeln, Sehnen und Knochen des Körpers normal ausgebildet sind, so setzt geistiges Ebenmaß die normale Ausbildung aller geistigen Anlagen voraus. Die Bourgeoisie sucht das geistige Ebenmaß dadurch herzustellen, daß sie in dem Arbeiter alle geistigen Fähigkeiten zerstört.
Noch eins: Rede man uns nicht von Wissenschaft und Kunst in der heutigen Gesellschaft. Die Kunst muß nach Brot gehen, und statt Bildnerin des Volkes, ist sie die Buhldirne der Großen und Reichen. Wehe dem Künstler von heute, der, auf seinen hehren Beruf pochend, sich vermißt, selbständig zu sein, die beleidigende Protektion vornehmer Gönner nicht durch ehrloses Schmeicheln, Schmarotzen und Schlimmeres zu erschleichen, nicht das Lob der Presse mit Geld erkaufen will – Tausend gegen Eins, er wird Hungers sterben oder an gebrochenem Herzen, totgeschwiegen oder totgeschrieben von der feilen Presse, die jeden Künstler, der ihr nicht den schuldigen Tribut zählt, als rebellischen Frevler betrachtet, der unerbittlich niedergehetzt werden muß. Und die Wissenschaft! Was hat das Volk mit der Wissenschaft, was die Wissenschaft mit dem Volk zu tun? Die Wissenschaft existiert nicht für das Volk, sie existiert nur gegen das Volk. Die Wissenschaft, die Königin, die Befreierin der Welt, ist die feile Metze der herrschenden Klassen geworden. »Professoren und H ... kann man immer für Geld haben!«, wie einst mit zynischer Offenheit der verstorbene König von Hannover sagte, erbost, daß er in den »Göttinger Sieben«[Anmerkung 70] zufällig auf Ausnahmen gestoßen war. Der Tempel der Wissenschaft ist entweiht; Scharlatane und falsche Propheten treiben darin ihr Wesen, und die wahren Priester der Wissenschaft müssen vor den Toren des Tempels um Almosen betteln. Denken sie an Feuerbach! Belisar, der vor dem Palast des Monarchen, dessen Reich er gerettet, die Vorübergehenden um einen Obolus anfleht – dieses Bild ist ein unverlöschliches Brandmal auf der Stirne des Byzantinerreichs: Feuerbach, der neue Prometheus, der nicht den göttlichen Funken, nein, Gott selber auf die Erde, in seine Heimat zurückgeführt und ihm seine Wiege zum Grab gegeben hat – Feuerbach, ähnlich seinem mythischen Vorläufer an den Fels des Elends angeschmiedet, von Staat und Gesellschaft verlassen, die Hand ausstreckend nach dem Obolus des armen Mannes, der da weiß, was Hunger und Elend ist – dieses Bild ist ein unverlöschliches Brandmal auf der Stirn unserer heutigen Kultur; es enthüllt in ihrer ganzen Ausdehnung die unwürdige, schmachvolle Stellung, in welche die Wissenschaft hinabgedrückt worden ist, offenbart mit überwältigendem Pathos die Kulturfeindlichkeit des heutigen Staates und der heutigen Gesellschaft.
Solange der heutige Staat und die heutige Gesellschaft bestehen, keine Kultur, keine Bildung, keine Volkserziehung!
Hier habe ich noch einem Einwand zu begegnen. Es gibt Liberale, ja Demokraten, welche sagen, die Bildung, die Erziehung ist nicht Sache des Staats, sondern der Gemeinde, und von der Gemeinde muß die Reform der Volksschule ausgehen. Diese Anschauung, die mit der famosen Nachtwächteridee der freihändlerischen, freikonkurrenzlerischen Bourgeoisie aufs innigste zusammenhängt, ist eine grundfalsche. Man braucht sie nur an den Prüfstein der Praxis zu halten, um dies sofort zu erkennen. Schauen wir um uns. In Sachsen haben wir allerdings verschiedene Gemeinden, die imstande wären, aus sich heraus ein gutes Schulsystem zu organisieren. Aber geschieht es? Hat zum Beispiel das reiche, mit seiner Bildung prahlende Leipzig Volksschulen, in denen den Kindern echte Bildung verabreicht wird? Jeder gewissenhafte Leipziger Lehrer muß die Frage verneinen. In unseren Gemeinden, soweit sie Selbstverwaltung haben, macht sich die Klassenherrschaft noch rücksichtloser geltend als im Staat, und wo irgend es die Mittel erlauben, werden wir sehen, daß die für Unterrichtszwecke bestimmten Gemeindesteuern dazu verwandt werden, den Kindern der Wohlhabenden auf Kosten der Gesamtheit gute Schulen zu geben, daß aber die Kinder der Armen auf das schmählichste vernachlässigt werden. Es ist dies ein Teil des praktischen Kommunismus, den unsere Bourgeoisie mit solcher Vorliebe übt. Aber wie groß ist nicht: in unserer nächsten Nähe – ein jeder meiner Zuhörer wird Beispiele namhaft machen können –, wie groß ist nicht die Zahl der Gemeinden, denen es an den Mitteln fehlt, Schulen mit genügenden Lokalitäten und Lehrerkräften zu errichten. Sollen die armen Gemeinden ihre Kinder ohne Unterricht aufwachsen lassen? Kein vernünftiger Mensch wird dies bejahen. Und doch müßte es von Rechts wegen nach der angeführten Theorie geschehen. Diese kurze praktische Betrachtung genügt, um das Prinzip der Gemeindeerziehung ad absurdum zu reduzieren. Die reichen Gemeinden, in denen die Bourgeoisie das Heft in den Händen hat, wollen, und die armen Gemeinden, in denen es keine Bourgeoisie gibt, können kein gutes Volksschulsystem organisieren. Aus dieser Zwickmühle kommen wir nicht heraus. Nein – die Volksbildung, die Volksschule ist Sache des gesamten Volks, des Staats.
Vor fünfundzwanzig Jahren veranlaßte diese Frage in der Schweiz heftige Kämpfe – in der Presse, im Rat und auf dem Schlachtfeld – und wurde auch mit dem Schwert gelöst, richtig gelöst. Sie erinnern sich gewiß des Sonderbundkriegs.[Anmerkung 71] Die von den Pfaffen beherrschten katholischen Kantone vertrauten die Jugenderziehung den Jesuiten an. Ein Schrei der Entrüstung ging durch die ganze Eidgenossenschaft. Vergebens flüchteten sich die Pfaffenkantone hinter die »Freiheit« – die Majorität des Schweizer Volkes erwiderte ihnen: »Die ›Freiheit‹, den Geist zu töten, kann ebensowenig geduldet werden als die ›Freiheit‹, den Leib zu töten – und gegen den Geistesmord hat der Staat ebensogut einzuschreiten wie gegen den Körpermord.« Die Pfaffenkantone hörten nicht, sie mußten fühlen. Der Sonderbundkrieg reinigte die Schweiz von den Jesuiten – die kleine, winzige Schweiz brauchte dazu keinen »genialen« Staatsmann[Anmerkung 72] und hat es tausendmal erfolgreicher getan als ein Vierteljahrhundert später unser großmächtiges deutsches Reich! – und brachte, unter dem Jubel Europas, den Grundsatz zur siegreichen Geltung, daß der Staat der oberste Erziehungsfaktor ist und die Pflicht hat, über die Erziehung des Volks zu wachen, nicht zu dulden, daß es geistig zugrunde gerichtet werde. Ist doch die Volkserziehung die höchste Funktion des Staats. Des Staats, wie er sein soll – des genauen Gegenteils des Staats, wie er ist, dessen höchste Funktion die Drillung und Dressur. Damit, daß die Schweiz im Sonderbundkrieg die Aufgabe des Staats richtig erfaßt hat, ist selbstverständlich nicht gesagt, daß die Schweiz die staatliche Aufgabe überhaupt begriffen habe.
Doch um zur Gemeinde zurückzukehren – auch zugegeben, sie habe, was bei ihrer heutigen Organisation nicht der Fall, den Willen und die Fähigkeit, die Volksschule aus dem Sumpfe herauszureißen, wo hat sie die Macht? Die Gemeinde befindet sich in der absolutesten Abhängigkeit von dem Klassenstaat, und gelingt es auch einmal in einer Gemeinde von Tausenden, die reaktionären Bourgeoiselemente von der Gewalt zu verdrängen, wie es in einigen sächsischen Gemeinden wirklich geschehen ist, so bleibt dies ohne jedweden Einfluß auf das Schulwesen im allgemeinen, und selbst die reformatorische Tätigkeit innerhalb der betreffenden Gemeinde wird sehr bald auf das kategorische Veto des Staats stoßen.
Noch unpraktischer sind diejenigen, welche den Mängeln der Volkserziehung auf privatem Wege abhelfen zu können vermeinen: durch – unpolitische – Arbeiterbildungsvereine, Fortbildungsvereine, Sonntagsschulen und wie die Anstalten dieser Art alle heißen mögen. Es sei ferne von mir, diese Anstalten und deren Gründer schroff zu verurteilen. Jedes auch noch so unvollkommen auf die Entwicklung der geistigen Kräfte abzielende Bestreben ist anzuerkennen, und der geringfügigste Bildungsverein hat unzweifelhaft Gutes gewirkt. Aber im großen und ganzen ist das Unternehmen ein hoffnungsloses und das wenige Gute, welches zu verzeichnen ist, wird obendrein reichlich aufgewogen durch die Nachteile, welche daraus entspringen, daß die reformatorische Tätigkeit in falsche Bahnen gelenkt und folglich von der richtigen Bahn abgelenkt wird. Der Staat in seiner Volksschule dressiert Hunderttausende, Millionen von Kindern. Die Privatbildungsanstalten für das Volk vermögen beim besten Willen nur einem verschwindend kleinen Prozentsatz der in der Volksschule Dressierten eine höhere, wirklich humane Ausbildung zu geben. Der Staat hat durch den Schulzwang jedes Kind in seiner Gewalt und erzieht es zu seinen Zwecken. Die privaten Bildungsanstalten, denen der Schulzwang nicht zur Seite steht, können bloß den wenigen Unterricht bieten, die sich aus eigenem Antrieb ihnen anvertrauen, also schon ein Bildungsbedürfnis besitzen oder, korrekter ausgedrückt, in welchen das Bildungsbedürfnis durch die Volksschule nicht vernichtet worden ist. Wenn bei einer Überschwemmung jemand mit einem Eimer das Wasser wegschöpfen wollte, das in wogenden Fluten sich über die Flußufer ergießt, so würde er Gelächter erregen, weil die Handlung in groteskem Mißverhältnis zu der beabsichtigten Wirkung steht. Mit diesen Privatbildungsanstalten ist es aber genau dasselbe. Sie schöpfen mit ein paar Eimern die Flut der Verdummung weg, die sich im regelmäßigen Strom aus Tausenden und aber Tausenden von Volksschulen über das Land ergießt.
In Berlin hat sich vor kurzem ein »Verein für Freiheit der Schule« gebildet«, der sich die Aufgabe gestellt hat, alle auf Verbesserung der Volkserziehung abzielenden Anstrengungen zu konzentrieren und die Volkserziehung den verderblichen Einflüssen des Staats und der Kirche zu entziehen. Nichts kann löblicher sein. Aber leider zäumen die Herren, die an der Spitze sind, das Pferd am Schwanz auf. Es erhellt dies schon aus dem ersten Paragraphen der Statuten, welcher lautet: »Normale soziale Zustände können in Kulturstaaten nur aus einem normalen Schulwesen hervorgehen.« Eine wunderbare Verwechslung von Ursache und Wirkung! »Normale soziale Zustände« erheischen ein »normales Schulwesen«, aber sie gehen nicht aus ihm hervor, weil ein normales Schulwesen bloß unter normalen sozialen Zuständen möglich ist und weil die abnormen sozialen Zustände, welche jetzt herrschen, ein normales Schulwesen nicht aufkommen lassen. Nicht gehen normale soziale Zustände aus einem normalen Schulwesen hervor, sondern ein normales Schulwesen kann nur aus normalen sozialen Zuständen hervorgehen. Kein Zweifel, wäre das ganze Volk heute gebildet, so würden wir auch rasch vernünftige gesellschaftliche und staatliche Zustände haben, allein das heißt eben, eine Unmöglichkeit voraussetzen.
Von den Männern, die auf die Volksbildung das Hauptgewicht legen, verlangen wir bloß praktische und logische Konsequenz. Auch wir halten die Volksbildung für das Höchste. Aber wir lieben sie nicht bloß platonisch. Sie soll zur Wirklichkeit werden. Volksbildung – das sind Volksschulen, in denen allen Kindern gleichmäßig der bestmögliche Unterricht gespendet wird; Volksbildung, das ist Unentgeltlichkeit des Unterrichts; Volksbildung, das sind Erziehungsanstalten, die das Werk der Volksschule fortsetzen und den Jüngling und die Jungfrau für den Lebensberuf vorbereiten; Volksbildung, das sind staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen, die das wahre Menschentum fördern – mit einem Wort: Volksbildung, wenn das Wort nicht ein leerer Schall, eine Lüge sein soll, bedeutet und bedingt die Umgestaltung von Grund aus der heutigen Staats- und Gesellschaftszustände; und wem es ernst ist um die Volksbildung, der hat die moralische Verpflichtung, mit uns auf diese Umgestaltung hinzuarbeiten.
Die Sozialdemokratie ist im eminentesten Sinne die Partei der Bildung.
Der heutige Staat und die heutige Gesellschaft, die wir bekämpfen, sind Feinde der Bildung; solange sie bestehen, werden sie verhindern, daß das Wissen Gemeingut wird. Wer da will, daß das Wissen allen gleichmäßig zuteil werde, muß daher auf die Umgestaltung des Staats und der Gesellschaft hinwirken. Sie, meine Herren, die Mitglieder des Arbeiterbildungsvereins, haben dies begriffen. Sie haben begriffen, daß der Tempel der Wissenschaft dem Volke verschlossen, die Zugänge zur Bildung durch eine Chinesische Mauer abgesperrt sind. Der Schlüssel des Tempels muß erobert, die Mauer niedergerissen werden. Das Mittel ist die politische, die soziale Agitation. Wohl sind die Feinde mächtig, die uns den Weg verlegen. Allein, wider Willen liefern sie selber uns die Waffen zum Sieg. Die Zustände werden immer unnatürlicher, treten in immer schreienderen Widerspruch mit den Interessen der Allgemeinheit, des Volks, der Menschheit. Wie Unzähligen haben nicht die Greuel des letzten Krieges die Augen geöffnet. Je mehr der Staat sich zum Klassenstaat entwickelt, desto größeren Druck muß er auf die beherrschten, ausgebeuteten Klassen ausüben, desto größere Unzufriedenheit erzeugen. Und ebenso die moderne Gesellschaft. Je mehr der Kapitalismus, die Großproduktion auf die Spitze getrieben wird, desto größer wird die Kluft zwischen Armen und Reichen, desto gebieterischer tritt an die Massen die Notwendigkeit heran, das Joch der Lohnsklaverei abzuschütteln.
Wohl sucht man dem Volk die Möglichkeit der Bildung abzuschneiden. Aber die Not ist die beste Lehrmeisterin. Jede neue Maschine predigt das Evangelium der sozialen Emanzipation! Jede neue Fabrik ist eine Pflanzschule der Sozialdemokratie; jeder ruinierte Handwerker und Kleinmeister schwellt die proletarische Armee. Also leichten Herzens und zuversichtlichen Mutes an die Arbeit! »Die Zukunft gehört uns!« Die Gegner können keinen Schritt tun, ohne durch Deserteure aus ihren Reihen unsere Armee zu verstärken.
Nicht um Herrschaft ringen wir, nicht um Privilegien. Die Herrschaft als solche wollen wir beseitigen. Wo Herrschaft ist, ist Knechtschaft, und wo Knechtschaft, Ausbeutung. Wir bekämpfen die Herrschaft in jeder Form, die politische und die soziale. Wir erstreben den freien Volksstaat, der, auf den Trümmern der jetzigen Klassenherrschaft errichtet, die Harmonie der Interessen zur Wahrheit macht – die freie Gesellschaft in dem freien Staat, dem Staat, welcher jedem gleichmäßig die Mittel zur harmonischen Ausbildung seiner Fähigkeiten gibt und in Erfüllung des Aristotelischen Ideals »nach dem höchsten Gut trachtet«, dem echten Kulturstaat. Und wir erstreben die freie Gesellschaft, die an Stelle der unmoralischen, geist- und körpertötenden Lohnarbeit die brüderliche, genossenschaftliche Arbeit setzt und den Quell aller staatlichen und gesellschaftlichen Übel, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, verstopft.
Erst im freien Staat und der freien Gesellschaft löst die heutige Disharmonie sich in Harmonie auf. Erst im freien Staat mit der freien Gesellschaft können wir die allseitige Harmonie erlangen, die der höchste Kulturzweck: die Harmonie der Interessen, die Harmonie des Menschen mit dem Menschen, die Harmonie des Menschen mit sich selbst. Harmonie nach außen: Harmonie der Völker, Harmonie im Staat und in der Gesellschaft; Harmonie nach innen: Harmonie im Individuum durch Entwicklung aller Fähigkeiten und durch Aufhebung des Widerspruchs zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Moral und Handeln.
Nur auf dem Wege politischer Agitation ist dieses Ziel zu erreichen. Der Dresdener (Leipziger) Arbeiterbildungsverein hat dies erkannt und damit bewiesen, daß er sich der Aufgabe eines Bildungsvereins bewußt ist. Lassen Sie sich durch nichts von Ihrer Bahn ablenken. Saugen Sie frische Kraft aus jedem Hemmnis. Die Bahn führt zum Sieg... Dort ist die Bildung, das Wissen für alle. Der Staat und die Gesellschaft stehen zwischen uns und dem Ziel. Wir müssen hinwegschreiten über Staat und Gesellschaft. Verzichten wir auf den Kampf, auf den politischen Kampf, so verzichten wir auf die Bildung, auf das Wissen. »Durch Bildung zur Freiheit«, das ist die falsche Losung, die Losung der falschen Freunde. Wir antworten: Durch Freiheit zur Bildung! Nur im freien Volksstaat kann das Volk Bildung erlangen. Nur wenn das Volk sich politische Macht erkämpft, öffnen sich ihm die Pforten des Wissens. Für die Feinde ist das Wissen Macht, für uns ist die Macht Wissen! Ohne Macht kein Wissen!
Eine Geschichte der Kommune
Der nachstehende Aufsatz – eine Besprechung des Lissagarayschen Werkes über die Kommune[Anmerkung 73] – ward im Jahre 1877 geschrieben und damals nicht vollständig veröffentlicht.[Anmerkung 74] Im folgenden Jahre kam das Sozialistengesetz; Dringenderes ließ die Arbeit vergessen. Im vorigen März, beim Auspacken von Papieren, hat sich das Manuskript wiedergefunden. Von der Histoire de la Commune de 1871 par Lissagaray. Bruxelles. Henri Kistemaekers. 1876 (Geschichte der Kommune von 1871 von Lissagaray, Brüssel, bei H. Kistemaekers) erschien 1877 im Verlage von Bracke eine deutsche Übersetzung, von der Dietz in Stuttgart soeben eine neue, revidierte Auflage herausgegeben hat.
Ja, eine Geschichte der Kommune ist's, was Lissagaray uns gegeben hat. Wir hatten eine ganze Literatur über die Pariser Kommune, einen wahren Wolkenbruch von dicken und dünnen Bänden, von Broschüren, Pamphleten für und wider, von Skizzen, persönlichen Erlebnissen – alles, nur keine Geschichte. Lissagaray hat die Geschichte der Kommune von 1871 geschrieben.
Et hat mit Bezug auf die Kommune das traurige Wort Lügen gestraft: »Die Besiegten haben keine Geschichte«; und ist seine Geschichte den Besiegten zum Ehrendenkmal, den Siegern zur Schandsäule geworden – um so besser für die Besiegten, um so schlimmer für die Sieger!
Es war ein schweres Stück Arbeit. Wenn auch der Schmutz, den der Schlammvulkan der Reaktion seit sechs Jahren ohne Unterlaß ausspeit, sich noch nicht verhärtet und die Lüge noch nicht Zeit gehabt hat, mit den Tatsachen zusammenzuwachsen, wie das zum Beispiel bei den Ereignissen der Französischen Revolution von 1792, 1793 und 1794 der Fall ist, so gehörte doch großer Fleiß und durchdringender Scharfsinn dazu, das Wahre vom Falschen zu sondern, die verborgene Wahrheit zu entdecken und ans Licht zu ziehen. Und unbestechlicher Wahrheitsliebe bedurfte es, um den Kommunekämpfer und Kommuneflüchtling der Kommunetragödie gegenüber mit der für ein Geschichtswerk nötigen Objektivität (Unparteilichkeit) zu panzern.
Soweit es überhaupt heute möglich, hat Lissagaray seine Aufgabe gelöst.
Im »Vorwort« sagt er:
»Ein Geächteter ist's, der die Feder hält – kein Zweifel; aber ein Geächteter, der weder Mitglied noch Offizier noch Beamter der Kommune war; der fünf Jahre lang die Zeugenaussagen gesichtet; der sieben Beweise verlangt hat, ehe er schrieb; der den Sieger auf die geringste Ungenauigkeit lauern sieht, um alles übrige bestreiten zu können; der für die Besiegten nichts Besseres vorzubringen weiß, als die einfache und wahre Erzählung ihrer Geschichte.
Diese Geschichte ist auch den Söhnen der Besiegten geschuldet und allen Arbeitern der Erde. Das Kind hat ein Recht, die Ursachen der Niederlage des Vaters – die sozialistische Partei, die Feldzüge ihrer Fahne in allen Ländern zu kennen. Wer dem Volk falsche Revolutionsmärchen auftischt, es mit phantastischen Geschichten unterhält, ist ebenso strafbar wie der Geograph, der unrichtige, gefälschte Karten für die Seefahrer zeichnet.«
Nun – was die Vorrede verspricht, das hält das Buch. Es bietet uns Wahrheit. Wahrheit gegen Freund und Feind; alles durch Aktenstücke erhärtet. Noch nicht »die ganze Wahrheit« – hier und da finden sich Lücken, die erst spätere Forschung ausfüllen wird – aber doch »nichts als Wahrheit«, und genug, um dem Leser ein wahres Gesamtbild zu geben.
Mancher wird enttäuscht sein.
Die Dichtung ist bestechender als die Wirklichkeit. Wenigstens auf den ersten Blick. Schaut man tiefer, so zeigt sich, daß umgekehrt die Wirklichkeit schöner und anziehender ist als die Dichtung. Wer die Menschen nur aus Romanen kennt, wendet sich mit einem gewissen Ekel ab von den Menschen, die ihm im Leben begegnen. Es fehlt ihnen der »poetische Hauch«, sie sind »gemein«. Bei näherer Betrachtung jedoch findet – nicht jeder, aber »wer Augen hat zu sehen« –, daß das Leben der unerschöpfliche Born der Poesie ist, und der kein wahrer Dichter, der aus diesem Borne nicht schöpft.
Aus dem einfachsten, bescheidensten, hausbackensten Menschenleben läßt sich ein schönerer, ein poetischerer Roman machen, als der »genialste« Dichter, welcher der praktischen Menschenkenntnis ermangelt, zu dichten vermag. Das Wissen ist etwas sehr Nüchternes. Es entfernt den phantastischen Nebelschleier, welcher Menschen und Dinge umhüllt und der Einbildungskraft freies Spiel läßt; allein für diesen Verlust werden wir reichlich entschädigt. Wieviel phantastischen und zum Teil poetischen Dunst hat nicht die Astronomie verflüchtigt! Und doch – sind die Wunder der Wirklichkeit, welche die Astronomie uns erschließt, nicht tausendmal großartiger, erhebender als die Wunderlegenden der Astrologie? Ja erhebender – in des Wortes eigentlichster Bedeutung. Denn das Wissen erhebt, erhöht, während das Glauben, das Nachbeten erniedrigt, herabdrückt.
Die Wirklichkeit, die in dem Werke Lissagarays entrollt wird, ist weit entfernt von dem, was die meisten unter uns sich bisher vorgestellt. Die Personen, welche durch die Ereignisse in den Vordergrund der Aktion gedrängt wurden, erscheinen weit kleiner, mitunter sogar kleinlich. Nur wenige hatten ein annäherndes, keiner das volle Verständnis der Situation. Nie ist das die ganze Menschheitsgeschichte verdunkelnde Ammenmärchen von den »Führern«, den »großen Männern«, den bahnzeigenden und bahnbrechenden »Helden« schlagender widerlegt worden. Wer an Ammenmärchen Spaß hat, wird sich darüber ärgern; wer die Wahrheit will und wissenschaftlichen Geist hat, wird dem Verfasser danken.
»Führer« sind nicht vorhanden; die Bewegung des 18. März ist organisch aus den Verhältnissen hervorgewachsen; von denen, die sich selbst vielleicht für »Führer« gehalten, konnte nicht einer die kolossale Bedeutung des elementaren Ereignisses ermessen und folglich auch nicht »an der Spitze« der Bewegung marschieren, geschweige denn ihr den Weg weisen. An »großen Männern«, an »Helden« hat's freilich nicht gefehlt, aber es waren die Hunderttausende von Männern, Frauen, Kindern, in denen der Gedanke der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sich verkörpert hatte, die trotzig lächelnd dem Gebote der Pflicht folgten, trotzig lächelnd in den Tod gingen. Je kleiner die »Führer«, desto größer das Volk. Und an der Größe des Volks richten auch die Führer sich auf – in den Tagen der Entscheidung kämpfen sie unter dem Volk, bluten mit dem Volk, sterben mit dem Volk.
Ähnlich war's in der vulkanischen Eruptionszeit der ersten Revolution. Die historische Kritik tut dar, daß die »großen Männer«, denen die Vulgärgeschichtsschreibung den Glorienschein göttlicher oder teuflischer Allmacht um die Schläfen gelogen hat, an der Sturmflut, welche die alte Feudalwelt fortriß, unschuldig waren wie neugeborene Kinder; daß sie mit dem Strom schwammen, gleich der gewöhnlichen »Herde«; daß sie durchschnittlich weit schlechter schwammen als die Namenlosen der gewöhnlichen Herde; und daß auch nicht einer von ihnen des Wesens der Bewegung, des Woher und gar des Wohin sich klar bewußt war. An sämtlichen »grandes journées« – den »großen Tagwerken« – der »großen Revolution«:
am 14. Juli (1789, Erstürmung der Bastille), am 5. Oktober (1789, Marsch der Pariser nach Versailles, um den König zu »holen«), am 20. Juni (1792, Spaziergang des Volks in die Tuilerien), am 10. August (1792, Tuileriensturm), in den blutigen Septembertagen (1792, Vernichtung des inneren Feindes, um dem äußeren die Spitze bieten zu können), am 2. Juni (1793, Sturz der Girondisten) –
jedesmal, mit einer Regelmäßigkeit, die das Walten eines ehernen Gesetzes ankündigt – jedesmal dasselbe Schauspiel: das Volk ist am Platz und diejenigen, welche für seine »Führer« gelten, glänzen durch Abwesenheit oder hinken jämmerlich nach, statt kühn vorn herzuschreiten.
Mit den politischen Ereignissen verhält es sich genau wie mit Naturereignissen. Sie sind die Betätigung, das Resultat bestimmter unter bestimmten Umständen wirkender Kräfte. Der Verlauf entspricht der Natur dieser Kräfte und Umstände. Aber auch wenn wir mit den Kräften und Umständen aufs genaueste bekannt sind, ist es trotzdem, selbst bei den alltäglichsten Witterungsphänomenen, in den meisten Fällen geradezu unmöglich, bis in alle Details hinein den Prozeß zu überschauen und den Verlauf vorher zu berechnen.
Ebenso ist's mit den politischen Phänomenen – nur in noch höherem Grade, weil wir es dabei mit den menschlichen Leidenschaften und sonstigen komplizierten Faktoren zu tun haben, die weit schwerer zu berechnen sind als die einfachen Naturkräfte. Da redet man viel von »Männern, die ihrer Zeit vorausgeeilt« – alberne Fabel! Der begabteste, umfassendste Geist reicht nicht aus, um das Gesamtgebiet des menschlichen Lebens und Strebens zu überschauen oder gar es zu durchforschen. Nicht einmal die einzelnen Zweige der Wissenschaft können von einem einzelnen Individuum erschöpfend behandelt werden. Das Höchste, was der Mensch leisten kann, ist: das Feld der Tätigkeit, welches er sich abgegrenzt hat, mit konzentriertem Fleiß zu bearbeiten, das vorhandene Kapital von Erfahrungen und Wissen sich geistig anzueignen und dem durch seine Vorgänger und Mitarbeiter Erworbenen, mit diesem alten Kapital arbeitend, den Ertrag seiner eigenen Arbeit hinzuzufügen. Das ist sehr bescheiden – trotzdem ist es sehr viel, und niemand kann mehr.
Wir sind alle an den Boden der Realität geschmiedet, und sowenig jemand über die Erdfläche emporschnellen und an seinem Zopf in den Mond klettern kann, können wir uns über die Kulturfläche unserer Zeit hinausschwingen und durch den leeren Raum ein den übrigen Menschen unsichtbares, von ihnen noch nicht geahntes Ziel erreichen. Die Kulturfläche selbst erhöht sich allmählich mit der Zunahme des angespeicherten Kapitals an Erfahrungen und Kenntnissen. Dies ist aber nicht das Verdienst einzelner Individuen – obgleich nicht bestritten werden soll, daß der eine mehr leistet als der andere –, sondern das Ergebnis der gesamten menschlichen Arbeit. Die Kultur der Menschheit ist die aufgesammelte Kollektivarbeit der Menschheit: jede Kulturtat ist Kollektivarbeit. Und die Revolutionen sind Kulturtaten par excellence – im höchsten Sinne des Wortes.
Wer hat den 18. März »gemacht«? Das Volk. War der 18. März eine Laune des Volks, eine übermütige Kaprice?
Er war Notwendigkeit! Diese Notwendigkeit erklärt uns Lissagaray und zeichnet die Lage der Dinge in meisterhaften Strichen. Die Kommune wird vor unseren Augen. Wir sehen sie entstehen. – Bonaparte stürzt kopflos in den Krieg, in die Falle. Das Pariser Proletariat protestiert, reicht die Bruderhand über den Rhein. Der Protest verhallt in dem wahnsinnigen À-Berlin!-(Nach-Berlin!-)Gebrüll der weißen Blusen und des offiziellen Frankreich.
Die Ereignisse jagen einander in rasender Eile, die Nation hat nicht Zeit genug, sich zu sammeln. Am 9. August, nach Bekanntwerden der ersten schweren Niederlagen, ertönt in Paris der Ruf: Republik! Die Kammerlinke wiegelt durch tönende Reden ab. Ein Hauch, und das Kaiserreich lag im Kot, dem es entsprungen. Doch das paßte den Helden der Phrase nicht in den Kram. Am 14. August wollten die Freunde Blanquis[Anmerkung 75] die Lunte ins Pulverfaß werfen. – Der Versuch mißlingt: das Volk, von den Schwätzern der Linken, an die es noch glaubt, im Dunkel gehalten, bleibt gleichgültig und überläßt die »verlorene Hoffnung« der Revolution ihrem Schicksal.
Sedan! Jetzt ist das Maß voll – im Dampfkessel beginnt's zu brodeln. Die Herren der Linken setzen sich darauf, um durch ihr Gewicht eine Explosion zu verhindern. Hilft nichts: das Kaiserreich fliegt in die Luft und die Herren von der Linken – in die Regierung.[Anmerkung 76] Paris hat nur einen Gedanken: Rettung Frankreichs, Verteidigung. Die deutsche Armee erscheint vor der Stadt – wäre es der Bourgeoisie und ihren Agenten in Armee und Regierung nach gegangen, man hätte sofort kapituliert.
Tausendmal lieber die »Preußen« in der Stadt als die Arbeiter auf dem Stadthaus! Die Bourgeoisie, die das Wort Patriotismus so gern im Mund führt, ist zu keiner Zeit und in keinem Lande patriotisch gewesen, während das Proletariat, dem sie pharisäerhaft unpatriotische Gesinnung vorwirft, stets mit Freunden sein Blut für das bedrohte Vaterland geopfert hat. Wäre das »À Berlin« geglückt und Paul Cassagnac mit den Prätorianern der imperialistischen Räuberbande statt als Kriegsgefangener als »Sieger« an die Spree gekommen, unsere nationalliberalen Bourgeois hätten ihm mit Kratzfüßen die Schlüssel der künftigen Reichshauptstadt überbracht – falls sie nicht von dem »vaterlandslosen Gesindel« daran verhindert worden wären. Wir wissen ja, wie die Bourgeoisie es 1866 in Wien trieb, als die Vorposten der Preußen sich an der Donau zeigten. Wien, Berlin, Paris – Bourgeoisie ist Bourgeoisie. Wohl oder übel muß man sich zur Verteidigung entschließen und das Proletariat bewaffnen. Unermeßlich sind die Hilfsquellen der Verteidigung; das vorhandene lebende und tote Kriegsmaterial braucht bloß organisiert zu werden, und der eiserne Ring ist gesprengt, welcher die Stadt umspannt. Wohlan – Trochu hat »seinen Plan«. Er fürchtet den revolutionären Krieg – nach den Regeln des fachmilitärischen Kriegs sind die Belagerer nicht zu schlagen, die Pariser, die keinen Spaß verstehen, haben aber »die fixe Idee«, den eisernen Ring sprengen zu wollen, gleichviel, ob fachmilitärisch oder revolutionär – ergo muß man ihnen den Gefallen tun, eine Scheinverteidigung mit obligaten wirklichen Aderlässen für die heißblütigen Pariser in Szene setzen. Das ist der famose »Plan«.
Und er wurde bis zu Ende durchgeführt.
Daß die Verteidigung von Paris für die Regierung der nationalen Verteidigung eine blutige Farce war, kann nach der dokumentarischen Beweisführung Lissagarays nicht mehr bezweifelt werden.
Das Proletariat ahnt den Verrat. Am 31. Oktober hebt es die Hand gegen die Verräter.[Anmerkung 77] Doch die Hand wird aufgehalten durch die lähmende Frage: »Wird's nicht den Belagerern nützen?« Aber das Wort »Kommune« wird ausgesprochen. »Die Kommune von 1792, 1793, 1794!« In der Kommune Marats, Heberts, Ronsons, Chaumettes war das Herz, war das Hirn des Frankreich der großen Revolution. Die Kommune war die Revolution, war die Republik. – –
Paris blutet, friert, hungert vier Monate lang; am 27. Januar ist es so auf den Hund gebracht, daß die Operation stattfinden kann, die schon für den September beabsichtigt war – es wird kapituliert.[Anmerkung 78]
Paris knirscht in ohnmächtiger Verzweiflung.
Nach der Kapitulation die Amputation. Unter dem Waffengeklirr des heimischen Belagerungszustandes und der fremden Invasionsarmee fegt Frankreich – denn von einer Wahl kann da nicht die Rede sein – den Kehricht aller früheren verrotteten, verfaulten Regierungssysteme zusammen, schickt ihn nach Bordeaux und nennt's Nationalversammlung. Das legitimistisch-orleanistisch-bonapartistische Sammelsurium will Friede um jeden Preis und »Ordnung« um jeden Preis. Friede – das heißt Bewilligung der Milliarden, Abtretung von Elsaß-Lothringen. Fort mit Schaden! Ordnung – das heißt Vernichtung der Republik, zunächst ihres Wesens, bis man auch die Form und den Namen beseitigen kann; Ordnung – das heißt in erster Linie »Ordnung in Paris!«, »Ordnung«, wie weiland in Warschau.[Anmerkung 79] Das unverbesserliche »Nest der Revolution« muß ausgenommen werden!
Und die »Chambre rurale«, die reaktionäre, reaktionswütige Krautjunker-, Pfaffen- und Bourgeoiskammer geht methodisch ans Werk. Es regnet Demütigungen, Insulten auf Paris. Versailles wird zur Hauptstadt gemacht, die Pariser Nationalgarde unter den brutalen, stupiden Gamaschenknopf d'Aurelles gestellt, die republikanischen Pariser Zeitungen unterdrückt oder geknebelt – der Staatsstreich schwebt in der Luft. Nur eins ist noch nötig: Paris zu entwaffnen. Am 18. März wird's versucht. Die Versailler greifen an. Paris verteidigt sich. Paris erhebt sich – spontan, ohne Vorbereitung –, gleich dem Garottierten, der die ihm um den Hals geworfene Schlinge packt und zerreißt.
»Plan« war bloß auf der anderen Seite; hier war es der Instinkt der Selbsterhaltung.
Das Volk ist siegreich und großmütig im Sieg. Paris hat seinen Platz in Frankreich, seinen Platz in der Welt zurückerobert. Die Kommune soll Frankreich regenerieren, der Welt ein leuchtendes Vorbild sein.
»– – Das preußische Regiment«, schreibt Lissagaray, »hatte die täuschende Hülle durchlöchert und offenbart, was achtzig Jahre der Bourgeoisherrschaft aus Frankreich gemacht haben: ein Goliath, von einem Zwerg genasführt. Paris kam, zerschnitt die tausend Fäden, die Gulliver an den Boden hefteten, stellte den Blutumlauf in den verkümmerten Gliedern wieder her und sagte: ›Möge ein jeder Bruchteil der Nation im Keim das Leben der ganzen Nation besitzen. Die Einheit des Bienenstocks, nicht die der Kaserne! Die Urzelle der Republik ist die Gemeinde, die Kommune.‹
Der Lazarus des Kaiserreichs, der Belagerung stand von den Toten auf. Der Reif um die Schläfen war gebrochen, die Fesseln zerrissen, abgestreift – er wollte ein neues Leben beginnen, mit seinem Hirn frei denken, mit seinen Lungen frei atmen, die neugeborenen französischen Kommunen allesamt durch sein Beispiel nach sich ziehen. Jeder verjüngte sich in diesem neuen Leben.
Die Verzweifelten des vorigen Monats strahlten vor Begeisterung. Man redete einander an, drückte einander die Hand, ohne sich zu kennen. Damals gab's keine Fremdlinge, bloß Brüder, beseelt von dem nämlichen Willen, dem nämlichen Glauben, der nämlichen Liebe.
Sonntag der 26. März (Proklamierung der Kommune) ist ein Tag der Freude, der Sonne, Paris fühlt sich glücklich, als wäre es aus nächtiger Finsternis oder aus einer großen Gefahr gerettet.«
Bald zerstreute der Versailler Kanonendonner die Illusionen. Die »Partei der Ordnung« hatte sich von dem ersten Schreck erholt. Mit freundlicher Erlaubnis des Fürsten Bismarck zog sie Truppen aus Deutschland heran, die kriegsgefangenen Soldaten, die, ununterrichtet über die Vorgänge in Frankreich, fern von der ansteckenden Pariser Luft, leicht zu bestialischer Wut gegen die rebellischen, »landesverräterischen« Pariser sich aufstacheln ließen.
Und die Kommune war nicht vorbereitet. Sie entfaltete ein reges Leben, eine gewaltige Schöpfungskraft. – Aber es fehlte die politische und militärische Leitung. Das Volk begeistert, opferwillig, bereit, den letzten Blutstropfen zu vergießen, eine Summe von Kräften, die, zusammengefaßt, richtig gelenkt, immer auf den entscheidenden Punkt konzentriert, die Macht der Feinde zermalmt hätten – aber sie wurden nicht zusammengefaßt, nicht gelenkt, nicht konzentriert. Kein Überblick, keine Organisation. Versäumte man es doch, den Mont Valerien, der Paris beherrscht und den die Versailler am 18. März geräumt hatten, zu besetzen!
Und dieser Mangel an politisch-militärischer Organisation zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Kommune. Er besiegelte von vornherein ihr Schicksal.
Den 2. April eröffnet Versailles den Angriff; am 3. April geht die Kommune ihrerseits zum Angriff über, der am Mont Valerien scheitert und der Kommune zwei ihrer edelsten und fähigsten Vorkämpfer kostet – den genial-schwärmerischen Flourens und den zum Feldherrn geborenen Duval, den stahlharten Metallarbeiter, welcher das Zeug hatte, der Hoche der neuen Revolution zu werden. Beide gemetzelt, gemordet. Die Versailler – das Kompliment müssen wir ihnen machen – verleugneten keinen Moment ihre wahre Natur.
Der Tiger hat Blut geleckt – und je mehr Blut er trinkt, desto größer sein Blutdurst. Er mordet, mordet, mordet. Und Paris? Keine Repressalien! Jeder Gedanke, Mord mit Mord zu vergelten, zur Bestialität der Ordnungsbanditen herabzusteigen, wird mit Abscheu zurückgewiesen. Paris kämpft, blutet.
Doch wer immer kämpft, immer blutet, muß sich zuletzt verbluten.
Der Tiger läßt nicht ab. Wird er von der Kommune nicht getötet, so mordet er die Kommune. Die Kommune hat in sich selbst nicht die nötige Kraft. Kräfte in Überfluß, doch keine Kraft, wie die Gelegenheit sie erheischt – nicht die Zeit zur Organisation. Und die Kommune verliert täglich an Kräften, während das Heer der Versailler durch Zuzüge aus Deutschland anschwillt. – –
Wird Frankreich nicht helfen, für welches Paris das Martyrium der Belagerung ausgehalten, am 18. März sich erhoben hat? Dank der Vorsichtsmaßregeln der Versailler ist Paris von dem übrigen Frankreich isoliert. In Lyon, Marseille, Toulouse, St-Etienne, Narbonne, im Creuzot wetterleuchtet's; auch ein paar Donnerschläge, doch nur »kalte Schläge« – kein zündender Blitzstrahl. Sympathie, Putsche – nirgends planvolles Handeln. Von den Keulenhieben des Krieges ist das französische Volk noch betäubt.
Paris steht allein, bleibt allein; es kämpft, blutet und verblutet. Der Tod ist nur eine Frage der Zeit. Die Versailler Henkersknechte beobachten mit der Uhr in der Hand das dem Tode geweihte Opfer, dem aus tausend Wunden das Blut entquillt. Sterben muß es! Die neue Welt der Kommune wäre ein Pfahl im Fleisch der alten Pfaffen-, Junker- und Bourgeoiswelt von Versailles gewesen. Entweder – oder!
Das Verbluten dauert zu lang. Il faut en finir – es muß ein Ende gemacht werden.
Den 21. Mai dringen die Versailler in Paris ein – und metzeln acht Tage lang, die blutige Maiwoche hindurch wird gemetzelt, gemetzelt. Paris verkauft sein Leben teuer. Der todwunde Löwe kämpft, solang noch ein Blutstropfen in ihm. Jeder tut seine Schuldigkeit – Männer, Frauen, Kinder – Volk, Führer. Paris stirbt glorreich, wie es gekämpft hat. – – –
Betrachten wir an der Hand Lissagarays einige Schlußszenen des Schlußakts. Die oft wunderbar schönen, nie schönfärbenden, nie falsch pathetischen Schilderungen sind von fast photographischer Treue und entfernen sich nie von der Realität.
Hier die erste Mordszene en gros; die Einleitung zu den Massenschlächtereien:
Am 23. haben die Angreifer ohne erheblichen Widerstand den fast unverteidigten Montmartre besetzt. Der Schlüssel von Paris ist in ihren Händen, sie brauchen ihrer – Humanität keinen Zwang mehr anzutun. »Kaum in Montmartre installiert, bietet der Versailler Generalstab den Manen Lecomtes und Clement Thomas' ein Totenopfer dar. Zweiundvierzig Männer, drei Frauen und vier Kinder werden nach Nr. 6 Rosiersstraße geführt und dort genötigt, barhäuptig vor der Mauer niederzuknien, an welcher die Generale des 18. März – als Opfer ihrer Schuld und ehe die Kommune bestand – hingerichtet worden. Dann tötet man sie. Eine Frau, die ihr Kind auf dem Arm hat, weigert sich, niederzuknien, und ruft ihren Gefährten zu: ›Zeigt diesen Elenden, daß ihr aufrecht sterben könnt!‹« – – –
Ein paar Tage später ging's tausendweis! Der Chassepot arbeitete nicht rasch genug, die Mitrailleuse mußte aushelfen! –
Ein Blick ins Stadthaus und dann auf den Père Lachaise! Es gilt einem Toten, den wir alle kennen! Der 23. Mai ist's, spätabends. Ein echtes Nachtstück!
»– – In den unteren Gängen des Stadthauses liegen Nationalgarden in ihre Decken gerollt; Verwundete stöhnen auf ihren blutigen Matratzen; von längs der Wand stehenden Bahren rinnen Blutstropfen. Man bringt einen Bataillonskommandanten, der kein menschliches Gesicht mehr hat – eine Kugel hat ihm die Wange durchbohrt, die Lippen weggerissen, die Zähne zerschmettert –; unfähig, einen artikulierten Laut hervorzubringen, schwenkt dieser Tapfere eine rote Fahne und fordert mit stummer Beredsamkeit die Ruhenden auf, dahin zu eilen, wo gekämpft wird, ihn im Kampf zu ersetzen. In einer Kammer (der Chambre de Valentine) begrüßen wir den Leichnam Dombrowskis, auf einem blauen Atlasbett ruhend. Eine einzige Kerze wirft ihr trauriges Halblicht auf den heldenmütigen Krieger. Ruhig, heiter ist das schneeweiße Gesicht mit der feinen Nase, dem zarten Mund, dem blonden, aufwärts gedrehten Bärtchen! Zwei in den dunklen Ecken sitzende Adjutanten halten schweigend die Totenwache. Ein anderer skizziert in der Eile die letzten Züge seines Generals.« – –
Noch in der Nacht wird der Leichnam nach dem Père-Lachaise-Friedhof geschafft und am Morgen des 24. begraben.
»– – Auf dem Père Lachaise empfängt der Körper Dombrowskis die letzten Ehren. Man hatte ihn während der Nacht hingebracht. Unterwegs, an der Bastille, hatte sich ein rührender Zwischenfall ereignet. Die Föderierten der dortigen Barrikaden hielten den Zug an und legten den Leichnam am Fuß der Julisäule nieder. Männer mit Fackeln stellten sich auf beiden Seiten auf, die Krieger defilierten, einer hinter dem anderen, und jeder drückt einen Kuß auf die Stirne des Generals. Während sie vorüberzogen, wirbelten die Trommeln zum Angriff. – Der Körper, in eine rote Fahne gehüllt, wird dem Sarg anvertraut. Vermorel, der Bruder Dombrowskis, seine Offiziere und ungefähr zweihundert Gardisten stehen, das Haupt entblößt, um den Sarg. ›Das ist der Mann‹, rief Vermorel aus, ›den man des Verrats beschuldigte! Als einer der ersten hat er sein Leben für die Kommune gegeben. Und wir, was tun wir, anstatt ihm nachzuahmen?‹ Er mahnt zum Ausharren, geißelt die Feigheit und Kleinmütigkeit. Seine Rede, sonst ungelenk, strömt, durch die Leidenschaft erhitzt, wie geschmolzenes Erz: ›Schwören wir, von hier nur wegzugehen um zu sterben!‹ Das war sein letztes Wort. Er« hat es gehalten. Die Kanonen, die ein paar Schritte vom Grabe aufgepflanzt waren, übertäubten von Zeit zu Zeit die Stimme des Redners. Wenige der Anwesenden konnten sich der Tränen erwehren.
Glücklich, wer ein solches Leichenbegängnis hat! Glücklich, wer in der Schlacht das Grab findet, begrüßt von seinen Kanonen, beweint von seinen Freunden!« – – –
Folgen wir Delescluze auf seinem Todesgange. Lissagaray ist Augenzeuge. Es ist der 25. Mai. Keine Hoffnung mehr. »– – Abends um dreiviertel auf sieben ungefähr bemerkten wir in der Nähe der Mairie Delescluze, Jourde und etwa hundert Föderierte, die nach dem Chateau d'Eau zu marschierten. Delescluze in seiner gewöhnlichen Kleidung: Hut, Rock, Beinkleider – alles schwarz, die rote Schärpe um die Hüfte geschlungen, wenig auffällig, wie er sie zu tragen pflegte –, ohne Waffen, auf einen Stock gestützt. Wir befürchteten eine Panik (plötzlichen Schrecken) am Chateau d'Eau und gingen dem Delegierten nach. Einige von uns machten bei der Kirche Saint-Ambroise halt, um sich mit Waffen zu versehen. Wir begegneten dort einem Elsässer Kaufmann, der vor fünf Tagen nach Paris gekommen war, und nun, nachdem er ›einmal auf die Versailler gezielt‹, mit durchschossenem Schenkel zurückhumpelte; dann trafen wir Lisbonne, der den Tod nicht zuviel herausgefordert hatte und nun am Chateau d'Eau gefallen war – gleich Brunei; man trug ihn weg, er atmete nicht mehr; endlich Vermorel, der an Lisbonnes Seite verwundet worden und den seine Kollegen Theiß und Avrial auf einer Bahre trugen; dicke Blutstropfen bezeichneten seinen Weg. So kam es, daß wir etwas hinter Delescluze zurückblieben. Fünfzig Meter von der Barrikade zerstreuten sich die ihn begleitenden Gardisten, denn die Kugeln verdunkelten den Eingang des Boulevards.
Delescluze ging weiter. Wir sahen zu – das Bild ist uns unvergeßlich, möge es auf ewig sich dem Gedächtnis einprägen. Die Sonne sank nieder. Der alte Geächtete, ohne umzuschauen, ob jemand ihm folge, schritt ruhig voran – nicht langsamer, nicht schneller als gewöhnlich – das einzige lebende Wesen auf dem Boulevard. An der Barrikade angekommen, wandte er sich links und erkletterte die Pflastersteine. Zum letzten Male erschien uns dieses streng-ernste Gesicht, umrahmt von dem weißen Bart, dem Tode zugekehrt. Plötzlich verschwand Delescluze. Wie vom Blitz getroffen war er auf den Platz des Chateau gefallen.
Einige Männer wollten ihn aufheben. Drei von vieren fielen, auf dem Fleck tot. Man konnte nur noch an die Barrikade denken, ihre spärlichen Verteidiger zusammenhalten.
Das Kommunemitglied Johannard schwenkte, fast in der Mitte der Chaussee, seine Flinte und rief, vor Zorn weinend, den Zaudernden zu: ›Nein, ihr seid nicht wert, die Kommune zu verteidigen!‹ Die Nacht brach an. Wir kehrten, das Herz zerrissen, zurück, den Leichnam unseres Freundes den Beschimpfungen eines Gegners überlassend, der selbst den Tod nicht achtet.
Er hatte niemand von seinem Entschluß in Kenntnis gesetzt, selbst nicht seine vertrautesten Freunde. Schweigend, allein mit seinem Gewissen, ging Delescluze zur Barrikade, wie die alten Montagnards zum Schafott.
Das lange Tagewerk seines Lebens hatte seine Kräfte erschöpft. Es blieb ihm nichts mehr als ein Hauch; er gab ihn. Die Versailler haben seinen Körper beiseite geschafft, aber das Andenken Delescluzes wird im Herzen des Volkes leben, solange Frankreich das Mutterland der Revolution sein wird. Er atmete nur für die Gerechtigkeit. Das war sein Talent, seine Wissenschaft, der Polarstern seines Denkens und Handelns. Die Gerechtigkeit forderte er, die Gerechtigkeit bekannte er dreißig Jahre hindurch in Verbannung, im Kerker, unter Beschimpfungen, der Verfolgungen spottend, die seine Knochen zerbrachen. Jakobiner, fiel er mit Männern des Volkes, um die Gerechtigkeit zu verteidigen. Für die Gerechtigkeit zu sterben war seine Belohnung – für sie zu sterben, die Hände frei, im Angesicht der Sonne, in seiner Stunde, nicht beleidigt durch den Anblick des Henkers.« – –
Und noch eines anderen, keines schlechteren Mannes Todesgang müssen wir uns ins Gedächtnis eingraben. – –
»Varlin, ach! sollte nicht entkommen. Sonntag, den 28. (Mai) wurde er in der Straße Lafayette erkannt und an den Fuß der Montmartre-Höhen (buttes Montmartre) vor den kommandierenden General gebracht, richtiger geschleift. Der Versailler schickte ihn nach der Rosiersstraße, um dort erschossen zu werden. Durch die Straßen des Montmartre führte man Varlin eine Stunde ›spazieren‹, eine volle Stunde lang – die Hände auf den Rücken gebunden, unter einem Hagel von Schlägen und Beschimpfungen. Sein schöner junger Kopf mit der Denkerstirn, die nie einen grausamen Gedanken beherbergt, war, von Säbeln zerhackt, ein ungestalter Fleischklumpen – das eine Auge, ausgeschlagen, hing vor der Höhle! In der Rosiersstraße konnte er nicht mehr gehen – man trug ihn. Man setzte ihn hin, um ihn zu erschießen. Die Elenden mißhandelten noch den Leichnam mit Kolbenschlägen.
Das Heer der Märtyrer hat keinen Glorreicheren. Möge auch er in dem großen Herzen der Arbeiterklasse seine ewige Ruhestätte finden. Varlins ganzes Leben ist ein Vorbild. Er hatte durch seine unerschütterliche Willenskraft sich selbst zu dem gemacht, was er war, indem er am Abend die spärliche Zeit, welche die Werkstätte übrigläßt, auf die Pflege seines Geistes verwandte und lernte, nicht wie andere, um sich zur Bourgeoisie emporzuschwingen, sondern um das Volk zu unterrichten und zu befreien. Er war die Seele der Arbeiterverbindungen zu Ende des Kaiserreichs. Unermüdlich, bescheiden, sehr wenig redend, aber das wenige gut, treffend, stets zur rechten Zeit und die verwickeltste Diskussion entwirrend – hatte er den revolutionären Sinn bewahrt, der sich häufig bei gebildeten Arbeitern verliert. Einer der ersten am 18. März, unermüdlich arbeitend während der Dauer der Kommune, war er auf den Barrikaden bis zum Ende. Der Tote gehört ganz den Arbeitern. Varlin und Delescluze wäre von Lissagaray die Geschichte der Kommune gewidmet worden, wenn auf dem Titelblatt für einen anderen Namen Platz gewesen wäre als für das große Paris.«
Wir lassen den Vorhang fallen.
»Fünfundzwanzigtausend Männer, Frauen und Kinder im Kampf getötet oder nach dem Kampf geschlachtet; dreitausend, niedrigst geschätzt, in den Gefängnissen, auf den Pontons, in den Forts oder an Krankheiten, die das Gefängnis erzeugte, gestorben; dreizehntausendsiebenhundert verurteilt, die meisten auf Lebenszeit; siebzigtausend Frauen, Kinder, Greise ihrer natürlichen Stützen beraubt oder aus Frankreich geworfen: hundertelftausend Opfer, niedrigst geschätzt – das ist die Bilanz der Bourgeoisrache für die Revolution des 18. März. Und im Augenblick, wo ich das schreibe, im November 1876, sind noch fünfzehntausend Männer, Frauen, Kinder in Caledonien oder im Exil.« – – –
In Frankreich hat inzwischen das Walten der Nemesis begonnen. Gleich den Wölfen, die ein Wild niedergejagt, sind die Mörder der Kommune über der Leiche in Streit geraten – die Monarchisten rüsten zum Staatsstreich und die Bourgeoisrepublikaner, die – von dem boshaften Zwerg Thiers an bis hinunter zu dem lächerlichen Zwerg Louis Blanc – die Hetzjagd auf die Kommune als Führer, Jäger oder Treiber mitgemacht, spähen vergeblich nach den braven Bewohnern der Vorstädte, die noch jeder Ruf zur Verteidigung der Republik bereit fand. Sie sind gemordet – und die Mörder hören den Flügelschlag der Erinnyen (Rachegöttinnen).
Dank dem Mann, der die Gräber der Gemordeten mit Blumen geschmückt, ihre Großtaten und die Verbrechen der Feinde mit unverlöschlichen Lettern in das Buch der Geschichte eingetragen hat!
Das Volk vergißt seine Toten nicht. Es vergißt aber auch nicht die lebenden Besiegten.
Geschrieben am Johannistag 1877.
Vorstehende Abhandlung, die ich im »Vorwärts« vom 18. März 1891 zum Abdruck brachte, versah ich mit folgender Nachschrift:
»Seitdem sind dreizehn Jahre vergangen. In Frankreich, in der Welt ist manches anders geworden. Ein Plan, den Lissagaray, kurz nachdem Vorstehendes geschrieben, mit dem Schreiber dieses zur Befreiung der auf die ›trockene Guillotine‹ – nach Caledonien – geschickten Kommunarden entworfen hatte, brauchte nicht mehr ausgeführt zu werden, weil die Amnestie kam – und damit der Anfang der Sühne. Nur der Anfang. Doch die Logik der Tatsachen wird für das Weitere sorgen!«
Über den Normalarbeitstag
Während einer vierwöchigen Haftstrafe im Leipziger Bezirksgerichtsgefängnis im Herbst 1885 entstand offenbar die hier wiedergegebene Artikelserie. Sie erschien im illegalen Parteiorgan »Der Sozialdemokrat« Nr. 43, 22. Oktober, Nr. 44, 29. Oktober, Nr. 45, 5. November, und Nr. 46, 12. November 1885. Das resümierende »Nachwort« (»Der Sozialdemokrat«, Nr. 47, 19. November 1885) schrieb Liebknecht nach seiner Haftentlassung in Borsdorf. Die Artikel zeigen, daß Liebknecht nach einer Zeit der Schwankungen in den innerparteilichen Auseinandersetzungen nunmehr offen und eindeutig an der Seite von August Bebel Front gegen die Opportunisten bezog. »Liebknecht kommt ja auf einmal ganz tapfer in den Vordergrund«, schrieb Engels (an August Bebel, 17. November 1885, MEW, Bd. 36, S.390) unter Bezugnahme auf diese Artikelserie.
I.
Der Normalarbeitstag steht mit Recht im Vordergrunde der nächsten Ziele, welche die deutsche Arbeiterklasse zu erkämpfen entschlossen ist. Wir haben keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um der gegenwärtigen Bewegung zugunsten eines Arbeiterschutzgesetzes,[Anmerkung 80] in dem der Normalarbeitstag einen hervorragenden Platz einnimmt, die vollste Anerkennung zu zollen und ihr, soweit es in unserer Macht, Vorschub zu leisten. Wer im »Kapital« von Marx den klassischen Abschnitt gelesen hat, der von dem Werden und Sein der englischen Fabrikgesetzgebung, von dem jahrelangen Ringen um die Zehnstundenbill handelt, der weiß auch, welch hohe Bedeutung der Kampf um die Arbeitszeit hat.[Anmerkung 81]
Der Arbeiter kann sich von seiner »Ware« Arbeit nicht trennen. Er ist die personifizierte Arbeit; und wenn er seine einzige »Ware«, die Arbeit, verkauft, verkauft er sich selbst. Er verkauft sich tageweise um Tagelohn. Und für den Tagelohn verkauft er einen Tag Arbeit.
Der Tag hat vierundzwanzig Stunden. Der Mensch, um zu leben, muß essen, muß schlafen. Die ganzen vierundzwanzig Stunden kann er nicht arbeiten. Das ist eine physische Unmöglichkeit. Wir können auch sagen, eine »moralische«, doch was hat die Nationalökonomie mit der Moral zu tun? Also die ganzen vierundzwanzig Stunden, welche der Tag enthält, kann der Arbeiter nicht arbeiten. Aber wie lange? Wo die Grenzlinie ziehen?
Und da entsteht denn der Grenzkrieg – so erbittert, so hartnäckig geführt, wie das die Natur aller Grenzkriege.
Der Kapitalist besteht auf seinem Schein. Er hat einen Arbeitstag, einen Tag Arbeit gekauft, der Tag ist sein, und er will so viel Arbeit herauspressen als nur irgend möglich. Das ist sein Recht – kraft des Lohnsystems. Er hat die Arbeit gekauft und mit der Arbeit den Arbeiter; bis auf das letzte Atom Arbeit, das sich den Sehnen und Muskeln des gekauften Arbeiters entlocken läßt, ist alles sein. Um jedes Atom, das ihm vorenthalten wird, ist er betrogen.
Und da das natürliche Maß für Arbeit die Zeit ist, in welcher sie verrichtet wird, so geht sein Streben auf möglichste Verlängerung des Arbeitstages. Zwölf, vierzehn, sechzehn, achtzehn Stunden des Tages – warum nicht?
Der Arbeiter hat den Tag Arbeit verkauft, und bleiben ihm, wenn er vierzehn Stunden arbeitet, nicht zehn, wenn sechzehn nicht acht, wenn achtzehn nicht noch sechs Stunden für sich? Ist es nicht großmütig vom Kapitalisten, daß er nicht auch die zehn, die acht, die sechs Stunden nimmt?
Ja, wenn es nur ginge!
Sind auch die Grenzen nicht genau festzustellen, wo die menschliche Arbeitsfähigkeit aufhört, so ist eine solche Grenze doch vorhanden. Und das Überschreiten derselben macht sich bemerklich durch Verkümmerung, Verkrüppelung, Siechtum, Krankheit, Tod der »Überarbeiteten«.
Es versteht sich, daß der Arbeiter, sobald er einigermaßen zum Bewußtsein seiner Lage kommt, sich gegen diese Abrackerung zu schützen sucht.
Während der Kapitalist den Arbeitstag möglichst zu verlängern sucht, sucht der Arbeiter ihn möglichst zu verkürzen. Je mehr freie Zeit er hat, desto mehr Zeit der Freiheit hat er. Solange er arbeitet, ist er Sklave des Kapitalisten, dem er sich verkauft hat; solange er nicht arbeitet, gehört er sich selbst an, ist er ein freier Mann.
Und so wird denn, seit es Lohnarbeit, Arbeiter und Kapitalisten gibt, der Kampf geführt um die Länge des Arbeitstages. Hier zerrt der Kapitalist, dort der Arbeiter – jener versuchend, ein Stück anzuheften, dieser, eines abzureißen. Jede Verlängerung des Arbeitstages ist ein Sieg der Kapitalisten. Jede Verkürzung des Arbeitstages ein Sieg der Arbeiter. Gerade hier, am Arbeitstage, gewissermaßen im Mutterleibe der kapitalistischen Produktion, zeigt sich am handgreiflichsten, drastischsten der unversöhnbare Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit.
In England und in anderen Ländern ist nach Kämpfen, von denen hier nicht zu reden, ein Normalarbeitstag (in England der zehn-, in der Schweiz und Österreich der elfstündige) gesetzlich festgestellt worden; und in England, welches auf wirtschaftlichem Gebiete voranmarschiert und Versuchsland für die Welt ist, ähnlich wie Frankreich auf politischem, hat die Beschränkung der Arbeitszeit und überhaupt die Fabrikgesetzgebung sich so vortrefflich bewährt, daß Marx, die gewichtigste aller berufenen Autoritäten, ihr die »physische und moralische Wiedergeburt der Fabrikarbeiter« zuschreibt. Und ein ähnliches Urteil hat Engels gefällt, der neben Marx die Materie am besten beherrscht und in seiner »Lage der arbeitenden Klasse in England« die Vorgeschichte der Zehnstundenbill-Bewegung gibt,[Anmerkung 82] so daß dieses mustergültige Quellenwerk mit dem erwähnten Abschnitt des Marxschen »Kapital« ein organisches Ganzes bildet.
Die Bedeutung des Normalarbeitstages ist von unserer Partei also sicherlich niemals unterschätzt worden.
Sie darf aber nicht überschätzt werden. Und während der gegenwärtigen Agitation für den Normalarbeitstag und das Arbeiterschutzgesetz sind, sowohl in Reden als in Zeitungsartikeln und Broschüren, Ansichten zutage getreten, die unseres Erachtens von den Grundanschauungen unserer Partei abweichen, jedenfalls irrig sind, und darum zurückgewiesen werden müssen.
II.
In einem der verbreitetsten Schriftchen über den Normalarbeitstag lesen wir:
»Ein einfaches Rechenexempel beweist die Möglichkeit der vermehrten Arbeitsgelegenheit bei Einführung des Normalarbeitstages. Gesetzt, ein Fabrikant beschäftigt hundert Arbeiter per Tag elf Stunden. Wollte er nun im Normalarbeitstag von zehn Stunden dieselbe Masse Waren wie vorher zu elf Stunden liefern, so müßte er zehn Arbeiter mehr einstellen, das heißt, zehn ›Vagabunden‹ würden von der Landstraße in die Fabrik gezogen, sich in ›ordentliche‹ Arbeiter verwandeln.«
Derselbe Gedanke, wenn auch meist mit einigen diskreten Einschränkungen, kehrt in anderen Schriften und Aufsätzen über den Normalarbeitstag wieder und ist bei der Agitation wiederholt und mit großem Nachdruck in den Vordergrund geschoben worden.
Wäre der Gedanke richtig, das heißt, würde durch jede Stunde Arbeit, die einem Arbeiter durch das Gesetz abgenommen wird, einem Unbeschäftigten oder nicht genügend Beschäftigten eine Stunde Arbeit verschafft, dann würde der Normalarbeitstag allerdings das Mittel sein, um allen, die arbeiten können und wollen, Arbeit zu gewähren. Die soziale Frage wäre tatsächlich gelöst. Und wie einfach!
Es wäre Sache eines Rechenexempels, das jedes Schulkind ausrechnen könnte:
Die von der Gesamtheit (den Angehörigen des Staates) das Jahr hindurch zu leistende Arbeit nimmt soundso viel Millionen oder Milliarden Arbeitsstunden in Anspruch. Die Zahl der Arbeiter beträgt soundso viele Hunderttausende oder Millionen. Die Zahl der Arbeitsstunden wird mit der Zahl der Arbeiter dividiert – der Quotient ergibt die Zahl der Arbeitsstunden, die jährlich auf jeden Arbeiter kommen, und ihrerseits wieder mit dreihundert der Zahl der Arbeitstage dividiert werden. Dann haben wir die tägliche Arbeitszeit eines jeden – den richtigen Normalarbeitstag.
Dieser ideale Normalarbeitstag paßt sich allen Bedürfnissen der Gesellschaft und den Fortschritten der Technik elastisch an. Und da durch Erfindungen und Vervollkommnung von Maschinen den Menschen immer mehr Arbeit abgenommen wird, so kann der Normalarbeitstag immer mehr herabgesetzt werden. Welche Länge er aber auch haben möge, er wird derartig berechnet, daß jeder Arbeiter seine Arbeit hat und gleichmäßig beschäftigt wird.
Merkt man, daß in irgendeinem Industriezweig Arbeiter überflüssig werden – ein Ruck an der Schraube ohne Ende dieses wundervollen Normalarbeitstages: die Arbeitszeit wird auf Grund eines neuen Rechenexempels neu reguliert, und zwar derart, daß wieder ein jeder für seinen Normalarbeitstag volle Arbeit hat.
Schade nur, daß die Rechnung verschiedene Löcher hat und auf ganz falschen Voraussetzungen beruht.
Zunächst ist es ein Irrtum, daß ein Fabrikant, der jetzt hundert Arbeiter bei elfstündiger Arbeit beschäftigt, nach Einführung des zehnstündigen Normalarbeitstages – falls er sein Geschäft nicht einschränken will – genötigt sein würde, zehn neue Arbeiter zu engagieren.
Diese Annahme geht von der irrigen Voraussetzung aus, daß die Arbeit ein fester Stoff sei, etwa ähnlich wie eine Eisenstange, und genau nach der Zeit gemessen werden könne wie die Eisenstange nach dem Metermaß. Der Arbeit geht diese Festigkeit jedoch ab, und sie hat, um in dem Gleichnisse zu bleiben, eher Ähnlichkeit mit den gasartigen Stoffen, die sich fast unbeschränkt ausdehnen und zusammendrängen und mitunter in den winzigsten Raum gepreßt werden können.
Eine Stunde ist eine Stunde – das heißt ein Zeitraum von sechzig Minuten und sechzigmal sechzig Sekunden, der mit der Uhr in der Hand auf die Sekunde gemessen werden kann. Die Summe von Arbeit, welche in einer Stunde verrichtet wird, läßt sich aber nicht mit der Uhr messen. Sie ist sehr verschieden. Jeder einigermaßen aufmerksame Beobachter wird dies schon finden, wenn er zwei nebeneinander arbeitenden Arbeitern eine Stunde lang mit zusieht.
Der Arbeiter kann täglich nur eine bestimmte Summe von Kraft, in Gestalt von Arbeit, ausgeben. Die Folge hiervon ist, daß er, mag die tägliche Arbeitszeit sein, wie sie will, mit seiner Arbeitsleistung nicht über ein gewisses Maß hinauskommt und daß er, wird die Arbeitszeit übermäßig ausgedehnt, keine größere Summe von Arbeit leistet, als er bei kürzerer Zeit geleistet hatte oder leisten könnte.
Übermäßig verlängerte Arbeitszeit bringt es mit sich, daß weniger intensiv gearbeitet wird. Die Intensivität der Arbeit steht im umgekehrten Verhältnis zu der Länge der Arbeitszeit. Es ist dies ein Satz, dessen Richtigkeit durch die Erfahrung bewiesen und von der Wissenschaft anerkannt ist, so daß wir uns nicht weiter dabei aufzuhalten brauchen.
Die Herren Arbeitgeber kennen diese Wahrheit sehr wohl. Und der Fabrikant mit den hundert Arbeitern bei elfstündigem Arbeitstag wird nach Einführung des Normalarbeitstages von zehn Stunden nicht daran denken, zehn neue Arbeiter einzustellen, sondern von seinen hundert Arbeitern die Summe der bisher in elf Stunden täglich geleisteten Arbeit in zehn Stunden hineinpressen zu lassen.
Und vermittelst einigen moralischen und nichtmoralischen Drucks, einiger Verbesserungen an der Maschinerie, geschickterer Arbeitseinteilung wird das Kunststück auch in den meisten Fällen ganz oder annähernd gelingen.
Wir müssen hier auf das »Kapital« von Marx, auf die Berichte der schweizerischen Fabrikinspektoren usw. verweisen: da finden sich Zeugnisse für diese Tatsache in Hülle und Fülle.
In der Schweiz, wo der elfstündige Normalarbeitstag erst seit wenigen Jahren eingeführt ist, wird jetzt schon konstatiert, daß die in der verkürzten Arbeitszeit geleistete Arbeit ebenso oder ziemlich ebenso groß ist wie die vor Einführung des Normalarbeitstages geleistete.
Und in England, wo der Übergang vom zwölfstündigen zum zehnstündigen Normalarbeitstag stattgefunden hat, ist der Beweis noch handgreiflicher geliefert.
»Ohne allen Zweifel«, so berichteten die englischen Fabrikinspektoren im Jahre 1858, »gab die Verkürzung des Arbeitstages den Stachel zu diesen Verbesserungen (der Maschinerie usw.). Letztere und die intensivere Anstrengung des Arbeiters bewirkten, daß wenigstens ebensoviel Arbeit (Machwerk) in dem verkürzten Arbeitstag als früher während des längeren geliefert wird.«
Der längere Arbeitstag, wie gesagt, war zwölf Stunden lang, die Verkürzung betrug also bei Einführung der Zehnstundenbill ein Sechstel – was noch beträchtlich mehr ist als das Zehntel, um welches es sich in dem von dem Verfasser der angezogenen Broschüre gesetzten Fall handelt.
Das englische Parlamentsmitglied Ferrand erklärte am 27. April 1863 im Unterhaus: »Arbeiterdelegierte von sechzehn Distrikten Lancashires und Cheshires, in deren Auftrag ich spreche, haben mir mitgeteilt, daß die Arbeit in den Fabriken beständig wachse. Statt daß wie früher eine Person mit Gehilfen zwei Webstühle bediente, bedient sie jetzt drei ohne Gehilfen, und es ist gar nichts Ungewöhnliches, daß eine Person vier bedient. Zwölf Stunden Arbeit werden jetzt in weniger als zehn Arbeitsstunden gepreßt.«
Das ist das eine Loch, welches die Rechnung der optimistischen Anwälte des Normalarbeitstages hat. Es ist nicht das einzige.
Nicht nur hat die kapitalistische Produktion die Tendenz und Kraft, eine gleiche Summe von Arbeit in immer kürzerer Arbeitszeit zusammenzupressen, sie hat auch die weitere Tendenz, immer mehr Arbeiter überflüssig zu machen, so daß sich uns das scheinbar widerspruchsvolle Schauspiel darbietet: Bei gesteigerter Produktion Überflüssigwerden von Arbeitern.
Mit diesem Gesetz, welches die Übervölkerung als eine notwendige Erscheinung der bürgerlichen Produktionsweise erscheinen läßt, ebenso wie die Überproduktion, werden wir uns im nächsten Artikel beschäftigen.
III.
»Bei gesteigerter Produktion Überflüssigwerden von Arbeitern!« – das ist das scheinbar widerspruchsvolle Schauspiel, welches die bürgerliche Gesellschaft uns bietet. Nur scheinbar widerspruchsvoll, denn es ist im innersten Wesen der kapitalistischen Produktion begründet. Auf den Massenabsatz, bei kleinem Profit an den Einzelprodukten, angewiesen, hat die Großindustrie auf möglichste Produktivität der Arbeit zu sehen. Die Produktivität der Arbeit beständig zu steigern, ist ihr durch die Konkurrenz zur Lebensfrage gemacht.
Diese Steigerung findet einerseits durch größere Intensivität der Arbeit selbst statt. Andererseits durch vervollkommnete Maschinerie, bessere Arbeitsteilung usw. Mit ersterem Moment haben wir uns schon beschäftigt. Das zweite ist von noch größerer Bedeutung, denn während die Leistungsfähigkeit der menschlichen Arbeit eine, wenn auch sehr elastische Grenze hat, hat die Leistungsfähigkeit der Maschinen keine. Nicht einer bestimmten Maschine, sondern der Maschinen überhaupt. Die Hilfsquellen der Technik sind unerschöpflich, keine Aufgabe ist ihr zu schwer, jeder Fortschritt ist nur der Schritt zu einem neuen Fortschritt. Der Fortschritt von heute ist morgen ein überwundener Standpunkt.
Betrachte man doch die fieberhafte Tätigkeit der Technik auf militärischem Gebiet: Das beste Gewehr wird nach wenigen Wochen oder Monaten durch ein besseres aus dem Feld geschlagen, dem in wenigen Wochen dasselbe Schicksal erblüht. Der gestern undurchdringliche Panzer wird morgen durchschossen; die unwiderstehliche Kanone von heute muß morgen zum alten Eisen geworfen werden.
Und auf dem unendlich weiteren und unendlich dankbareren Gebiete der Industrie entwickelt die Technik noch eine tausendmal umfassendere, nicht minder revolutionierende Tätigkeit.
Der Konkurrenzkampf gestaltet sich mehr und mehr zu einem Kampf der Maschinen. Wer die besten Maschinen hat, schlägt seine Konkurrenten. Und die beste Maschine ist jeden Augenblick in Gefahr, durch eine bessere entthront zu werden. Die beste Maschine hat aber, wer das meiste Geld hat.
In den Berichten der schweizerischen Fabrikinspektoren wird auf die Mangelhaftigkeit der schweizerischen Maschinen im Vergleich mit den englischen hingewiesen.
Gleichzeitig wird dort gezeigt, daß die Einführung des Normalarbeitstages zu einer Verbesserung der Maschinen führt. Den Grund haben wir angegeben. Die Produktivität der Arbeit muß gesteigert werden, und das geschieht in hervorragendem Maße durch verbesserte Maschinerie, welche die doppelte Eigenschaft hat, nicht bloß selbst mehr Arbeit zu liefern, sondern auch dem Arbeiter eine größere Arbeitsleistung zu ermöglichen.
Der Normalarbeitstag befördert also die Entwicklung der Großindustrie, weil er die Fabrikanten zur profitableren Geschäfteinrichtung und zur Anwendung neuer oder vervollkommneter Maschinerie zwingt und dadurch zu Ausgaben, die der Kleinkapitalist nicht bestreiten kann. Es ist dies beiläufig unter den Vorteilen des Normalarbeitstages nicht der geringste – je mehr der Entwicklungsprozeß des Kapitalismus beschleunigt wird, desto kürzere Zeit dauert er, und desto eher ist der Boden für die sozialistische Arbeitsorganisation gebahnt.
Die Vervollkommnung der Maschinerie und die Intensivierung und Ausnutzung der menschlichen Arbeit nimmt aber rascher zu als die Konsumtion, und so finden wir in der Großindustrie neben sich steigernder Produktion eine Abnahme der Arbeiterzahl.
Es ist kapitalistisches Bevölkerungsgesetz, daß, mag die Bevölkerung noch so sehr sich vermehren, die Zahl der Arbeiter mit den Fortschritten der Maschinerie und des technischen Geschäftsbetriebes sich vermindert.
Betrachten wir zum Beispiel die »Stubborn Facts«, die »Halsstarrigen Tatsachen aus den Fabriken«, welche ein englischer Fabrikarbeiter, John Olivier von Manchester, im Jahre 1844 veröffentlichte:
»35 große Fabriken beschäftigten 1829 eintausend Spinner mit 674 074 Spindeln; 1841 arbeiteten in denselben Fabriken 487 Spinner mit 736 128 Spindeln – binnen zwölf Jahren die Zahl der Spinner um mehr als die Hälfte gesunken, die Zahl der Spindeln um fast 52 000 vermehrt.«
»36 Grobspinnereien beschäftigten 1829 1088 Spinner; 1841 nur 448 – mit einer Vermehrung von 53 353 Spindeln.«
»Zwischen 1835 und 1843 verminderte sich die Zahl der Spinner in Stockport von 800 auf 140. Ein Glücklicher, der in Arbeit geblieben war, erzählte 1843: ›Im Jahre 1840 arbeitete ich mit 674 Spindeln und konnte 22 Shillings (1 Sh. = 1 Reichsmark) die Woche verdienen; jetzt arbeite ich mit 2 040 Spindeln und verdiene die Woche 13 Shillings.‹«
»Vielleicht«, so fährt Olivier fort, »vielleicht, lieber Leser, könntest du in den Wahn verfallen, daß die Maschinenbauer den Vorteil davon gehabt hätten? Hier ist die Rechnung: zwischen 1835 und 1844 wurden in einer Maschinenfabrik in Manchester folgende Maschinen eingeführt: eine Hobelmaschine – verrichtet die Arbeit von 14 Mann und wird von einem Jungen geleitet. Fünf kleinere, je gleich 3 Mann, brauchen einen Mann, um zu ›arbeiten‹. Eine Durchschlagmaschine, gleich 12 Mann, braucht 1 Person zum Dirigieren. Eine Drehmaschine, gleich 3 Mann, braucht 1 Person. Eine Schraubenmutter-Schneidemaschine, gleich 3 Mann, braucht einen Jungen. Eine Radschneidemaschine, gleich 20 Mann, braucht 1 Mann. Eine Bohrmaschine, gleich 10 Mann, braucht 1 Person. In einer anderen Fabrik sind 20 Drechselmaschinen, gleich 100 Mann, sie brauchen zusammen 10 Personen. 8 Hobelmaschinen, gleich 96 Mann, brauchen 8 Personen zusammen. Eine weiter verbesserte Schraubenmutter-Schneidemaschine, gleich 20 Mann, braucht einen Jungen. Eine Stoßmaschine, gleich 20 Mann, braucht einen Jungen. Die Maschinen werden also selbst mit Maschinen gemacht.«
Zur Erläuterung sei bemerkt, daß »Person« im Gegensatz zu »Mann« ein unerwachsener Arbeiter ist.
Die Berichte der englischen Fabrik- und Mineninspektoren – bei dem erbärmlichen Stand der Arbeitsstatistik in Deutschland müssen wir das Material meist in England suchen – geben Material in Hülle und Fülle. Im Distrikt des Fabrikinspektors R. Baker (Lancashire, Cheshire, Yorkshire) enthielten die gleichen 570 Textilfabriken:
| 1860 | 1865 | |
| Dampfwebstühle | 85 622 | 95 163 |
| Spindeln | 6 819 146 | 7 025 031 |
| Pferdekraft in Dampfmaschinen | 27 439 | 28 925 |
| Pferdekraft in Wasserrädern | 1 390 | 1 445 |
| Beschäftigte Personen | 94 119 | 88 913 |
Binnen fünf Jahren nahmen also zu: die Dampfwebstühle um elf Prozent, die Spindeln um drei, die Dampfpferdekräfte um fünf Prozent.
Dagegen nahm in derselben Zeit die Zahl der beschäftigten Personen um fünfeinhalb Prozent ab.
Ferner zählte man in den englischen Seidenfabriken:
| 1856 | 1862 | |
| Spindeln | 1 093 799 | 1 388 544 |
| Webstühle | 9 260 | 10 709 |
| Arbeiter | 56 131 | 52 429 |
Binnen sechs Jahren Zunahme der Spindeln um 26,9, der Webstühle um 15,6 Prozent.
Abnahme der Arbeiter um sieben Prozent.
»Die Maschine schlägt die Arbeiter tot.«
In der Kammgarnindustrie nahmen in der gleichen Zeit die Arbeiter um mehr als 1 700 ab (die Zahl fiel von 87 794 auf 86 063), während die Dampfwebstühle um mehr als 4000 (von 38 956 auf 43 048) zunahmen. In den Baumwollfabriken stieg von 1861 bis 1875 die Zahl der Webstühle von 339 992 auf 463 118; die Zahl der Arbeiter fiel von 166 209 auf 163 632. In den englischen Kohlenbergwerken betrug nach den Berichten der Mineninspektoren:
| Die Förderung in Tonnen (Outpout) | Die Zahl der Beschäftigten Arbeiter | |
| 1874 | 140 713 832 | 538 829 |
| 1875 | 147 700 313 | 535 845 |
| 1876 | 148 989 385 | 514 532 |
| 1877 | 148 846 260 | 494 391 |
| 1878 | 145 798 138 | 475 329 |
| 1879 | 145 366 369 | 476 810 |
| 1880 | 161 466 739 | 484 933 |
In den sieben Jahren zwischen 1874 und 1880 hat die Produktion um mehr als 20 Millionen zugenommen; die Zahl der Arbeiter um 53 896, genau zehn Prozent oder ein Zehntel, abgenommen! Ein Zehntel in sieben Jahren, bei steigender Produktion!
In Deutschland natürlich die gleiche Erscheinung, nur daß das Material nicht so vorliegt wie in England. Aber es fehlt wenigstens nicht an Belegen aus nächster Nähe. In den Flachsspinnereien des Reichenberger Handelskammerbezirks in Nordböhmen vermehrte sich zwischen 1866 und 1878 die Zahl der Spindeln um 1 300 (von 212 572 auf 225 562) und verminderte sich die Zahl der Arbeiter um 1 158 (von 12 693 auf 11 535).
Wer sich die Bedeutung dieser Ziffern klarmacht, muß einsehen, daß die Hoffnung, der Normalarbeitstag werde einer namhaft größeren Zahl von Arbeitern Beschäftigung geben, ein Wahn ist. Der Tendenz des Normalarbeitstages, die Zahl der beschäftigten Arbeiter zu vermehren, steht gegenüber einesteils die Komprimierbarkeit der menschlichen Arbeit und andernteils die Tendenz des Kapitalismus, Arbeiter überschüssig zu machen.
Und das ist nur die reguläre, gewissermaßen normale, Überschüssigmachung, die unablässig vor sich geht, wenn auch infolge der Ausdehnung der Industrie und namentlich bei jungen Industriezweigen die Tatsache nicht immer greifbar zutage liegt.
Zu dieser permanenten kommt die periodische Überschüssigmachung durch Krisen und Geschäftsstockungen. Davon im nächsten und letzten Artikel.
IV.
Was die Unregelmäßigkeit in der Beschäftigung der Arbeiter herbeiführt, das ist die Unregelmäßigkeit und Ungeregeltheit der kapitalistischen Produktion. Um jener Unregelmäßigkeit der Beschäftigung ein Ziel zu setzen, muß also dieser Unregelmäßigkeit und Ungeregeltheit ein Ende gemacht werden. Der Normalarbeitstag tut das aber nicht. Er bringt zwar, indem er der zeitlich unbegrenzten Ausbeutung des Arbeiters eine Grenze zieht, unzweifelhaft eine größere Stetigkeit in die Produktion und hat unzweifelhaft die Tendenz, einer größeren Zahl von Arbeitern Beschäftigung zu bieten; allein die größere Stetigkeit kann nur in normalen Zeiten, nicht in Zeiten der Krise und des schlechten Geschäftsganges sich manifestieren, das heißt, gerade dann, wenn sie am nötigsten wäre; und was die Tendenz zur Beschäftigung einer größeren Zahl von Arbeitern betrifft, so haben wir gesehen, daß ihr die Tendenz des Kapitalismus gegenübersteht, durch intensivere Ausbeutung sich für die zeitlich beschränkte Ausbeutung zu entschädigen und aus der beschränkten Arbeitszeit dasselbe Quantum Arbeit herauszupressen, wie vorher aus der unbeschränkten ja noch mehr.
Die Summe der Arbeit, welche in die beschränkte Arbeitszeit zusammengepreßt wird, kann so groß werden, daß ähnliche Wirkungen auf das Nervensystem und die Gesundheit des Arbeiters eintreten wie die, welche zur Einführung des Normalarbeitstages geführt haben.
Die englischen Fabrikinspektoren »gestehen, daß die Verkürzung der Arbeitszeit bereits eine die Gesundheit der Arbeiter, also die Arbeitskraft selbst zerstörende Intensität der Arbeit hervorgerufen hat. In den meisten Baumwoll-, Kammgarn- und Seidenfabriken scheint der erschöpfende Zustand von Aufregung eine der Ursachen des Überschusses der Sterblichkeit an Lungenkrankheiten« (Marx, »Kapital«, Seite 436f., II. Aufl.).
Auf diese Weise macht sich eine fortwährende Verkürzung des Normalarbeitstages notwendig.
Gegen die Krisen und Arbeitslosigkeit ist der Normalarbeitstag ohnmächtig. Diese Hauptschrecknisse des Arbeiters haben mit der Länge des Arbeitstages gar nichts zu tun. Sie entspringen aus dem innersten Wesen der Privatproduktion und des Kapitalismus und werden bestehen, solange diese bestehen. Sie entspringen aus der Unfähigkeit der Privatproduktion, den Markt zu überschauen und Konsumtion und Produktion in Harmonie zu bringen. Selbst bei staatlicher Überwachung, wie sie Rodbertus vorschwebte, würde diese Unfähigkeit fortdauern, denn die Überwachung kann unmöglich so weit gehen, daß jedem Kapitalist vorgeschrieben wird, was und wieviel er zu produzieren hat. Eine solche Kontrolle verträgt sich nicht mit dem Bestand der Privatproduktion und wäre gleichbedeutend mit deren Vernichtung.
In England haben wir den zehnstündigen Normalarbeitstag seit beinahe vierzig Jahren. Haben etwa dort die Krisen und Geschäftsfluktuationen aufgehört? Nein – sie sind im Gegenteil weit schlimmer, seit einem Jahrzehnt chronisch und beinahe permanent geworden. Natürlich nicht infolge des Normalarbeitstages, sondern infolge der dem Kapitalismus innewohnenden Eigenschaft, die Konkurrenz immer mehr auf die Spitze zu treiben und auf der einen Seite die Produktion maßlos zu steigern, auf der anderen die Konsumtionsfähigkeit des Volkes zu vermindern. Und das sind wirtschaftliche Erscheinungen, deren Ursachen durch den Normalarbeitstag gar nicht berührt werden.
Das Beispiel Englands zeigt uns weiter, daß unter der Herrschaft des Normalarbeitstages auch in Zeiten normalen Geschäftsganges die »Reservearmee« der Arbeiter nicht vollständig vom Arbeitsmarkt »aufgesogen« wird. Man betrachte sich nur die englische Armenstatistik. Zwischen 1855 und 1879 betrugen in dem Vereinigten Königreich (England mit Irland und Schottland) die höchsten Gesamtzahlen der unterstützten Armen: 1 269 385 im Jahre 1863; 1 225 171 im Jahre 1869; 1 235 006 im Jahre 1870; 1 237 353 im Jahre 1871; und die niedersten Gesamtzahlen: 929 128 im Jahre 1876, 897 052 im Jahre 1877 und 90 9197 im Jahre 1878. Seitdem geht's wieder aufwärts.
Nahezu eine Million »überschüssiger« Bevölkerung, unter der sich Hunderttausende Arbeitsfähiger befinden, in den günstigsten Jahren! –
Wir glauben, diese skizzenhaften und auf Vollständigkeit keinen Anspruch machenden Darlegungen werden genügen, um das Unbegründete gewisser Erwartungen, die sich an den Normalarbeitstag knüpfen, zu klarem Bewußtsein zu bringen.
Der Normalarbeitstag ist eine auf dem Boden der heutigen Produktionsweise sich bewegende Forderung; er kann darum unmöglich Übel beseitigen, welche im Wesen dieser Produktionsweise begründet sind und folglich erst aufhören können, wenn diese beseitigt ist.
Aber der Normalarbeitstag ist eine wichtige Etappe auf dem Marsche der Arbeiterbewegung. Er emanzipiert den Arbeiter für einen Teil des Tages von der Lohnsklaverei, gibt ihm einen Rechtsboden, auf dem fußend er seinen Emanzipationskampf mit gesteigertem Nachdruck und wirksameren Waffen fortführen kann, er erzieht zum Klassenbewußtsein und verschärft den Klassenkampf und stachelt den Arbeiter, indem er ihn wenigstens für einige Stunden des Tages zum Menschen macht, unwiderstehlich dazu an, sich seine volle Freiheit zu erkämpfen, sich zum vollen Menschentum emporzuringen und das Joch der Lohnsklaverei zu zertrümmern.
V. (Nachwort)
Durch den in Nr. 45 des Parteiorgans schon behandelten Angriff des zu München erscheinenden »Recht auf Arbeit«[Anmerkung 83] hat sich ein kurzes persönliches Nachwort der unter dem Titel »Über den Normalarbeitstag« veröffentlichten Artikel notwendig gemacht.
Meine der Redaktion des »Recht auf Arbeit« eingesandte Erklärung finden die Leser des Parteiorgans an anderer Stelle (vgl. Nr. 46, Sozialpolitische Rundschau) abgedruckt.[Anmerkung 84]
Ursprünglich hatte ich die Absicht, in dem Parteiorgan noch eine ausführliche Antwort zu bringen, allein da die Redaktion bereits eingehend geantwortet hat und ich in meiner Broschüre mich ohnehin mit den gegen mich gerichteten Angriffen und Vorwürfen beschäftigen muß, so stehe ich ab und begnüge mich damit, die obige Erklärung in einigen Punkten zu ergänzen.
Nachdem ich im Artikel I die Bedeutung und außerordentlichen Vorteile des Normalarbeitstages skizziert hatte, wandte ich mich in meinem zweiten Artikel gegen eine bestimmte irrige Auffassung des Normalarbeitstages. Und zwar gegen die in der Schrift: »200 000 Vagabunden«[Anmerkung 85] wie folgt zum Ausdruck gelangte:
»Ein einfaches Rechenexempel beweist die Möglichkeit der vermehrten Arbeitsgelegenheit bei Einführung des Normalarbeitstages. Gesetzt ein Fabrikant beschäftigt hundert Arbeiter per Tag elf Stunden. Wollte er nun im Normalarbeitstage von zehn Stunden dieselbe Masse von Arbeit wie vorher zu elf Stunden liefern, so müßte er zehn Arbeiter mehr einstellen, das heißt, zehn ›Vagabunden‹ würden von der Landstraße in die Fabrik gezogen, sich in ›ordentliche‹ Arbeiter verwandeln.«
Diese Auffassung mit den ihr zugrunde liegenden und anhängenden Irrtümern habe ich bekämpft. Und ich frage den Verfasser der Notiz im »Recht auf Arbeit«, ob er die in jenem Passus ausgedrückte Auffassung für richtig hält oder nicht? Ja oder nein!
Ist sie richtig, ja nun, dann muß ich mich allerdings schuldig bekennen, und mit mir zugleich die ganze Sozialdemokratie, denn unsere gesamte Lehre und unser gesamtes Lehren war von A bis Z ein großer Irrtum, eine große Irrlehre. Oder ist's etwa möglich, zwischen den Hörnern des Dilemmas hindurchzuschlüpfen?
Kann es ernsthaft bestritten werden, daß, wenn der Normalarbeitstag die ihm in jenem Zitat zugeschriebene Eigenschaft besäße, die Lösung der sozialen Frage durch den Normalarbeitstag auf dem Boden der kapitalistischen Produktion gegeben wäre?
Wenn aber die in jenem Zitat enthaltene Auffassung falsch und die in meinen Artikeln zum Ausdruck gelangte sozialdemokratische Auffassung die richtige ist, dann hatte ich auch nicht bloß das Recht, sondern die Pflicht, solchen Irrtümern entgegenzutreten.
Glaubt man, die deutschen Arbeiter würden sich für den wirklichen Normalarbeitstag weniger eifrig ins Zeug legen als für ein Phantom von Normalarbeitstag? Das hieße ihnen ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Die englischen Arbeiter kämpften ein Menschenalter für die Zehnstundenbill, sie dachten nicht daran, daß durch dieselbe allen Unbeschäftigten Arbeit geschafft würde. Sie kämpften für den Normalarbeitstag, weil sie sich regenerieren, als Menschen und als Klasse sich retten wollten. Ich dächte, das wäre genug. Und ein tausendmal mächtigerer Stachel, als jenes Phantom ihn hat. Ein Kampf ums Sein.
Und wie dem sei – unsere Partei muß vor allem wahr sein. Wir dürfen die Massen nicht durch falsche Vorspiegelungen zu ködern suchen.
Bauern- und Arbeiterfängerei sind Kunststückchen, welche die Sozialdemokratie ihren Feinden überlassen muß.
Noblesse oblige. Wir sind stolz auf die Wahrheit, welche wir vertreten. Und in dem Vertreten der Wahrheit liegt unsere Stärke. Die Wahrheit aber ist nur eine: nur die volle, ganze, ungeteilte, unverwässerte Wahrheit ist Wahrheit.
Wodurch haben die deutschen Arbeiter zu dem Glauben Anlaß gegeben, sie könnten die Wahrheit nicht vertragen? Ich habe im Gegenteil gefunden, daß wir die Massen um so leichter gewinnen, je rückhaltloser wir die Wahrheit sagen und je klarer und schärfer wir unsere Anschauungen darlegen, je unverhüllter wir unsere Ziele hinstellen.
Daß ich praktischem Handeln nicht abgeneigt bin, habe ich bei hundert Gelegenheiten bewiesen. Aber zwischen praktischer und opportunistischer Politik ist ein himmelweiter Unterschied – der nämliche wie zwischen Klugheit und Pfiffigkeit. Die Klugheit siegt durch Benützung der Umstände. Die Pfiffigkeit überlistet in letzter Instanz stets sich selbst. Wir müssen praktisch sein, und ich denke, wir sind es. Vor dem Opportunismus wird der gesunde Sinn der Partei uns bewahren. Das Schicksal der opportunistischen Parteien in Frankreich und Deutschland ist ein Memento, das an uns nicht verloren sein soll.
Kurz – seien wir wahr, wie in allem, so auch in der Frage des Normalarbeitstages; und muten wir den deutschen Arbeitern kein Opfer des Intellekts, der deutschen Sozialdemokratie kein Opfer des Prinzips zu!
Borsdorf, 10. November 1885 W. Liebknecht
Anarchismus, Sozialdemokratie und revolutionäre Taktik
Diese Schrift, 1886 von Liebknecht »im Auftrag von Hamburger Arbeitern« verfaßt, wurde als Flugschrift in Hamburg und Umgebung verteilt. 1889 gab Liebknecht sie zusammen mit drei weiteren Flugschriften als Bd. 29 der »Sozialdemokratischen Bibliothek« heraus unter dem Titel »Trutz-Eisenstirn. Erzieherisches aus Puttkamerun, Ein vierblättriges Broschürenkleeblatt nebst einem Anhang von Vetter Niemand, London 1889«. Diese Ausgabe, die sich in der Bibliothek des Museums für Geschichte der Stadt Leipzig und der Leipziger Arbeiterbewegung befindet, liegt unserer Wiedergabe zugrunde.
Ein Wort an Freund und Feind
Deutschland im Wonnemonat des achten Jahres der Sozialistengesetzschande
Die Vertreter und Organe der Regierung werden nicht müde, die Sozialdemokratie als eine anarchistische Umsturzpartei hinzustellen und für alles, was in anderen Ländern durch sogenannte Anarchisten geschieht, solidarisch haftbar zu machen. In Deutschland selbst finden die Herren kein Wasser auf ihre Reaktionsmühle, weil dank der trefflichen Organisation unserer Partei und der Zielbewußtheit der Genossen die deutsche Arbeiterbewegung in musterhafter Ruhe sich vollzieht und mehr und mehr sich die Sympathien aller Volksklassen mit alleiniger Ausnahme derer erobert, die ein persönliches Interesse an der Fortdauer der herrschenden Mißstände in Staat und Gesellschaft haben.
Unsere Vertreter haben es im Reichstag gesagt: bloß der Sozialdemokratie verdanken wir es, daß der Anarchismus durch das Sozialistengesetz nicht großgezogen worden ist. Und das ist die unbestreitbarste Wahrheit. Der deutschen Polizei und dem deutschen Polizeiminister von Puttkamer verdanken wir es sicherlich nicht. Herr von Puttkamer hat sogar verraten, daß es ihm sehr lieb wäre, wenn der Anarchismus in Deutschland wucherte. Sagte er doch einst offen im Reichstage, die Anarchisten à la Most seien ihm lieber als die deutschen Sozialdemokraten, denn jene trügen doch wenigstens keine Maske, und die Sozialdemokraten seien nur verkappte Anarchisten. Herr von Puttkamer hat mit diesem denkwürdigen Ausspruch zweierlei kundgetan:
Erstens, daß er vom Wesen des Anarchismus sowohl als der Sozialdemokratie nicht die leiseste Ahnung hat; zweitens, daß er die friedliche Umgestaltung und Erneuerung des Staats und der Gesellschaft nicht will.
Wir wollen ihm beweisen, daß er nicht weiß, was Sozialdemokratie und Anarchie ist.
Also Anarchie und Sozialdemokratie soll im wesentlichen dasselbe sein und zwischen beiden nur ein Gradunterschied obwalten. Betrachten wir die zwei Wörter ihrem Ursprung und Inhalt nach. Beide sind fremder Abstammung – das eine (Anarchie) griechischen, das andere (Sozialdemokratie) gemischten, halb lateinischen, halb griechischen Ursprungs. Anarchie heißt: Abwesenheit einer Herrschaft, Abwesenheit einer Leitung und hat im modernen Sprachgebrauch die Bedeutung gewonnen: Abwesenheit des Staats, Negation des Staats oder im schärfsten Ausdruck: Vernichtung des Staats. Wie in der vorletzten Reichstagssession anläßlich der Belagerungszustandsdebatte[Anmerkung 86] dem Polizeiminister Puttkamer vom Abgeordneten Liebknecht unter die Nase gerieben wurde – jedoch ohne belehrenden Erfolg, da jener Herr der Belehrung nicht zugänglich ist –, haben nur drei Richtungen oder Gruppen den Namen Anarchisten sich selbst beigelegt und mit Recht geführt:
Die extremen Bourgeois und Freihändler, welche die Gesellschaft in ihre Atome auflösen, den Staat abschaffen und alles dem »freien Spiel der Kräfte«, der gegenseitigen Anziehung oder Abstoßung der Atome oder Individuen, überlassen wollen. Herr Faucher – heute eine verschollene Größe, bis Anfang der sechziger Jahre aber viel genannt –, einer der deutschen Hauptwortführer dieser Richtung, erklärte die Anarchie für das Ideal der freihändlerischen Bourgeoisie.[Anmerkung 87]
Ungefähr gleichzeitig wurde die Fahne der Anarchie von dem kleinbürgerlichen Sozialpolitiker Proudhon in Frankreich entfaltet.[Anmerkung 88] Ein in den Karbonari-Mantel des Revolutionärs gehüllter Philister, predigte Proudhon – übrigens ein genialer Querkopf – die »absolute Freiheit«, die absolute Vernichtung jeglicher Herrschaft, die absolute Staatlosigkeit.
Und auf diese Proudhonsche Anarchie propfte dann schließlich noch als dritter Evangelist und Konfusionist der Anarchie der Russe Bakunin seine politisch-soziale Weisheit, die zwar von revolutionären Phrasen ordentlich triefte, in Wirklichkeit aber ebenso unrevolutionär und unsozialistisch war wie die Proudhonsche Urweisheit.[Anmerkung 89] Daß die Fauchersche Bourgeoisanarchie nichts Sozialistisches oder Sozialdemokratisches an sich hat, wird Herr Puttkamer wohl von selbst zu kapieren imstande sein. Daß die Proudhonsche und Bakuninsche Spielart ebensowenig mit Sozialismus und Sozialdemokratie zu tun hat, wird Herr Puttkamer vielleicht kapieren, wenn er die vor 1848 erschienene, seit kurzem ins Deutsche übersetzte Streitschrift von Marx: »La Misère de la Philosophie, Réponse à la Philosophie de la Misère« – »Das Elend der Philosophie, Antwort auf die Philosophie des Elends« von Herrn Proudhon, durchstudiert; und ferner die authentische, von Marx und Engels verfaßte Denkschrift über »die angeblichen Spaltungen in der Internationale« sowie die Broschüre von Engels: »Die Bakunisten an der Arbeit.«
Nimmt Herr Puttkamer sich die Mühe, diese drei Schriften zu lesen – die wir auch jedem unserer Leser aufs wärmste empfehlen –, so wird es ihm wenigstens etwas schwerer fallen, das alberne Polizeimärchen von der Identität im Wesen der Anarchie und Sozialdemokratie dem Reichstage noch fürderhin aufzutischen.
Wir sahen soeben, was Anarchie ist.
Betrachten wir nun für einen Augenblick das Wort und den Begriff Sozialdemokratie. Es bedeutet seinem Ursprung und Inhalt nach: die Volksherrschaft im sozialistischen Staat – oder den sozialistischen Staat mit Volksherrschaft: den sozialistischen Volksstaat.
Es ist wahr, innerhalb unserer Partei ist die Ansicht zum Ausdruck gelangt, mit dem ganzen Begriff des Staats und der Herrschaft müsse gebrochen werden[Anmerkung 90] und es sei viel richtiger, von einer sozialistisch organisierten Gesellschaft zu sprechen, die wir, unter voller Gewährleistung der Freiheit des Individuums, erstrebten. Allein bei Lichte besehen ist der Streit doch nur ein Wortstreit. Ob man die sozialistisch organisierte Gesellschaft »Staat« nennen will oder nicht, ist sehr gleichgültig, und wenn bei uns von Volksherrschaft die Rede ist, wird niemals an Herrschaft in dem Sinne der Unterdrückung oder Ausbeutung gedacht, nicht an Herrschaft einiger, die als notwendige Ergänzung die Knechtschaft anderer haben muß, sondern im Sinne der Regierung durch das Volk – wobei allerdings zugegeben werden muß, daß das Wort »Volk« ein sehr dehnbarer Begriff ist, so daß seinerzeit zum Beispiel Fürst Bismarck im Reichstag von sich sagen konnte: »Auch ich bin Volk.«
Wie dem nun sein möge, das steht fest: Die Sozialdemokratie – und in bezug auf diesen Punkt herrscht die vollständigste Einstimmigkeit – erstrebt eine nationale und internationale Regelung der gesamten Produktion – eine Regelung, die ohne Zentralisation, ohne zentrale Verwaltung für die einzelnen Produktionszweige sowohl als für die Gesamtheit aller einfach nicht denkbar ist.
Und diese Zentralisation, diese einheitliche Regelung der Produktion – und wohlgemerkt: eine Regelung, die sich der Natur der Sache nach nicht auf ein einzelnes Land beschränken kann, sondern sich auf die wirtschaftlichen Gesamtverhältnisse der Welt erstrecken muß, also in der vollsten Bedeutung des Wortes sozialistische Weltwirtschaft sein wird – ist das diametrale Gegenteil dessen, was die Anarchisten aller drei Gattungen erstreben, denn alle drei Gattungen haben das miteinander gemein, daß sie das sozialdemokratische Grundprinzip der planmäßigen, zentralisierten Organisation auf das schroffste verwerfen.
»Aber Most und sein Anhang! Das sind doch Anarchisten, die im wesentlichen dasselbe Ziel verfolgen wie die Sozialdemokratie!« hören wir die »Norddeutsche Allgemeine« uns zupindtern.
»Most und sein Anhang!« Wo ist denn Most und sein Anhang? Wenn wir von den Reden des Herrn von Puttkamer absehen, der seit Jahren mit unermüdlichem, einer besseren Sache würdigen Eifer für Most und seinen Anhang offizielle Reklame macht, weil er Most und seinen Anhang als Popanz braucht, haben wir in Deutschland von Most und seinem Anhang bis dato nichts verspürt, außer dann und wann eine bald ohne, bald mit polizeilicher Erlaubnis eingeschmuggelte Sendung von Schriften, in denen auf jede Beschimpfung des herrschenden Systems hundert Beschimpfungen der deutschen Sozialdemokratie kommen und die zum Teil von notorischen Agenten der deutschen Polizei – wir erinnern an den »einäugigen Wolff« – verfaßt sind.[Anmerkung 91]
Was die Ziele des Herrn Most betrifft, so sind sie uns ebenso unbekannt wie ihm selber. Trotz der dringendsten Aufforderung hat er sich noch nicht entschlossen, auch nur den Schatten eines Programms zu entwerfen. Und er wird es auch niemals tun, aus dem einfachen Grunde, weil er keines hat.
Herr Most, dessen schwächlicher Körper und wenig kräftiger Geist die Probe des Sozialistengesetzes nicht zu bestehen vermochten, ist das Opfer des Sozialistengesetzes geworden. Ohne die schändlichen Verfolgungen, die seine körperliche und geistige Gesundheit untergruben, und ohne die Ächtung durch das infame Sozialistengesetz hätte er es vielleicht bei gereifterem Denken zu einem passablen Journalisten gebracht. Dank diesen schmachvollen Verfolgungen, dank diesem schmachvollen Proskriptionsgesetz ist er das geworden, was er ist – eine lebendige Anklage gegen die Puttkamer und Genossen; die für ihn verantwortlich sind und an deren Rockschößen er hängt. Daß dieser Unglückliche bei seinem überreizten Hirn in seiner ohnmächtigen Wut die tollsten Drohungen ausstößt und seine Ohnmacht durch blutrünstige Kraftphrasen zu verdecken sucht, ist psychologisch so natürlich, daß nur bodenlose Dummheit oder bewußte Unehrlichkeit in diesem Gepolter Berechnung oder gar ein politisches System erblicken können. Und der Anhang Mosts! Wo ist er denn? In Deutschland nicht, in der Schweiz nicht, in England nicht – sonst hätte Most das Feld dort behauptet. Und in Amerika ist er nach ephemeren kurzlebigen Schwindel- und Schwadroniererfolgen völlig isoliert und hat nicht den geringsten Einfluß auf die große Arbeiterbewegung.
Ohne den direkten und indirekten Vorschub, welchen die deutsche Polizei, insbesondere Herr von Puttkamer, dem Herrn Most geleistet hat, wäre dieser längst von der politischen Bildfläche verschwunden.
Einige Anhänger hat Most freilich – und wir kennen sie ziemlich genau; allein gerade weil wir sie ziemlich genau kennen, wissen wir auch, daß einem großen Teil dieser Anhänger Beziehungen zur deutschen Polizei nachzuweisen sind. Man lese nur die amtliche Denkschrift über das Anarchistentreiben in der Schweiz.
»Aber die Ermordung Rumpfs, der Prozeß Reinsdorf, die Ermordung Eiserts usw.[Anmerkung 92] – das sind doch Tatsachen, die Sie nicht ableugnen können und die auf eine weitverzweigte Organisation schließen lassen« – hören wir aus dem Munde eines Reptils ertönen.
Gemach! Nur nicht Verschiedenartiges durcheinandergemengt! Die Ermordung Rumpfs erklärt sich zur Genüge aus dessen Wirken und Vergangenheit. Dazu bedurfte es keiner Verschwörung oder sonstigen politischen Organisation. Und wenn Most hinternach Lieske, den – obendrein sehr zweifelhaften – Mörder Rumpfs, als den Seinigen beansprucht, die Tat gewissermaßen als sein eigenes Werk hingestellt hat, so war dies nur eine kindliche Renommage, von ihm verübt, um dem ob seiner Tatenlosigkeit immer mehr ihn bedrohenden Fluch des Lächerlichen zu entgehen.
Von Reinsdorf, der bis zum Niederwalddenkmal[Anmerkung 93] stets in polizeilicher Begleitung marschierte und nicht einen Moment, seit er den politischen Schauplatz betrat, diese polizeiliche Begleitung abschütteln konnte, haben wir hier nicht im Ernste zu reden. Sein Prozeß hat zweierlei zur klarsten Evidenz gebracht: daß die Polizei ein Attentat nötig hatte und daß Leute vom Schlag eines Reinsdorf keine Partei hinter sich haben und innerhalb des deutschen Proletariats vollkommen vereinsamt sind.
Und nun die Raubmorde!
Sie sind der beste Beweis, daß hinter den Männern, von denen sie gepredigt wurden, das Proletariat nicht steht. Das Proletariat ist revolutionär, aber es verabscheut den Meuchelmord, den Raubmord. Wer den Kardinalunterschied zwischen Krieg und Mord, zwischen Klassenkampf und Privatverbrechen nicht begreift, hat überhaupt von der revolutionären Arbeiterbewegung keinen Begriff. Bei jeder Revolution – 1789, 1830, 1848 in Frankreich, während der Märztage in Deutschland –, kurz, überall und zu allen Zeiten hat das revolutionäre Volk durch schärfstes Vorgehen gegen Räuber und Spitzbuben sich vor der Verwechslung mit gemeinen Verbrechern zu bewahren gesucht. Auf diesen Moment hat Liebknecht in seiner neun Jahre vor dem Sozialistengesetz erschienenen Broschüre »Zu Trutz und Schutz« aufmerksam gemacht, und im »Sozialdemokrat« ist es Dutzende von Malen gebührend hervorgehoben worden.
Verbrecher, wie die Mörder der Eisertschen Kinder und anderer unschuldigen und wehrlosen Menschen, gehören zu keiner politischen Partei. Eine Organisation, welche sie zu Mitgliedern zählte und mit Kenntnis ihres Charakters als Mitglieder duldete, wäre keine politische Organisation, sondern eine Räuber- und Mörderbande.
Und so denkt nicht bloß die Arbeiterschaft Deutschlands – so denkt das arbeitende Volk aller Länder; und es ist eine niederträchtige Verleumdung des Proletariats und seiner heiligen Sache, es der Gemeinschaft mit derartigen Verbrechern zu zeihen.
Damit soll indes keineswegs gesagt sein, daß jedes Verbrechen gegen die Person mit Notwendigkeit ein gemeinsames Verbrechen sein müsse. Betrachtet doch sogar das Strafgesetzbuch zum Beispiel das Duell nicht als ein gemeines Verbrechen.
Genug – wir haben gesehen, daß die Anarchie oder der Anarchismus in keiner Form irgend etwas mit der Sozialdemokratie zu tun hat. Und wir haben uns jetzt bloß noch in wenigen Worten mit einer ganz willkürlichen und unrichtigen Anwendung des Wortes zu beschäftigen. Anarchist soll ein Sozialdemokrat sein, der in der Gewalt das einzige Mittel der Rettung erblickt.
Wer unsere – ganz unanfechtbare – Definition der Worte Sozialdemokratie und Anarchie gelesen hat, weiß, daß es eine contradictio in adjecto, ein Widerspruch zwischen Haupt- und Eigenschaftswort, ein reiner Unsinn ist, von einem anarchistischen Sozialdemokraten zu reden. Ein Sozialdemokrat kann kein Anarchist, ein Anarchist kein Sozialdemokrat sein.
Die Unrichtigkeit und Sinnlosigkeit des Ausdrucks beiseite gelassen, müssen wir jedoch zugeben, daß es wirklich Sozialdemokraten gibt, welche den sogenannten »gesetzlichen Weg« für verkehrt halten und von der Gewalt das Heil erwarten.
Es bringt uns dies naturgemäß zur Frage der Taktik, welche wir nachstehend in sachlicher Ruhe und mit rückhaltloser Offenheit behandeln wollen, wobei wir selbstverständlich, um den Kern der Sache nicht zu verfehlen, in das Wesen unserer Partei eingehen müssen.
Die Sozialdemokratie ist eine politische Partei, welche, gleich allen übrigen Parteien, mit den realen Verhältnissen zu rechnen hat.
Wir wollen unseren Grundsätzen den Sieg verschaffen. Diesem Zweck haben wir alles andere unterzuordnen.
Ist der Sieg unserer Sache aber eine Frage des Willens, der frommen Wünsche, oder ist er eine Machtfrage?
Es hat sonderbare Käuze gegeben, die da meinten, wenn man die Revolution nur wolle, ernst, energisch, mit konzentrierter Willenskraft wolle, dann werde die Revolution sein.
Was für den religiösen Aberglauben Gott, das ist für diesen politischen Aberglauben der Wille.
»Gott hat die Welt aus dem Nichts geschaffen. Der Wille kann die Revolution aus dem Nichts schaffen.«
Die politische Wunderschöpfung hat vor der Polizei geradeso schlecht bestanden wie die religiöse Wunderschöpfung vor der Wissenschaft.
Man weiß, welch lächerliches Ende die »Revolution« genommen hat, welche ein paar hitzköpfige italienische Anarchisten (Bakunisten) in den siebziger Jahren mit ihrem »revolutionären« Willen und einigen im entscheidenden Momente nicht losgehenden Flinten versuchten.[Anmerkung 94]
Die »Revolution«, welche auf dem Genter Kongreß 1875 von den spanischen »Anarchisten« (Bakunisten) versprochen wurde, ist trotz des revolutionären »Willens« und den relativ günstigen Umständen ausgeblieben.
Und wo ist die Revolution, welche Hans Most seit sieben Jahren »will«?
Der »Wille« tut's halt nicht.
Die Verhältnisse müssen geeignet, die notwendigen Machtfaktoren vorhanden sein.
Womit nicht gesagt sein soll, daß der individuelle »Wille« für die revolutionären Berechnungen wertlos sei. Keineswegs. Er ist unzweifelhaft ein sehr wesentlicher Machtfaktor. Wenn man eine Armee von willenlosen Schwachköpfen in die denkbar günstigste Situation versetzt, wird sie nichts ausrichten, während eine kleine Zahl energischer Männer den Sieg an ihre Fahne heftet.
Individuum und Verhältnisse stehen im Wechselverhältnis zueinander. Wie der Mensch das Produkt der Verhältnisse, so die Verhältnisse das Produkt des Menschen. Je kräftiger die Individualität, desto größeren Einfluß wird sie auf die Gestaltung der Verhältnisse haben und umgekehrt.
Ein Pescheräh,[Anmerkung 95] den wir in die englischen Kulturverhältnisse bringen, wird durch sie nicht plötzlich – von der Rasse abgesehen – zu einem Engländer gemacht werden. Und ebensowenig wird ein Engländer – ausgerüstet mit allen Vorteilen der englischen Kultur –, wenn in die Verhältnisse der Pescherähs gebracht, sie durch seinen »Willen« auf die Höhe der englischen Kulturverhältnisse erheben können. Das eine wie das andere erheischt längere Zeit.
Es gibt freilich eine sozialistische Anschauung, welche, von der ganz richtigen Ansicht ausgehend, daß die Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Dinge sich nach bestimmten, durch kein Individuum zu durchbrechenden Gesetzen vollzieht, zu dem Trugschlusse springt: Das Individuum könne die Hände in den Schoß legen; auf das Individuum komme es nicht an; das, was nach den Naturgesetzen notwendig sei, werde geschehen, ob das Individuum wünsche, wolle, handle oder ob es untätig, gleichgültig zuschaue.
Diese den Mantel der Wissenschaft beanspruchende Anschauung läuft auf den Schicksalsglauben des Altertums, auf den Fatalismus der Türken und die Prädestinationslehre des Kalvinismus hinaus.
Wahr ist, daß die Naturgesetze durch den Willen des Menschen nicht abgeändert werden können und daß dies von denjenigen Gesetzen, welche die menschlichen Dinge regieren, genau ebenso gilt wie von denen, welche die Körperwelt beherrschen.
Unter den tüchtigen und edlen Cäsaren ging der Verfall des Römerreichs nicht minder stetig und schnell vor sich wie unter den unfähigen und schlechten.
Und haben wir es doch erlebt, daß nach der politischen Niederlage des deutschen Bürgertums im Jahre 1848 das Bürgertum unter der Regierung seiner Gegner tatsächlich zur Herrschaft kam, das heißt sich zur herrschenden Klasse entwickelte und dem Staat und der Gesellschaft seinen Stempel aufdrückte! Nur scheinbar, nur in der äußeren Form kann den Naturgesetzen zuwidergehandelt, kann ihre Wirksamkeit vorübergehend aufgehoben werden.
Fürst Bismarck, der Feind der großen Städte, kann zum Beispiel – ein zweiter Nero – Berlin zerstören, aber wenn er sich auf den Kopf stellt, kann er nicht verhindern, daß die modernen Arbeitsverhältnisse die Menschen und Produktionsmittel immer mehr konzentrieren.
Dieser Konzentrationsprozeß wird erst dann aufhören oder modifiziert werden, wenn die unleugbaren Nachteile, welche die Zusammenhäufung von riesigen Menschenmassen mit sich führt, durch eine vollkommenere Produktionsmethode, durch Verbesserung der Verkehrsmittel und überhaupt durch eine weiter fortgeschrittene Kultur beseitigt werden können, ohne daß wir auf die außerordentlichen Vorteile der Menschenkonzentrierung zu verzichten haben.
An einem solchen Wendepunkt sind wir, falls nicht alles trügt, jetzt bereits angelangt. Der gemeinschädliche Gegensatz zwischen Stadt und Land, welcher die menschliche Kulturgeschichte durchzieht, wird sich unter dem Druck des Bedürfnisses in eine höhere Einheit auflösen, und ermöglicht durch die Vervollkommnung der Verkehrsmittel, wird die Harmonie zwischen Stadt und Land sich dergestalt herstellen, daß die Stadt Land, das Land Stadt wird und die Vorteile der Stadt dem Land, die des Landes der Stadt zuteil werden, ohne daß diese und jenes ihrer ursprünglichen Vorteile verlustig gehen.
Dann wird das Ideal, zu dessen Verwirklichung der reaktionäre Wille des Fürsten Bismarck nicht ausreichte, durch die Revolution der ökonomischen Verhältnisse sich revolutionär verwirklichen.
Kann nun so auch das Individuum nicht gewalttätig in die ehernen Naturgesetze eingreifen, so kann es doch, im Einklang mit ihnen handelnd, den Entwicklungsprozeß wesentlich fördern, indem es einerseits positiv die Tätigkeit der organischen Funktionen anfeuert und vermehrt, anderseits Störungen verhütet und abhält.
Dem Staats- und Gesellschaftsorganismus stehen wir hier genauso gegenüber wie dem Organismus unseres Körpers.
Wer in Unkenntnis der physiologischen Naturgesetze gewaltsam in die Funktionen des menschlichen Körperorganismus eingreift, bewirkt dadurch keine organische Umgestaltung, sondern nur eine Störung, die zu Krankheit und, auf die Spitze getrieben, zum Tod führen muß.
Wer aber in richtiger Erkenntnis der physiologischen Naturgesetze den Körper diesen Gesetzen entsprechend pflegt und in die ihm entsprechenden Existenzbedingungen bringt, alle störenden Einflüsse sorgfältig fernhält, der befördert das Wachstum des Körpers und sichert ihm die Gesundheit.
Ganz so mit dem Staats- und Gesellschaftsorganismus. Nur mit dem einzigen Unterschied, daß letzterer nicht so leicht zu zerstören, allerdings auch nicht so leicht von schädlichen Einflüssen zu befreien ist wie ein Menschenkörper.
Kurz, die Einwirkung des Individuums auf den Staats- und Gesellschaftsorganismus ist vorhanden – würde doch ohne sie der Staats- und Gesellschaftsorganismus gar nicht existieren!–, und mit der Fähigkeit ist zugleich die Pflicht gegeben, in einer dem Organismus heilsamen Weise einzuwirken.
Wer indifferent in Untätigkeit verharrt, sei es aus Resignation, weil das Individuum am Gange der Dinge ja doch nichts ändern könne, sei es in dem einst modischen Schulglauben, daß jeder Versuch der Einwirkung von Übel sei, und absolutes Gehenlassen (laisser faire, laisser aller) das allein Richtige sei, der handelt, um bei dem Vergleich des Staats- und Gesellschaftsorganismus mit dem menschlichen Körper zu bleiben, um kein Haar breit vernünftiger als jemand, der seinen Körper nicht kleiden, nicht waschen wollte, mit einem Wort, ihn in viehischem »Naturzustand« verkommen ließe.
Nicht gewaltsames Eingreifen in die Wirkung der Naturgesetze!
Nicht passives Nichtstun!
Verständnisvolles Fördern des Entwicklungsprozesses in Staat und Gesellschaft!
Das ist es, was not tut.
Und damit haben wir die drei Systeme und Parteien gezeichnet, welche jetzt die politische Bühne einnehmen.
Das gewaltsam eingreifende Regiment eines Bismarck, der den Staats- und Gesellschaftsorganismus nicht als lebenden Körper, sondern als toten Kadaver betrachtet, an dem er die tollsten und schülerhaftesten Experimente – experimenta in corpore vili [Experimente am lebendigen Körper] – macht, planlos, heute von diesem, morgen von jenem immer gleich unwissenschaftlichen Gesichtspunkt ausgehend, stets nur der Laune, dem Nutzen des Augenblicks folgend, nicht an das Beste des Staats und der Gesellschaft denkend, nur an sich selbst, an die eigenen Sonderinteressen.
Das passive Nichtstun der Manchesterpartei, welche den Staat als einen sozialistischen und freiheitsfeindlichen Begriff negiert und abschaffen will, welche in der Gesellschaft nicht einen untrennbar zusammengehörigen, durch das Band der Solidarität verketteten Organismus, sondern ein zufälliges Aggregat von Atomen erblickt, die, jedes für sich und im Kampf mit den anderen, um die Existenz ringen: kurz, der in der Tier- und Pflanzenwelt wütende Kampf ums Dasein zum Grundgesetz der menschlichen Gesellschaft gemacht.
Und diesen beiden Richtungen: dem experimentierenden, gewalttätigen Despotismus auf der einen und dem barbarischen Egoismus des Individuums auf der anderen Seite, steht gegenüber das dritte System, die dritte Partei, der demokratische Sozialismus, welcher die Naturgesetze und die Rechte der Individuen achtet, die Solidarität der in der Gesellschaft vereinigten Menschen anerkennt und die höchste Entfaltung der menschlichen Gesellschaft und der Individuen in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft als obersten Staats- und Gesellschaftszweck erkennt.
Die Bedeutung der sozialdemokratischen Partei beruht darin, daß sie die organischen Entwicklungsgesetze des Staats und der Gesellschaft zum Ausgang nimmt und, unter Berücksichtigung der realen Verhältnisse, ein mit jenen Gesetzen im Einklang stehendes Ziel erstrebt und die Mängel dieser Verhältnisse durch konsequente und planvolle Förderung der günstigen und Abwehr und Fernhaltung der verderblichen Einflüsse zu beseitigen sucht.
Ohne die Erkenntnis der organischen Entwicklungsgesetze und ohne die Berücksichtigung der realen Verhältnisse würde die Sozialdemokratie zur impotent-sentimentalen Philanthropie herabsinken.
Nicht, daß wir das Wohl aller Menschen erstreben, macht uns zu Sozialdemokraten. Dieses Bestreben ist so alt wie das mitfühlende Menschenherz; wir haben es mit unzähligen mehr oder weniger werktätigen Menschen gemein, deren Anstrengungen zur Milderung oder gar Beseitigung des menschlichen Elends sich aber, weil nicht von der Erkenntnis der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze durchdrungen, ganz ohnmächtig erwiesen haben und erweisen.
Was uns zu Sozialdemokraten macht, ist, daß wir das Elend und Unrecht auf Erden in ihrer organischen Entstehung begreifen; daß wir diese gesellschaftlichen Entwicklungskrankheiten – denn das sind sie – durch naturgemäße Förderung des Entwicklungsprozesses heilen wollen und daß wir das Ziel allgemeinen menschlichen Wohlbefindens statt in die Luft und in den Himmel der Phantasie auf den Boden der realen, wirtschaftlichen Verhältnisse stellen.
Auf diesem Boden müssen wir aber auch verharren, wollen wir anders nicht alle Vorteile unserer Parteistellung aufgeben. Der Boden der realen Verhältnisse ist das Kampffeld, auf dem wir unbesiegbar, des Sieges gewiß sind. Diesem Boden entrückt, stehen wir in der Luft, sind Utopisten oder Sektierer.
Die Benützung und Ausnützung der realen Verhältnisse, das ist die Taktik der Partei. Und da nun die gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse in den verschiedenen Ländern verschieden sind, so folgt, daß die Taktik derer, welche eine sozialistische Umgestaltung des Staats und der Gesellschaft erstreben, in den verschiedenen Ländern eine verschiedene sein muß.
Es ist deshalb durchaus unberechtigt, die Taktik, welche für ein Land gut ist, einem anderen oder gar allen Ländern als einzig richtige aufzwingen zu wollen.
Das geschieht leider sehr häufig, und dadurch ist Verwirrung in manche Köpfe gebracht worden. Dem im Denken nicht Geübten passiert es nur zu leicht, daß er das Unwesentliche mit dem Wesentlichen verwechselt, zwischen Zweck und Mittel nicht scharf unterscheidet und sich durch Worte und Phrasen bestechen und blenden läßt.
Was ist das Wesentliche für uns, für jeden Sozialdemokraten, gleichviel welcher Nation? Was ist der Zweck der sozialdemokratischen Bewegung?
Das ist die erste Frage.
Und die Antwort?
Die Abschaffung des gesellschaftlichen und des staatlichen Monopols, die Gleichberechtigung aller Menschen, die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums bei möglichster Steigerung desselben. Die Verpflichtung des Staats und der Gesellschaft, jedem einzelnen Individuum den erreichbar höchsten Anteil an den Errungenschaften der Kultur zukommen zu lassen.
Das – von Einzelheiten abgesehen – wird dem Sinne nach die Antwort sein in Deutschland, Frankreich, England, Amerika – in allen Ländern der Erde, wo es Sozialdemokraten gibt. In bezug hierauf herrscht völlige Einstimmigkeit, Einstimmigkeit in bezug auf das Wesen, Einstimmigkeit in bezug auf das Ziel unserer Bewegung und Einstimmigkeit in bezug auf ihren revolutionären Charakter.
Ja, wir sind eine revolutionäre Partei. Das haben wir niemals geleugnet und werden wir niemals leugnen. Ein Narr, wer sich vor dem Worte Revolution fürchtet. Eine jämmerliche Philister- oder Polizeiseele, die bei dem Wort an das Strafgesetzbuch denkt.
Was heißt Revolution?
Umwälzung, genau nach Ursprung und Inhalt in der Bedeutung des deutschen Worts. Umdrehung um eine Achse, Umwälzung. Auf das politisch-soziale Gebiet übertragen heißt Revolution die Verdrängung eines Staats-, Regierungs-, Gesellschafts-, Wirtschaftssystems durch ein anderes, höheres, weiterentwickeltes Staats-, Regierungs-, Gesellschafts-, Wirtschaftssystem.
Zweierlei ist wesentlich zum Begriff der Revolution:
1. daß die Umwälzung eine umfassende, grundstürzende ist – daß alles Alte, Überlebte abgestoßen, das Unkraut mit der Wurzel ausgerissen wird;
2. daß ein höherer, besserer Zustand an die Stelle des beseitigten kommt.
Beides muß festgehalten werden.
Wenn die englische Regierung an den irischen Eigentumsverhältnissen herumpfuscht und die wirtschaftliche Stellung der Pächter verändert, ohne das irische und englische Landmonopol abzuschaffen, so ist das keine Revolution. Denn es fehlt das fundamental und organisatorisch Umgestaltende, welches zum Begriff der Revolution gehört.
Und wenn Fürst Bismarck einen König und verschiedene andere Fürsten zum Teufel jagt,[Anmerkung 96] das Götzenbild des legitimen Gottesgnadentums mit Kanonen zerschießt und die deutsche Bundesverfassung gewaltsam zerstört, so ist das wohl ein Umsturz, aber es ist keine Revolution – denn es fehlt das Moment der organischen Weiter- und Höherentwicklung, welches zum Begriff der Revolution gehört.
Damit soll – im Vorbeigehen bemerkt – nicht gesagt sein, daß Deutschland seit dem Jahre 1866 nicht fortgeschritten sei. Es ist fortgeschritten – es hat kolossale Fortschritte gemacht; aber Fürst Bismarck ist an denselben unschuldig, sie fanden statt gegen seinen Willen, waren von ihm nicht vorausgesehen. Die Verhältnisse sind eben stärker als Fürst Bismarck, der die Reaktion will und der Revolution dienen muß,
»ein Teil der Kraft,
die stets das Böse will und stets das Gute schafft.«
Die Französische Revolution, die Revolution par excellence, sie war in der Tat eine Revolution. Sie fegte die letzten Reste des mittelalterlichen Feudalismus weg und schuf die Grundlagen der modernen bürgerlichen Gesellschaft.
Teils vor, teils gleichzeitig mit der Französischen Revolution vollzog sich – weniger geräuschvoll, weniger dramatisch, eine andere, noch gründlichere, noch – der Ausdruck sei uns gestattet – noch revolutionärere Revolution: die Einführung der Maschinenarbeit, welche die Arbeitsverhältnisse und damit die Basis des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens von Grund aus umgestaltete und dadurch eine in alle Lebensbeziehungen tief eingreifende Umwälzung bewirkte, die, weit gründlicher und umfassender als die sozialpolitische Umwälzung, genannt Französische Revolution, dieser ihre notwendige Ergänzung und Stütze gab.
Diese zwei, organisch zusammengehörenden, den gleichen Triebfedern entsprungenen und nur sich verschieden äußernden Umwälzungen sind wohl die bedeutungsvollsten Revolutionen, welche die Geschichte kennt. Sie haben gründlich umgestürzt und aufgeräumt und die Menschheit mit einem gewaltigen Ruck vorangebracht.
Nun steht zwar die Menschheit nie still und ist fortwährend im Wachsen, fortwährend wird das Alte abgestoßen und Neues angesetzt, und man hat darum gesagt: Die Menschengeschichte ist die Revolution in Permanenz. Allein in diesem weiteren Sinne, dessen Berechtigung wir ausdrücklich anerkennen, wird das Wort nicht von denen gebraucht, welche es der Reform entgegenstellen. Und mit diesen haben wir es hier zu tun. Ihnen zufolge – und ihre Berechtigung, dem Wort diesen Sinn zu verleihen, kann nicht bestritten werden –, ihnen zufolge gehört auch die Eigenschaft des Schnellwirkenden, mit elementarer Gewalt sich Bahnbrechenden zum Begriff der Revolution.
Wir akzeptieren das und weisen demgemäß von vornherein die Auslegung zurück, unsere Partei, die Sozialdemokratie, sei nur insofern eine revolutionäre Partei, als sie mit Bewußtsein einen Zustand erstrebe, der sich, den übrigen Parteien unbewußt, von selbst, durch die unaufhaltsame organische Revolution der Staats- und Gesellschaftsverhältnisse vollziehe.
Wäre dem so, dann wäre die Sozialdemokratie allerdings bloß ein etwas mitgliedreicher Klub (mit Zweigklubs) von gemütlichen Theoretikern, die, ohne sich um den Archimedischen Hebelpunkt abquälen zu müssen, quietistisch dem historischen Entwicklungsprozeß zuschauen und seelenvergnügt mit ansehen, wie die unverständige Masse der Feinde und Unverständigen – arglos wie die Ochsen, die zur Schlachtbank hintrotten – der Revolutionsmühle zueilen, die sie mit der Sicherheit des Fatums erfaßt und entweder zermalmt oder als andere Menschen, verjüngt, umgestaltet wieder ausmahlt.
Nein – die Sozialdemokratie will die Dinge nicht sich von selbst machen lassen, will nicht die theoretische Zuschauerrolle spielen: Sie will handeln, sie will den natürlichen Revolutionsprozeß durch persönliches kräftiges Eingreifen beschleunigen und regulieren. Sie ist keine harmlose Gelehrtenrepublik, kein wissenschaftlicher Verein, kein Debattierklub – sie ist eine politische Partei, eine revolutionäre Partei, eine Partei der revolutionären Aktion.
»Aha«, ruft uns hier ein beliebiger Puttkamer zu, »dann seid ihr also doch für den gewaltsamen Weg, für den unmittelbaren Kampf, für Putsche und Attentate.«
Mitnichten!
Wer sagt denn, daß der Begriff des gewaltsamen Losschlagens mit bewaffneter Hand, des Stechens, Hauens, Schießens mit Pulver oder Dynamit zur Revolution gehöre?
Hier steckt der Fundamentalirrtum.
Wesentliches mit Unwesentlichem vermengend, haben die »Anarchisten« – wir bedienen uns des Namens für die ganze Kategorie der »revolutionären« Wortfetischanbeter – ein der Revolution durchaus nicht wesentliches Moment zu einem wesentlichen, ja zum wahren, eigentlichen Wesen und Kern der Revolution gemacht.
Kein Zweifel, die meisten Revolutionen, von denen die Geschichte uns Meldung gibt, haben sich gewaltsam, unter Kampf und Blutvergießen vollzogen.
Und das ist sehr natürlich.
Die Anhänger des Alten, die teils durch die Gewohnheit, teils durch das Interesse an die bestehenden Zustände und Einrichtungen gefesselt sind, willigen nur widerstrebend in eine Abänderung derselben und widersetzen sich, wo und wann sie die Macht haben, häufig gewaltsam den verlangten und notwendigen Reformen. Und so kommen denn die »blutigen Revolutionen«; und der Begriff des »blutigen«, »gewaltsamen« Kampfes, des Mords und Totschlags hat sich in vielen Köpfen unauflöslich mit dem Begriff der Revolution verbunden, und das Wort Revolution zu einem Popanz für die Philister, zu einem Fetisch für die »anarchistischen« Wortanbeter gemacht. Wir haben vorhin zwei Beispiele von Revolutionen, gewissermaßen Musterrevolutionen angeführt. Wohlan: die eine derselben hatte allerdings im eminentesten Maße das dramatische Beiwerk des Gewaltsamen, des Kampfes, der anderen fehlt es. Und die Revolution, welche durch die Einführung der Maschinen bewirkt wird, ohne daß Blut dabei fließt – wenigstens nicht in Straßenschlachten und auf der Guillotine –, ist eine durchgreifendere, revolutionärere als die Französische Revolution mit ihrem imposanten Apparat von Bastillensturm, 5. Oktober, 10. August, Septemberjustiz usw.
Wenn aber die eine Revolution sich ohne, die andere sich mit Blutvergießen und Straßenkampf vollzieht, dann ist für jeden denkfähigen Menschen der Beweis erbracht, daß die Eigenschaft des Gewaltsamen, die Straßenschlacht nicht wesentlich zum Begriff der Revolution gehört.
Oder wollte man uns etwa einwenden, daß die Umwälzung durch die Maschinen nur eine ökonomische, nicht aber eine politische Revolution sei?
Dieser Einwand hätte wohl Sinn in dem Mund eines Mitgliedes der alten politischen Parteien, die von dem Wesen des Staates und der Gesellschaft keine Vorstellung haben und alles auf politische Formen reduzieren. Ein Sozialdemokrat, der als solcher gerade eine ökonomische Umgestaltung erstrebt, kann einen derartigen Einwand nicht machen, bei dem wir uns also nicht weiter aufhalten. Um aber den »anarchistischen« Wortfetischanbetern jegliches Schlupfloch zu verstopfen, wollen wir auch das Beispiel einer politischen Revolution anführen, die sich ohne Blutvergießen vollzogen hat.
Wir meinen die englische Reformbewegung, die Ende der zwanziger Jahre begann und durch Annahme der Reformbill von 1832 ihr Ziel erreichte.[Anmerkung 97] Der Staat und die Gesetzgebung waren bis dahin in England das Monopol der grundbesitzenden Aristokratie gewesen, die allerdings der Entwicklung der Bourgeoisie keine Hindernisse bereitete, immerhin aber ihre eigenen Sonderinteressen in einer der Bourgeoisie lästigen Weise vertreten hatte. Um dieses Monopol wurde in der Reformbewegung gerungen. Die Bourgeoisie wollte es nicht zerstören, sie wollte es für sich. Staats- und Regierungsgewalt standen der Aristokratie zur Verfügung. Für sich allein zu schwach, den Kampf siegreich zu führen, gewann die Bourgeoisie das Industrieproletariat für sich unter der falschen Vorspiegelung, ihm seinen Teil an der Siegesbeute zu gewähren. Je mehr die Bewegung anschwoll, desto hartnäckiger wurde der Widerstand der Staatsmonopolisten. Der »Iron-Duke« (der eiserne Herzog), der »Sieger in hundert Schlachten«, Lord Wellington, leitete den Widerstand und war entschlossen, der Bewegung um jeden Preis Herr zu werden. Der zurückgedämmte Strom schwoll nur um so mächtiger an. Niemals! beteuerte das Parlament. Niemals! beteuerte die Regierung. Niemals! beteuerte der »eiserne Herzog«. Und siehe da, eines Morgens war der Strom so angeschwollen, daß er, wurde ihm nicht ein Abfluß bereitet, nicht bloß die Deiche, sondern die schönen Adels- und sonstigen Schlösser dahinter wegschwemmen mußte. Und da waren das Parlament und die Regierung und der »eiserne Herzog« so vernünftig, ihr albernes »Niemals!« zu verschlucken – das Oberhaus würgte freilich drei Viertel Jahre daran – und durch Annahme der Reformbill den »Umsturz« der Verfassung, wie Lord Wellington es nannte, zu sanktionieren und den Sturm zu beschwören. Die Revolution hatte gesiegt. Das betrogene Proletariat ging leer aus.
Es war der Sieg des Tiers-État (des dritten Standes) – mit den durch die veränderte Zeit und die verschiedenen Zustände bedingten Modifikationen, und ein ebenso revolutionärer Sieg über den Feudalismus wie 1789 und das Nachspiel von 1830.
Und während Frankreich gewaltsam, in blutigem Kampf, die Bastille erstürmt und den Bourbonenthron zweimal zerbrochen hatte, erstritt sich England denselben Kampfpreis ohne blutigen Kampf, ohne Gewalttätigkeiten, etliche Straßentumulte abgerechnet.
Revolution hier wie dort.
Nur daß hier der blutige Kampf fehlt, weil die wohlorganisierten Massen es verstanden hatten, einen so imposanten »moralischen Druck« – einen solchen Druck von außen, pressure from without – auf die Regierung auszuüben, daß dieser die Lust verging, durch einen Appell an die ultima ratio, das letzte Überredungsmittel der Kanonen, eine Katastrophe herbeizuführen.
Was in England möglich war, warum sollte es in Deutschland nicht möglich sein? Mit einem »eisernen Kanzler« ist nicht schwerer fertig zu werden als mit dem »eisernen Herzog«.
Ob es wahrscheinlich – ob unseren Regierungen und den herrschenden Klassen so viel Verstand zuzutrauen, als 1831 und 1832 die Regierung und die herrschende Klasse in England bewies, das ist eine andere Frage, die wir nach den gemachten Erfahrungen ohne zu zögern mit Nein beantworten, mit der wir uns jedoch hier nicht zu beschäftigen haben.
Aus den gegebenen Beispielen erhellt zur Evidenz mit zwingender Logik, daß das Attribut des gewaltsamen, blutigen Kampfes nicht notwendig und organisch zur Revolution gehört.
Zum Überfluß seien die Wortfetischanbeter noch höflich gebeten, sich folgendes zu überlegen:
Wenn erst das »Gewaltsame«, der »blutige Kampf«, eine Umwälzung zu einer Revolution erhebt, dann liegt folgerichtig in dem Begriff des »Gewaltsamen« usw. das Wesen der Revolution.
Wäre dies der Fall, dann wäre also das Gewaltsame als solches eo ipso revolutionär, und wäre der Charakter einer Handlung, eines Ereignisses, einer Reihe von Handlungen und Ereignissen ein um so revolutionärer, je mehr das Moment des Gewaltsamen hervorträte. Nach dem vergossenen Blut könnte die revolutionäre Intensivität, der revolutionäre Wert gemessen werden – was für den Geschichtsforscher beiläufig eine bedeutende Erleichterung wäre.
Nun zeigte aber ein einfacher Blick auf das erste beste Handbuch der Geschichte, daß dies ein Unsinn ist und, wenn auch nicht vollständig, doch so ziemlich das Gegenteil der Wahrheit. Jedes Handbuch der Geschichte belehrt uns, daß mit dem steigenden Kulturfortschritt die Achtung vor dem Menschenleben, die Abneigung gegen Blutvergießen stetig zugenommen hat.
Weit entfernt, an sich etwas »Revolutionäres« zu sein, ist das Blutvergießen, das Drauf- und Dreinschlagen das reaktionärste, das barbarischste Geschäft von der Welt. Wenn es ein Kriterium der Bildung und Kultur gibt, so liegt es in der größeren oder geringeren Abneigung vor Blutvergießen. Bildung und Kultur stehen im umgekehrten Verhältnis zur Freude am Blutvergießen.
Wir verweisen auf Buckles »Geschichte der Zivilisation«, wo, wer wünscht, Näheres finden kann. Der fanatische Anbeter des Wortfetischs oder Fetischworts »Revolution« wird aber doch wohl kaum seinem Fetisch nicht die Unehre antun, behaupten zu wollen, die Revolution stehe im Widerspruch mit Bildung und Kultur, im Gegensatz zu Bildung und Kultur.
Das wäre eine Majestätsbeleidigung an der Revolution, dieser Geburtshelferin der Kultur.
Will man Beispiele zur reductio ad absurdum [Nachweis der Ungereimtheit]?
Attila und Timur Tamerlan haben nach ungefährer Schätzung fünf Millionen Menschen vom Leben zum Tode gebracht. Welche Revolutionäre!
Die Inquisition soll eine Million Menschen verbrannt und auf sonstigem Wege ins Jenseits befördert haben. Welch revolutionäres Institut!
Nicht? Dann muß aber auch auf die gedankenlose Plapperei von der heiligen »Gewalt« verzichtet werden. Will man weitere Beispiele?
Bismarck hat alles in allem wohl auch einem Milliönchen Menschen die janua vitae (die Pforte des Lebens) geöffnet, wie er sich fromm auszudrücken beliebte, als er im Norddeutschen Reichstag seine Köpfrede hielt. Welcher Revolutionär!
Und 1871, vom 18. März bis zur »blutigen Maiwoche«, diese Versailler, die im Kampf und nach dem Kampf an die fünfzigtausend Mann töteten. Welche Revolutionäre!
Und die Kommunarden, die in dem gleichen Zeitraum keine Zweitausend töteten!
Welche – Reaktionäre!
Merkt man den Aberwitz?
Das Totschlagen tut's nicht.
Im Totschlagen sind uns die Reaktionäre »über«. Die Attilas, die Timur Tamerlane, die Inquisition, Bismarck, die Versailler wollen wir getrost der Barbarei und der Reaktion überlassen, und hat einer dieser Blut-und-Eisen-Verehrer die Sache der Revolution gefördert oder tut es noch, wie der Hausmeier der Hohenzollern, gut, so ist er ein Revolutionär wider Willen, dessen Dienste wir uns übrigens sehr gerne gefallen lassen.
In der Gewaltsamkeit an sich liegt nicht nur nichts Revolutionäres, sondern etwas positiv, dem Inhalt und Zweck der Revolution Zuwiderlaufendes.
Warum sind wir eine revolutionäre Partei?
Weil wir geordnete menschenwürdige Zustände herstellen wollen und die Überzeugung gewonnen haben, daß dies nicht geschehen kann, ohne daß alle diejenigen staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen beseitigt werden, welche die Ausbeutung, die Unterdrückung, die Vergewaltigung der Menschen durch die Menschen ermöglichen und sanktionieren und die Menschen gegeneinander in den Kriegszustand versetzt haben. Diesem barbarischen Kriegszustand, dessen akuteste Äußerung die Menschenschlächterei, der Massenmord, genannt Krieg, ist, will die Sozialdemokratie ein Ende machen. Sie ist somit ganz eminent eine Friedenspartei.
Nicht eine Friedenspartei: die Friedenspartei. Jene Schwärmer vom ewigen Frieden, welche die Abschaffung des Kriegs und die Beibehaltung aller derjenigen Einrichtungen verlangen, die den Krieg mit Notwendigkeit herbeiführen – sind keine Partei –, die ehrlichen unter ihnen sind Wirrköpfe und die anderen Komödianten und Heuchler. Nur wer die Wurzel des Kriegs abgräbt, wirkt ernstlich für die Abschaffung des Kriegs, und von allen Parteien ist die Sozialdemokratie die einzige, welche es tut.
Weil wir nun dem Krieg den Krieg erklärt haben und prinzipielle Gegner der Gewalttätigkeit und der Vergewaltigung sind, sprechen wir darum der Gewalt alle Berechtigung ab? Mitnichten.
Der Gewalt gegenüber kann oft nur die Gewalt helfen, und wo der Fortschritt der Menschheit gewaltsam gehindert wird, wäre es ein Verbrechen an der Menschheit, wollte man, falls kein anderes Mittel bleibt und Aussicht auf Erfolg vorhanden ist, der Gewalt nicht Gewalt entgegensetzen. Ja selbst wo nicht die Aussicht auf momentanen Erfolg vorhanden ist, kann der Appell an die Gewalt Pflicht sein.
Es war die Pflicht der Pariser Arbeiter im März 1871, die Kommune zu proklamieren und die Republik zu retten; und mit einem Heldenmut, der jede Rücksicht kleinlicher Klugheit zurückwies, haben sie sich der Pflicht geopfert und – von Winkelrieds Geist beseelt – ihr Leben gegeben und dem Proletariat »eine Gasse gemacht«.
Es fällt uns auch nicht ein, die Taktik eines Mazzini zu verdammen, der freilich kein Sozialdemokrat und auch kein Revolutionär in unserem Sinne war – seine Taktik, zeitweilige Aufstände zu organisieren, obgleich die blutige Unterdrückung vorauszusehen war und von ihm vorausgesehen wurde. Er hatte die moralische Wirkung im Auge. Er wollte Italien von der österreichischen Fremdherrschaft befreien, und zu diesem Zwecke war es notwendig, daß der Haß der Italiener gegen die Tedecshi (Deutschen, das heißt Österreicher) fortwährend geschürt wurde. Der Zweck der Aufstände wurde erreicht, und kein Revolutionär, ja kein vernünftiger Mensch wird Mazzini einen Vorwurf daraus machen.
Wie wir zu Anfang entwickelten: in Fragen der Taktik, bei der Kampfführung kommt alles auf die Umstände an. Was in dem einen Lande revolutionäre Pflicht, Gebot der Klugheit ist, kann in dem anderen eine unentschuldbare Dummheit sein und Schlimmeres – ein Hochverrat an der Partei.
Von »anarchistischen« Fetischdienern ist uns die Nachahmung der russischen Nihilisten[Anmerkung 98] empfohlen worden.
Bei diesem Ratschlag, den die Herren Fetischdiener sonderbarerweise nicht an die eigene Adresse gerichtet haben, wird nur eines vergessen: der himmelweite Unterschied zwischen den russischen und deutschen Verhältnissen.
In Rußland gibt es kein Volk. Die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung: der Bauernstand, ist politisch so gut wie tot. Trotz ihres Gemeindeeigentums und trotz ihrer Neigung, von Zeit zu Zeit einen Adligen am Feuer seines Schlosses zu rösten, sind die russischen Bauern in ihrer ungeheuren Mehrzahl bereit, auf den Befehl des »Väterchens« in Petersburg oder Moskau die heroischen Männer in Stücke zu reißen, welche ihr Leben dransetzen, ihnen die Freiheit zu erkämpfen. Ein Bürgertum existiert nur in embryonischen Anfängen, und demgemäß kann auch von einer Arbeiterklasse nicht die Rede sein. Der Teil der Bevölkerung, welcher politisches Leben hat, bildet eine winzige Minorität, bestehend aus dem Adel, den oberen Beamten und Offizieren und den relativ gebildeten bürgerlichen Elementen. Innerhalb dieser winzigen Minorität, dieser Minorität von Privilegierten – denn dem Bauern gegenüber ist der ärmste russische Student noch ein Privilegierter – tobt der furchtbare Kampf, dessen Zuschauer wir seit Jahren sind – wenn man von Zuschauern reden kann, wo das Ringen sich im Dunkel der Nacht, in der Heimlichkeit der Verschwörung vollzieht und nur dann und wann das Glitzern eines Dolches, das Aufblitzen eines Schusses, der betäubende Knall einer Bombe, ein dumpfes Todesröcheln die Tragödie hinter den Kulissen verrät.
Gäbe es in Rußland ein Volk, so würde es auf der einen oder anderen Seite an dem Kampf teilnehmen, und schon kraft seiner Menge kämpft das Volk öffentlich.
Das Volk fehlt, und das zwingt die Feinde des herrschenden Systems zur Verschwörung.
Und das persönliche Regiment zwingt sie zum Kampf gegen die Person.
Nirgends ist und war das persönliche Regiment so zugespitzt wie in Rußland.
Der Kaiser hat seine Macht unmittelbar von Gott; er ist niemandem verantwortlich, seine Macht ist unbeschränkt. Sein Wink ist Befehl, sein Wort ein Todesurteil, die Verbannung, lebenjährige Kettenarbeit in den Bergwerken. Eine Viertelmillion Polen hat der »milde« Alexander ohne Urteil nach Sibirien oder in die Bergwerke des Ural geschickt, wo die meisten verkommen sind.
Und in den letzten zehn Jahren hat er fünfzigtausend seiner russischen Untertanen lebendig begraben, weil sie verdächtig waren, für sich und ihr Volk nur annähernd ähnliche politische Verhältnisse zu fordern, wie sie selbst in Deutschland als selbstverständlich gelten.
Und der Zar ist der Stellvertreter Gottes auf Erden, er ist Papst und Kaiser und als Stellvertreter Gottes allmächtig und allwissend.
Nichts geschieht in dem weiten Reich, außer in seinem Namen. Der diebische Beamte, der den Bauern bestiehlt, er bestiehlt ihn im Namen und Auftrag des Kaisers, und der schurkische Polizist, der an einem Privatfeind seine Rache kühlen will, er läßt ihn aus dem Bette holen, knebeln und in einem Schlitten nach Sibirien fahren – im Namen und Auftrag des Kaisers.
Jede Spitzbüberei, jede Brutalität, welche das durch und durch korrupte Beamtentum verübt, sie wird verübt im Namen und im Auftrage des Kaisers.
Allmächtig, allwissend und – unverantwortlich. »Aber das paßt nicht zusammen«, sagt der Nihilist. »Ist der Kaiser allmächtig und allwissend, so ist er auch verantwortlich für alles, was in seinem Reiche geschieht!« Das ist eine unwiderlegliche Logik.
Die Unverantwortlichkeit leidet an der Allmacht und Allwissenheit Schiffbruch.
Durch ihre Übertreibung schlägt die gottgleiche Unverantwortlichkeit in ihr Gegenteil um. Die politische Unverantwortlichkeit des Zaren wird zur persönlichen Verantwortlichkeit. Mit seiner Person ist der unverantwortliche Zar für alles verantwortlich, was in Rußland an dem Volke gesündigt wird.
Und die tödliche Logik des Nihilismus hat dafür gesorgt, daß diese persönliche Verantwortlichkeit kein leerer Schall ist wie die offizielle Unverantwortlichkeit.
Tritt die Logik des Nihilismus schon bei Betrachtung der gegenwärtigen Zustände Rußlands zutage, so zeigt ein Blick auf die Geschichte Rußlands, daß der Nihilismus, wenn auch mit neuem Inhalt und neuen Zielen, doch nur das natürliche Produkt und die kontinuierliche Fortentwicklung russischer Zustände ist.
Man darf Rußland nicht mit den europäischen Kulturstaaten vergleichen. Rußland ist ein halbbarbarisches Land mit einem dünnen Firnis von europäischer Kultur. Man hat vielfach eine Parallele gezogen zwischen dem Rußland von heute und dem Frankreich am Vorabend von 1789. Nichts kann unzutreffender sein. In Frankreich war damals das Bürgertum bereits materiell zur Blüte und geistig zur vollen Reife gelangt: Mit seiner Literatur und seinen Ideen beherrschte es die Gesellschaft – beherrschte es selbst die herrschenden Klassen, und nicht bloß Frankreichs; und wirtschaftlich war das Bürgertum schon so weit, daß es die Zunftschranken gesprengt hatte. Es fehlte ihm nichts als die politische Herrschaft, und diese errang es sich in der Revolution, die nichts Neues schuf, sondern dem schon Vorhandenen nur seinen richtigen Ausdruck gab. Die Französische Revolution verlief freilich nicht so glatt, wie ein doktrinärer Bourgeois sie sich vorgezeichnet hätte. Der Tiers-État enthielt eben außer dem Bürgertum auch die Arbeiterelemente mit weitergesteckten, obgleich noch verschleierten Zielen, und innerhalb der verschiedenen Bestandteile des Tiers-États kam es zu Auseinandersetzungen, welche sich nicht im Rahmen parlamentarischer Diskussion bewegten. Es war ein Volk da. Und aus der Initiative des Volks gingen die »großen Tage« – les grandes journées –, die Haupt- und Staatsaktionen der Revolution hervor. Die »Führer« – das wiederholt sich mit einer wahrhaft bewundernswürdigen Regelmäßigkeit – glänzen an diesen Tagen entweder durch ihre Abwesenheit oder durch ihre Passivität. Das Volk ist es, das alles macht – das die Kommune, die Nationalversammlung, den Konvent leitet.
Und in Rußland gibt es kein Volk.
Wenn wir Parallelen ziehen wollen, müssen wir in das Mittelalter zurückgreifen, zum Beispiel in die Zeit, welche Shakespeare in seinem »Richard III.« schildert. Aus dieser Tragödie weht uns – mutatis mutandis – der echt zarisch-russische Geist entgegen, dem als sittliche Reaktion, als wildzorniger Protest der geschändeten Menschheit, der Nihilismus entspringen mußte. Der Besitz der Macht ist das um jeden Preis, mit jedem Mittel zu erstrebende Ziel. Der Ehrgeiz kennt kein Hindernis der Ethik, der Menschlichkeit. Durch offne Gewalt, durch List, durch Meuchelmord wird aus dem Weg geschafft, wer und was im Weg steht. Man lese die Geschichte Rußlands in den letzten zweihundert Jahren, und wir finden den Geist Richards III. auf dem Thron. Wüste Günstlingsherrschaft und Gift, Dolch, Säbelkoppeln und andere Mordmittel in ununterbrochener Regierungsarbeit. Kein Monarch stirbt eines natürlichen Todes – stirbt er nicht durch die Hand der Frau, des Sohns, eines Verwandten, so wird er durch adelige Verschwörer aus dem Weg geschafft, die ein gefügigeres Werkzeug brauchen. Die einzige Ausnahme ist der »große« Zar Nikolaus, der zur Abwechslung sich selbst umbrachte – wenigstens ist nicht wahrscheinlich, daß das Gift, an dem er starb, ihm von fremder Hand beigebracht wurde.
Das russische Volk – soweit von einem Volke die Rede sein kann – ist an diese kaiserlichen Todesarten gewöhnt, und die herrschende Klasse betrachtet sie als einen Teil der russischen Verfassung. »Despotismus, gemildert durch Meuchelmord! (Le despotisme moderé par l'assassinat), das ist unsere Verfassung!« belehrte zu Anfang dieses Jahrhunderts einer der Mörder Pauls I. den deutschen Gesandten Münster in Petersburg, der sich die Örtlichkeit der Erdroßlung des unglücklichen Monarchen zeigen ließ.
Der Stand der Zivilisation, wie vorhin schon bemerkt, läßt sich nach der Achtung vor dem Menschenleben messen. Im Rußland der Zaren hat das Menschenleben keinen Wert. Während des letzten Türkenkrieges[Anmerkung 99] waren die deutschen Offiziere oft geradezu starr über die Rücksichtslosigkeit, mit der das Leben der Soldaten geopfert wurde. Und die deutschen Offiziere können in diesem Punkte doch etwas vertragen. An jenem denkwürdigen Tage, wo Zar Alexander, das »milde Väterchen«, ein zweiter Xerxes, von einer eigens errichteten Estrade den Sturm auf Plewna[Anmerkung 100] betrachtete, wurden dreißigtausend russische Soldaten getötet oder verwundet – und völlig zwecklos, denn die Position war im Sturm nicht zu nehmen. Doch das »milde Väterchen« wollte ein Schauspiel haben und, nicht zufrieden mit dem Hochgenuß römischer Cäsaren, die es für das non plus ultra kaiserlicher Lust hielten, wenn sie im Zirkus ein paar Dutzend oder auch ein paar Hundert Gladiatoren getötet sahen, wollte er sich am Sterben etlicher Tausender seiner treuen Soldaten und Sklaven ergötzen.
Und die Soldaten und Sklaven starben und ließen sich verstümmeln – was war ihnen das Leben? Ave Caesar morituri te salutant! Wir grüßen dich, Cäsar, wir, die in den Tod gehen! Keiner von ihnen dachte, daß es ein Frevel war, sie auf die Schlachtbank zu schicken.
Welchen Wert hatte das Leben für sie? Welchen Wert hat das Leben eines Sklaven?
Die englischen Soldaten machten schon im Krimkriege die Bemerkung, daß den russischen Soldaten das Leben so ganz gleichgültig sei.
In der Schlacht bei Inkermann[Anmerkung 101] wurden bekanntlich achttausend Russen getötet, und zwar von achttausend Engländern, so daß jeder englische Soldat durchschnittlich einen Russen tötete. Wäre es nicht durch unwidersprechliches Zeugnis festgestellt, so würde die Tatsache nicht zu glauben sein. Warum liefen die Russen nicht weg, als sie merkten, daß die »dünne rote Linie« (der englischen Rotröcke) nicht zu durchbrechen war? Die Offiziere trieben sie von hinten mit Kantschus auf die Bajonette der Engländer, und die armseligen Sklaven ließen sich abstechen, fast ohne sich zu wehren. »Es war, als ob es ihnen Spaß machte«, schrieb damals ein englischer Soldat.
Als ob es ihnen Spaß machte? Warum soll es ihnen nicht wirklich Spaß gemacht haben? War der Tod ihnen nicht die Erlösung von einem Leben des Elends, der Erniedrigung, der Knechtschaft?
Deutsche, französische, englische Soldaten hätten sich nimmermehr in dieser Weise wie Hammel abschlachten lassen. Für den zivilisierten Menschen hat eben das Leben Wert, und für den unzivilisierten hat es keinen. Dem Sklaven ist das Leben wertlos, und wem das eigene Leben wertlos ist, für den hat folgerichtig auch das Leben des Mitmenschen keinen Wert.
Kurz: Nichtachtung des Menschenlebens im Zarenpalast und in den Schlössern des Adels; Nichtachtung des Menschenlebens in den Häusern und Hütten des gewöhnlichen Volkes.
Und da will man an russische Verhältnisse den deutschen und an deutsche den russischen Maßstab anlegen? Abgeschmackt!
Nur aus solchem Boden konnte der Nihilismus hervorgehen. Und aus solchem Boden mußte er hervorgehen. Der Glaube an nichts. Furcht vor nichts.
Waren bisher die russischen Zaren von kaiserlichen oder doch sehr hocharistokratischen Händen gestorben, so ist jetzt einer von plebejischen Händen gestorben. Von plebejischen? Selbst dieser Unterschied steht noch nicht einmal fest.
Was für Hände es gewesen sein mögen – die Methode war dieselbe wie traditionell seit Jahrhunderten. Nur der Zeit und den Umständen angepaßt. Statt Gift, statt einer Säbelkoppel – eine Dynamitbombe.[Anmerkung 102] Voilà tout (Das ist alles)! Ein wesentlicher Unterschied ist das nicht, bloß ein Unterschied in der Form. Die kaiserlichen und aristokratischen Mörder von früher haben ihren modernen Nachfolgern in bezug auf die Tatsache der Tötung keinen Vorwurf zu machen. Der arme Paul, an dem fast eine Stunde lang gewürgt wurde – während der hoffnungsvolle Herr Sohn, der künftige Vater der Heiligen Allianz und fromme Verehrer der Krüdener im Nebenzimmer auf den letzten Atemzug harrte, der ihm die Zarenkrone ankündigte –, der arme Paul, der am 23. März 1801 mit seinen adligen Mördern in furchtbarer Todesangst fast eine Stunde lang rang, ehe ihm mit seiner Säbelkoppel die Gurgel erfolgreich zugeschnürt war – er hat tausendmal mehr gelitten als sein Enkel am 13. März 1881.
Die Taktik der Nihilisten ist also das Produkt der russischen Verhältnisse, gerade wie die nihilistische Bewegung selbst. Sie ist historisch die Fortsetzung jahrhundertlanger Praxis, politisch durch den persönlichen Absolutismus und den niederen Bildungsgrad des russischen Volkes geboten.
Gäbe es in Rußland ein politisch entwickeltes Volk, so würde dieses den Kampf in der Weise anderer Völker führen. In Ermangelung eines Volkes hat der politische Reformgedanke kein anderes Mittel, sich zu offenbaren, als den Revolver und die Dynamitbombe.
Der Reformgedanke.
Nicht Revolutionsgedanken – in unserem Sinne.
Was fordert das bedingte Todesurteil, welches im Februar verkündet und am 13. März vollstreckt ward? Eine Verfassung!
Gewährte der Zar eine Verfassung, so sollte sein Leben geschont und ihm Amnestie erteilt werden.
Was haben die Nihilisten in ihrem Manifest nach dem 13. März gefordert?
Eine Verfassung!
Unsere »anarchistischen« Wortfetischanbeter werden aber sicherlich nicht behaupten, daß das Verlangen nach einer Verfassung »revolutionär« sei.
In Deutschland gewiß nicht. In Rußland dagegen bedeutet eine Verfassung allerdings eine Revolution.
Die Revolution – das mögen die Herren »Anarchisten« sich merken –, die Revolution ist kein absoluter Begriff. Absolute Begriffe gibt's überhaupt nicht; sie gehören der wissenschaftlichen Mythologie an.
Dynamitbomben, um eine Konstitution zu erringen!
Man wird nicht leugnen, daß die »revolutionäre« Gewaltsamkeit des Mittels zu dem relativ harmlosen Ziel in grellem Kontrast steht.
Der Grund dieses Kontrastes ist leicht zu erkennen. Er liegt in der Schwäche der handelnden Parteien. Hätten die Männer, welche in Rußland eine Verfassung erstreben, eine mächtige Partei, ein Volk hinter sich, hätten sie eine Presse, hätten sie den Hebel des Vereins- und Versammlungsrechts, so würden sie unfehlbar andere Mittel erwählt haben.
So sind ihnen keine anderen Mittel geblieben als der Kampf von Person zu Person: die Zerstörung des Systems durch Vernichtung seines Trägers.
Die jüngsten Vorkommnisse in den Vereinigten Staaten sind der beste Beleg für die Richtigkeit der von der deutschen Sozialdemokratie befolgten Taktik. Der Handvoll von »Anarchisten « – mehr als eine Handvoll waren sie nicht –, die in Chicago[Anmerkung 103] eine Revolution machen wollten, hat es sicherlich nicht am »Willen« gefehlt und – nach allen Berichten – auch nicht an Mut; und was haben sie ausgerichtet? Nicht einmal zu einem ordentlichen Putsch konnten sie es bringen; die gewöhnliche Polizei reichte zur Niederwerfung der »Revolution« aus. Und das praktische Resultat? Ein Dutzend Menschen umsonst getötet, ein paar Dutzend umsonst verwundet und der Bewegung zugunsten des achtstündigen Normalarbeitstages ein schwerer Schade getan, so daß die Aussichten auf einen allgemeinen Sieg ganz geschwunden sind. Von dem gerichtlichen Nachspiel gar nicht zu reden, das weder eine Farce noch eine Komödie sein wird. Die Amerikaner verstehen in solchen Sachen keinen Spaß. Vor Worten fürchten sie sich nicht, und Worte bestrafen sie nicht. Werden aber die Worte in Taten umgesetzt und sind diese Taten ein Verstoß gegen das Gesetz, dann wird auch ernsthaft zugegriffen. Politische Verbrechen kennen sie nicht. Aber wenn ein Mensch, gleichviel ob Arbeiter, Bürger, Polizist oder Präsident der Vereinigten Staaten, getötet wird, so ist es, je nach Umständen, Mord oder Totschlag und wird nach den einschlägigen Gesetzesparagraphen bestraft.
Die »Anarchisten« von Chicago haben gelernt und gelehrt, daß, wer gegen die herrschenden Klassen mit mechanischer, physischer Gewalt vorgeht, ein verlorenes Spiel spielt, weil die mechanischen, physischen Gewaltmittel sich fast ausschließlich in dem Besitz der herrschenden Klassen befinden.
Zum Glück gibt's eine stärkere Gewalt als die rein physische und mechanische. Fürst Bismarck, der so recht eigentlich ein »anarchistischer« Gewaltmann ist, hat das zu seinem Schaden in dem Kulturkampf empfunden, wo er sich eine jämmerliche Niederlage holte. Echt »anarchistisch«, glaubte er an die Allmacht der rohen Gewalt, und siehe da, seine Allmacht war die reine Ohnmacht im Kampf mit der Kirche, die, aller mechanischen Machtmittel bar, ihre Stärke in moralischen Faktoren hat.
Ideen, selbst falsche, lassen sich nicht mechanisch vernichten. Und siegte die katholische Kirche im Kampfe mit der brutalen Gewalt, wie kann der Sieg der Sozialdemokratie zweifelhaft sein, die statt an den Aberglauben an das Wissen, statt an den Fanatismus an den zielbewußten Willen sich wendet und aus den mächtig für sie arbeitenden Verhältnissen eine unversiegbare, von Tag zu Tag wachsende Kraft einsaugt?
Unsere Taktik hat sich bisher trefflich bewährt. Das Sozialistengesetz, indem es die Feiglinge und Schwätzer aus unseren Reihen vertrieb oder in den Hintergrund scheuchte, hat sich als eine vorzügliche Schule für uns erwiesen. Die Unwissenheit, Roheit und Unehrlichkeit unserer Gegner tun das übrige und arbeiten uns durch verkehrte, brutale, räuberische Maßregeln und Handlungen systematisch in die Hände.
Und während unsere Feinde so eifrig an ihrem eigenen Grab graben, sollten wir ihnen durch Attentate oder Putsche à la Chicago noch eine Galgenfrist gewähren? So dumm sind wir nicht, Herr von Puttkamer.
Für die Attentate und Putsche lassen Sie Ihren Mahlow-Ihring sorgen.
Wir – die kämpfende, siegende Sozialdemokratie – werden dafür sorgen, daß Sie, Herr von Puttkamer, samt Ihrem Mahlow-Ihring und Ihren sonstigen Spießgesellen, mit all Ihren Krautjunkerpfiffen und Polizeikniffen verdientermaßen zuschanden werden!
Aus der Rede zur Begründung des marxistischen Erfurter Programms 1891
Grundsätze des Parteiprogramms
Text nach: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 21. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 335–357. Mit der Veröffentlichung der Marxschen Kritik des Gothaer Programms im Februar 1891 hatte Friedrich Engels den Boden für die Ausarbeitung eines marxistischen Programms geschaffen. Den ersten Entwurf arbeitete Wilhelm Liebknecht aus. Er wurde mehrfach diskutiert und umgearbeitet. Der »interne Entwurf« des Parteivorstandes wurde u. a. Friedrich Engels zugeschickt, der daraufhin seine »Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891« verfaßte. Am 4. Juli 1891 veröffentlichte der Parteivorstand einen nochmals bearbeiteten Entwurf, der in seinem I. Teil faktisch aus der Feder Friedrich Engels' stammte, zur Diskussion unter der Parteimitgliedschaft. Dem endgültigen Programm lag – mit Zustimmung von Engels – ein von Kautsky und Bernstein vorgelegter Programmentwurf zugrunde.
[...] Und nun will ich auf die Hauptgrundsätze des Programms eingehen. Es ist selbstverständlich nicht zu erwarten, daß ich jetzt und hier alle einzelnen Gesichtspunkte erläutere; ich muß mich darauf beschränken, die Gedanken des allgemeinen Teils im großen und ganzen darzulegen. Bei den Detailforderungen werde ich nur erwähnen, was wirklich einer Erwähnung bedarf, weil es noch nicht genügend debattiert ist oder von der früheren Formulierung abweicht. Der Gedanke, der uns leitete, der in allen dem Kongreß unterbreiteten Programmentwürfen gleichmäßig zutage tritt, ist der, die Ursachen scharf zu bezeichnen, aus denen die heutigen gesellschaftlichen Mißstände hervorgegangen sind – den wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß darzustellen, welcher die kapitalistische Welt, die heutige Gesellschaft, in zwei feindliche Lager teilt, die Notwendigkeit des Klassenkampfes in der kapitalistischen Gesellschaft klarzulegen – klarzulegen, wie mit Naturnotwendigkeit, solange die bürgerliche Gesellschaft besteht, auch das System der Ausbeutung und Unterdrückung bestehen muß. Als die Ursache der Trennung der Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager mußte hingestellt werden: daß die Produktionsmittel, das heißt der Grund und Boden, die Rohstoffe, die Werkzeuge, die Maschinen, die Bergwerke, die Verkehrsmittel aus dem Besitz der Allgemeinheit, der gesamten Gesellschaft, übergegangen sind in den Privatbesitz einzelner. Wenn wir uns einen Zustand denken, in welchem die notwendigen Produktionsmittel im Besitz jedes einzelnen sind, so daß ein jeder unabhängig vom anderen arbeiten kann, dann gibt es keine Warenproduktion, es erzeugt jeder wesentlich für sich selbst, es gibt keine Abhängigkeit des einen vom anderen, keine Ausbeutung und Knechtung. Ob und inwieweit ein solcher Zustand bestanden hat, das auszuführen ist Sache des Kommentars. Möglich und denkbar ist er bloß in einer solchen Gesellschaftsform, wo die Produktionsmittel, namentlich das vornehmste derselben, die Allmutter Erde, in dem Besitz der wirklich Produzierenden, der Arbeiter, sind. Von dem Moment an, wo das Privateigentum an den Produktionsmitteln entsteht, beginnt auch die Ausbeutung und die Spaltung der Gesellschaft in zwei durch Interessen einander feindlich entgegenstehende Klassen. Dieser Prozeß vollzieht sich nicht plötzlich, er geht aber unaufhörlich vor sich, er ist zurück durch das Mittelalter bis ins graueste Altertum zu verfolgen. In der bürgerlichen Gesellschaft, mit der wir uns zu beschäftigen haben und mit der das Programm sich beschäftigt, vollzieht er sich nun mit zunehmender Schnelligkeit und Wucht, je nach dem Maß, in welchem die Arbeitsmittel konzentriert und Monopol oder Eigentum einer kleinen Minorität werden, und je nach der größeren Produktivität der Produktionsmittel, die stets vollendeter werden. Die einfachen Werkzeuge werden zu Maschinen, die Maschinen selbst vervollkommnen sich immer mehr, die Kapitalien und mit ihnen die Intensität der Produktion wachsen fortwährend, aus dem Kleinbetrieb entwickelt sich der Großbetrieb, aus diesem, wie wir ihn im Anfang der großkapitalistischen Produktion hatten, der moderne Riesenbetrieb, und auch dieser selbst genügt nicht mehr – die Riesenbetriebe koalieren sich in Trusts, in Kartellen, in Verbänden usw. Und mit dieser Konzentration der Kapitalien, der Produktionsmittel nimmt auch in gleichem Maße zu einerseits die größere Intensität der Produktion, die ins Unendliche gesteigert wird, und andererseits die Intensität der Ausbeutung, die Aufsaugung der Mittelschichten, die Unsicherheit der Existenz des Proletariats, der Grad des Elends, des Druckes, der Knechtung.
Dieser historische Entwicklungsprozeß der Gesellschaft und die Gesetze, nach denen er sich vollzieht, mußten in dem Programm dargelegt werden, es mußte gezeigt werden, wie in dieser Trennung der Arbeiter von den Produktionsmitteln die heutigen Zustände ihren Ursprung haben, wie mit der größeren Konzentrierung der Produktionsmittel die Ausbeutung gewachsen ist und wachsen muß, wie gerade in der Tatsache, daß die Produktionsmittel Privateigentum werden, die Wurzel des Übels liegt, wie aus dieser Tatsache mit Naturnotwendigkeit sich die Ausbeutung ergibt. Denn derjenige, der die Arbeitskraft hat, aber nicht die Mittel, vermöge deren er sie betätigen, verwerten, in »das wirtschaftliche Spiel der Kräfte« hineinbringen kann, der kann nicht leben; er ist untrennbar von seiner Arbeitskraft, und will er nicht verhungern, so muß er sich in den Dienst eines anderen begeben, der ein Privateigentum an Produktionsmitteln hat. Und hieraus entsteht und entwickelt sich die ökonomische Abhängigkeit, die ökonomische Ausbeutung und aus dieser die politische Abhängigkeit und Knechtung in jeder Form – ein Prozeß, der, wie gesagt, mit steigender Rapidität vor sich geht. Die Spaltung der Gesellschaft wird immer tiefer und vollständiger – was zwischen beiden Extremen: Kapitalist und Proletarier, steht, die sogenannten Mittelschichten der Bevölkerung, die noch ein kleines Eigentum an den Produktionsmitteln haben, die aber selber arbeiten müssen, wenn sie auch fremde Kräfte gebrauchen, diese Mittelschichten – um den etwas vagen Ausdruck »Mittelstände« zu beseitigen – verschwinden mehr und mehr, und der ganze Entwicklungsprozeß der heutigen Gesellschaft geht mit Naturnotwendigkeit, kraft des innersten Wesens dieser Gesellschaft darauf hin, daß die Produktionsmittel sich in wenigen Händen konzentrieren und daß die Besitzer, die Monopolisten der Produktionsmittel, die Nichtbesitzer enteignen, ihres Eigentums berauben, so daß die ganze Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft eine Geschichte der Expropriation ist, die Expropriation in Permanenz. Der Besitzer der Produktionsmittel expropriiert den, der keine besitzt und gegen Lohn für ihn arbeiten muß; er bezahlt in dem Lohn nur einen Teil der ihm geleisteten Arbeit; der Mehrheit, die nicht bezahlte Arbeitsleistung, wird in seiner, des Besitzers der Arbeitsmittel Hand zum Kapital und setzt ihn instand, dem Arbeiter die Fesseln enger und fester zu schnüren, seine Knechtung und Ausbeutung zu vollenden. So schmiedet der Arbeiter, indem er arbeitet und Reichtum schafft, sich selber die Sklavenkette. An diesem Prozeß können fromme Wünsche nichts ändern. Alle Kritiken des Kapitalismus, welche nicht auf den Kern gehen, sind unfruchtbar – alle Versuche, unter Beibehaltung der Grundlagen des Kapitalismus dessen »Auswüchse« zu beseitigen, sind Utopisterei. Diese »Auswüchse« sind die logische Folge, die unvermeidliche Konsequenz des kapitalistischen Systems – wer sie beseitigen will, muß die Ursache, muß das kapitalistische System beseitigen. Durch diese Forderung unterscheidet sich die Sozialdemokratie von allen übrigen Parteien und kennzeichnet sich als revolutionäre Partei, während alle anderen Parteien ohne Ausnahme auf dem Boden des Privateigentums an den Produktionsmitteln stehen. Wir haben diesen Punkt seiner eminenten Wichtigkeit wegen in dem Ihnen jetzt vorliegenden Entwurf genauer und schärfer formuliert, als es in dem ersten Entwurf der Fall war. Es war dort gesagt, daß alle anderen Parteien gemeinsam auf dem Boden des Kapitalismus ständen und darum allesamt den Arbeiterklassen feindlich seien. Hiergegen ließ sich einwenden, daß wir ja in Deutschland Bestrebungen haben, die, wenn auch politisch ohne Bedeutung, gleich uns doch darauf hinzielen, dem Kapitalismus, soweit er sich als Großkapitalismus äußert, die Flügel zu beschneiden – ich meine die Richtung der Zünftler, der Innungsschwärmer, der Antisemiten. Diese Richtungen können wir billigerweise nicht als kapitalistische bezeichnen, aber sie stehen, wie es in unserem Entwurf ausgedrückt ist, auf dem Boden des Privateigentums an den Produktionsmitteln, und auf diesem Boden stehen sie gemeinsam mit allen übrigen Parteien. Und allen Parteien, die diesen Boden gemeinsam haben, stehen wir Sozialdemokraten gegenüber als eine geschlossene Masse. Da gibt es kein Paktieren, kein Kompromittieren; zwischen uns und der Armee unserer verbündeten Gegner ist eine breite Kluft, eine täglich breiter und tiefer werdende Kluft, die allerdings, weil das jenseitige Ufer höher, von drüben her wirtschaftlich übersprungen werden kann, denn täglich, stündlich werden ja aus den Reihen unserer Gegner durch die Wucht und Logik der ökonomischen Entwicklung Scharen, die bisher dort kämpften, herübergeschleudert in das Proletariat – wobei freilich Tausende und Hunderttausende in den Abgrund stürzen und elend verkommen. Aber diese bodenlose Kluft, sie wird durch ihre Leiber nicht ausgefüllt und besteht – es ist die Grenzlinie, welche uns von allen anderen Parteien abschneidet und jeder, der über diese Grenzlinie gehen will, sich kleinbürgerlichen Utopistereien hingibt, der nicht jeden Augenblick klar vor Augen hat, daß nur die Beseitigung der Ursache, nur die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, nur die Aufhebung der ganzen heutigen Produktions- und Warenerzeugungsweise allein dem Elend, der Ausbeutung, der Knechtung ein Ende machen kann; wer da wähnt, allmählich auf dem Wege der Kompromisse mit kleinbürgerlichen Salben und Palliativmittelchen ließen sich die Übel der heutigen Gesellschaft so mildern, daß man sie wenigstens auf eine Zeitlang noch ertragen könne – wer solchen Anschauungen huldigt, verläßt den revolutionären Boden der Partei. Das haben wir zu bedenken, wenn wir fragen: Gehörst du zu uns oder nicht? Die schönste Phrase von Verbesserung des Arbeiterloses nutzt nichts, dadurch kann uns nicht geholfen werden.
Im Wesen der heutigen Gesellschaft und Produktion liegt es, daß die Ausbeutung immer intensiver wird. Können wir durch die Gesetzgebung des Staats, und wäre er noch so mächtig, zurückgeschraubt werden in das Mittelalter, kann der Großbetrieb dem Kleinbetrieb geopfert werden, wie die Innungsschwärmer wollen? Nein, es ist einfach unmöglich. Hat doch der heutige Klassenstaat, der dem Kapitalismus dienen muß, nicht einmal in der so einfachen Frage des Arbeiterschutzgesetzes die Macht gehabt, sich von der herrschenden Klasse loszulösen – derselbe Staat, den Träumer als »soziales Königtum oder Kaisertum« bezeichnet haben! Die Gesellschaft läßt sich nicht in frühere, geschichtlich überwundene Produktionsformen zurückzwängen, und die neuen führen mit Naturnotwendigkeit zu immer größerer Konzentration der Produktionsmittel, zu immer größerer Ausbeutung und Knechtung, zu immer massenhafterer Proletarisation der Gesellschaftsglieder. Darum fordert die Sozialdemokratie, daß hier am Grunde, an der Wurzel zugegriffen, die Ursache dieser Zustände beseitigt wird. Das fordert sie nicht nach Laune, sondern voll bewußt, weil sie auf der Höhe jener Weltanschauung steht, welche die Gesellschaft als Organismus auffaßt, der mit Naturnotwendigkeit wächst und sich fortentwickelt. Sie sieht, daß die heutige Gesellschaft Zustände geschaffen hat, welche dieselbe zerstören müssen; sie sieht – was in allen unseren Programmentwürfen ausgedrückt ist –, daß die heutige Gesellschaft mit eherner Logik hineintreibt in eine Katastrophe, in ihren eigenen »Weltuntergang«, der nicht abzuwenden ist. Der Sozialismus ist keine willkürliche Erfindung. Der sogenannte Zukunftsstaat, mit dem wir gehöhnt worden sind und dessen Grundlage wir selbstverständlich nur in allgemeinen Umrissen bezeichnen können, ist die notwendige, unvermeidliche Folge des kapitalistischen Gegenwartsstaates, wie die sozialistische Produktion die notwendige Folge und Konsequenz der heutigen kapitalistischen Produktion ist. So schafft der Kapitalismus, indem er sich immer weiter ausdehnt und seine Machtmittel ins Riesenhafte häuft, zugleich selber den Feind und die Machtfaktoren, denen er erliegen muß schafft sich, wie es in dem »Kommunistischen Manifest« heißt, seine eigenen Totengräber, gräbt sich selber das Grab. Das Proletariat, das der Kapitalismus erzeugt, macht er selbst zu seinem Erben, bereitet ihm die Erbschaft vor, schmiedet ihm die Waffen, gibt ihm die Möglichkeit, das zu verwirklichen, was wir erstreben, schafft ihm die materiellen Bedingungen zur Verwirklichung unseres Ideals – kurz der kapitalistische Gegenwartsstaat ist der Vater wider Willen des Zukunftsstaates. In einem Zustand des bürgerlichen Kleinbetriebes, der Zwergwirtschaft, da war wohl ein sich Sozialismus nennender philanthropischer Utopismus möglich, aber der revolutionäre wissenschaftliche Sozialismus, der die Gesetze der Entwicklung begriffen hat und sich als letzte Konsequenz dieser Entwicklung betrachtet, war einfach undenkbar. Der Sozialismus ist die Folge des modernen Kapitalismus, der sozialistische Staat der Nachfolger und Erbe des kapitalistischen Staates.
Darum haben wir denn auch in unserem Programmentwurf nicht irgendein nebelhaftes Ziel hingestellt, das in der Luft schwebt. Wir haben gesagt, was ist und was wird! Wir haben gesagt: So ist die Gesellschaft, das sind ihre Gesetze, die wir nicht ändern können, sowenig wie der heutige Staat sie ändern kann – sie führen mit Notwendigkeit zur sozialistischen Gesellschaft, und weil der Sozialismus eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist, deshalb streben wir ihm zu und fordern die Arbeiter auf, sich zu stellen unter das Banner der Sozialdemokratie und zu treten in den Ring – wie weiland die revolutionären Bauern das Wort brauchten –, in den Ring des sozialdemokratischen Programms!
Wir haben ausgesprochen, daß die Bewegung sich vollzieht auf dem Boden des Klassenkampfes. Dieses Wort, welches zuerst von Marx aus dem Englischen in die deutsche Sprache gebracht worden ist, bildet die beste Widerlegung der Annahme, als ob die Marxsche Lehre, der wissenschaftliche Sozialismus, ein Eingreifen der Personen in den wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß ausschließe und einen gewissen Fatalismus, ein tatenloses Zuwarten begünstige. Das ist falsch. Das genaue Gegenteil ist wahr. Gerade Marx war es, der die ganze Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft als die Folge einer Reihe von Klassenkämpfen, die den sich ununterbrochen weiterentwickelnden ökonomischen Verhältnissen entsprechend, sich in immer höheren Formen, mit immer tieferem und weiterem Inhalt vollziehen, dargestellt hat. Und der Klassenkampf ist ein Kampf von lebendigen Menschen, ein wirklicher, persönlich geführter, reeller Kampf, und niemand hat diese Natur des Kampfes schärfer ausgedrückt als eben Marx.
Wenn wir erklären: wir wollen den heutigen Klassenstaat beseitigen, dann müssen wir zugleich auch, um den Einwendungen der Gegner die Spitze abzubrechen, es aussprechen, daß die Sozialdemokratie, indem sie den Klassenstaat bekämpft, durch Beseitigung der heutigen Produktionsform den Klassenkampf selbst aufheben will. Sind die Produktionsmittel in den Besitz der Allgemeinheit übergegangen, dann ist das Proletariat nicht mehr Klasse – sowenig wie die Bourgeoisie –, dann hören die Klassen auf, dann ist nur noch die Gesellschaft, die Gesellschaft Gleichberechtigter vorhanden – die echte menschliche Gesellschaft, die Menschheit und das Menschentum. Es ist daher in schärfster Weise ausgesprochen worden und mußte ausgesprochen werden, daß wir nicht eine Klassenherrschaft an die Stelle der anderen setzen wollen.[Anmerkung 104] Nur Bosheit und Gedankenlosigkeit: konnte uns beiläufig einen solchen Gedanken unterschieben, denn um zu herrschen, um eine Herrschaft ausüben zu können, muß ich für meine Person Produktionsmittel besitzen – mein Eigentum an Produktionsmitteln ist die unerläßliche Vorbedingung der Herrschaft, und das persönliche, das private Eigentum an Produktionsmitteln beseitigt ja der Sozialismus. Die Herrschaft, die Ausbeutung in jeder Form soll beseitigt werden, die Menschen sollen frei sein und gleich, nicht Herren und Knechte, nur Genossen und Genossinnen, nur Brüder und Schwestern!
Neben diesen allgemeinen Gedanken hatten wir den internationalen Charakter der Partei zu betonen. Seit die Internationale Arbeiterassoziation gegründet wurde, seit Mitte der sechziger Jahre, ist bei jeder Gelegenheit von den deutschen Arbeitern die Internationalität der Arbeiterbewegung anerkannt und betätigt worden. Im neuen Programm haben wir diesen Gedanken nach zwei Seiten hin in schärfster Weise zum Ausdruck gebracht: einmal nach der ökonomischen Seite, indem die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Natur nach einen internationalen Charakter trägt. Und dann nach der politischen Seite, weil aus dem internationalen Charakter der ökonomischen Entwicklung sich die Unmöglichkeit ergibt, die soziale Frage in einem Lande national zu lösen, woraus die Notwendigkeit internationalen Zusammenwirkens der Arbeiterklasse hervorgeht. Des weiteren hatten wir – und angesichts der Mißdeutungen und verkehrten Schlüsse, zu denen gewisse Vorgänge im Auslande den Anlaß geliefert, war dies doppelt unsere Pflicht – mit besonderer Emphase und in Worten, die keinem Zweifel Raum lassen, zu erklären, daß wir uns eins fühlen und erklären mit den klassenbewußten Arbeitern aller übrigen Länder. Die internationale Sozialdemokratie ist für uns nicht ein Phantom, nicht bloß eine schöne Phrase, nein, sie ist ein Ziel, ohne dessen Erreichung die Emanzipation der Arbeiterklasse sich nicht vollziehen kann. Es ist uns heiliger Ernst mit der Internationalität. Wir sind uns der Konsequenzen unserer Erklärung und der Verpflichtungen, welche sie uns auferlegt, voll bewußt, und wenn wir dies nicht ausdrücklich aussprechen, wie es im alten Programm der Fall war, so geschieht das bloß deshalb, weil wir es, nach unserer jetzigen Erklärung, daß wir uns eins erklären mit der Sozialdemokratie aller übrigen Länder, für überflüssig, ja, für abschwächend gehalten haben. Was wir feierlich hier beschließen, wird von jedem von uns, gleich allem anderen, was in diesem Programm steht, auch im Leben verwirklicht und in Taten und Handlungen umgesetzt werden! Im internationalen Bund des Proletariats wird die deutsche Sozialdemokratie stets ihre Schuldigkeit tun – vor nichts zurückschrecken, was die Pflicht gebietet!
Ich lenke Ihre Aufmerksamkeit noch auf den Satz im siebenten Absatz: »Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendig ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomische Organisation nicht entwickeln ohne politische Rechte.« Damit sprechen wir die politische Natur unserer Partei aus und trennen uns von denen, welche die sogenannte »Propaganda der Tat« predigen, in Wirklichkeit die Tatenlosigkeit zum Programm erheben und die Propaganda des Nichtstuns mit revolutionärem Phrasenschwall üben. Wir müssen handeln, politisch wirken, alle Werkzeuge und Handhaben, die uns zu Gebote stehen, benutzen, alle Hebel ansetzen, um unser Werk zu fördern. Es ist viel zu tun, und je mehr Kraft wir anwenden, je größer die Gesamtsumme der Kraft, die wir in die Arbeit legen, desto rascher wird die Arbeit getan. Zu erwarten, daß ohne Eintreten in den politischen Kampf die Umgestaltung der Gesellschaft, die soziale Revolution sich vollziehen werde, ist kindische Torheit. Wer das denkt, hat keinen Begriff von der Schwierigkeit und Größe unseres Emanzipationskampfes. Ich habe in Halle von dem »Hineinwachsen der heutigen Gesellschaft in die sozialistische« gesprochen.[Anmerkung 105] Das Wort ist mir vielfach verdacht worden. Ich habe damit bloß den organischen Charakter der Entwicklung der Gesellschaft, die keine Maschine ist, sondern ein Kollektivlebewesen, bezeichnen wollen; ich habe aber bei jeder Gelegenheit und auch damals scharf betont, daß die Menschen nicht das Spielzeug des Schicksals sind und daß sie nicht tatenlos dastehen dürfen in Erwartung des Segens von oben, daß die Verhältnisse wohl den Menschen bestimmen, aber auch durch den Menschen bestimmt werden – und daß, wie der Klassenkampf ein beständiges Ringen der Menschen ist, so auch die Erreichung unserer Ziele nur die Furcht eines unablässigen Kampfes sein kann, in dem alle mitkämpfen und jeder rückhaltlos sein ganzes Ich in die Waagschale wirft, seine Existenz, Gut und Leben freudig aufs Spiel setzt.
»Sie kann den Übergang der Produktionsmittel in den Besitz der Gesamtheit nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein« – heißt es weiter in diesem Absatz, das heißt, wir kämpfen um die Macht in dem Staat, um »die Klinke der Gesetzgebung«, die jetzt von unseren Gegnern in ihrem Klasseninteresse monopolisiert wird. »Diesen Kampf der Arbeiterklasse zu einem bewußten und einheitlichen zu gestalten, ihm sein naturnotwendiges Ziel zu weisen, das ist die Aufgabe der sozialdemokratischen Partei.« Also nicht das ist unsere Aufgabe, das Gaukelbild des Zukunftsstaates den Arbeitern vorzuzaubern, sondern die Arbeiter aufzuklären über den Entwicklungsprozeß und die Bewegungsgesetze der heutigen Gesellschaft – ihnen zu zeigen, was notwendig ist, damit der Ausbeutung und Knechtung ein Ende gemacht werde –, ihnen zu zeigen, wie die bürgerliche Gesellschaft selber in ihrer Weiterentwicklung uns mehr und mehr die Mittel in die Hand gibt, sie zu beseitigen. Hier drückt der Doppelcharakter unserer Partei sich deutlich aus: der wissenschaftliche Charakter, der es ablehnt, nach dem Bismarckschen Rezept der Blut-und-Eisen-Politik die geschichtliche Bewegung als eine willkürliche aufzufassen, die man nach Belieben zur Revolution oder Reaktion lenken kann, und der da anerkannt: es sind feste, unabänderliche Gesetze für die Bewegung vorhanden – und der praktische Charakter unserer Partei, welcher sich darin bekundet, daß den Arbeitern der Weg zum Ziele gezeigt wird, daß ihnen gezeigt wird, wie sie nur durch die Erlangung der politischen Macht, nur dadurch, daß wir den Auflösungsprozeß der heutigen Gesellschaft nach Kräften beschleunigen, uns mehr und mehr zur Macht organisieren, zu unserem Ziele gelangen können.
Ich komme nun zu den besonderen Forderungen. Wir haben die Dreiteilung des Programms, wie sie im Gothaer Kompromißprogramm sich findet, nicht wieder vorgenommen. Sie wurde damals schon als unlogisch und unwissenschaftlich beanstandet, und was als Übergangsform zwischen die allgemeinen Grundsätze und die besonderen Forderungen geschoben ward, ist jetzt einfach unannehmbar. Versuche, die Dreiteilung, wenn auch mit Weglassung nicht mehr haltbarer Programmsätze, in das neue Programm einzuführen, sind gemacht, aber von uns zurückgewiesen worden, und die Kommission[Anmerkung 106] steht jetzt einstimmig für das Programm ein, wie es vorliegt.
Wir haben also zunächst den organischen Entwicklungsprozeß der Gesellschaft dargelegt – gezeigt, wie die Gesellschaft in zwei Klassen gespalten worden ist, wie der Kapitalismus wirkt und wie er sich selbst den Untergang schafft. Nun wollen wir aber doch nicht die Hände in den Schoß legen, nicht, wie unsere Gegner glauben, fasziniert oder hypnotisiert von dem Wolkenkuckucksheim des Zukunftsstaates dastehen. Der Kampf fordert uns; wir haben auf allen Gebieten, überall, wo sich ein Kampffeld darbietet, mit Aufgebot aller Kräfte zu kämpfen, auf daß unser Einfluß in Staat und Gesellschaft immer größer werde. Jedes Mittel, und sei es noch so bescheiden, muß uns recht sein – gleichviel, ob es Gemeindewahlen oder Land- und Reichstagswahlen sind – gleichviel, ob der Wirkungskreis groß oder klein – überall müssen wir tätig sein, und überall müssen wir an die Verhältnisse und Tatsachen anknüpfen, um die bestehenden Übelstände und die Notwendigkeit der Umgestaltung im sozialistischen Sinne den Massen klarzumachen. Darum sagen wir: Wir sind eine Kampfpartei, wir kämpfen fortwährend; wir sind uns des revolutionären Charakters unserer Bewegung allezeit bewußt; wir sind verpflichtet, dieses Bewußtsein in den Genossen wach zu erhalten – wir kämpfen Tag für Tag, wir kämpfen in den Gemeindevertretungen, in den Landtagen, im Reichstage, in der Presse, in Volksversammlungen – wir kämpfen überall, wo wir kämpfen können – und wir kämpfen und ringen, um unsere Anschauung, die Weltanschauung der Sozialdemokratie, in immer weitere Kreise zu tragen und die Macht unserer Partei zu vermehren. So haben wir denn, da wir als vernünftige, tatkräftige Menschen nicht auf die gebratenen Tauben der sozialen Revolution warten wollen, was ein politisches Abdanken wäre, eine Reihe von konkreten Forderungen aufgestellt, für die wir eintreten, möge der augenblickliche gesetzgeberische Erfolg sein, welcher er wolle – solche Forderungen, die, ich will nicht von allen sagen, auf dem Boden der heutigen Gesellschaft, aber doch innerhalb des Rahmens des Staates, wenn auch vielleicht nicht verwirklicht, doch angebahnt werden können und uns die Möglichkeit bieten, den Hebel anzusetzen und den Umgestaltungsprozeß zu beschleunigen.
An die Spitze haben wir, wie in allen früheren Programmen, die fundamentale Forderung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts gestellt. Daß wir es nicht überschätzen, ist jedem von Ihnen bekannt, und ich will nicht wiederholen, was hundertmal gesagt worden ist – diese Frage gehört aber zur Taktik und bleibt hier beiseite.
Da ich mich der möglichsten Kürze befleißigen muß, werde ich nur die Punkte erwähnen, die Abweichendes vom früheren Programm darbieten oder aus einem anderen Grunde der Erwähnung bedürfen. Wir haben bei der Forderung des Wahlrechts direkt ausgesprochen, daß wir dabei keinen Unterschied der Geschlechter anerkennen. Im alten Programm haben wir zwar auch die Gleichberechtigung der Frauen anerkannt, jedoch in etwas verschämter Form – nur indirekt; jetzt verlangen wir klipp und klar das Wahlrecht für die Frauen, wie wir dann überhaupt für die absolute Gleichberechtigung beider Geschlechter eintreten. Es lohnt für uns nicht der Mühe, hier noch ein Wort darüber zu verlieren, daß es eine besondere Frauenfrage nicht gibt, daß die Emanzipation der Frauen überhaupt zusammenfallen muß mit der allgemeinen Emanzipation des arbeitenden Volkes. Vor fünfzehn Jahren war diese Frage noch ein Zankapfel, jetzt besteht prinzipiell in bezug auf sie nicht mehr die geringste Meinungsverschiedenheit. Und so gehe ich denn über diesen Punkt hinweg. Weiter fordern wir das proportionale Wahlsystem.[Anmerkung 107] Dieser Punkt war nicht im alten Programm; aber die Forderung ist so selbstverständlich, sie ist von unseren Zeitungen schon so oft auseinandergesetzt und befürwortet worden, daß ich mich einer näheren Kommentierung enthalten kann. Ich will bloß sagen, daß diese Wahlart die einzige ist, welche in Wahrheit die Vertretung nach der Kopfzahl der Wähler ermöglicht, daß sie die Ungleichheit der Wahlkreise, die Zufälligkeiten der Majoritäten, vermittels deren ein Mandat erobert werden kann, wegfallen läßt und die Zahl der Vertreter einer Partei genau der Zahl der Wähler dieser Partei anpaßt. Die Wahlkreise fallen ganz weg – der Gesamtstaat bildet einen einzigen Wahlkörper, und durch ein einfaches Rechenexempel wird festgestellt: Auf diese Partei sind soundso viele Stimmen gefallen, auf jene soundso viele – soundso viele Abgeordnete sind im ganzen zu wählen, und je nach dem Verhältnis der Stimmenzahl, die auf jede Partei gefallen ist, hat diese Partei soundso viele und jene Partei soundso viele Abgeordnete. Das ist so augenfällig und klar, daß jeder Unbefangene es sofort einsieht. Praktische Bedenken liegen nicht vor – nur das Interesse der herrschenden Klassen steht im Weg. Unsere Partei würde große Vorteile von diesem Wahlsystem haben, denn wie Sie alle wissen, sind wir zerstreut über ganz Deutschland. Wir sitzen nicht, wie das Zentrum und andere Parteien, nur in bestimmten Gegenden, dicht zusammengedrängt an einzelnen Orten. Die Sozialdemokratie ist in Deutschland überall, wie sie in der Welt überall ist. Aber wir sind eine junge Partei, und solche Wahlbezirke, in denen wir jetzt schon die Majorität bilden, sind vergleichsweise wenige. Bei dem jetzigen Wahlsystem geht uns die größere Hälfte unserer Wahlstimmen verloren – nach dem proportionalen Wahlsystem würde die Zahl unserer Abgeordneten sich etwa verdoppeln und sogar verdreifachen.
Ferner fordern wir zweijährige Legislaturperioden – nein, wir sagen auf deutsch Gesetzgebungsperioden. Auch diese Forderung bedarf kaum einer Begründung. Wir haben sie schon in einem Antrage an den Reichstag gestellt. Wir führten bei jener Gelegenheit in der Debatte aus – es entspann sich auch eine Zeitungspolemik –, daß einjährige Wahlen, wie die englischen Chartisten[Anmerkung 108] sie forderten, in zu rascher Reihenfolge kämen. Wenn wir einmal ein demokratisches Staatswesen haben, so wird es immer möglich sein, einen Abgeordneten, der seine Schuldigkeit nicht tut, oder auch den ganzen Vertretungskörper, falls er das öffentliche Vertrauen nicht mehr hat, zur Niederlegung des Mandats zu zwingen, und Neuwahlen zu veranlassen.
Daß wir für Diäten,[Anmerkung 109] für die Vornahme der Wahlen und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage sind, versteht sich von selbst, ebenso die Aufhebung aller Beschränkungen der politischen Rechte. Es gibt für uns nur einen Fall, in welchem jemand seines Wahlrechts verlustig werden kann, das ist der Fall der Entmündigung wegen geistiger Unfähigkeit – Blödsinn usw.
Weiter fordern wir die direkte Gesetzgebung durch das Volk vermittelst des Vorschlags- und Verwerfungsrechts. Das heißt, wir wollen nicht, daß der Schwerpunkt des politischen Lebens in das Parlament kommt. Der Schwerpunkt liegt nach demokratischem Prinzip im Volk selbst, und das Volk soll nicht darauf angewiesen sein zu warten, bis von oben herab, aus der Volksvertretung, notwendige oder erwünschte Gesetze und Gesetzesvorschläge kommen – nein, es soll selber das Recht der Initiative haben. Und dem Vorschlagsrecht, das heißt dem Recht des Volkes, direkt Gesetzesvorschläge zu machen, steht als Ergänzung das Verwerfungsrecht zur Seite, das heißt das Recht des Volkes, vermittelst Urabstimmung den Gesetzen entweder erst ihre Gültigkeit zu geben oder sie zu verwerfen. Diese Forderung ist von uns stets prinzipiell anerkannt worden, und sie war in früheren Programmen bereits enthalten.
Dann fordern wir das Selbstbestimmungsrecht und die Selbstverwaltung des Volkes in Reich, Staat, Provinz und Gemeinde.[Anmerkung 110] Das Wort »Staat« heißt hier beiläufig Einzelstaat, nicht Staat in dem allgemeinen Sinne der ihren wirtschaftlichen Verhältnissen gemäß organisierten Gesellschaft. Wir haben hier zum ersten Male ausgesprochen, daß wir nur eine solche Staats- und Regierungsform, die auf der breitesten demokratischen Basis beruht, direkt aus dem Volke hervorgegangen ist und von dem Volke kontrolliert wird, mit dem Prinzip der Volkssouveränität in Harmonie stehend erachten. Wir verlangen, daß das Volk Herr sei über sein Schicksal, daß das Wohl des Volkes oberstes Gesetz und des Volkes Wille keinem anderen Willen untergeordnet sei; wir verlangen, daß alle Einrichtungen und Gesetze, welche den Äußerungen und Betätigungen des Volkswillens jetzt entgegenstehen, beseitigt werden. Daß hiermit eine vollständige Umgestaltung unserer jetzigen Staatseinrichtungen verbunden ist, begreift jeder auf den ersten Blick. Es bedeutet die absolute Demokratisierung der politischen Einrichtungen in Deutschland.
Entsprechend diesen Grundsätzen verlangen wir die Wahl der Behörden durch das Volk. Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes macht diese Forderung zu einer logischen Konsequenz. Aber wir formulieren hier eine neue Forderung: Verantwortlichkeit und Haftbarkeit des vom Volke gewählten Beamten. Daß wir Verantwortlichkeit und Haftbarkeit sagen, ist keine Tautologie, keine Häufung von zwei Worten, die wesentlich das gleiche bedeuten. Unter Verantwortlichkeit der Beamten ist nach gewöhnlichem Sprachgebrauch die politische, durch Verfassung und Gesetz vorgeschriebene Verantwortlichkeit der Beamten zu verstehen. Aber wir wollen etwas mehr. Wir wollen auch die persönliche, zivilrechtliche Haftbarkeit der Beamten für alles, was sie tun. Ich habe einmal im Reichstage diesen Gedanken der Haftbarkeit ausgesprochen – ich knüpfte an eine Kammerverhandlung an, die in Frankreich gerade stattgefunden hatte über einen Gesetzentwurf, kraft dessen die jetzige Republik den Opfern des Napoleonischen Staatsstreichs und des Napoleonischen Regiments eine Entschädigung gewährte.
Ich sagte damals: Die Zeit wird hoffentlich auch in Deutschland kommen, wo die Opfer des Sozialistengesetzes entschädigt und wo die Urheber dieses Gesetzes und alle diejenigen, die vermittelst desselben Tausende und Hunderttausende in ihrer Person und in ihrem Eigentum geschädigt haben, persönlich haftpflichtig gemacht werden. Ich will nicht, daß wie in Frankreich, die Steuerzahler die Entschädigung zu geben haben, sondern daß die Schuldigen belangt werden. – Der Ausdruck, persönliche Haftbarkeit, wurde damals von einigen Reaktionären so gedeutet, als habe ich zur Lynchjustiz aufgefordert. Nun, an Justiz dachte ich, aber nicht an Lynchjustiz. Die persönliche Haftbarkeit des Beamten ist ein notwendiges Postulat der Volkssouveränität. Der Beamte ist nicht ein höheres Wesen; er hat bloß den Willen des Volkes zu vollziehen oder im Einklang mit diesem Willen – wie der Richter – seines Amtes zu walten; er ist für alle seine Handlungen verantwortlich und darf nicht außerhalb der zivil- und gemeinrechtlichen Verfolgung stehen. Das wollen wir ausdrücken ...
Weiter wird gefordert: Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit, Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Das ist die alte Forderung der Sozialdemokratie, die schon von Fichte in seiner »Rede an die deutsche Nation« aufgestellt worden ist. Heute haben wir ein Volk »in« Waffen und ein Volk ohne Waffen. Es soll jeder Soldat sein, wie in der Schweiz, und um ein solches System direkt durchzuführen, ist es notwendig, daß jeder von Jugend auf in den Waffen geübt wird, im Marschieren, Turnen, Schießen usw. In der Schweiz kennt jeder Schullehrer in jedem Dorf die militärischen Übungen, er ist ja mindestens Unteroffizier in der Eidgenössischen Armee, vielleicht höherer Offizier. Er lehrt seine Schüler vom frühesten Alter an exerzieren, militärisch turnen, mit der Armbrust schießen – und in einem gewissen Alter erhält der Knabe schon ein Gewehr. Kurz, die Jugend wird dort in allen zum Militärdienst nötigen Übungen ausgebildet. Ein ähnliches System wollen wir haben, und ich meine, so ausgebildete Soldaten würden – wenn die Ausbildung rationell erfolgt – eine weit feldtüchtigere Mannschaft abgeben als unsere heutigen Soldaten, deren körperliche Ausbildung bei den traurigen Verhältnissen, in denen die meisten vor dem Eintritt ins Heer leben, und bei der Mangelhaftigkeit unseres Schulwesens eine zum Teil geradezu bejammernswerte ist...
Wir verlangen weiter Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Hierüber bloß ein Wort. Man hat gewünscht und von den verschiedensten Seiten beantragt zu sagen: direkt durch das Volk; die jetzige Fassung sei ja ein Rückschritt. Nein, das ist nach keiner Seite ein Rückschritt und ein positiver Fortschritt auf der Bahn des Vernünftigen und Praktischen. Nehmen Sie an, es kommt plötzlich ein Krieg, wie soll es da möglich sein, daß das ganze Volk erst darüber abstimmt? Und heutzutage kommen die Kriege meist plötzlich. Emanzipieren wir uns von der Phrase und drücken wir unsere Forderung so aus, daß sie auch Hand und Fuß hat!
Weiter: Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege. Daß wir keine Utopisten sind in bezug auf den »ewigen Frieden«, hat sich bereits auf dem Brüsseler Kongreß[Anmerkung 111] zur Genüge gezeigt. Wir haben dort in der bekannten Resolution ausgesprochen, daß der Zustand, welcher die permanente Kriegsgefahr und den Militarismus mit sich bringt, in den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen, im System des Kapitalismus wurzelt. Wir sind nicht wie die bürgerlichen Schwärmer, welche die Ursachen belassen und bloß die Folgen beseitigen wollen. Trotzdem stellen wir die Forderung auf, daß ein internationales Schiedsgericht errichtet werde, vor welches die Streitigkeiten der Staaten untereinander zu bringen sind. Vorläufig wird diese Forderung ja nicht verwirklicht werden, wie sehr vieles, was wir hier fordern, von dem heutigen Staat nicht verwirklicht werden wird, aber wir haben uns über diese die ganze zivilisierte Welt so tief berührende Frage auszusprechen, und wir müssen zeigen, daß wir jeden ernsten Versuch, die Kriegsgefahr zu beseitigen, als Partei unterstützen, jedoch ohne in die flache bürgerliche Friedensutopisterei zu geraten.
Wir verlangen ferner Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich- und privatrechtlicher Beziehung dem Manne unterordnen. In bezug hierauf ist mir unmittelbar, ehe ich das Wort ergriff, von fachkundiger Seite vorgeschlagen worden, wir möchten statt des Ausdrucks »dem Manne unterordnen« sagen: »dem Manne gegenüber benachteiligen«. Ich halte dies auch für eine Verbesserung, die übrigens rein redaktioneller Natur ist, und ich bitte Sie um die Erlaubnis, den Text entsprechend ändern zu dürfen. Vor Aufnahme dieser Forderung haben wir uns gefragt, ob, nachdem wir die absolute Gleichheit der Menschen »ohne Unterschied des Geschlechts« ausgesprochen haben, es nicht überflüssig sei, dies hier in einem speziellen Punkt noch besonders zu erklären. Nun ist aber zu bedenken, daß in Brüssel eine Resolution in diesem Sinne angenommen worden ist mit dem ausdrücklichen Wunsch, man möge sie in die sozialdemokratischen Parteiprogramme der verschiedenen Länder aufnehmen, und dem haben wir entsprochen.
Die beiden folgenden Absätze des Programms haben uns bei ihrer Formulierung die größten Schwierigkeiten bereitet. Man hat uns die Sache dadurch erleichtern wollen, daß man vorschlug, wir möchten doch die alten demokratischen Forderungen, wie wir sie im Eisenacher Programm finden, wieder aufnehmen: Trennung der Kirche von der Schule und Trennung der Kirche vom Staate. Ja, das war seinerzeit recht schön, aber es besagt bei weitem nicht alles, was wir sagen wollen und jetzt sagen müssen. Mit jener Formulierung wird die Kirche als ein neben dem Staate bestehendes Institut anerkannt, und das wollen wir nicht. Wir gehen viel weiter: In unseren Augen und in dem freien Gemeinwesen, welches wir anstreben, ist die Kirche eine einfache private Gemeinschaft und Vereinigung, welche denselben Gesetzen unterliegt wie alle anderen privaten Vereinigungen und Gemeinschaften. Das ist der Gedanke der absoluten Gleichheit, den wir hier ausgedrückt haben. Darum sagen wir: »Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten« – und damit die Katholiken nicht sagen können, wir wollten sie vergewaltigen, fügen wir hinzu: »Gemeinschaften, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.« In Verbindung mit diesem Passus über die Kirche fordern wir: »Weltlichkeit der Schule«. Das heißt, daß die Kirche, daß die Religion mit der Schule absolut nichts zu tun hat. Das zu fordern, sind wir prinzipiell verpflichtet, und der Punkt ist so klar, daß er einer Erläuterung nicht bedarf. Aber es galt, allen Mißverständnissen, den absichtlichen und unabsichtlichen Mißdeutungen vorzubeugen, zu welchen eine derartige Forderung in unserem Programm Anlaß geben könnte. Darum machte sich eine sehr sorgfältige Fassung notwendig...
Wir verlangen weiter, daß alle Zuwendungen aus öffentlichen Mitteln nicht bloß zu kirchlichen, sondern auch zu religiösen Zwecken zu streichen sind. Wir haben das Wort »religiöse« noch zugefügt, weil es Gemeinschaften gibt, die religiöser Natur sind, ohne darum kirchlich zu sein, und auch da soll aus öffentlichen Mitteln keine Zuwendung erfolgen, eben weil die Religion Privatsache ist.
Was nun das Schulwesen betrifft, so war es bei Feststellung unseres Programmentwurfs eine Streitfrage, die uns längere Zeit beschäftigte: ob wir nicht aussprechen sollten, daß der Unterricht und die Lehrmittel in allen Schulen, bis zu den höchsten, bis zur Universität, unentgeltlich sein sollen. Zum Teil mit Rücksicht auf die bezüglichen Ausführungen der Programmkritik von Karl Marx, der hervorhob, daß dadurch nur für die Bourgeoisie, für die Besitzenden ein Vorteil geschaffen würde, weil der Arbeiter unter den heutigen Verhältnissen seine Kinder nicht in höhere Schulanstalten schicken kann, haben wir uns aber zu einer Einschränkung entschlossen und fordern nur die Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Lehrmittel in den öffentlichen Volksschulen. Zu dieser Forderung gehört die andere der Verpflegung – beiläufig eine Forderung, welche vor fast hundert Jahren in dem berühmten Schulgesetz von Lakanal sich findet, das kurz nach der Enthauptung von Ludwig XVI. dem französischen Konvent vorgelegt und von ihm angenommen ward. Damals wurde der Grundsatz schon ausgesprochen, daß der Staat, der die Eltern zwingt, ihre Kinder in die Schule zu schicken, auch verpflichtet ist, für die leibliche Pflege der Kinder zu sorgen. Auch die Schulfrage ist eine soziale Frage. Hungernde Kinder können nichts lernen. – Für sich selbst spricht unsere weitere Forderung, daß diejenigen Kinder, welche besondere Anlagen zeigen und bei der Prüfung sich als fähig für den Besuch höherer Schulen – Fach- und anderer Schulen – erweisen, ähnlich wie es in verschiedenen Staaten von Amerika jetzt schon eingeführt ist, in den höheren Schulen unentgeltlich unterrichtet und verpflegt werden. Mit diesem Zusatz ist unser Schulparagraph so formuliert, daß er auch den weitestgehenden Anforderungen Rechnung trägt, ohne in phantastische Überschwenglichkeiten zu verfallen und den Boden der realen Verhältnisse zu verlassen.
Eine weitere Forderung ist die Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistandes, die Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung usw. Beides gehört prinzipiell zusammen. Die Möglichkeit, sein Recht zu suchen, ist heute im wesentlichen ein Privilegium der Reichen. Das Recht zu klagen, ist in den meisten Fällen dem Armen tatsächlich genommen, weil das Klagen und Prozessieren zu teuer ist. Genauso ist es mit der ärztlichen Hilfe im Falle der Krankheit. Der Arzt ist kein Beamter, und wenn auch jetzt in einzelnen Fällen die Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfeleistung wie die des Rechtsbeistandes gesichert ist, so ist dies doch an Bedingungen geknüpft, die nicht jeder erfüllen kann oder mag, und Hunderttausende gehen heutzutage der ärztlichen Hilfe wie des Rechtsbeistandes aus Mangel an Geld und aus Scheu vor den hohen Kosten verlustig. So werden neue Privilegien für die besitzenden Klassen geschaffen! Was nun insbesondere die Unentgeltlichkeit des Rechtsbeistandes und der Rechtshilfe anbelangt, so sind hiergegen ja allerhand praktische Bedenken erhoben worden. Aber wir haben uns gesagt, bei einer Vereinfachung des Rechtsweges lassen sich sehr wohl Formen finden, in welche unsere Forderung ausgeführt werden kann, und nicht unsere Sache ist es, hier Einzelheiten festzustellen, sondern das ist Sache des Gesetzgebers. Zugunsten dieser Forderung ist noch besonders geltend zu machen, daß der Staat ja nach den Definitionen der Rechtsphilosophie ein großer Verein zum Rechtsschutz ist und daß der »Rechtsstaat« den Verteidigern des heutigen Staates stets als Ideal vorschwebt. Und sagen sie uns nicht immer: »Der Staat garantiert einem jeden Staatsangehörigen und Bürger sein Recht«? Gut, wir verlangen, daß der Rechtsschutz, welcher jetzt für die Masse des Volkes nur auf dem Papier besteht, zur Wahrheit werde für alle. Jetzt hat ihn bloß der Reiche, der gar keinen staatlichen Rechtsschutz braucht, weil er sich selbst zu seinem Recht verhelfen kann; dem Armen aber, der in seinen Rechten viel leichter und mehr bedroht wird als der Reiche, ist er unerreichbar, und für ihn besteht der Rechtsschutz tatsächlich nicht. Das ist eine Ungerechtigkeit, der ein Ende gemacht werden muß. Weiter!
»Stufenweise steigende Einkommen- und Vermögenssteuern zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind.« Die Einfügung der Vermögenssteuer hat in der Kommission zu einer Debatte Veranlassung gegeben. Wir haben aber gefunden, daß neben dem Einkommen auch das Vermögen erwähnt werden muß, wie es zum Beispiel in England bei der Income and Property Tax – Einkommen- und Eigentumssteuer – der Fall ist. Es ist notwendig, eine Unterscheidung zu machen zwischen demjenigen Einkommen, welches einfach aus der individuellen Arbeit einer Person entsteht, und demjenigen, welches eine Person hat, ohne daß sie selbst zu arbeiten braucht, zum Beispiel aus Grund und Boden, aus Kapitalien, aus Staatspapieren usw. Während bei dem einen das Einkommen an die Person geknüpft ist und aufhört, wenn sie nicht mehr arbeiten kann, wenn sie stirbt – ist das andere Einkommen von der Person unabhängig. Bei einem Einkommen dieser Art muß die stufenweise Besteuerung eine andere und höhere sein. Mit anderen Worten, jemand, der ein Einkommen von festem Vermögen hat, muß mehr besteuert werden als jemand, der ein Einkommen ohne Vermögen hat. – Wir haben ferner die Selbsteinschätzungspflicht aufgenommen, wogegen wohl nichts zu bemerken ist. Von der Erbschaftssteuer wird verlangt, daß die stufenweise Erhöhung nicht bloß nach dem Umfang des Erbgutes zu bemessen ist, also nach dem Grundsatz der Progressivsteuer, sondern auch gleichzeitig nach der größeren Entfernung des Verwandtschaftsgrades. Hierüber wird wohl keine Meinungsverschiedenheit bestehen.
Ich komme nun zu dem zweiten Teil der besonderen Forderungen, nämlich denjenigen, welche wir speziell zum Schutz der Arbeiterklasse aufstellen. Unter diesen ist auch nicht eine einzige, die einer genaueren Erörterung hier noch bedürfte. Um einer etwaigen Debatte vorzubeugen, will ich bloß erwähnen, daß wir die Anträge, die von den verschiedenen Seiten vorlagen, zu dem Zweck, die staatliche Versicherung in der einen oder anderen Form auch auf die Arbeitslosigkeit auszudehnen, haben streichen müssen – und zwar einstimmig –, weil wir zu der Überzeugung gekommen sind, daß eine derartige Forderung einfach nicht durchführbar ist und uns von dem Boden des tatsächlich Möglichen entfernen würde, den wir in diesen besonderen Forderungen – und namentlich in diesem Teil derselben – nicht verlassen dürfen. Es ist ja von den Arbeitergewerkschaften in England der Versuch einer Versicherung gegen Arbeitslosigkeit gemacht worden, da hat sich dann herausgestellt, daß bloß die Organisation solcher Gewerbe, bei denen es durchschnittlich hohe Löhne und eine geringe Zahl von Arbeitslosen gibt, eine solche Versicherung zur Not durchführen können – also nur diejenigen Arbeitergruppen, die es am wenigsten brauchen. Alle anderen Gewerke, in welchen heutzutage die Arbeitslosen nach Tausenden zählen, sind sofort an dem Versuch gescheitert, und wenn wir dem Staate diese Aufgabe zumuten wollten, so würden wir unserer Sache einen schlechten Dienst leisten. Wie schon angedeutet, gerade in den Forderungen betreffend die Arbeiterklasse müssen wir als Arbeiterpartei alles Nebelhafte und Undurchführbare vermeiden. Was wir in diesem Teil unseres Programms fordern, ist eminent praktisch und zum großen Teil in anderen Ländern bereits verwirklicht, und wir müssen diese Forderungen nicht belasten durch solche, welche es unseren Gegnern leicht machen zu sagen: Ihr fordert das Unmögliche! Die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit gehört aber schon in das Traumland des »Rechtes auf Arbeit«.
Genossen! Es wäre mir unendlich lieb gewesen, wenn wir einem früheren Stadium das Programm hätten behandeln können, wenn wir entweder auf diesem regelmäßigen Jahreskongreß oder auf einem speziell zu diesem Zweck einberufenen außerordentlichen Kongreß in eingehendster Weise alle Grundprinzipien unseres Programms und alle damit zusammenhängenden Fragen hätten durchsprechen können.[Anmerkung 112] Ich bin überzeugt, es hätte das der Partei zum Vorteil gereicht, nach innen wie nach außen. Aber es ist nicht möglich gewesen – und die notgedrungen beschränkte Zeit, über welche wir verfügen, macht es notwendig, daß wir uns jetzt in der Debatte die möglichste Beschränkung auferlegen und nicht allzusehr in Einzelheiten eingehen. Ich will deshalb nur noch das absolut Notwendigste sagen, indem ich mir vorbehalte, erforderlichenfalls nachher von dem mir als Referenten zustehenden Recht Gebrauch zu machen. Ich hoffe aber, daß die Debatte sich nicht ausdehnen möge über Fragen, über welche in der Partei selbst schon monatelang Debatten stattgefunden haben und über die man sich in unserer Presse klargeworden ist. Alle Genossen, die Anträge gestellt haben und hier auf dem Parteitage als Delegierte anwesend sind, haben wir in die Programmkommission gewählt, weil wir von der Überzeugung ausgingen, daß es weit zweckmäßiger ist, wenn der Wortlaut in einem kleinen Kreise festgestellt wird, als wenn die Klärung der Meinungen in einem größeren Kreise stattfinden soll, wo ein Programmentwurf ja wohl überhaupt gar nicht festgestellt werden kann. Und endlich bemerke ich noch: Auch alle diejenigen Mitglieder der Kommission, welche Programmanträge vertreten haben, die nicht in diesen unseren Entwurf aufgenommen worden sind, haben sich für den Entwurf in seiner jetzigen Fassung erklärt und haben sich durch die Gründe, welche die Majorität bestimmt haben, überzeugt erklärt.
Genossen! Im Anfange seiner aufsteigenden Macht sprach Fürst Bismarck der fortschrittlichen Bourgeoisie gegenüber das Wort aus: Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo, wenn ich mit Euch Fortschrittlern und Liberalen nicht fertig werde, dann beschwöre ich das Proletariat herauf, ich bewege den Acheron, ich entfessele gegen Euch die sozialistische Bewegung. Fürst Bismarck rief, der Acheron, das deutsche Proletariat, hat sich aber nicht bewegt! Es wurden uns Anerbietungen gemacht, sie wurden verachtungsvoll zurückgewiesen. Dann rief die Sozialdemokratie, und der Acheron hat sich bewegt, die deutsche Arbeiterbewegung entstand, und die deutsche Arbeiterschaft marschiert jetzt, soweit sie klassenbewußt ist, einmütig und geschlossen wie in keinem anderen Lande der Erde, unter dem Banner der Sozialdemokratie. Was Fürst Bismarck nicht konnte, das hat die deutsche Sozialdemokratie erreicht – sie war stärker als er, und auf der ganzen Linie steht die Sozialdemokratie da als Siegerin über das Bismarcksche System.[Anmerkung 113] Man hat von dem »ehernen Entwicklungsgesetz« gesprochen. Und es ist ein ehernes Gesetz, keiner kann es abändern, mit Gewalt es beugen oder brechen, und Fürst Bismarck, der Mann, der über alle Machtmittel des Staates und der Gesellschaft verfügte, der von sich sagte: ich bin das Reich, der Staat bin ich! – der es mit größerem Recht von sich sagte als jener König von Frankreich –, er liegt heute zerschmettert am Boden, und Staat und Gesellschaft sind noch da, nichts hat sich in der Welt wesentlich geändert, ein Mann weniger auf der politischen Bühne und nichts weiter – ein Mann über Bord! Die Sozialdemokratie weiß, daß, sowenig ein Bismarck die Bewegungsgesetze ändern konnte, ebensowenig wir es können. Wir wissen, daß die bürgerliche Gesellschaft, sie mag tun, was sie will, in ihr Verderben rennt. An ihr vollzieht sich das Verhängnis. Es ist wie eine Schicksalstragödie des Altertums: Der Held, das Opfer weiß, er ist verurteilt, es besteht ein Schicksalsspruch, den er erfüllen muß. Er wehrt sich dagegen, er sucht dem Verhängnis zu entrinnen, aber jeder Schritt, den er tut, um seinem Verhängnis zu entgehen, führt ihn der Katastrophe näher, bis der Tag des Untergangs, des Verderbens, des Gerichtes hereinbricht. So ist es mit unserer Bourgeoisie. Sie bietet alles auf, um dem Schicksal zu entrinnen; aber jeder Versuch, dem Verhängnis auszuweichen, führt sie der Vollstreckung des Urteils, des Schicksalspruches bloß näher. Sie mag gegen uns tun, was sie will, sie tut es für uns, sie mag für sich tun, was sie will, sie tut es für uns; und wir, wir mögen tun, was wir wollen, die Verhältnisse arbeiten uns in die Hände; alles in Staat und Gesellschaft, Verfolgungen, Konzessionen, einerlei: alles schlägt uns heute zum Vorteile aus – uns, der aufsteigenden, siegenden Sozialdemokratie. Mögen unsere Gegner versuchen, was sie wollen, sie können nur für uns arbeiten.
Ich führte vorhin aus, daß die bürgerliche Gesellschaft eine Gesellschaft der Expropriation, daß der Kapitalismus die Expropriation in Permanenz ist.
Die Besitzer der Arbeits- und Produktionsinstrumente expropriieren diejenigen, welche keine besitzen, und dieser Prozeß der Expropriierung, das heißt der Eigentumsberaubung, dauert fort, solange diese gesellschaftliche Ordnung besteht. Sie nennt sich allerdings die Gesellschaft des Eigentums, des persönlichen Eigentums, aber in Wirklichkeit ist sie gerade die Gesellschaftsform, welche das persönliche Eigentum zerstört. Und das Ende dieses Expropriationsprozesses kann nur sein, was Marx ausgesprochen hat in seinem granitenen Wort: die Expropriation der Expropriateure! Das Eigentum, soweit es berechtigt und möglich ist, das heißt das gleiche Anrecht eines jeden auf den Genuß der Güter, welche durch die gemeinschaftliche, organisierte Arbeit aller erzeugt werden, kann sich erst dann verwirklichen, wenn diese Gesellschaft in Trümmer zerfallen ist.
Wir sind jetzt im Begriff, uns ein neues Programm zu geben. Das alte hat uns treffliche Dienste getan. Ehrfurchtsvoll werden wir, werden unsere Nachkommen es zu allen Zeiten betrachten – was mangelhaft daran war, ist ergänzt und verbessert worden durch die steigende Bildung und Intelligenz der Genossen. In die mangelhafte Form haben sie den richtigen Inhalt hineingegossen. Das schönste Programm nützt uns nichts, wenn nicht der echte, lebendige Geist hineingelegt wird. Und darum bitte ich Sie, kleben Sie nicht an dem Wort! Bedenken Sie, ein vollkommenes Programm gibt es nicht. Das Programm, welches nach der einstimmigen Meinung von uns allen im Augenblicke das beste ist, wird schon in der nächsten Stunde einen Kritiker gefunden haben, der in der einen oder anderen Formel, in dem einen oder anderen Satz eine Verbesserung anbringen wird. Wir wollen – wie schon 1875 gesagt ward –, wir wollen uns im Programm keinen Papst schaffen. Das Programm hat nur das eine zu erfüllen: klar und verständig die Ziele unserer Partei hinzustellen, den Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft zu zeigen und die Naturnotwendigkeit, mit welcher sie sich selbst tötet und in welchem sie selber den Moment herbeiführt, wo die kapitalistische Produktion im Interesse der menschlichen Gemeinschaft ersetzt werden muß durch die sozialistische Produktionsweise. Diesen Entwicklungsprozeß mit aller Macht zu beschleunigen und alle Kraft daranzusetzen, daß dieser Moment möglichst bald eintrete, das ist unsere heilige Pflicht. Sorgen Sie dafür, daß das neue Programm, welches wir heute schaffen werden, die Partei von Siegen zu Siegen führe, wie das alte – von Sieg zu Sieg bis zum endgültigen Sieg! Legen Sie den richtigen Geist in das neue Programm! Kämpfen Sie in dem richtigen Geist unter diesem neuen Banner! Tragen Sie es, eingedenk der erhöhten Pflichten, die aus der Größe und dem Wachstum unserer Partei für uns entspringen, mannhaft und begeisterungsvoll voran, kämpfen Sie furcht- und rastlos, wie Sie unter dem alten Banner, unserer alten zerfetzten Sturmfahne gekämpft haben. Setzen Sie Ihre ganze Kraft, Ihre ganze Persönlichkeit an die Verwirklichung dieses Programms, und sorgen Sie so dafür, daß die Zeit bis zu dem Tag, wo die heutige bürgerliche Gesellschaft fällt, möglichst abgekürzt werde – denn der Fall dieser Gesellschaft hängt wesentlich ab von der Summe der Kraft, die gegen sie eingesetzt wird. Je mehr Kraft wir in die Agitation, in unseren Agitationskampf legen, je rücksichtsloser wir unsere Persönlichkeit in die Waagschale werfen, desto rascher werden wir am Ziele sein und desto eher das Banner der Sozialdemokratie auf den Zwingburgen der heutigen Gesellschaft aufpflanzen!
Kein Kompromiß – Kein Wahlbündnis
»Kein Kompromiß – Kein Wahlbündnis« ist die letzte größere Arbeit Liebknechts, die zu seinen Lebzeiten erschien; sie kann als sein politisches Testament betrachtet werden. Mit dieser Broschüre wandte sich Liebknecht energisch gegen den anwachsenden Opportunismus, insbesondere gegen den Revisionismus Bernsteins, und legte seinen Standpunkt zur Frage der Beteiligung der Partei an den preußischen Landtagswahlen dar, über die innerhalb der Partei unterschiedliche Auffassungen bestanden. Liebknechts Broschüre diente der Vorbereitung des Parteitages zu Hannover im Oktober 1899, der nach einem grundlegenden Referat Bebels – der von Liebknecht zu Unrecht des »praktischen Opportunismus« (in bezug auf die Wahlbeteiligung in Preußen) bezichtigt wurde – den revisionistischen Angriff auf die Grundanschauungen und die Taktik der Partei zurückwies. Liebknechts Broschüre erschien im Sommer 1899 – das Vorwort ist vom August 1899 datiert – im parteieigenen Verlag »Expedition der Buchhandlung Vorwärts« mit einer Auflage von 25 000 Exemplaren. Unsere Wiedergabe folgt dieser Ausgabe. Lenin sorgte 1907 für die Veröffentlichung in russischer Sprache und fügte ihr ein spezielles Vorwort bei.
Die nachstehende Broschüre ist nicht wie meine erste über Taktik ein Vortrag, aber sie ist veranlaßt durch einen Vortrag, den ich in diesem Sommer auf Wunsch meiner Berliner Wähler[Anmerkung 114] über die letzten bayrischen Landtagswahlen im besonderen und Kompromisse im allgemeinen gehalten habe. Durch die Zähigkeit, mit der seit einiger Zeit von verschiedenen Seiten für die Annäherung unserer Partei an die bürgerlichen Parteien gearbeitet wird, namentlich durch die hartnäckige Propaganda für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen,[Anmerkung 115] ist in einem Teil der Berliner Wähler – wie wohl der Genossen in ganz Deutschland – die Besorgnis erweckt worden, es seien in der Partei Strebungen vorhanden, die, wenn es auch nicht ihr Zweck, doch die Hinüberführung der sozialdemokratischen Partei in das Lager der bürgerlichen Parteien zum Zweck haben müßten. Der Besorgnis gab Nahrung die Bernsteinsche Bußschrift[Anmerkung 116] – die feierliche Verleugnung der sozialdemokratischen Prinzipien durch einen Genossen, der bis dahin als ein Wächter unserer Prinzipien gegolten hatte, dessen Widerruf der sozialdemokratischen Irrlehre und sein Wiederbekenntnis zum alleinseligmachenden Glauben der bürgerlichen Weltanschauung. So unbedeutend die Schrift Bernsteins an sich ist, deren inhaltliche Bedeutung einzig darin liegt, daß sie ohne einen neuen selbständigen Gedanken als richtig zugesteht, was Feinde der Sozialdemokratie gegen die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten hundertmal gesagt haben – im Zusammenhang mit der verwirrenden Agitation für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen und mit den unglücklichen Isegrim-Artikeln[Anmerkung 117] gegen das Milizsystem und für den Militarismus erlangte die Schrift eine nicht wegzuleugnende symptomatische Bedeutung.
Und gerade als die Partei im Kampf gegen das Zuchthausgesetz[Anmerkung 118] und die sonstigen Knebelungsversuche der herrschenden Reaktion die Schippelei und Bernsteinerei zu vergessen anfing – vom nächsten Parteitag ein gründliches Aufräumen und Reinemachen erwartend –, da kam plötzlich die Nachricht von dem »Kuhhandel« in Bayern. An »bayrische Eigentümlichkeiten« sind wir seit Jahren gewöhnt; wir wissen, daß die bayrischen, überhaupt die süddeutschen Dinge nicht nach dem norddeutschen Maßstab zu messen sind – und niemand kann toleranter sein als die Berliner Genossen, die vor den Toren der Reichs- und Residenzstadt mit ebenso eigentümlichen, wenn auch andersgearteten Eigentümlichkeiten zu rechnen haben, wie die bayrischen nur sein können. Namentlich wissen wir, daß, wo das konfessionelle Element in der Politik mitspricht und das Zentrum[Anmerkung 119] eine normale politische Entwicklung hindert, das Klassenbewußtsein leicht durch andere Rücksichten übertäubt wird. Und auch außerhalb Bayerns haben wir schon von gar seltsamen Wahlbündnissen Kunde bekommen. Allein, was diesmal in Bayern geschah, war in seiner Art doch eine Neuheit; ein formelles Bündnis, abgeschlossen nicht unter der Hand, nicht über die Köpfe der Menge hinweg von einzelnen Genossen, sondern von Partei zu Partei – von den Führern der Sozialdemokratie in Bayern mit den Führern der Zentrumspartei in Bayern.
Dieses Ereignis brachte eine große Bewegung hervor und verursachte in den weitesten Parteikreisen das peinlichste Aufsehen. Im ersten Moment fand das Erstaunen, fand die Mißbilligung keinen Ausdruck. Man konnte, da auch in Bayern die Landtagswahlen indirekt sind, nicht sofort Protest erheben, denn man hätte die bayrischen Genossen, die mitten in der Schlacht waren, ja nur gestört und vielleicht schwere Verantwortlichkeit auf sich geladen. So hatten die bayrischen Verteidiger des »Kuhhandels« zunächst für sich allein das Wort. Unter solchen Umständen ist es erklärlich, daß die Besorgnisse der Genossen, die Anzeichen einer planmäßigen und methodischen Versumpfung der Partei zu bemerken glaubten, aufs äußerste gesteigert wurden. Berliner Genossen wandten sich an mich. Ich legte dar, warum der »Vorwärts« noch nicht Stellung zu dem bayrischen »Kuhhandel« genommen, verhehlte jedoch nicht, daß meine Ansichten über Kompromisse nicht die der Gesamtredaktion seien, schrieb einen Artikel, der trotz seines außerordentlichen ruhigen Tons von bayrischen Genossen als ein schwerer Angriff betrachtet wurde, und entwickelte in einer Versammlung des Wahlvereins für den VI. Berliner Wahlkreis meine Ansichten. Obgleich ich, um des lieben Friedens willen, ein Tadelsvotum gegen die bayrischen Genossen verhinderte, bin ich dennoch und sind die Berliner Genossen wegen dieser Versammlung von bayrischen Parteigenossen sehr heftig angegriffen worden – und nicht immer in feinen Ausdrücken. Wer sich im Unrecht fühlt, pflegt die Schwäche der Gründe durch die Stärke der Sprache zu ersetzen. Ich habe deshalb die Grobheit meiner Gegner stets als unfreiwilliges Kompliment aufgefaßt und mich nie darüber geärgert.
Ungefähr gleichzeitig mit dem bayrischen Kuhhandel war in Frankreich der Eintritt eines Sozialisten – Millerand – in eine reaktionäre Bourgeoisregierung erfolgt und Anlaß zu einer Spaltung der französischen Sozialdemokratie geworden. Die tüchtigsten unserer französischen Genossen, Guesde, Lafargue, Vaillant, die Gründer der modernen sozialistischen Bewegung in Frankreich, protestierten gegen den Eintritt Millerands in das Ministerium des reaktionären Bourgeois Waldeck-Rousseau und des Kommuneschlächters Galliffet[Anmerkung 120] und trennten sich von der sozialistischen Kammergruppe, die ihrer Überzeugung nach sich von dem Boden des Klassenkampfs entfernt hatte.
Hier zeigten sich die Gefahren der Kompromißtaktik in ihrer ganzen Größe; und da inzwischen im »Vorwärts« in der Nummer vom 28. Juli ein Artikel, betitelt »Augenblicks-Kartelle« erschienen war, welcher der Kompromißtaktik das Wort redete, so entschloß ich mich, im Auftrag von Genossen Berlins und der Umgebung eine Broschüre zu schreiben, in der ich mich – wie ich weiß im Einklang mit der überwiegenden Mehrheit der Berliner Genossen – über die Frage der Taktik, insbesondere über Kompromisse und Wahlbündnisse ausspreche und so der Partei, soweit es in meiner Kraft steht, Gelegenheit biete, sich vor dem Parteitag[Anmerkung 121] noch einmal im Zusammenhang und in ihrem ganzen Umfang die Folgen zu vergegenwärtigen, welche ein Bruch mit der altbewährten Taktik unserer Partei nach sich ziehen würde.
Wenn ich hier von unserer Taktik rede, so nehme ich das Wort ohne Rücksicht auf Unwesentliches und Äußerliches in der Bedeutung, welche es seit Beginn der Partei für uns im Gegensatz zu allen übrigen Parteien gehabt hat – in der Bedeutung der Taktik des Klassenkampfes, die sehr oft in den Formen gewechselt hat, im Wesen aber unverändert dieselbe geblieben ist. Unsere eigene proletarische Klassentaktik, die uns von allen anderen Parteien auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft trennt und aus ihrer Gemeinschaft uns ausschließt.
Die Schrift ist eine Ferienarbeit. Sie ist im wahren Sinne des Wortes auf der Wanderschaft geschrieben – in Haus und Feld, auf Bergen, in der Eisenbahn, hier und dort. Das hat natürlich der Einheitlichkeit Abbruch tun müssen, beweist aber auch, wie ernst es mir mit der Sache ist, der ich die Sorglosigkeit meiner Ferien zum Opfer brachte.
Im August 1899 W. Liebknecht
Die Frage der Kompromisse hat in der einen oder anderen Form unsere Partei schon seit deren Eintritt in die politische Aktion beschäftigt. Für eine umfassende geschichtliche Darlegung habe ich indes jetzt keine Zeit und ist hier nicht der Ort. Der gegenwärtige Parteirechtszustand in bezug auf die Kompromißfrage drückt sich aus in den Beschlüssen der Parteitage von Köln, Hamburg und Stuttgart. Der Beschluß des Kölner Parteitags, gefaßt am 28. Oktober 1893, lautete:
»In Erwägung, daß das Dreiklassenwahlsystem in Preußen, das nach dem eigenen Ausdruck Bismarcks das elendste aller Wahlsysteme ist, der Sozialdemokratie es unmöglich macht, sich mit Aussicht auf Erfolg an den Wahlen zum preußischen Landtag selbständig zu beteiligen; in fernerer Erwägung, daß es den bisher beobachteten Grundsätzen der Partei bei Wahlen widerspricht, sich in Kompromisse mit feindlichen Parteien einzulassen, weil diese notwendigerweise zur Demoralisation und zu Streit und Zwietracht in den eigenen Reihen führen mußte, erklärt der Parteitag: es ist Pflicht der Parteigenossen in Preußen, sich jeder Beteiligung an den Landtagswahlen zu enthalten.
Der Parteitag beschließt ferner: in Erwägung, daß die Wahlsysteme in den Einzelstaaten eine wahre Musterkarte reaktionärer Wahlgesetze bilden, daß insbesondere der plutokratische Charakter des Dreiklassenwahlsystems in Preußen es der Arbeiterklasse unmöglich macht, eigene Vertreter in den Landtag zu senden, fordert der Parteitag die Parteigenossen auf, in allen Einzelstaaten eine umfassende und energische Agitation für die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für die Landtage im Sinne unserer Programmforderung in Angriff zu nehmen.« –
Drei Jahre später nahm der Parteitag von Hamburg – am 9. Oktober 1897 – folgende Resolution an:
»Der Beschluß des Kölner Parteitags, der den preußischen Parteigenossen die Beteiligung an den Landtagswahlen auf Grund des Dreiklassenwahlsystems untersagt, ist aufgehoben. Die Beteiligung an den nächsten preußischen Landtagswahlen ist überall geboten, wo die Verhältnisse den Parteigenossen eine solche ermöglichen. Inwieweit eine Wahlbeteiligung in den einzelnen Wahlkreisen möglich ist, entscheiden die Parteigenossen der einzelnen Wahlkreise nach Maßgabe der lokalen Verhältnisse.
Kompromisse und Bündnisse mit anderen Parteien dürfen nicht abgeschlossen werden.«
Die Aufhebung des Kölner Beschlusses erfolgte mit 160 gegen 50 Stimmen; die Gesamtresolution wurde mit 145 Stimmen gegen 64 Stimmen, bei einer Stimmenthaltung, angenommen. Um über die praktische Bedeutung des Hamburger Beschlusses Zweifel nicht aufkommen zu lassen, hatte nach den Abstimmungen über die einzelnen Teile der Resolution und nach der Gesamtabstimmung der Vorsitzende Singer, unter ausdrücklicher Zustimmung Bebels, des Antragstellers, ohne Widerspruch und mit im Protokoll verzeichneter Zustimmung erklärt:
»Ich konstatiere die Einmütigkeit des Parteitags darin, daß auf Grund des hier gefaßten Beschlusses eine Beteiligung nur durch Aufstellung sozialdemokratischer Wahlmänner geschehen kann.«[Anmerkung 122]
Daß Genossen von vornherein für liberale Wahlmänner stimmen sollten, war nach Bebels Bemerkung »absolut ausgeschlossen« und gehörte unter die Kategorie der »Kompromisse und Bündnisse« mit anderen Parteien.
Trotz des klaren Wortlauts und der ebenso klaren als autoritativen Auslegung des Beschlusses in bezug auf einen, verschiedenen Auffassungen Raum gebenden Punkt, war der Parteitag kaum auseinandergegangen, als Meinungsverschiedenheiten zum Ausdruck kamen. In scharfem Widerspruch mit den Tatsachen und mit dem Wortlaute des Protokolls wurde bestritten, daß das von vornherein erfolgende Eintreten unserer Partei für liberale Wahlmänner ein Kompromiß sei und sogar der Vorwurf erhoben, der Parteitag sei durch Singer »überrumpelt« worden. –
Der vorjährige Parteitag trat in Stuttgart zusammen unmittelbar vor den preußischen Landtagswahlen. Bei dem Auseinandergehen der Meinungen war nicht an eine Erledigung der Angelegenheit zu denken, zumal die Tagesordnung des Parteitags ohnehin überladen war. So blieb nichts übrig, als die endgültige Regelung einem späteren Parteitag zu überlassen und einen Notbeschluß zu fassen.
Am 5. Oktober 1898 nahm der Stuttgarter Parteitag nachstehende, von einer Kommission vereinbarte Resolution einstimmig an:
»Die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen unter dem Dreiklassenwahlsystem kann nicht wie die an den Reichstagswahlen als eine Heerschau betrachtet werden, nicht als ein Mittel, durch die Zählung unserer Stimmen einen moralischen Erfolg zu erreichen, sondern nur als ein Mittel, bestimmte praktische Erfolge zu erzielen, namentlich die Abwendung der Gefahr, daß die krasseste Reaktion die Mehrheit im Landtag erlangte. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, erklärt der Parteitag, daß die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen nicht in allen Wahlkreisen geboten ist, um so weniger, als bei der Kürze der Zeit, die uns von den preußischen Landtagswahlen trennt, nicht daran gedacht werden kann, die in dieser Frage jetzt weit auseinandergehenden Meinungen innerhalb der Partei einander so zu nähern, daß ein einheitliches Vorgehen der Partei möglich ist. Unter diesen Umständen überläßt es der Parteitag den Genossen der einzelnen Wahlkreise, über die Frage der Beteiligung zu entscheiden. Wird in einem Wahlkreis die Beteiligung beschlossen, so würden, falls es sich dabei um eine Unterstützung bürgerlicher Oppositionskandidaten handelt, die Kandidaten sich verpflichten müssen, für den Fall ihrer Wahl in den Landtag für die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts, wie solches für die Wahlen zum Reichstag besteht, auch für die Wahlen zum Landtag einzutreten und im Landtag alle Maßnahmen entschieden zu bekämpfen, die geeignet sind, die bestehenden Volksrechte im Einzelstaat weiter zu schmälern oder zu beseitigen. Die zu dem Punkte: Preußische Landtagswahlen gestellten Anträge sind durch die Annahme dieser Resolution erledigt.«[Anmerkung 123]
Dies der Stuttgarter Beschluß. Man sieht, er ist bloß provisorisch und läßt die Frage der Taktik genau auf dem Boden des Hamburger Beschlusses. Trotzdem haben Genossen einzelner Wahlkreise sich für berechtigt gehalten, diesem Beschluß zuwider mit anderen Parteien Abmachungen zu treffen, die entschieden Kompromisse im Sinne des Hamburger Beschlusses sind. Und die jüngsten Wahlvorkommnisse in Bayern – das von beteiligten Genossen selbst als »Kuhhandel« bezeichnete Wahlbündnis mit dem Zentrum – hat gezeigt, daß, wenn einmal die Schneide des opportunistischen Keils in die Parteitaktik eingedrungen ist, das dicke Ende sich bald nachschiebt.
Für unsere Partei und für unsere Parteitaktik gibt es nur einen Rechtsboden: den Boden des Klassenkampfes, aus dem die Sozialdemokratische Partei hervorgewachsen ist und aus dem allein sie die nötige Kraft schöpfen kann, um jeden Sturm und all ihren Feinden trotzen zu können. Die Gründer unserer Partei, Marx, Engels, Lassalle, haben die Notwendigkeit des Klassencharakters unserer Bewegung den Arbeitern so unverlöschlich eingeprägt, daß bis in die neueste Zeit Abweichungen und Entgleisungen irgend erheblicher Art nicht vorgekommen sind. Der Kölner Beschluß wurde durch einen Vorschlag des in London lebenden und als Redakteur des »Sozialdemokrat« von den Genossen verehrten Eduard Bernstein hervorgerufen.[Anmerkung 124] Bis zum Jahr 1893 war in der Öffentlichkeit von der Möglichkeit oder Ratsamkeit einer Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen überhaupt nicht die Rede gewesen. Unterderhand war anfangs der achtziger Jahre von Frankfurter Demokraten ein Zusammengehen der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Demokraten zur Erlangung eines sozialistischen und eines demokratischen Landtagsmandats für Frankfurt gemacht, aber auch unterderhand, ohne in weitere Kreise gedrungen zu sein, abgelehnt worden. Ausschlaggebend war der Grund, daß der Klassencharakter der Partei durch ein derartiges Bündnis geschwächt würde und daß der Vorteil eines Mandats durch den Nachteil eines Landtagswahlbündnisses mit einer Partei, die wir bei der Reichstagswahl bekämpfen müssen, weit überwogen werde.
Die Wichtigkeit eines preußischen Landtagsmandats wurde von niemand verkannt. Als von größerer Wichtigkeit wurde es aber erkannt, daß die Mandate der Partei ausschließlich der Kraft der Partei zu verdanken sein müssen; nicht einem Bündnis mit Parteien, die augenblicklich ein gemeinsames Interesse mit uns haben können, allein ihrem bürgerlichen Wesen nach uns feindlich sind und dauernd feindlich sein werden.
Der Bernsteinsche Vorschlag, welcher auf Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen hinauslief, fand wenig Anklang und keine Verteidiger, so daß die von Bebel eingebrachte und begründete Resolution gegen die Beteiligung einstimmig angenommen wurde.
Daß die Frage der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen nach einigen Jahren abermals auftauchen und sogar zu ziemlich lebhaften Debatten führen könnte, erscheint auf den ersten Blick nicht recht verständlich, erklärt sich aber durch zwei Umstände. In bezug auf das preußische Dreiklassenwahlsystem hatten im Laufe der Zeiten die Ansichten mancher Genossen eine Veränderung erfahren. Einesteils war es hier und da dem Gedächtnis entschwunden, daß der konsequent und raffiniert verwirklichte Zweck des Dreiklassenwahlsystems die hermetische Ausschließung des demokratischen Denkens und Fühlens war und daß die kapitalistische Ära, welche ziemlich gleichzeitig mit Einführung des »elendesten aller Wahlsysteme« begann, durch die Erzeugung eines klassenbewußten Proletariats das Votum der sozialistischen Massen noch bedeutungsloser gemacht hatte, als ursprünglich das Votum der demokratischen Massen gewesen war. Wie arg sich viele der Redner und Rednerinnen auf dem Hamburger Parteitag über das Wesen des Dreiklassensystems täuschten, erhellt unter Umständen daraus, daß mehrere sich in dem Wahn wiegten, die preußische Landtagswahlagitation könne zu einer großartigen Massenagitation benutzt werden. In dem Jubel über die Erfolge, welche mit anderen, auch nicht demokratischen Landtagswahlgesetzen, namentlich dem sächsischen, erzielt worden waren, hatten manche vergessen, daß das preußische Dreiklassensystem durch die obligatorische Öffentlichkeit der Stimmabgabe alle wirtschaftlich, sozial und politisch Abhängigen, das heißt die große Mehrheit der Bevölkerung, von vornherein von der Wahl tatsächlich ausgeschlossen und dadurch allein schon eine Massenbeteiligung und Massenagitation unmöglich gemacht hat.
Die optimistische Selbsttäuschung in bezug auf das preußische Dreiklassenwahlgesetz ging so weit, daß nicht wenige der Genossen sich allen Ernstes einbildeten, wir Sozialdemokraten seien imstande, aus eigener Kraft ohne Zusammengehen oder gar Paktieren mit anderen Parteien eine, wenn auch kleine Zahl von Mandaten zu erringen. In diesem Wahn wiegt heute sich niemand mehr. Heute weiß jeder, daß wir ohne Kompromiß oder Wahlbündnis kein einziges Mandat für den preußischen Landtag erringen können. Anders vor zwei Jahren, wo der Parteitag in seiner Mehrheit unter dem Bann optimistischer Selbsttäuschung sich für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen aussprach. Zum Glück erinnerte sich aber die oberste Parteivertretung und Parteiinstanz des Ursprungs und Wesens der Partei und suchte durch ein rückhaltloses Verbot aller Kompromisse und Bündnisse mit anderen Parteien zu verhindern, daß die Selbsttäuschung Schritte veranlassen könnte, geeignet, die Partei zu schädigen und in falsche Bahnen zu leiten.
Man hat den Hamburger Beschluß widerspruchsvoll und unlogisch genannt. Richtig ist, wenn die Partei nach wie vor alle Kompromisse und Wahlbündnisse mit anderen Parteien verwirft, dann hatte es keinen Sinn, daß sie den Kölner Beschluß aufhob. Der Widerspruch, wie schon angedeutet, erklärt sich daraus, daß ein Teil der Partei über die Natur des preußischen Dreiklassenwahlgesetzes sich täuschte oder getäuscht war.
Aus diesem Widerspruch aber zu folgern, wie es tatsächlich geschehen ist, daß es der Partei mit ihrem Wunsch der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen mehr ernst gewesen sei als mit ihrer Abneigung gegen Kompromisse und daß demgemäß, da ein Widerspruch vorhanden, der Widerspruch durch rückhaltloses Eintreten für die Wahlbeteiligung und durch Streichung des Verbots der Kompromisse und Wahlbündnisse aufzuheben sei, zeugt von ebensowenig Logik wie Achtung für die Prinzipien und die Geschichte der Partei.
Freilich, in gewissen Parteikreisen – und das bringt mich zu dem zweiten Moment, dem wir es verdanken, daß die Frage der Beteiligung an den Landtagswahlen zu einer ernsthaften Parteistreitfrage hat werden können –, in gewissen Kreisen ist die Neigung oder sagen wir das Bestreben vorhanden, den Boden des Klassenkampfes zu verlassen und auf den gemeinsamen Kampfboden der übrigen Parteien zu treten. Da nun die übrigen Parteien insgesamt auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft stehen, so ist dieser gemeinsame Boden mit Notwendigkeit der Boden der bürgerlichen Gesellschaft. Ich sage nicht, daß die Vertreter der neuen Taktik allesamt dies wollen; ich bin von vielen derselben sogar überzeugt, daß sie es nicht wollen. Aber andere wollen es; und es ist kein bloßer Zufall, daß gerade Bernstein es ist, welcher die Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen zuerst vorgeschlagen hat. Dem auf Verbürgerlichung der Sozialdemokratie hinzielenden Programm Bernsteins entspricht diese Taktik durchaus, wohingegen sie vom Standpunkte derer, die den Klassenkampfcharakter unserer Partei nicht verleugnen oder zerstören wollen, entschieden unlogisch ist. Und ich stehe nicht an, meine frühere Erklärung zu wiederholen, daß ein praktisches Preisgeben unserer Partei-Grundanschauungen mir weit gefährlicher scheint als alle theoretischen Irrlichtereien Bernsteins zusammengenommen. Man hat behauptet, daß bei den bürgerlichen Parteien der politische Nerv abgestorben sei – daß sie den Sinn für Freiheit und Recht verloren hätten. Die Behauptung entbehrt sicherlich nicht des Grundes. Indes nicht erst seit neuerer Zeit. Wenn wir von kurzen Perioden absehen, hat das deutsche Bürgertum niemals das gehabt, was man unter »politischem Nerv« versteht. Wie dem aber sei, es kann im allgemeinen nicht geleugnet werden, daß wir unter dem Einflusse von politisch-ökonomischen Verhältnissen leben, die einesteils auf die äußerste Zuspitzung der ökonomischen und politischen Gegensätze, andererseits jedoch auch auf eine opportunistische Verflachung der Prinzipien hinwirken. Dazu kommt in Deutschland die politische Rückständigkeit unseres Bürgertums, die zur Folge hat, daß eine wirklich liberale Partei gar nicht vorhanden ist, ganz zu schweigen von einer demokratischen. Diese Tatsache hat nun zur natürlichen Folge, daß die ehrlich liberalen und demokratischen Elemente des Bürgertums mehr und mehr nach der Seite der Sozialdemokratie hin gravitieren, als der einzigen Partei, die in Deutschland demokratische Grundsätze verficht. Damit sind diese demokratischen Elemente aber noch keine Sozialisten, obgleich viele es zu sein glauben. Kurz, wir haben jetzt in Deutschland eine Erscheinung, die in Frankreich schon seit einem halben Jahrhundert und länger zu beobachten ist und die viel zur Verwirrung der französischen Parteiverhältnisse beigetragen hat, nämlich, daß ein Teil des radikalen Bürgertums sich unter die sozialistische Fahne schart, ohne das Wesen des Sozialismus begriffen zu haben. Dieser bürgerliche Sozialismus, der in Wirklichkeit nur philanthropisch-humanitärer Radikalismus ist, hat der Entwicklung des Sozialismus in Frankreich außerordentlich geschadet. Er hat die Prinzipien verwässert und verwischt und die sozialistische Partei geschwächt, weil er ihr Truppen zuführte, auf die im Moment der Entscheidung kein Verlaß war.
In den Aufsätzen, welche Marx über die Klassenkämpfe in Frankreich schrieb,[Anmerkung 125] hat er diesen bürgerlichen Sozialismus auch für uns gekennzeichnet. Und es wäre eine Abirrung und Entgleisung ohnegleichen, wollte die deutsche Sozialdemokratie, die bisher, gerade weil sie unentwegt auf dem Boden des Klassenkampfs voranschritt, so wunderbare Erfolge und ein so wunderbares Wachstum gehabt hat, plötzlich kehrtmachen und in die Fehler hineinstürzen, deren Vermeidung die Größe und der Stolz unserer Partei gewesen ist und die deutsche Sozialdemokratie an die Spitze der internationalen Sozialdemokratie aller Länder gebracht hat.
Das Schwinden der Furcht und Abneigung vor uns in bürgerlichen Kreisen führt selbstverständlich bürgerliche Elemente in unsere Reihen. Solange das in geringem Maße der Fall ist, hat es nichts Bedenkliches, weil die bürgerlichen Elemente von den proletarischen majorisiert und allmählich aufgesogen werden. Ein andres ist es, wenn die bürgerlichen Elemente in der Partei so zahl- und einflußreich werden, daß die Aufsaugung erschwert wird und sogar die Gefahr entstehen kann, daß das proletarische Element zurückgedrängt wird. Für die deutsche Sozialdemokratie besteht, infolge der Rückständigkeit unseres Bürgertums, diese Gefahr der Verbürgerlichung nach zwei Richtungen hin. Während einerseits die demokratischen Elemente des Bürgertums, die in der eigenen Klasse keine politische Befriedigung finden, uns in größerer Menge zufließen als in Ländern mit normal entwickeltem Bürgertum, hat sich anderseits der unbürgerliche, wenn auch kapitalistische Geist unserer Regierungen einem Staatssozialismus[Anmerkung 126] zugewandt, der in Wirklichkeit allerdings nur Staatskapitalismus ist, für solche, die durch äußere Ähnlichkeiten und Schlagwörter sich bestechen lassen, jedoch etwas Blendendes und Verführerisches hat. Der deutsche – oder genauer: preußische Staatssozialismus, dessen Ideal der Kasernen-, Junker- und Polizeistaat ist, haßt vor allem die Demokratie. Die Kanitze und Konsorten beteuern, aufrichtige und radikale Sozialisten zu sein – nur von der Demokratie wollen sie nichts wissen. Die Demokratie ist der Feind. Und sie ist ihnen etwas spezifisch Bürgerliches. Alles, was bürgerlich, ist aber dem Sozialistischen diametral entgegengesetzt. So gelangen wir zu dem Trugschluß, der auch in sozialdemokratischen Kreisen sich hier und da eingenistet hat, daß die Demokratie als etwas Bürgerliches mit dem Sozialismus nichts gemein habe, im Gegenteil ihm feindlich sei. Gewisse Verirrungen, zum Beispiel die Polemik gegen das Milizheer, lassen sich, wie früher die Schweitzerschen Irrleitungen,[Anmerkung 127] auf diesen Trugschluß zurückführen. Die Demokratie ist eben nichts spezifisch Bürgerliches, und wir dürfen niemals vergessen, daß wir nicht bloß eine sozialistische Partei sind, sondern eine sozialdemokratische, weil wir begriffen haben, daß Sozialismus und Demokratie untrennbar sind.
Als Fürst Bismarck in den sechziger Jahren den »Acheron« des Sozialismus bewegen wollte und mir durch Braß die Redaktion der »Norddeutschen«, später dann Marx durch Bucher gar die Redaktion des »Staatsanzeigers« anbieten ließ[Anmerkung 128] – beides mit Vollmacht, den Sozialismus bis in seine letzten Konsequenzen und rücksichtslos im Ausdruck zu vertreten –, da war es natürlich nicht Liebe zum Sozialismus oder Verständnis des Sozialismus, was den Fürsten Bismarck leitete. Vom Sozialismus verstand er damals nichts und hat er niemals etwas verstanden bis zu seinem Tod – wie er überhaupt von den treibenden Kräften des politischen und gesellschaftlichen Lebens nie einen Begriff gehabt hat. Ein weniger wissenschaftlicher und weniger wissender und so rein auf Erfahrung und halb Spieler-, halb Bauernschlauheit fußender »Staatsmann« hat wohl in keinem Lande und zu keiner Zeit gelebt. Durch jene Angebote an Sozialisten wird beiläufig die Verlogenheit der Versicherung des Fürsten Bismarck, er habe die Sozialdemokratie allezeit mit dem Bestande des Staats für unvereinbar gehalten, ins hellste Licht gestellt. Bismarck wollte den Sozialismus zur Sprengung und Auflösung des bürgerlich-oppositionellen Liberalismus, insbesondere der Fortschrittspartei gebrauchen. Beiläufig für sich allein schon der schlußkräftigste Beweis dafür, daß er vom Wesen des Sozialismus keine Ahnung gehabt. Natürlich wiederholte sich das Schicksal des Zauberlehrlings. Die angerufene Elementarkraft wuchs dem Pfuscher über den Kopf, und nicht er hatte den Sozialismus, der Sozialismus hatte ihn. Die Frage der Taktik tauchte damals für unsere Partei zum erstenmal auf. Sollten wir Bismarck um den Preis gewisser Zugeständnisse an die Arbeiter Beistand gegen die Fortschrittspartei und die sonstigen Gegner seiner Politik leisten, in der Erwartung, dann schließlich stark genug für den erfolgreichen Kampf gegen ihn und den in seiner Person verkörperten Junker-, Polizei- und Militärstaat zu sein. Oder erheischte es die Klugheit und das Interesse der Partei, daß wir, den Kampf Bismarcks mit dem fortschrittlichen Bürgertum und den übrigen Gegnern seiner Politik für uns ausnutzend, die Bismarcksche Politik bekämpften und das Proletariat zu einer selbständigen politischen Partei organisierten, zu dem Zweck, es für die Eroberung der politischen Macht vorzubereiten.
Eine Zeitlang schwankte das Proletariat, aber nach wenigen Jahren war die vornehmlich durch Herrn von Schweitzer befürwortete Taktik der Annäherung an die Bismarcksche Politik von der Gesamtheit der deutschen Arbeiterschaft aufgegeben und die Taktik allgemein angenommen, welche bis auf den heutigen Tag für die Partei in Geltung gewesen ist. Diese Taktik besteht darin, den Klassencharakter der sozialistischen Partei, als einer proletarischen, rein zu erhalten, sie durch Agitation, Erziehung und Organisation zur siegreichen Durchführung des Emanzipationskampfes zu befähigen, den Klassenstaat, in dessen Händen die politische und ökonomische Macht des Kapitalismus konzentriert ist, methodisch zu bekämpfen und in diesem Kampf aus allen Streitigkeiten und Konflikten der verschiedenen bürgerlichen Parteien unter sich nach Möglichkeit Vorteil zu ziehen.
In Deutschland ist das Bürgertum nicht zur politischen Herrschaft gelangt wie in Frankreich und England. Während das englische Bürgertum schon vor dritthalb Jahrhunderten, das französische Bürgertum vor mehr als einem Jahrhundert mit allem mittelalterlichen Plunder aufgeräumt hat, ist das deutsche Bürgertum überhaupt nicht in der Lage gewesen, eine bürgerliche Revolution zu machen und das, was man unter dem Namen »bürgerliche Freiheiten« begreift, im Staat zu verwirklichen. Der Verlust des Welthandels infolge der Entdeckung von Amerika und die damit in Verbindung stehende Verkümmerung des wirtschaftlichen Lebens, die politische Zersplitterung und Verkommenheit Deutschlands, die fast an Abtötung grenzende Lähmung des nationalen Geistes, das Emporwuchern dynastischer volks- und kulturfeindlicher Interessen – das alles verhinderte das Aufblühen eines kräftigen Bürgertums. Als 1848 eine verspätete Gelegenheit sich bot, hatte das deutsche Bürgertum auch damals noch nicht die Kraft zu einer bürgerlichen Revolution. Nach kurzem Freiheitsrausch duckte es sich wieder unter das alte Joch. Aus Angst vor den Arbeitern, in denen es eine neue gefährliche Macht witterte, wurde es reaktionär, ohne je revolutionär gewesen zu sein, tat Buße für seine Freiheitsideale, die ihm als »Jugendeseleien« erschienen, und warf sich der politischen Reaktion in die Arme, bloß noch von dem einen Ideal erfüllt: sich zu bereichern. Das Bürgertum verschwand vom politischen Schauplatz und wurde entweder politisch gleichgültig oder kapitalistisch. Und kapitalistisch, das heißt unbedingtes Anerkennen und Unterstützen der Regierung, vorausgesetzt, daß sie eine Klassenstaatsregierung ist und rücksichtslos die Interessen des Kapitalismus vertritt und zur Geltung bringt. Um Mißverständnissen vorzubeugen und falsche Auffassungen abzuwehren, müssen wir uns des Unterschieds zwischen den Begriffen »bürgerlich« und »kapitalistisch« voll bewußt sein. Beide Begriffe, die infolge der Mehrdeutigkeit des deutschen Wortes »Bürger« für uns sehr leicht zusammenfallen und sich miteinander vermischen, sind scharf voneinander zu trennen. In Frankreich hat das Wort Bourgeois, das im Mittelalter dieselbe Bedeutung hatte wie unser »Bürger«, im Laufe der Zeiten und der wirtschaftlichen Entwicklung allmählich die Bedeutung des Großbürgertums angenommen, wohingegen wir Deutschen für den letzteren Begriff das französische Wort »Bourgeois« entlehnen, nebenher aber auch das deutsche »Bürger« und »bürgerlich« gebrauchen, ohne die Verschiedenheit hervorzuheben. So entspringt eine Sprachverwirrung, die der Begriffserklärung nichts weniger als förderlich ist. Wir reden von bürgerlicher Gesellschaft und meinen die moderne kapitalistische Bourgeoisgesellschaft. Wir reden von bürgerlichem Geist, bürgerlicher Freiheit und meinen einen demokratischen Geist der Freiheit, wie er dem Bürgertum in früheren Zeiten, als es die Pfaffen und Junker noch bekämpfte, zu eigen war, der aber dem Geist des kapitalistischen und damit reaktionär, junker- und pfaffenfreundlich gewordenen Bürgertums, richtiger der Bourgeoisie, diamentral entgegengesetzt ist. Die Richtigkeit der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung, welche die politische Entwicklung von der ökonomischen abhängig sein läßt, kann nicht anschaulicher und überzeugender zum Bewußtsein gebracht werden als durch die Umwandlung, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts innerhalb des Bürgertums vollzogen hat. Es ist aufs genaueste nachzuweisen, wie mit der Umgestaltung der Produktionsverhältnisse auch die Umgestaltung der politischen Anschauung und Stellungnahme des Bürgertums vor sich gegangen ist. Jeder Schritt vorwärts in der ökonomischen Entwicklung war ein Schritt vorwärts in der Entwicklung der Klassengegensätze und ein Schritt der Annäherung des Bürgertums an seine alten Feinde: die Junker und Pfaffen und der Entfernung von dem sich neubildenden Proletariat, das, um seine Emanzipation zu erwirken, für die Gleichberechtigung aller Menschen und für die einst vom Bürgertum verfochtenen demokratischen Forderungen eintreten muß. Von dem Augenblicke an, wo das Proletariat als vom Bürgertum losgelöste und ihm interessenfeindliche Klasse auftritt, hört das Bürgertum auf, demokratisch zu sein. In den Staaten des europäischen Festlands fällt diese Reaktion charakteristischerweise gerade in einen Zeitraum, der als revolutionärer par excellence bezeichnet zu werden pflegt – in die Zeit der Februar-[Anmerkung 129] und Märzrevolution.[Anmerkung 130] Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Die Februarrevolution war ein verspäteter Sieg des bürgerlichen Idealismus, der den bürgerlichen Realismus zum Widerspruch, zur Opposition und zur Reaktion reizte. Der verfrühte Ausbruch der proletarischen Revolution (in der Pariser Junischlacht),[Anmerkung 131] der dem verspäteten Ausbruch der bürgerlichen Revolution auf dem Fuß folgte, trieb das Bürgertum, das in dem Sieg des Proletariats den Untergang des Kapitalismus erkannte, auf die Seite seiner Erbfeinde. In Frankreich wurde Napoleon zum Präsidenten gewählt, und in Deutschland sehnte schon in den Flitterwochen der Märzrevolution das Bürgertum sich nach einem Retter, der das rote Gespenst bannen sollte. So war die »schwarze Reaktion«, die bei uns 1849 die »Revolution« ablöste, im Grunde genommen nur das eigentliche Wesen dieser »Revolution«, ihre Entkleidung von phantastisch-trügerischem Phrasenschaumgold. Unter der Herrschaft des Kapitalismus mußte das Bürgertum, soweit es kapitalistisch war oder unter kapitalistischem Einfluß stand, politisch reaktionär werden. Und die »schwarze Reaktion«, die vor einem halben Jahrhundert sich über das europäische Festland verbreitete, war ebensogut eine geschichtliche Notwendigkeit wie die »schwärzere Reaktion« des gegenwärtigen Zickzack- und Zuchthauskurses, dem der an sich selbst verzweifelnde Kapitalismus uns aufgezwungen hat.
In Deutschland, wo der Kapitalismus später als in England und Frankreich zur Entfaltung gelangt ist und wo ihm nicht, wie in jenen zwei Ländern, eine Ära der wirtschaftlichen Blüte wie der politischen Herrschaft des Bürgertums vorausgegangen ist, mußte die ganze politische Entwicklung einen anderen Charakter annehmen. Dort ein von mittelalterlichem Moder und Gestrüpp befreiter Boden – hier die neuste Neuzeit, so neu wie in Frankreich und England, zwischen mittelalterlichem Moder und Gestrüpp – der gesunde Wuchs von Ruinenefeu umklammert, das allem, was es mit seinen Saugfasern gepackt hat, das Leben aussaugt – das nur lebt vom Tode und von Fäulnis und das abgerissen und ausgerottetet werden muß, wenn das Gesunde und Wachsende nicht dem Tode verfallen soll. Und das deutsche Bürgertum, das zur Zeit, wo das Bürgertum in anderen Ländern dem Staat seinen bürgerlichen Stempel aufdrückte, den Schlaf der Schwäche geschlafen hatte, besitzt jetzt nicht die Kraft, den romantisch-tötenden Schmarotzerefeu des Junkertums und mittelalterlicher Halbbarbarei abzureißen und auszurotten.
Das politische Unvermögen des deutschen Bürgertums in Vergangenheit und Gegenwart ist, was das politische Leben Deutschlands von dem der übrigen Kulturländer unterscheidet und dem deutschen Proletariat die Mission zugewiesen hat, neben seiner eigenen proletarischen Aufgabe auch noch die von unserem Bürgertum versäumte Aufgabe zu erledigen. Durch die Natur der Verhältnisse wird die Taktik bedingt. Soweit das Bürgertum kapitalistisch ist, haben wir es zu bekämpfen, soweit das Bürgertum sich gegen den Kapitalismus und die von ihm geschützte und geförderte Reaktion wendet, haben wir es entweder positiv zu unterstützen oder doch wenigstens ihm nicht feindlich entgegenzutreten – es sei denn, daß es uns in die Schußlinie gerät, wie zum Beispiel bei Reichstagswahlen, wo ein bürgerlicher und ein sozialdemokratischer Kandidat einander das Mandat streitig machen.
Wenn wir von der Episode Schweitzer absehen, hat die deutsche Sozialdemokratie die schon von dem »Kommunistischen Manifest« vorgeschriebene Taktik – den Hauptkampf gegen die politische Reaktion zu führen und dem Bürgertum, soweit es noch liberal oder demokratisch ist, in seinem Kampf gegen die politische Reaktion Vorschub zu leisten und in keinem Fall sich auf seiten der politischen Reaktion in ihrem Kampf gegen das oppositionelle Bürgertum zu werfen – konsequent und bewußt durchgeführt. Es ist notwendig, dies hervorzuheben, weil Bernstein in seiner, von den bürgerlichen Parteien so verdächtig gespriesenen und empfohlenen Streitschrift gegen die sozialdemokratische Partei Deutschlands uns den Vorwurf gemacht hat, wir hätten, was bekanntlich eine alte Lieblingslegende des Herrn Eugen Richter ist, das deutsche Bürgertum einseitig zum Vorteil der politischen Reaktion bekämpft und es dermaßen abgestoßen und erschreckt, daß es sich in seiner Angst unter die Fittiche der politischen Reaktion des Junker-, Polizei- und Militärstaats geflüchtet habe. Es ist nicht möglich, der Wahrheit heftiger ins Gesicht zu schlagen. Zur Zeit des famosen »Verfassungskonflikts« der sechziger Jahre gab es noch keine, irgend ins Gesicht fallende sozialistische Partei. Als Lassalle 1864 von der Kugel des wallachischen Bojaren Racowitza fiel, zählte der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein in ganz Deutschland auf dem Papier fünf- bis sechstausend Mitglieder, in Wirklichkeit noch weniger. Von diesem winzigen Häuflein kann die deutsche Fortschrittspartei, auch wenn wir ihren Mannesmut mit deutsch-bürgerlichem Zwerg- oder Hasenmaß messen, nicht ins Bockshorn gejagt worden sein. Und doch kapitulierte sie vor Bismarck und erteilte ihm, nach dem Gelingen des Bruderkrieges von 1866, die Indemnität und beugte sich unter das von ihm errichtete kaudinische Joch. Zu behaupten, daß die Sozialdemokratie hieran schuld sei, ist einfach lächerlich. Es ist wahr, Lassalle hatte das Bürgertum sehr scharf angegriffen, allein damit bei den deutschen Arbeitern auch sehr wenig Anklang gefunden. Und obgleich Lassalle in seinem Kampf gegen die Fortschrittspartei sich verschiedentlich der Bismarckschen Reaktionspolitik vielleicht etwas zu sehr näherte, so darf doch nicht vergessen werden, daß er zu Anfang des Verfassungskonflikts auf Seiten der Fortschrittspartei gestanden und sich von ihr erst getrennt hatte, als sie sich trotz seiner wiederholten Aufforderungen hartnäckig weigerte, den Kampf ernsthaft zu führen.
Das deutsche Bürgertum – und das ist der Schlüssel zu seinem sonst unbegreiflichen Verhalten – hatte 1862 so wenig wie 1848 und früher das Zeug zu einer bürgerlichen Revolution. Es fürchtete – wie ich anfangs des Jahres 1863 einem der fortschrittlichen Führer ins Gesicht sagte –, es fürchtete die Revolution mehr als die Reaktion. Und Bismarck mit seiner zynischen Menschenverachtung und seiner Roßtäuschergeriebenheit hatte das bald herausgebracht. Die Herren Fortschrittler »imponierten ihm nicht« – und je frecher er im Verkehr mit ihnen war, desto leichter wickelte er sie um den Finger. Für den Freiheitsverrat der preußischen Fortschrittspartei die deutsche Sozialdemokratie verantwortlich machen, ist nicht bloß ein Attentat auf die historische Wahrheit, es zeugt auch von völligem Unverständnis der Rolle, welche das deutsche Bürgertum seit dem Mittelalter gespielt hat.
Ich stelle einfach die zwei Tatsachen nebeneinander: In der Ära des Verfassungskonflikts, wo die Fortschrittspartei auf der Höhe ihrer Macht stand und das Volk hinter sich hatte, wurde sie von Bismarck, der erst seine Laufbahn begonnen, spielend überwunden. In der Ära des Sozialistengesetzes, wo Fürst Bismarck auf der Höhe seiner Macht stand und mit allen Hilfsmitteln des Kapitalismus die Diktatur der Bourgeoisie ausübte, wurde er von der Sozialdemokratie, die alle bürgerlichen Parteien gegen sich hatte, spielend überwunden. Das zeigt, wer in Deutschland die Reaktion bekämpfen kann und wer nicht.
Die Jämmerlichkeit des deutschen Bürgertums hebt jedoch für uns nicht die Pflicht auf, ihm, wo immer es der Reaktion kräftig entgegentritt, Beistand zu gewähren, insoweit unsere eigenen Interessen nicht darunter zu leiden haben. Es ist das auch, seit die deutsche Sozialdemokratie als politische Partei auf dem Kampfplatz sich bewegt, ausnahmslos geschehen. Für meine Person brauche ich bloß an die Tatsache zu erinnern, daß ich 1865 aus Preußen ausgewiesen worden bin, weil ich den Versuch Bismarcks, mit Hilfe der Sozialisten die Fortschrittspartei wie zwischen zwei Mahlsteinen zu zerreiben, durchkreuzt habe. Ich kann mit gutem Gewissen sagen: in all meinen Kämpfen gegen die Bismarcksche Reaktion habe ich für die bürgerlichen Freiheiten gekämpft. Und in meiner vielberufenen Schrift über die politische Stellung der Sozialdemokratie habe ich den demokratischen Charakter unserer Bewegung doch wohl nicht mit minderem Nachdruck dargelegt, als dies in jüngster Zeit von Bernstein geschehen ist, der uns als nagelneue Weisheit empfiehlt, was wir etliche dreißig Jahre lang bereits üben.
Über meine obenerwähnte Broschüre über Taktik muß ich hier einiges sagen. Die Rede, aus der dieselbe hervorgegangen ist, wurde im Jahre 1869 gehalten – zur Zeit des Norddeutschen Bundes, eines Provisoriums, das unmöglich von Bestand sein konnte und entweder mit dem Zusammenbruch der großpreußischen Politik Bismarcks oder mit deren »Krönung« durch Eintritt der süddeutschen Staaten mit Ausschluß Österreichs endigen mußte. In diesem Provisorium oder Interim war die durch die Logik der Tatsachen uns auferlegte Taktik die der Bekämpfung um jeden Preis. Bismarck hatte nach napoleonischem Muster das allgemeine Wahlrecht eingeführt – nicht um die Volkssouveränität zu begründen, sondern um seine despotische Diktatur zu verdecken. Wie Napoleon durch seine Präfekten, so glaubte er durch seine Landräte das allgemeine Stimmrecht nach Belieben leiten zu können. Es dünkte ihm ein Werkzeug, das bequemer zu handhaben als das Dreiklassenwahlsystem, dessen das Bürgertum sich bemächtigt und in dessen zwei ersten Klassen es sich eine uneinnehmbare Verschanzung geschaffen hatte.
Die Geschichte des preußischen Dreiklassenwahlgesetzes ist interessant, weil sie so recht deutlich zeigt, wie die bestausgetiftelten politischen Einrichtungen der Reaktion durch die ökonomische Entwicklung umgestaltet und zeitweilig in ihr Gegenteil verkehrt werden können. Mit raffinierter Schlauheit darauf berechnet, jedes demokratische oder oppositionelle Element auszuschließen, erfüllte es ein Jahrzehnt lang diesen Zweck tadellos, bis eines schönen Tages das wirtschaftlich gekräftigte Bürgertum, empört über die widerlichen Orgien der Junker- und Polizeiwirtschaft, sich politisch zu fühlen begann und auf den Gedanken kam, daß es nur zu wollen brauche, um in den zwei ersten Wählerklassen die Mehrheit und damit den Sieg bei der Abgeordnetenwahl zu erlangen. Der Gedanke ward zur Tat, und Fürst Bismarck verwünschte das Werkzeug, das so schmählich versagte. Das Dreiklassenwahlrecht wurde das »elendste aller Wahlsysteme«, das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht dagegen, dieser Gottseibeiuns des »tollen Jahres« 1848, das sich im Napoleonischen Frankreich so trefflich bewährt, erstrahlte im Glanz cäsaristischer Staats- und Gesellschaftsrettung.
So erhielten wir das allgemeine Wahlrecht. Und noch aus einem anderen Grund. Die dynastisch-junkerliche Revolution von oben, in der die »nationale« Politik Bismarcks gipfelte, hätte in der Luft gestanden, wenn ihr nicht wenigstens der Schein einer Revolution von unten verliehen ward. Man brauchte das Volk, sei es auch nur als Statist. Und einen besseren Köder gab es nicht als das allgemeine Wahlrecht von 1848. Es knüpfte die Bismarcksche Revolution von oben an die 1848er Revolution von unten und versetzte die unkritischen Massen in den Wahn, das auf Kosten Deutschlands vergrößerte Junker-, Polizei- und Soldaten-Preußen sei das verwirklichte Deutschland der Demokratie. Wir wissen heute, wie tief der Wahn sich einwurzelte; Jahrzehnte brutaler Mißwirtschaft waren notwendig, um ihn wieder auszurotten.
In einem aber verrechnete sich Bismarck: in der Stärke des revolutionären Gedankens. Was in Frankreich nach der Junischlacht möglich war, die das ganze Bürgertum sich in die wildeste Reaktion stürzen ließ, war in Deutschland nicht möglich, wo die Staatsmacht nicht so straff zentralisiert war und wo, genährt durch die kapitalistische Entwicklung, eine gesunde Arbeiterbewegung heranwuchs, welche entschlossen war, die nationalen und dynastischen Krisen und Kämpfe im Interesse des Proletariats auszubeuten und den Sozialismus in Deutschland zur ausschlaggebenden Macht zu erheben, ihm zum Sieg und zur Herrschaft zu verhelfen. Und das deutsche Proletariat hatte neben dem Vorteil, aus der Arbeiterbewegung der anderen Länder, die Deutschland in politischer und ökonomischer Entwicklung voraus waren (und sind), die praktische Nutzanwendung ziehen zu können, das außerordentliche Glück, daß es durch seine großen Lehrer, Marx, Engels, Lassalle, gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn auf den Boden der politischen Aktion gedrängt und dadurch vor den Irrwegen der ausschließlich korporativen Organisationen einerseits und der ziel- und planlosen grundbürgerlich-»anarchistischen« Revolutionsmacherei und Revolutionsschreierei andererseits bewahrt wurde. Obgleich die deutsche Arbeiterklasse im Jahre 1867, wo das allgemeine Wahlrecht in Funktion trat, nur erst zum kleinsten Teile von Klassenbewußtsein erfüllt war, so war sie doch die einzige Klasse und die sozialistische die einzige Partei, welche die Bedeutung des Wählens und den Wert des Wahlrechts klar erkannte. Es war sogar ein wenig Überschätzung dabei, aber sie erwies sich nützlich, weil sie den Eifer vermehrte.
Wenn Fürst Bismarck sich der Hoffnung hingeben konnte, das allgemeine Wahlrecht werde sich im napoleonisch-plebiszitären Sinn ausbeuten lassen und der Reichstag werde, wie ich ihn 1867 nannte, das »Feigenblatt des Absolutismus« bleiben, so wurde die politische Grundlage für diese Hoffnung durch die Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum deutschen Reich umgestürzt. Der höchste Triumph der Bismarckschen Politik schloß ihr Fiasko, ihren Bankrott in sich. Was der stramme preußische Kasernen- und Polizeigeist vielleicht für das Gebiet des Norddeutschen Bundes auf absehbare Zeit hätte verhindern können: das Entstehen und Heranwachsen einer selbständigen Volksbewegung, das war auf dem erweiterten Gebiet des deutschen Reichs nicht mehr zu verhindern. Die Volkskraft ließ sich nicht ersticken, und die Eifersucht der »Bundesfürsten« auf die preußische Vormacht wirkten mit, daß die Bäume des Bismarckschen Junker-Cäsarismus nicht so hoch emporschießen konnten wie die Bäume des Napoleonischen Präfekten-Cäsarismus. Den Arbeitern war durch keine Lockungen die Erkenntnis der Untrennbarkeit des Sozialismus von der Demokratie und der Demokratie von dem Sozialismus zu rauben.
»Die Frage«, so begann ich meine Rede von 1869, »welche Stellung hat die Sozialdemokratie im politischen Kampfe einzunehmen?, beantwortet sich leicht und sicher, wenn wir uns über die Untrennbarkeit des Sozialismus und der Demokratie klargeworden sind. Sozialismus und Demokratie sind nicht dasselbe, aber sie sind nur ein verschiedener Ausdruck desselben Grundgedankens; sie gehören zueinander, ergänzen einander, können nie miteinander im Widerspruch stehen. Der Sozialismus ohne Demokratie ist Aftersozialismus, wie die Demokratie ohne Sozialismus Afterdemokratie. Der demokratische Staat ist die einzig mögliche Form der sozialistisch organisierten Gesellschaft.«
Diese Wahrheit von der Untrennbarkeit der Demokratie und des Sozialismus hat der deutschen Arbeiterklasse in den schwierigsten Wirrnissen der Politik als sicherer Wegweiser gedient, so daß die gefährliche Klippe des Staatssozialismus vermieden ward, auf den die preußische Reaktion schon in den vierziger Jahren lossteuerte – war doch das Ideal des Kasernen- und Polizeistaats der Kasernen- und Polizeisozialismus, der sich schönrednerisch Staatssozialismus nennt! Die Wagener-Schweitzerischen Sophismen, daß die Demokratie etwas »Bürgerliches« sei und daß der Sozialismus, weil direkt gegen die »bürgerliche« Gesellschaft sich richtend, folgerichtig undemokratisch sein müsse, hat zwar zu Schweitzers Zeiten manchen Kopf verwirrt, in der Arbeitermasse jedoch nie Eingang gefunden. Heute ist dieser Trugschluß noch rudimentär in der bekannten Milizdebatte zutage getreten, hat aber nichts mehr zu bedeuten.
Ehe wir weitergehen, müssen wir uns über die Bedeutung des Wortes Kompromiß klarwerden, sonst ist jede Debatte vollkommen gegenstands- und erfolglos, weil jeder etwas anderes meint und folglich keiner die Argumente des anderen trifft. Wenn Kompromiß als Zugeständnis der Theorie an die Praxis aufgefaßt wird, so ist unser ganzes Leben und Handeln ein Kompromiß und ist, vom Leben des einzelnen zu dem der Völker und der Menschheit emporsteigend, die ganze Menschen- und Menschheitsgeschichte eine fortwährende, ununterbrochene Kette von Kompromissen. Die Geschichtsauffassung, daß zeitweilig tabula rasa, das heißt, reiner Tisch gemacht worden sei und werden müsse, um unbelastet von dem Alten neue Wirtschaft und Ordnung zu beginnen, ist höchst unwissenschaftlich und steht mit der Erfahrung im schroffsten Widerspruch. Die Tabula-rasa-Theorie spukt heute nur noch in den Köpfen der Polizeipolitiker, die von uns behaupten, wir hätten die Absicht, »alles zu verunjenieren«, was uns nicht in den Kram paßt. Die Herren urteilen dabei nach sich selbst, denn sie wähnen sich im Besitz der Wunderkraft: alles »verunjenieren« zu können, was der ewige Webstuhl der Zeit gewoben hat und webt, ohne daß vorher die polizeiliche Erlaubnis eingeholt worden ist. Die Männer des Sozialisten- und Zuchthausgesetzes bekunden durch ihr törichtes Treiben nur ihre bodenlose Ignoranz. Die organischen Gesetze, nach welchen die staatliche und gesellschaftliche Entwicklung sich vollzieht, lassen sich nicht willkürlich ändern oder außer Kraft setzen – sowenig dies mit den Gesetzen geht, nach welchen ein Tier, eine Pflanze wächst und sich entwickelt. Wer da gewaltsam eingreift, kann nur stören und zerstören – wie das von jeher das Schicksal der Polizeipolitiker gewesen ist. Was diese, sich »Staatsmänner« nennenden Pfuscher uns Sozialdemokraten nachsagen: wir könnten nichts schaffen, nur zerstören, ist bloß die Abspiegelung ihres eigenen Tuns und Treibens. Gibt es doch unter den unzähligen Sünden und Schlechtigkeiten, deren wir von ihnen angeklagt werden, nicht eine einzige, die sie nicht sich selber entnommen hätten. Ich denke da nur noch – um den alten Beispielen ein neues hinzuzufügen – an den Vorwurf, der seit zwei Jahrzehnten stereotyp geworden ist: die Sozialdemokratie habe zum Ziel die Diktatur des Proletariats.[Anmerkung 132] Die Wahrheit ist: seit der Pariser Junischlacht, also seit einundfünfzig Jahren, haben wir auf dem Festlande von Europa tatsächlich die Diktatur der Bourgeoisie. Eine Diktatur, die gegen die Arbeiterklasse mit Feuer und Schwert ausgeübt wird – die uns nach der Junischlacht die grauenhaften Metzeleien der Kommune gebracht hat und Hunderte von kleineren Arbeitermetzeleien – eine Diktatur, die auf die Entrechtung der Arbeiterklasse hinausläuft und das Proletariat von dem Genuß nicht bloß der politischen Rechte, sondern auch des einfachen juristischen Rechts ausschließt – eine Diktatur, die sich in Dutzenden von Ausnahme- und Knebelgesetzen geäußert hat und der wir Deutschen das Sozialistengesetz, den Zuchthauskurs und Klassenjustizurteile wie das Löbtauer Urteil[Anmerkung 133] und den Essener Meineidsprozeß[Anmerkung 134] verdanken. Und wenn »König Stumm«, der jetzt »König« ist im Reich der »Sozialreform«, sein Ziel der Vernichtung jeder Arbeiterorganisation erreichen würde – was war im Vergleich mit solcher Diktatur die Diktatur eines Marius und Sulla oder des französischen »Konvents« von 1792 bis 1794? Die politische Macht, welche die Sozialdemokratie erstrebt und welche sie erkämpfen wird, was immer die Feinde tun mögen, hat nicht die Errichtung einer Diktatur des Proletariats zum Zweck, sondern die Vernichtung der Diktatur der Bourgeoisie. Ähnlich wie der Klassenkampf, den das Proletariat führt, nur eine Abwehr ist des von der Bourgeoisie gegen das Proletariat geführten Klassenkampfes, dessen siegreiche Beendigung durch das Proletariat die Abschaffung des Klassenkampfes in jeder Form ist.
Wir Sozialdemokraten wissen, daß die Gesetze, nach denen sich die politische und soziale Entwicklung vollzieht, von uns ebensowenig gebeugt oder außer Kraft gesetzt werden können wie von den Gewalthabern der kapitalistischen Gesellschaft. Wir wissen, daß wir die sozialistische Produktion und Gesellschaftsform ebensowenig willkürlich einführen können, wie der deutsche Kaiser vor neun Jahren seine Februarerlasse[Anmerkung 135] gegen die Vertreter des kapitalistischen Klassenkampfes durchführen konnte. Wir haben deshalb den Versuchen unserer Gegner, die Arbeiterbewegung gewaltsam zu ersticken, mit lächelndem Gleichmut zuschauen können – wir waren und sind unseres Erfolges sicher, wie der Lösung einer mathematischen Aufgabe. Wir wissen aber auch, daß die Umgestaltung der Verhältnisse, weil sie organisch ist, sich, wenn auch unaufhaltsam, doch allmählich vollzieht und ohne Zerstörung. Die Zerstörung des Bestehenden, des Lebenskräftigen ist sogar im allgemeinen unmöglich. Wir haben das recht deutlich in der Französischen Revolution gesehen, die von allen politischen Umwälzungen wohl die planvollste und mit größter Tatkraft durchgeführte ist und doch nach der »goldenen Zeit« ideologischen Herumtappens und phantastisch-utopischen Illusionen dem Bestehenden Rechnung tragen und das Neue an das Alte anknüpfen mußte. Im ersten Anlauf gelingt es mitunter, Lebenskräftiges zu beseitigen, allein die Geschichte lehrt uns, daß auch die revolutionärsten und despotischsten Regierungen durch die Logik der Tatsachen schließlich zum Einlenken und zur Anerkennung – wenn auch in anderer Form – des zu Unrecht mechanisch Beseitigten gezwungen wurden. Kurz, die geschichtliche Gegenwart ist in der Regel ein Kompromiß zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Also, den Kompromiß in diesem Sinne zu verwerfen, wäre unwissenschaftliche Torheit. Und praktische Torheit wäre es, wenn eine politische Partei darauf verzichten wollte, aus den Konjunkturen – man verzeihe den geschäftsmäßigen Ausdruck – des politischen Lebens Vorteile zu ziehen und die Kämpfe der verschiedenen Parteien für sich auszunutzen. Das gebietet die Klugheit – dabei kommen Prinzipien nicht in Frage –, es werden keine Verpflichtungen eingegangen, und das, was die Klugheit zu tun gebietet, nicht zu tun, wäre eine Dummheit. Daß wir Sozialdemokraten im Reichstag in einer sozialpolitischen Frage gelegentlich mit den Konservativen für die Regierung stimmen, in politischen und in Handelsfragen gelegentlich mit den Freisinnigen gegen die Regierung, das ist ein selbstverständliches Erfordernis des politischen Kampfes und hat, wenn auch unzweifelhaft ein Kompromiß zwischen Theorie und Praxis vorliegt, mit den Kompromissen, gegen welche die Partei sich wiederholt scharf und ausdrücklich erklärt hat, nicht das mindeste gemein. Was die Partei im Auge hatte und was sie durch formelle Beschlüsse den Genossen zur Pflicht machte, das war die Vermeidung von Bündnissen, Verabredungen, Kartellen, Verträgen oder wie sonst es genannt werden mag, durch welche ein Prinzipienopfer bedingt oder überhaupt das Verhältnis unserer Partei zu den bürgerlichen Parteien in einer für uns nachteiligen Weise geändert wird. Letzterer Punkt muß besonders hervorgehoben werden, weil es auf diesen hauptsächlich ankommt. Bei der Debatte über die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen handelte es sich zum Beispiel ausschließlich um letzteren Punkt, da es keinem der für die Beteiligung eintretenden Genossen eingefallen ist, Parteiprinzipien bei einem Bündnis mit der Fortschrittspartei zum Opfer bringen zu wollen – obgleich nicht übersehen werden darf, daß taktische Fragen sehr leicht in prinzipielle umschlagen können. Wenn die Verhältnisse und die Notwendigkeiten der Lage ein Zusammengehen mit anderen Parteien erheischen, läßt sich dies stets auch ohne Kompromiß bewerkstelligen. Ich nehme das Beispiel Belgiens. Die liberale Partei hatte dort mit der sozialistischen das gleiche Interesse, die klerikale Partei zu bekämpfen. Beide Parteien fanden sich zusammen, und sie gingen zusammen bis zu einem gewissen Punkt. Das wäre auch ohne Abmachungen geschehen. Es geschah aber mit Abmachungen. Und der Erfolg? Zank und Streit. Die Abmachungen haben sich als ganz überflüssig erwiesen. Ist der Punkt überschritten, bis zu welchem Gemeinsamkeit der Interessen bestand und bis zu welchem die Gemeinsamkeit der Interessen auch ohne Abmachungen gemeinsames Handeln bewirkt hätte, so hört auch die Gemeinsamkeit des Handelns auf. Ist in den Arbeitern das Klassenbewußtsein nicht rege genug, so doch sicherlich bei den Herren Bourgeois, bei denen der Klasseninstinkt viel reger ist als bei den Arbeitern. Und zwar auch in den Ländern mit demokratischen Gesetzen und Einrichtungen. Ich verweise auf die Scheidung zwischen bürgerlichen Demokraten und Sozialisten in der Schweiz, dem Eldorado Bernsteins, wo nach Bernsteinscher Lehre der Klassengegensatz eigentlich ganz verschwunden sein sollte, jedoch, wie wir wissen, sich ebenso kräftig regt wie in weniger demokratischen Ländern. Damit soll indes nicht geleugnet sein, daß durch demokratische Einrichtungen die Schärfe der Klassenkämpfe gemildert wird.
In Belgien, mit seinen freien Institutionen einerseits und seiner Pfaffenregierung anderseits, hatten bisher die Wahlbündnisse der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Parteien einen guten Nährboden gehabt. Jedenfalls hatte unsere Partei bei allen Bündnissen, die sie einging, den Vorteil der Leitung. Sie konnte nicht ausgebeutet und nicht betrogen werden. Trotzdem haben die belgischen Genossen ein Haar in den Kompromissen gefunden, und unser belgischer Genosse Vandervelde begrüßt in der »Wiener Arbeiterzeitung«[Anmerkung 136] die Einführung des Proportionalsystems in Belgien als »das Ende der Wahlbündnisse«. »In den Klassenkampf«, so schreibt er, »werden hinfür keine sekundären Faktoren mehr hineinspielen, es werden die verwirrenden Nebenumstände verschwinden, die es den Massen so sehr erschweren, das Wahre des Klassenkampfes zu erfassen.« Freund Vandervelde hat also gefunden, daß die Kompromisse auch da, wo sie unter den für die Arbeiter günstigsten Bedingungen und Verhältnissen stattfinden, die nachteilige Wirkung haben, daß sie es »den Massen erschweren, das Wahre des Klassenkampfes zu erfassen« – mit anderen Worten, daß sie durch Entfernung der Arbeiter vom Boden des Klassenkampfes den Arbeitern die Möglichkeit entziehen, ihre volle Kraft zu entfalten und zur Geltung zu bringen, was sie bloß auf dem Boden des Klassenkampfes vermögen.
Das Gefährliche und Schädliche des Kompromisses besteht nicht in dem formellen Verschachern oder Beiseiteschieben von Parteiprinzipien. Das ist in unserer Partei wohl kaum jemals gewollt worden. Selbst als unsere Genossen in Essen bei der vorletzten Wahl »aus Bosheit« in der Stichwahl für den »Kanonenkönig« stimmten, dachten sie nicht daran, auch nur ein Jota unseres Programms zu opfern. Nicht hier liegt die Gefahr und des Übels Kern, sondern in dem Aufgeben, Zurücksetzen oder Vergessen des Klassenkampfstandpunktes, denn dieser ist der Ausgangspunkt der ganzen modernen Arbeiterbewegung. Es gilt da scharf zu unterscheiden, sich durch Schlagwörter nicht blenden zu lassen, kurz, wie ich es schon vor Jahrzehnten gegenüber der revolutionär tuenden, in Wirklichkeit philisterhaften und reaktionären Phraseologie des »Anarchismus«, dieser verspäteten Karikatur des bürgerlichen Freiheitsideals und theatralischen Maskerade der krämerhaften Freien Konkurrenz, gesagt habe: es gilt die Emanzipation von der Phrase.
Mitleid mit der Armut, Schwärmerei für Gleichheit und Freiheit, das Erkennen der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit und der Wunsch, sie zu beseitigen, ist kein Sozialismus. Die Verurteilung des Reichtums, die Schätzung der Armut, wie wir sie im Christentum und in anderen Religionen finden, ist kein Sozialismus. Der Kommunismus der Urzeiten, wie er vor der Entstehung des Privateigentums herrschte und wie er zu allen Zeiten und bei allen Völkern schwärmerisch angelegten Menschen als Endziel vorschwebte, ist kein Sozialismus. Die gewaltsame Gleichmacherei der Babouvisten[Anmerkung 137] (der Schüler Babeufs, der sogenannten Egalitaires – Gleichmacher) ist kein Sozialismus.
Bei all diesen Erscheinungen fehlt: die reale Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Klassengegensätzen. Der moderne Sozialismus ist das Kind der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Klassengegensätze. Ohne sie würde er nicht sein. Sozialismus und Ethik ist zweierlei. Das muß festgehalten werden.
Wer den Sozialismus in dem sentimentalen Sinn menschenfreundlicher Gleichheitsbestrebungen auffaßt, ohne von dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaft einen Begriff zu haben, der ist kein Sozialist in dem Sinne des Klassenkampfes, ohne welchen der moderne Sozialismus nicht denkbar. Bernstein ist freilich in Worten auch für den Klassenkampf – wie der hessische Bauer für »die Republik und den Großherzog«. Wem das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft und die Grundlage des modernen Sozialismus zu vollem Bewußtsein gekommen ist, der weiß auch, daß eine sozialistische Bewegung, die den Boden des Klassenkampfes verläßt, alles andere sein kann, nur keine sozialistische.
Diese Grundlage des Klassenkampfes, welche Marx – und das ist sein unsterbliches Verdienst – der modernen Arbeiterbewegung gegeben hat, ist der Hauptangriffspunkt in dem Kampf, den die bürgerliche Nationalökonomie gegen den Sozialismus führt. Sie leugnet den Klassenkampf und will die Arbeiterbewegung zu einem Teil der bürgerlichen Parteibewegung machen, die Sozialdemokratie zu einer Schattierung der bürgerlichen Demokratie. Gegen den Klassencharakter der modernen Arbeiterbewegung richten sich alle Anstrengungen der bürgerlichen Nationalökonomie und Politik. Gelingt es, Bresche zu schießen in dieses Bollwerk, in diese Zitadelle der Sozialdemokratie, so ist die Sozialdemokratie überwunden und das Proletariat unter die Botmäßigkeit der kapitalistischen Gesellschaft zurückgeworfen. Ist die Bresche anfangs auch noch so klein, der Feind hat die Möglichkeit, sie zu erweitern, und die Sicherheit des endgültigen Sieges. Und der Feind ist am gefährlichsten, wenn er als Freund sich der Festung naht, als Freund sich in sie einschleicht. Als Freund und Bundesgenosse.
Dem Feind, der uns als Feind mit offenem Visier entgegentritt, bieten wir lächelnd die Stirn, setzen wir spielend den Fuß auf den Nacken. Die dumm-brutalen Gewaltstreiche der Polizeipolitiker, die Attentate des Sozialistengesetzes, des Umsturzgesetzes,[Anmerkung 138] des Zuchthausgesetzes konnten uns nur Gefühle mitleidiger Verachtung entlocken – der Feind aber, der uns die Hand zum Wahlbündnis hinstreckt und sich als Freund und Bruder uns aufdrängt – ihn und ihn allein haben wir zu fürchten.
Unsere Festung trotzt jedem Angriff – sie kann nicht erstürmt, auch nicht durch Belagerung uns entrissen werden –, sie kann nur fallen, wenn wir selber dem Feind die Tore öffnen und ihn als Bundesgenossen in unsere Reihen aufnehmen. Aus dem Klassenkampf hervorgewachsen, hat unsere Partei den Klassenkampf zur Lebensbedingung. Durch und mit ihm unbesiegbar, ist sie verloren ohne ihn, weil sie dann die Wurzeln ihrer Kraft verloren hat. Wer das verkennt und wer da gar meint, der Klassenkampf sei ein überwundener Standpunkt, die Klassengegensätze verwischten sich allmählich, der steht auf dem Boden der bürgerlichen Weltanschauung.
Man hat den jetzigen Streit über die Taktik mit Bezug auf die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen usw. mit dem Streite verglichen, der Mitte der achtziger Jahre innerhalb der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und Partei um die Dampfersubvention[Anmerkung 139] entbrannt war. Der Vergleich scheint, wenn man nur die Oberfläche betrachtet, recht treffend, hört aber auf, treffend zu sein, sobald man an den Kern der Frage geht. Damals handelte es sich um die Anwendung allgemein anerkannter Grundsätze auf einen konkreten Fall. Daß die sozialdemokratische Fraktion die deutschen Schiffahrts- und Handelsinteressen zu fördern habe, das war ebenso allgemein anerkannt wie, daß sie der Kolonialpolitik und sonstigen imperialistisch-reaktionären Bestrebungen entgegenzutreten habe. Der Streit war nur um die Frage, ob die Dampfersubvention in erster Linie den deutschen Handelsinteressen, die nationale sind, diene oder der Kolonialpolitik, die nicht deutschen Nationalinteressen dient, sondern nur reaktionären und gemeinschädlichen Sonderinteressen. Niemand dachte daran, an der alten Taktik und Richtung der Partei etwas zu ändern. Bei dem jetzigen Streit aber handelt es sich um eine vollständige Änderung der alten Taktik und Richtung – um eine Änderung der Taktik, die eine Änderung des Wesens der Partei bedeuten würde. Es handelt sich um die Beibehaltung oder Preisgebung des Klassenkampfstandpunktes, der uns von allen bürgerlichen Parteien trennt – kurz, um einen entscheidenden Schritt, von welchem es abhängt, ob wir eine sozialistische Partei bleiben oder den Rubikon des Klassenkampfes überbrücken und linker Flügel der bürgerlichen Demokratie werden wollen.
Die Meinungsverschiedenheiten in theoretischen Dingen sind für die Partei ungefährlich. Es gibt für uns keine Grenzen der Kritik, und so groß unsere Verehrung ist für den Gründer und Bahnbrecher unserer Partei – wir kennen keine Unfehlbarkeit und keine andere Autorität als die der Wissenschaft, deren Gebiet sich stets erweitert, die, was bisher für Wahrheit galt, als Irrtum erweist, alte morsch gewordene Grundlagen zerschlägt und neue schafft, keinen Augenblick stehenbleibt und in fortwährendem Voranschreiten rücksichtslos über jeglichen Dogmenglauben hinweggeht. Schon auf dem Gothaer Einigungskongreß vor jetzt vierundzwanzig Jahren sagte ich: »Wir kennen keinen unfehlbaren Papst – auch keinen papiernen.« Und als ich 1891 in Erfurt den neuen Programmvorschlag, der auch einstimmige Annahme fand, erläuterte und befürwortete, sprach ich schon aus, daß unser Programm, gerade weil es ein wissenschaftliches ist, durch die stets fortschreitende Wissenschaft in einzelnen Punkten gleich nach seiner Annahme schon überholt sein werde. Daß kein Mensch – Marx trotz seines umfassenden und tiefen Geistes sowenig wie irgendein anderer – die Wissenschaft zum endgültigen Abschluß bringen kann, ist für jeden, der da weiß, was Wissenschaft ist, von vornherein klar. Und kein Sozialist hat darum ein Recht, theoretische Angriffe auf die Marxschen Lehren zu verurteilen und jemanden ob solcher Angriffe die Parteizugehörigkeit abzusprechen. Etwas anderes ist es, wenn die theoretischen Angriffe auf den Umsturz der Grundlagen unserer gesamten Weltanschauung hinauslaufen, wie dies zum Beispiel bei Bernstein der Fall ist. Dann heißt es: scharfe Abwehr.
Weit gefährlicher aber als theoretische Angriffe sind praktische Verleugnungen unserer Prinzipien. Mit theoretischen Diskussionen beschäftigt sich nur ein vergleichsweise kleiner Teil unserer Parteigenossen eingehend – praktische Verleugnungen des Prinzips, taktische Verstöße gegen das Parteiprogramm berühren dagegen jeden Parteigenossen, erregen die Aufmerksamkeit jedes Parteigenossen und bringen, wenn nicht rasch eingelenkt und eingerenkt wird, Verwirrung in die Gesamtpartei. Ich glaube bei keinem, der mit den Verhältnissen und mit der Partei vertraut ist, auf Widerspruch zu stoßen, wenn ich sage: innerhalb der Partei ist die Bernsteinsche »Streitschrift« von den Massen nur wenig beachtet worden. Anklang fand sie nur bei solchen, die schon vorher gleichen Anschauungen gehuldigt hatten, und Aufsehen erregte sie nur bei unseren Gegnern, die jetzt endlich ihre alte Hoffnung, daß die Partei sich spalten oder gar, daß die ganze Sozialdemokratie mit klingendem Spiel ins bürgerliche Lager abschwenken werde, sich erfüllen sahen. Ich wette, keine zehntausend unserer Genossen haben die Bernsteinsche Schrift gelesen – und ich bin weit entfernt, der Partei einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie keine Lust hatte, sich noch einmal mit dem Gestrüpp zu befassen, das von den Gründern des Sozialismus vor länger als einem Menschenalter, ja zum Teil vor länger als zwei Menschenaltern abgehauen worden ist, um den Weg zum Sozialismus zu öffnen. Ebensogut könnte man unseren Genossen Mangel an Wissenschaftlichkeit vorwerfen, weil sie die vorsintflutlichen Schriften des Schulze-Delitzsch nicht mehr lesen, die als verstaubte Ladenhüter noch irgendwo in Landstädtchen umherliegen mögen.
Man betrachte doch die Liste derer, die über die Bernsteinsche Schrift geschrieben haben. Nicht ein einziger Arbeiter. Nur Genossen, die berufsmäßig zum Lesen und Besprechen der Schrift verpflichtet waren. Mit welchem Interesse dagegen verfolgt die Gesamtpartei die Frage der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen, den bayerischen Kuhhandel wie lebhaft die Diskussion! In diesem lebhaften Interesse zeigte sich die Reife der Partei. Über die Zeit der theoretischen, programmatischen Debatten sind wir hinaus. Die Befestigung, die Vervollkommnung, die Läuterung unseres Programms überlassen wir getrost der Wissenschaft, die in der heutigen Gesellschaft nur Sache weniger sein kann. Die praktische Anwendung des Programms, die Taktik der Partei aber ist Sache aller; bei ihr arbeiten alle mit.
Der hervorragenden Wichtigkeit der Taktik, der Notwendigkeit, ihr den Klassenkampfcharakter zu bewahren, ist die Partei sich seit ihren Anfängen wohl bewußt gewesen. Wenn wir die Protokolle der früheren Parteitage von den siebziger Jahren an lesen, so finden wir wie bei allen Fragen der Taktik, daß der Gedanke im Vordergrund stand, die Partei rein zu halten von der Vermischung mit den anderen Parteien, die allesamt, so sehr sie voneinander abweichen, so heftig sie einander befehden mögen, den Boden der bürgerlichen Gesellschaft zur gemeinsamen Basis haben. Die Abgesondertheit der Sozialdemokratie von allen anderen Parteien, diese wesentliche Verschiedenheit, aus der blöde Gegner den Grund oder Vorwand schöpfen, uns in die politische Acht zu erklären, ist unser Stolz und unsere Stärke.
Noch auf dem Hamburger Parteitag, wo unter dem Einfluß einer Reihe verwirrender Umstände die Masse der Delegierten entschlossen schien, mit der alten Taktik und Tradition zu brechen, besann sich der Parteitag im letzten Moment vor dem Sprung ins Dunkle und erklärte sich mit überwältigender Majorität gegen jeden Kompromiß. Und dieser Beschluß ist bis auf den heutigen Tag in Gültigkeit. Wenn zwei oder drei Wahlkreise es über sich gewonnen haben, zu einer bürgerlichen Partei in ein Kartellverhältnis zu treten, so haben sie das auf eigene Verantwortung hin getan und unzweifelhaft dem Hamburger Beschluß zuwidergehandelt, der durch den Stuttgarter Beschluß – es sei das wiederholt – nicht aufgehoben worden ist. Dagegen haben die Berliner Parteigenossen, die von Kompromißfreunden der Verletzung des Hamburger Beschlusses angeklagt worden sind, diesen nach dem Geist und nach dem Wortlaut gewissenhaft befolgt und durch ihre entschiedene Haltung die Autorität der obersten Parteiinstanz gewahrt und der Partei einen Dienst geleistet.
Bei den Anwälten der Kompromißtaktik findet sich zumeist eine Überschätzung der parlamentarischen Tätigkeit und der Parlamentsmandate. Nicht, daß ich den ungeheueren Nutzen der parlamentarischen Tätigkeit verkenne, aber ist sie doch nicht Zweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Und nicht in der Zahl der Mandate drückt unsere Macht sich aus, sondern in der Zahl der Wähler, die hinter uns stehen.
Es ist ein bürgerliches Gefühl, das den Besitz eines Mandats überschätzen läßt. In einem Mandat, wie im Geld, liegt Macht – Macht über andere. Wer die Reinheit, die Größe unserer Partei über alles stellt, für den hat ein Mandat nur insofern Wert, als es die Macht, die Ausbreitung der Sozialdemokratie zum Ausdruck bringen hilft. Was wollen zehn, was wollen hundert Mandate besagen, wenn unser Wappenschild durch ihren Erwerb seinen Glanz verloren hat? Der Wert eines Mandates an sich ist ein geringer. Aber der Wert unserer Parteieinheit ist unermeßlich. In ihr ruht unsere Stärke.
Wie mit dem abgeschornen Haar, das die Mannesehre bedeutete, die Kraft Simsons entschwunden war, so hörte die Kraft unserer Partei auf, wenn wir von bürgerlichen Delilas uns den schönsten Schmuck und die Wurzel unserer sieghaften Stärke abschmeicheln ließen: die Parteieinheit, die Parteiehre.
Wir dürfen nicht handeln wie die anderen Parteien, weil wir anders sind als die anderen. Wir sind – das kann nicht oft genug wiederholt werden – von allen anderen Parteien durch eine unverrückbare Scheidewand getrennt – eine Scheidewand, die der einzelne wohl übersteigen kann, aber jenseits deren er kein Sozialdemokrat ist.
»Wir sind anders als die anderen«; was für die anderen Notwendigkeit, Lebensbedingung ist, ist für uns der Tod. Was hat uns in Deutschland zu der ausschlaggebenden Partei gemacht, die nach dem ausdrücklichen Zeugnis Caprivis und nach der Lehre täglicher Erfahrung die Achse bildet, um welche die Regierungspolitik sich dreht? Doch wahrhaftig nicht unsere Reichstagsmandate. Wir könnten noch dreimal soviel haben, und die koalierten bürgerlichen Parteien brauchten sich nicht um uns zu bekümmern. Es ist die lawinenartig anwachsende Zahl unserer Anhänger, die allmählich, mit der Sicherheit eines Naturgesetzes oder richtiger der Naturkraft, von Zehntausenden zu Hunderttausenden, von Hunderttausenden zu Millionen angeschwollen ist und täglich anschwillt – den Gegnern zum Trutz und zu ohnmächtiger Wut. Und dieses lawinenartige Anschwellen, es ist erfolgt, und es erfolgt im Gegensatz zu, im Kampf mit allen übrigen Parteien. Alles, was mühselig ist und beladen, alles was zu leiden hat unter der Ungerechtigkeit, unter der Gewalttat der heutigen bürgerlichen Gesellschaft und in dem das Gefühl menschlicher Würde sich regt, schaut auf uns, wendet sich hoffnungsvoll zu uns als der einzigen Partei, welche Rettung, welche Erlösung bringt. Und wenn wir, die Gegner dieser ungerechten, gewalttätigen Welt, ihr plötzlich die Hand der Brüderschaft reichen, mit ihren Vertretern einen Bund schließen, unsere Genossen auffordern, Hand in Hand mit den Feinden zu gehen, deren Missetaten die Massen in unser Lager getrieben haben, welche Verwirrung in den Geistern. Wie können die Massen noch an uns glauben? Wenn die Männer des Zentrums, des Fortschritts und anderer bürgerlicher Parteien unsere Bundesgenossen sind – wozu dann der Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft, deren Vertreter und Verfechter sie allesamt sind? Welches Recht haben wir dann, überhaupt noch zu sein? Da war es allerdings für Hunderttausende, für Millionen, die unter unserem Banner das Heil suchten, nur ein ungeheurer Irrtum, daß sie zu uns gekommen sind. Wenn wir nicht anders sind als die anderen, dann sind wir nicht die Rechten – dann hat der Erlöser noch zu kommen. Der Sozialdemokratie war ein falscher Messias. Nicht besser als die anderen falschen! –
Gerade darin ist unsere Kraft, daß wir nicht sind wie die anderen, daß wir nicht bloß anders sind als die anderen, sondern auch ihre Todfeinde, die geschworen haben, die Bastille des Kapitalismus zu erstürmen und zu zertrümmern, deren Verteidiger die anderen allesamt sind. Darum sind wir auch nur stark, wenn wir allein sind.
Nicht daß ich sagen wollte, wir sollten uns vereinzeln (isolieren). An Gesellschaft hat es uns niemals gefehlt und wird es uns, solange der Kampf dauert, nicht fehlen. An das im wesentlichen wahre, buchstäblich genommen aber falsche Wort von der »einen reaktionären Masse«[Anmerkung 140] hat die Sozialdemokratie, seit sie aus der Theorie in die Praxis gelangt ist, niemals geglaubt. Wir wissen, daß die einzelnen Glieder und Teile der »einen reaktionären Masse« unter sich im Streit sind, und wir haben diesen Streit stets für unsere Zwecke ausgebeutet. Wir haben Gegner gegen Gegner benutzt, uns aber nie benutzen lassen. Wir haben den in der Person des Junkers Bismarck verkörperten Kapitalismus und Militarismus bekämpft und uns all seiner kapitalistischen Gegner zu seiner Schwächung bedient: des Partikularismus, des bürgerlichen Demokratismus. Das waren jedoch nie Kompromisse – auch nicht »Augenblickskartelle«. Geradesowenig, wie es ein Kompromiß oder ein Augenblickskartell ist, wenn wir im Reichstag für einen fortschrittlichen Antrag gegen einen junkerlichen stimmen.
Die Ausschließlichkeit gegenüber anderen Parteien wird für die deutsche Sozialdemokratie durch die geschichtliche Entwicklung Deutschlands und durch unsere politischen Zustände noch besonders geboten: Wir haben kein revolutionäres Bürgertum, mit dem wir zeitweilig zusammengehen könnten, wie dies in Frankreich und Belgien geschehen ist – und wir haben keine demokratischen Einrichtungen, die es einem Sozialdemokraten ermöglichen, neben einem Mitglied einer anderen Partei in der Regierung zu sitzen. In der Schweiz ist die Regierung fast nur noch Verwaltung und außerdem vom Volk gewählt. Ein Sozialdemokrat einer Kantonsregierung besagt dort nicht mehr als ein Sozialdemokrat in einem Gemeinderat. In der Schweiz konnten unsere Genossen deshalb ganz unbedenklich für das Getreide- und Branntweinmonopol eintreten, denn eine Vergeudung der durch das Monopol erlangten Mittel zu volksfeindlichen und gemeinschädlichen Zwecken, wie das in Deutschland der Fall sein würde, ist nicht zu befürchten. Schon in Frankreich liegen die Dinge etwas anders als bei uns. Obgleich dort die Regierung entschieden eine Klassen- und Klassenkampfregierung ist – zeitweilig in einem Maß, wie kaum jemals eine zweite Regierung –, so sind die Verhältnisse so wenig konsolidiert und ist der Einfluß der Demokratie und auch der Sozialdemokratie ein so großer, daß ein dauernder Mißbrauch der Regierungsgewalt zu reaktionären und gemeinschädlichen Zwecken nicht zu erwarten ist. Deshalb konnte vor einigen Jahren von dem Sozialisten Jaurès in der französischen Kammer betreffend den Getreidehandel ein Antrag gestellt werden, der sich von dem im deutschen Reichstag gestellten Getreidemonopolantrag des agrarischen Grafen Kanitz äußerlich nur wenig unterschied. Um so größer war der innerliche Unterschied: In Frankreich gibt es kein Junkertum, da herrscht das Bürgertum direkt, jedoch unter Bedingungen, die ihm die Möglichkeit abschneiden, die Mittel der Regierung – Polizei, Militarismus, Klassenjustiz – zum Staatszweck zu machen, wie das in Deutschland nicht bloß möglich, sondern tatsächlich der Fall ist. Wir kommen hier immer und immer auf das tragische Geschick, das Deutschland um die Geschichtsperiode bürgerlicher Entwicklung geprellt hat. Wir haben zwar einen kapitalistischen Klassenstaat im schlimmsten Sinne des Wortes, allein der bürgerliche Kapitalismus herrscht nur indirekt, er hat sich gefallen lassen müssen, daß die rein katholische Priesterpartei, das Zentrum, die ausschlaggebende Partei ist in der deutschen Volksvertretung und daß das preußische Junkertum, eine rückständige, anachronistische Kaste, die weder im politischen noch im ökonomischen Leben eine notwendige Funktion zu erfüllen hat und eine rein parasitische Existenz führt, in den Besitz des Regierungsmonopols gelangen konnte. Die Folge dieses Zustandes ist, daß die Sozialdemokratie in Deutschland den Vorkampf für die bürgerliche Freiheit zu führen hat und daß also der deutschen Arbeiterklasse die Aufgaben zugefallen, mit dem sozialen Emanzipationskampf auch den politischen zu verbinden, mit anderen Worten, neben seiner Klassenaufgabe auch noch zu tun, was in normal entwickelten Ländern das Bürgertum längst getan hat.
Als eine politische Macht sind wir von allen Parteien ohne Ausnahme anerkannt – und zwar im Verhältnis unserer Macht. Auch die tollsten Reaktionäre, die uns die Daseinsberechtigung absprechen, buhlen um unsere Gunst und strafen durch ihr Handeln ihr Reden gegen uns Lügen. Aus der Tatsache, daß unsere »Bundesgenossenschaft« von anderen Parteien gesucht wird, ziehen einige Genossen die seltsame Schlußfolgerung, daß wir die Parteitaktik umwälzen und an Stelle der alten Politik des Klassenkampfes gegen alle anderen Parteien die Geschäftspolitik des Kuhhandels, der Wahlbündnisse, der Kompromisse zu setzen haben. Die so denken, vergessen, daß die Macht, welche unsere Bundesgenossenschaft auch von unseren erbittertsten Gegnern erstreben läßt, ohne jene alte Taktik des Klassenkampfes gar nicht vorhanden wäre. Hätten Marx, Engels, Lassalle die von Bernstein und seinen verschämten oder nicht verschämten Gesinnungsfreunden empfohlene Taktik der Kompromisse und des Anlehnens an bürgerliche Parteien befolgt, dann gäb es überhaupt keine Sozialdemokratie, dann wären wir ein Schwanz der Fortschrittspartei. Daß wir aber die Streitigkeiten der bürgerlichen Parteien unter sich taktisch ausnutzen, das ist selbstverständlich. Und das ist geschehen, seit wir eine deutsche Sozialdemokratie haben. Dazu brauchten wir nicht die Ratschläge der neugebackenen Parteistaatsmänner. Daß wir da und dort mit dem Zentrum, mit der Fortschrittspartei gegen eine reaktionäre Regierungspartei zusammenzugehen hatten, ist von den Genossen begriffen worden, ohne daß es einer besonderen Partei-Offenbarung bedurft hätte. Und in verschiedenen Wahlkreisen haben wir durch Zusammengehen mit dem Zentrum ohne Wahlbündnis größere Vorteile erreicht als durch den jüngsten bayrischen »Kuhhandel«. Eines schickt sich nicht für alle. Und wir Sozialdemokraten dürfen nicht sein wie die anderen Parteien, die allesamt mitschuldig sind an den Ungerechtigkeiten der heutigen Gesellschaft und mitverantwortlich für sie. Jeder, der unter diesen Ungerechtigkeiten leidet, erblickt in uns die Retter. Jedem von uns ist es schon geschehen, daß Gesellschaftsopfer, die, nachdem sie bei den Gerichten, bei der Regierung, bei dem Kaiser selbst und bei allen Parteien ihr Recht nicht gefunden, zu uns kommen als zu den Letzten und Einzigen, die helfen können. Sie kennen nicht unser wissenschaftliches Programm, sie wissen nicht, was Kapital und Kapitalismus ist, aber sie haben die Achtung, das Gefühl, daß wir eine Partei sind, die da hilft, wo alle anderen Parteien versagen. Dieser Glaube ist eine unerschöpfliche Machtquelle. Ein ähnlicher Glaube der Verzweiflung war es, der im verfaulenden Römerreich mehr und mehr um sich griff, der das Römerreich und die heidnische Welt langsam untergrub und der sie schließlich niederwarf. Diese unerschöpfliche Machtquelle geben wir auf, wenn wir mit anderen Parteien paktieren und die leidende Menschheit von uns stoßen, indem wir ihr sagen: »Wir sind nicht wesentlich anders als die anderen.« Ist einmal die Grenzlinie des Klassengegensatzes verwischt, sind wir einmal auf der schiefen Ebene des Kompromisses, dann gibt es kein Halten. Dann geht es weiter und weiter abwärts, bis es kein Tiefer mehr gibt. Im Reichstag haben wir lehrreiche Erfahrungen gesammelt. Die praktische Politik zwang uns zu Zugeständnissen an Einrichtungen der Gesellschaft, in der wir leben; allein jeder Schritt weiter auf der Bahn des Zugeständnisses an die heutige Gesellschaftsordnung fiel uns schwer und wurde nur mit Zögern getan. Es ist darüber gespottet worden von diesem und jenem. Allein der, welcher Furcht hat vor einem Schritt zur schiefen Ebene hin, ist jedenfalls ein zuverlässigerer Genosse als der, welcher die Schale des Spottes über die Zögernden ausgießt. Die Phrase der »Revolution« ist gewiß lächerlich. Lächerlich ist es gewiß – und niemand hat dies deutlicher gesagt als ich selber –, das Wort »Revolution«, »revolutionär« bei jeder Gelegenheit in dem Mund zu führen. Es kann das zu geistlos mechanischem Herleiern werden wie das Beten des Rosenkranzes. Allein, so lächerlich es auch ist, die Gesinnung und Parteizugehörigkeit renommistisch zur Schau zu tragen und bei jeder Gelegenheit, ohne daß ein Bedürfnis dafür vorhanden ist, zu betonen, so rechtfertigen solche Übertreibungen doch nicht, daß das Kind mit dem Bad ausgeschüttet und das Betonen des revolutionären Wesens unserer Partei ohne weiteres und im allgemeinen für lächerlich erklärt wird. Es zu betonen, ist eine sehr ernste, sogar eine notwendige Sache. Sehr ernst, denn die Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie bedeutet Kampf – politischen Kampf, mit schweren Verfolgungen, und privaten Kampf – Kampf um die Existenz – ein Kampf, der für die meisten noch weit schwieriger und schwerer ist als der politische Kampf. Und notwendig, denn der Mut zu diesem Doppelkampf schöpft sich nur in dem Bewußtsein, daß die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft, von denen die große Mehrzahl der Menschen heut erdrückt, verderbt, verkrüppelt wird, nur durch ein revolutionäres, das heißt das Übel: den Kapitalismus mit allen Wurzelfasern austilgendes Handeln zu beseitigen ist.
Ich weiß, es ist hier und da Mode geworden, über die Warnungen vor dem Hinabgleiten auf die schiefe Ebene zu lachen. Man hat an die Fabel vom Wolf und dem Schäfer erinnert. Das Gleichnis hinkt aber und spricht eher gegen die Lacher. Der Wolf war wirklich da und ist schließlich auch in die Herde hineingebrochen. Auch in unserem Fall ist es keine eingebildete Gefahr, vor der gewarnt wird. Und jedenfalls wird das Interesse der Partei von den Warnern nicht schlechter behütet als von den Lachern. Das Mißtrauen galt bisher als eine demokratische Tugend und die Vertrauensseligkeit als ein demokratisches Laster. Hier und da scheint man den Satz jetzt umkehren zu wollen.
Das Proletariat steht politisch wie sozial in schroffstem Gegensatz zu dem Klassenstaat – es hat ihn auch auf allen Gebieten und in allen Fragen zu bekämpfen. In Fragen der inneren Politik und in Fragen der äußeren.
Es ist freilich nicht immer leicht, das Richtige zu treffen. Wo die Interessen nicht sichtbar hervortreten, läßt das Gefühl sich leicht täuschen. Zum Glück haben wir da, wo es einmal schwer ist, sich zurechtzufinden, einen untrüglichen Kompaß in der Haltung unserer Feinde. Gibt es auch Fragen, wo wir vorübergehend mit ihnen übereinstimmen können, so ist es doch undenkbar, daß eine Sache, die von unseren Feinden als wichtig oder gar als Lebensfrage verfochten wird, eine Parteisache des Proletariats sein kann. Und wir werden nie irregehen, wenn wir tun, was den Interessen unserer Feinde zuwider geht, und andererseits werden wir fast niemals recht gehen, wenn wir tun; was den Beifall unserer Feinde findet. Die geschichtliche Entwicklung ist der Kampf in Permanenz – Interessenkämpfe, Stammeskämpfe, Klassenkämpfe. Und wenn schon in Geldsachen die Gemütlichkeit aufhört, wieviel mehr im Kampf. Gemütlichkeit und Sentimentalität sind vom Übel in der Politik. Sie haben noch keinen Sieg gebracht, wohl aber unzählige Niederlagen. Die Blüchersche Regel »Immer dem Kanonendonner nach und immer auf den Feind los!« ist auch für den politischen Kampf die beste Regel.
Hier ein Wort. Der Klasseninstinkt der Bourgeoisie ist weit besser ausgebildet als der des Proletariats. Die herrschende Klasse kennt naturgemäß ihre Interessen besser als die beherrschte, die an sich weniger Gelegenheit hat, sich aufzuklären und auch systematisch, teils mit, teils ohne Absicht durch die herrschende Klasse von der Erkenntnis ihrer Interessen abgelenkt wird.
Sage man nicht, es seien die rauhsten Formen, in denen der Sozialismus oft aufgetreten ist, wodurch das Bürgertum erschreckt und erbittert worden sei. Das ist grundfalsch. Es ist nicht die Form, es ist der Inhalt, den das Bürgertum verabscheut, und je harmloser die Form, desto gefährlicher erscheint in den meisten Fällen den Herren Bourgeois der Inhalt. Auf Feinheit der Form kommt es ihnen nicht an – das erhellt aus der Art, wie sie ihre eigenen Kämpfe führen. Wieviel hat man über den »Knüppel Tölckes«[Anmerkung 141] geschimpft und – gefabelt. Aber die Knüppeltaktik hat in Deutschland Jahrzehnte bestanden und ist bis auf den heutigen Tag noch nicht ganz verschwunden. Aber nicht Arbeiter sind es und nicht Sozialisten, bei denen der Knüppel als ultima ratio – als oberster Vernunftgrund – gegolten. Es ist die Taktik der »Edelsten der Nation«, der Nationalliberalen, die namentlich in Mittel- und Südwestdeutschland durch Organisation von Hurra brüllenden Knüppelbataillonen sich ihre politischen Domänen zu sichern suchten im brutalen Terrorismus, den die vordringende Sozialdemokratie jedoch so ziemlich ausgerottet hat.
Jedenfalls dürfen wir uns darauf verlassen, daß der politische Instinkt unserer bürgerlichen Gegner sie, sobald ihr Klasseninteresse ins Spiel kommt, zu einer uns feindlichen Stellungnahme bestimmen wird. Ein klassisches Exempel bietet uns Belgien, wo – wie schon bemerkt – ein Kompromiß der Sozialdemokraten mit dem Liberalismus unter den denkbar günstigsten Bedingungen abgeschlossen war. Unsere Partei hatte die unbestrittene Leitung in der Hand, schwebte also nicht in der Gefahr, um die Früchte der gemeinsamen Erfolge geprellt zu werden. Das Ziel sollte das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht sein. Die klerikale Partei aber kennt ihre Pappenheimer. Sie weiß, daß das Bürgertum kein Klasseninteresse hat, den Arbeitern, die in den modernen Industriestaaten die Mehrheit der Bevölkerung bilden, das allgemeine Wahlrecht und damit die Aussicht auf die Mehrheit und die Herrschaft zu geben – sie boten, indem sie die Proportionalvertretung mit Pluralstimmrecht, das heißt mit mehreren Stimmen, für die Reichen gewährten, dem radikalen Bürgertum einen Anteil an der Staatsgewalt, wenn es ihnen im Kampf gegen das allgemeine, direkte und gleiche Wahlrecht beistehen würde. Und siehe da: ohne sich auch nur eine Minute zu besinnen, zerrissen die radikalen Herren Bourgeois ihren Vertrag mit den Sozialisten und kämpfen jetzt mit den Klerikalen gegen das allgemeine Wahlrecht und die Sozialdemokratie. Wer durch dieses Beispiel nicht belehrt wird, daß der Emanzipationskampf des Proletariats ein Klassenkampf ist, an dem ist Hopfen und Malz verloren. Es gibt keine bürgerliche Partei, auf deren feste Unterstützung die Sozialdemokratie rechnen kann. Und jegliche Unterstützung, die wir in den Wechselfällen des politischen Kampfes von bürgerlichen Parteien erlangen können, muß uns, wenn wir klug handeln, auch gewährt werden ohne Kompromiß. Mit den Kompromissen und Wahlbündnissen der Parteien ist es wie mit den Verträgen zwischen Staaten: sie werden genausolange beobachtet, als es den betreffenden Parteien das Interesse gebietet. Wo aber das Interesse gebietet, da bedarf es keiner Kompromisse, Wahlbündnisse und Verträge. Gesetzt – um an einen bestimmten Fall anzuknüpfen –, gesetzt den Fall, die Erwerbung von sechs neuen Landtagsmandaten sei für unsere Partei in Bayern von Wichtigkeit gewesen, so hätten bei der Stärke und dem Einfluß unserer Partei Mittel und Wege sich finden lassen, den Mandatszuwachs auch ohne Kuhhandel zu erlangen. Das Zentrum zu stärken, war unter allen Umständen – die Prinzipienfrage beiseite gelassen – ein schwerer taktischer Fehler. Ein Fehler, um so größer, als er den Auflösungsprozeß innerhalb des Zentrums aufhält. Dieses steht fest, solange die Arbeiter, welche im Bereich seines Einflusses sind, noch nicht zum Klassenbewußtsein gelangt sind, noch nicht gelernt haben, ihre Klasseninteressen über die konfessionellen Interessen zu setzen – ein Prozeß, den die ökonomische Entwicklung naturnotwendig mit sich bringt und den wir durch unsere Propaganda zu beschleunigen haben. Im Offenbacher und anderen Wahlkreisen ist uns das so weit gelungen, daß die meisten katholischen Arbeiter bei der letzten Wahl gleich im ersten Wahlgang für uns gestimmt haben und nicht für den Kandidaten ihrer eigenen Partei.
Die Klassenkampftaktik ist nicht bloß prinzipiell richtiger, sie ist auch wirksamer und erfolgreicher als die Kompromißtaktik. Der Nützlichkeitsstandpunkt, den die Verteidiger des bayerischen Kompromisses betonen, ist gewiß ein sehr – nützlicher, aber es gibt doch auch andere Faktoren als die Nützlichkeit, die in Betracht gezogen werden müssen. Die Reinheit des Prinzips, der Idealismus unseres Strebens, das sind Faktoren von stärkender und werdender Kraft – die uns die Kraft verliehen haben zu all unseren Kämpfen und unseren Lehren, die Kraft, alles, was sich unterdrückt fühlt und Ehrgefühl hat, unwiderstehlich an sich zu ziehen. Gewiß – das Bündnis mit dem Zentrum war sehr nützlich – es hat uns ein halb Dutzend Landtagsmandate gebracht, aber wie sagte doch Gretchen?
Wie konnt' ich sonst so tapfer schmählen,
Wenn tät' ein armes Mägdelein fehlen!
Wie konnt' ich über andrer Sünden
Nicht Worte g'nug der Zunge finden!
Wie schien mir's schwarz und schwärzt's sogar,
Mir's immer doch nicht schwarz g'nug war,
Und segnet' mich und tat so groß,
Und bin nun selbst der Sünde bloß!
Ja, wie konnten wir sonst so tapfer schmählen auf die »Kuhhändler«, namentlich die schwarzen! Wir schwärzten sogar das Schwarze und die Schwarzen. Und heute? Wir dürfen nicht alles tun, was die Gegner tun. Wir dürfen nicht alles dem Vorteil opfern. Und was unseren Gegnern ein Vorteil, ist uns tödliches Gift. Sagt der Adel von sich: noblesse oblige, so sagen wir: socialisme oblige, der Sozialismus verpflichtet.
Wenn die Taktik es vorschreibt oder doch erlaubt, sich mit den Gegnern zu verbinden, um durch ein »Augenblickskartell« einen Augenblickserfolg zu erzielen, so hat Schumacher in Solingen nur als guter Taktiker im Sinn des Opportunismus gehandelt, indem er voriges Jahr bei den Reichstagswahlen sich mit den Fortschrittlern verbündete, um die Partei – gegen uns zu retten. Er wurde nicht Bourgeois – behüte! –, er bediente sich nur der Bourgeoisie, um uns, die falschen Sozialisten, niederzuwerfen und dem wahren Sozialismus zum Sieg zu verhelfen, gerade wie Millerand durch das Bündnis mit Galliffet-Waldeck-Rousseau den Militarismus vernichten will. Schumacher kann für sein Handeln genau dieselben Gründe vorbringen wie Millerand für das seine. Wir nannten es Parteiverrat.
Mit dem Wachstum der Sozialdemokratie, mit ihrem Eindringen in die bisher von anderen Parteien beherrschten Gebiete und mit der Ausdehnung unserer praktischen Tätigkeit kommen wir immer häufiger in Augenblicksverbindungen oder Augenblicksverhältnisse mit anderen Parteien. Allein, diese Augenblicksverhältnisse sollen niemals zu Augenblickskartellen werden; wir dürfen uns niemals als Partei verpflichten. Wir müssen stets die Politik der freien Hand befolgen: die Lage ausnutzen, die Gegner für uns arbeiten lassen und, das Endziel der Partei fest im Auge, stets nur unsere eigenen Wege gehen – mit gegnerischen Parteien nur dann zusammengehen, wenn unser Weg zufällig der gleiche ist. Daß wir eine Partei des Klassenkampfes sind, die mit allen übrigen Parteien nichts gemein und alle übrigen Parteien zu bekämpfen, zu überwinden hat, um zum Ziel zu gelangen, des dürfen wir uns keinen Augenblick unbewußt sein.
Betreffend den Fall Millerand und die Frage der Parteieinheit schrieb ich, veranlaßt durch die französische Arbeiterpartei (der »Marxisten«) nach Epernay:[Anmerkung 142]
Meine Freunde!
Sie wissen, daß ich es mir zur Pflicht gemacht habe, mich in die Angelegenheiten der Sozialisten anderer Länder nicht einzumischen. Aber da Sie meine Meinung über die brennenden Fragen, die Ihren Kongreß und das ganze arbeitende und sozialistische Frankreich beschäftigen, zu kennen wünschen und da diejenigen Ihrer sozialistischen Landsleute, die in bezug auf diese Fragen anderer Ansicht sind als Sie, sich ebenfalls an mich gewandt haben, so habe ich keinen Grund, mit meiner Meinung zurückzuhalten. Und es ist im Grunde doch auch keine uns Deutschen fremde Angelegenheit, die Sie jetzt in Frankreich beschäftigt.
Die Internationalität des Sozialismus ist eine Tatsache, die sich von Tag zu Tag mehr fühlbar und geltend macht. Wir Sozialisten sind eine Nation für uns – eine und dieselbe internationale Nation in allen Ländern der Erde. Und die Kapitalisten mit ihren Agenten, Werkzeugen und getäuschten Gläubigen (dupes) sind ebenfalls eine internationale Nation, so daß wir in Wahrheit sagen können: Es gibt heute nur noch zwei Nationen in allen Ländern, die eine die andere bekämpfend, in dem großen Klassenkampf, welcher die neue Revolution ist – dem Klassenkampf, welcher gekämpft wird einerseits von dem Proletariat, vertretend den Sozialismus, andererseits von der Bourgeoisie, vertretend den Kapitalismus.
Und da der Kapitalismus die bürgerliche Welt (der Bourgeoisie) beherrscht, so sind, solange der Kapitalismus herrscht, mit Notwendigkeit alle Staaten Klassenstaaten und alle Regierungen Klassenregierungen, dienend den Zwecken und Interessen der herrschenden Klasse und bestimmt, den Klassenkampf für die Bourgeoisie gegen das Proletariat zu führen – für den Kapitalismus gegen den Sozialismus, für unsere Feinde gegen Euch, gegen uns. Vom Standpunkte des Klassenkampfes, dieser Grundlage des kämpfenden (militant) Sozialismus, ist das eine Wahrheit, welche durch die Logik des Gedankens und der Tatsachen über jeden Zweifel hinausgehoben ist. Ein Sozialist, der in eine Bourgeoisregierung eintritt, geht entweder zum Feind über, oder er gibt sich in die Gewalt des Feindes. In jedem Fall trennt ein Sozialist, der Mitglied einer Bourgeoisregierung wird, sich von uns, den kämpfenden Sozialisten. Er mag sich noch für einen Sozialisten halten, ist es aber nicht mehr; er kann von seiner Ehrlichkeit überzeugt sein, aber dann hat er nicht das Wesen des Klassenkampfes begriffen – nicht begriffen, daß der Sozialismus den Klassenkampf zur Grundlage hat.
Heutzutage, unter der Herrschaft des Kapitalismus, kann eine Regierung, selbst wenn sie voll Philanthropie und von den besten Absichten beseelt ist, nichts Ernsthaftes für unsere Sache tun. Man muß sich vor Illusionen (Selbsttäuschungen) hüten. Schon vor Jahrzehnten sagte ich: Wenn der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, so der Weg zu Niederlagen mit Illusionen. In der heutigen Gesellschaft ist eine nichtkapitalistische Regierung eine Unmöglichkeit. Und der unglückliche Sozialist, den der Zufall in eine solche Regierung wirft, ist, wenn er seine Klasse nicht verraten will, zur Ohnmacht verurteilt. Die englische Bourgeoisie hat das Kunststück, die Opposition durch Teilnahme an der Regierung zu lähmen, seit einem Jahrhundert gelernt, und es ist in England traditionelle Praxis aller Regierung, daß das radikalste Mitglied der Opposition, welches naiv genug ist, sich zu dem Spiel herzugeben, in die Regierung genommen wird. Der Mann dient den »Kollegen« als Deckung und entwaffnet seine Freunde, die nicht auf ihn schießen können – wie man in der Schlacht nicht auf die Geißeln schießen kann, die der Feind vor sich gestellt hat.
Das meine Antwort auf die Frage, betreffend den Eintritt eines Sozialisten in eine Bourgeoisregierung.
Jetzt zu der zweiten Frage: der Frage der Einheit und Einigung. Die Antwort wird mir diktiert durch die Prinzipien und die Interessen der Partei. Ich bin für die Einheit der Partei – für die nationale und internationale Einheit der Partei. Aber es muß die Einheit des Sozialismus sein. Die Einheit mit Gegnern, mit Leuten, die andere Ziele und andere Interessen haben, ist keine sozialistische Einheit. Wir müssen unsere Einheit um jeden Preis und mit allen Opfern erstreben. Aber damit wir uns einigen und organisieren können, haben wir aller fremden und feindlichen Elemente uns zu entledigen. Was würde man von einem General sagen, der in Feindesland die Reihen seiner Armee mit Rekruten aus den Reihen der Feinde füllen wollte? Wäre das nicht der Gipfel der Torheit? Wohlan: in unsere Armee – das ist in unsere Partei, die eine Armee ist für den Klassenkampf und Klassenkrieg –, in unsere Armee Gegner hereinziehen, Soldaten mit den unsrigen entgegengesetzten Zielen und Interessen, das wäre Wahnsinn, das wäre Selbstmord.
Auf dem Boden des Klassenkampfes sind wir unbesiegbar; verlassen wir ihn, so sind wir verloren, weil wir keine Sozialisten mehr sind. Die Kraft und Macht des Sozialismus besteht in der Tatsache, daß wir einen Klassenkampf führen, daß die arbeitende Klasse durch die Kapitalistenklasse ausgebeutet und unterdrückt wird und daß in der kapitalistischen Gesellschaft wirksame Reformen, welche der Klassenherrschaft und Klassenausbeutung ein Ende machen, unmöglich sind.
Wir können nicht mit unseren Prinzipien schachern, wir können keinen Kompromiß, keinen Vertrag mit dem herrschenden System schließen. Wir müssen mit dem herrschenden System brechen, es auf Leben und Tod bekämpfen. Es muß fallen, damit der Sozialismus siegen kann; und von der herrschenden Klasse können wir doch wahrhaftig nicht erwarten, daß sie selber sich und ihrer Herrschaft den Gnadenstoß gibt. Die Internationale Arbeiter-Assoziation hat deshalb den Arbeitern gepredigt: die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein.
Kein Zweifel, es gibt Bourgeois, die aus Rechtsgefühl und Menschlichkeit sich auf Seiten der Arbeiter und Sozialisten stellen, allein das sind nur Ausnahmen – die Masse der Bourgeoisie hat Klassenbewußtsein, das Bewußtsein der herrschenden und ausbeutenden Klasse. Ja, die Masse der Bourgeoisie hat, weil herrschende Klasse, ein viel schärferes und stärkeres Klassenbewußtsein als das Proletariat.
Ich schließe – Sie haben mich um meine Meinung befragt, ich habe sie Ihnen gesagt. An Ihnen ist es zu tun, was die Prinzipien und das Interesse der Partei Ihnen zu tun gebieten.
Brüderlichen Gruß dem Kongreß von Epernay. Hoch das Frankreich der Sozialisten und Arbeiter! Hoch der Internationale Sozialismus!
Weimar, den 10. August 1899 W. Liebknecht
Meinem Brief habe ich nichts hinzuzufügen. Die Ereignisse haben ihn seitdem bestätigt. Durch die Anwesenheit eines Sozialisten in der Regierung ist nichts erreicht und nichts verhindert worden, was nicht auch ohne diese Anwesenheit hätte erreicht und verhindert werden können. Wohl aber ist die Sozialdemokratie, soweit sie den Eintritt des Sozialisten in die Regierung veranlaßte oder guthieß, für alle Begehungs- und Unterlassungssünden der Regierung in der Zeit, da der Sozialist ihr angehörte, mitverantwortlich geworden.
Wohl wird zur Entschuldigung oder Beschönigung gesagt, es habe sich um eine ausnahmsweise Lage gehandelt – darum, die Republik zu retten, die sonst hätte verlorengehen können. Das hält aber der Kritik nicht stand. Die Republik in Frankreich wird nicht durch die paar Mann in der Regierung, einschließlich des Sozialisten, aufrechterhalten, sondern durch die französischen Arbeiter, denen der größte Teil der Bauern und der Kleinbürger zur Seite steht – also durch die große Mehrheit des französischen Volkes, das sich weder durch die Pfaffen irreleiten noch durch die reaktionären Kapitalisten vergewaltigen läßt. Der Militarismus ist in Frankreich bei weitem nicht so stark und so gefährlich wie in Deutschland und die französische Armee in höherem Grade als in Deutschland eine »Volksarmee«. Sie ist ebenso zahlreich wie die deutsche, obgleich die Bevölkerung Frankreichs 15 Millionen weniger zählt als die Deutschlands – und enthält folglich einen entsprechend stärkeren Prozentsatz der Bevölkerung. Frankreich ist tatsächlich an der Grenze angelangt, wo mit dem preußisch-deutschen Militärsystem, das es nach dem Krieg von 1870/71 übernahm, gebrochen werden muß – wo es entweder, wie der Kriegsminister General Galliffet befürwortet hat, durch eine kleine, wohlgedrillte Prätorianerarmee ersetzt oder in das Milizsystem mit allgemeiner Wehrhaftmachung aller Wehrfähigen überführt werden muß. Mit einer solchen Armee sind keine Staatsstreiche zu machen. Mag ein Teil der Offiziere noch so reaktionär sein, die Masse der Soldaten ist zu eng mit dem Volke verbunden, um sich zu einem Staatsstreich benutzen zu lassen.
Handelte es sich bei der Bildung des Ministeriums Waldeck-Rousseau-Galliffet in der Tat, wie uns vorgeredet wurde, um den Schutz der Republik gegen einen Staatsstreich, so war die republikanische Gesinnung des französischen Proletariats Bürgschaft genug für die Regierung – jedenfalls eine ungleich bessere Bürgschaft als die Anwesenheit eines Sozialisten im Kabinett.
Der Umstand, daß der Chef dieses Ministeriums ein besonders scharf ausgeprägter Bourgeoiskapitalist und der Kriegsminister einer der verrufensten Sabreurs (Säbelraßler und Dreinschläger) des »kleinen Napoleon« und der blutdurstigste unter den Mördern der Kommune war, läßt das Unnatürliche in der Handlungsweise Millerands nur schärfer hervortreten. Allein, auch wenn an Stelle Waldeck-Rousseaus ein echt demokratischer Bürger, wie etwa Brisson, stände und an Stelle Galliffets ein ehrlicher, von Arbeiterblut nicht besudelter Soldat, würde der Schritt von unserem Standpunkt aus nicht minder verwerflich sein. Er wäre bloß nicht das Gefühl so verletzend.
Der Klassengegensatz mit dem Klassenkampf ist nun einmal eine vorhandene Tatsache. Der Staat ist, solange der Klassengegensatz und Klassenkampf dauert, mit Naturnotwendigkeit ein Klassenstaat, und die Regierung dieses Klassenstaates mit gleicher Naturnotwendigkeit eine Klassenregierung. Ein Sozialist, der sich verleiten läßt, Mitglied einer solchen Regierung zu werden, wird sein Klassenbewußtsein, falls er es nicht an der Tür des Kabinetts abgelegt hat – wie ein Mohammedaner die Schuhe am Eingang der Moschee –, bald vollständig verloren haben, falls er nicht die Mannhaftigkeit hat, die erste sich darbietende Gelegenheit zum Konflikt und zum Bruch zu benutzen.
Mit der Doktorfrage, ob überhaupt nicht ein Fall denkbar sei, wo ein Sozialist in eine nichtsozialistische Regierung eintreten könne, beschäftige ich mich nicht. Ein derartiger Fall könnte nur eintreten nach einer staatszertrümmernden Katastrophe, zum Beispiel im Lauf eines Weltkrieges, wenn die Regierung des Klassenstaates zusammengebrochen ist, ohne daß genügend Elemente zur sofortigen Bildung einer sozialistischen Regierung da wären.
Eine solche Eventualität hat aber Frankreich wahrhaftig nicht vorgelegen; und zur »Rettung der Republik« sind die Herren Waldeck-Rousseau und Galliffet in ganz Frankreich so ziemlich die wenigst berufenen Personen. Die sozialistische Partei war, ist und bleibt die einzig berufene Retterin und Schutzwacht der Republik – mit und ohne Millerand.
Guesde und Lafargue, die Hauptvertreter des wissenschaftlichen Sozialismus in Frankreich, haben in einer den »ministeriellen« Opportunitätssozialismus geißelnden Denkschrift den Unterschied zwischen der Tätigkeit in einer vom Volk gewählten Körperschaft und in einer Staatsbehörde oder gar der Staatsregierung dargelegt. Die Staatsbehörden und die Regierung sind Organe der Klassenherrschaft, die ihrer Natur nach im Interesse der herrschenden Klasse funktionieren müssen. Die Teilnahme an einem durch Wahl gebildeten Körper (Reichstag, Landtag, Gemeinderat usw.) dagegen ist der Ausfluß der Volkssouveränität, die von der Klassenherrschaft beeinflußt wird, aber über ihr steht und die einzige Macht ist, die ihr ein Ende machen kann. Die Vertreter der Sozialdemokratie in solchen Wahlkörperschaften gleichen den Basaltkegeln, die aus dem Erdinnern emporgetrieben, die Sandstein- und Schieferschichten durchbrochen haben – sie entspringen dem Volksinnern, sind Teile des Volks, und haben in sich das Recht und die Kraft der alles Staatliche und Gesellschaftliche überragenden und bestimmenden Volkssouveränität. Sie sind nicht da aus der Gnade der Gewalthaber, sondern wider deren Willen und wider deren Macht – Beamte wohl, jedoch Ehrenbeamte, Beamte nicht der Gewalthaber, sondern des Volkes, das sie gewählt hat, auf daß sie seinen souveränen Willen zur Geltung bringen. Deshalb ist es so grundverkehrt, unsere Tätigkeit im Reichstag und anderen Vertretungskörpern als einen Kompromiß mit den herrschenden Gewalten zu bezeichnen. Gewiß haben wir dort mit unseren Feinden zusammenzuarbeiten, allein als selbständige Macht in Ausübung des Mandats, das wir vom Volk erhalten haben. Das ist kein Zusammenarbeiten auf dem Boden gemeinschaftlicher Anschauungen und Ziele – es ist ein Arbeiten, das Kampf ist – ein gegenseitiges Ringen, ein Messen der Kräfte, aus deren Spiel, Richtung und Kraftsumme nach dem ewigen Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte sich die Gesetzgebung und die Regierung herausbildet.
Daß im Laufe dieses gegenseitigen Ringens und Kämpfens wechselnde Interessengruppen und Augenblicksannäherungen vorkommen, liegt in der Natur der Dinge; derartige Momentgruppierungen Kompromisse zu nennen, ist reine Sprachwillkür. Ein aus den Verhältnissen sich ergebendes Nebeneinandergehen und ein durch die Umstände bedingtes Arbeiten und Streben in gleicher Richtung ist ebensowenig ein Vertrag, ein Bündnis oder ein Kompromiß, wie die gegenseitige Berührung von durcheinandergeschüttelten Glasstücken eines Kaleidoskops ein Vertrag, Bündnis oder Kompromiß ist. Ob die schüttelnde Gewalt eine mechanische ist oder die Macht organischer Gesetze – ist ganz gleichgültig. Das sind Annäherungen ohne jegliche Verpflichtung, Erzeugnisse des Augenblickes geboren, vom Augenblick wieder weggefegt.
Nicht minder falsch ist es, das Zusammengehen bei Stichwahlen mit Wahlbündnissen zu vergleichen, wie sie für die preußischen Landtagswahlen vorgeschlagen, für die bayrischen Landtagswahlen tatsächlich abgeschlossen worden sind. Jenes Zusammengehen ist nur eine Episode der Wahlschlacht, welche die Partei in ihrer Gesamtheit schlägt und deren erstem Haupttag nun die Nachschlacht folgt, in welcher die unentschiedenen Wahlen auszufechten sind. Daß wir in solchen Wahlkreisen, wo wir bei der Stichwahl nicht selber im Kampf stehen, dem Gegenkandidaten zum Sieg verhelfen, dessen Wahl unserer Partei die meisten Vorteile bietet, das ist ein Gebot elementarster Klugheit. Und ich habe dies schon zu einer Zeit als selbstverständlich befürwortet, da verschiedene, die heute für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen schwärmen, es für einen halben Prinzipienverrat erklärten. Gäben wir, wenn ein Ausnahmegesetz besteht oder droht, bei einer Stichwahl zwischen zwei bürgerlichen Kandidaten nicht demjenigen unsere Stimme, der ein Gegner von Ausnahmegesetzen ist, so wären wir Esel, die den Knüttel verdienen. Aber das ist doch kein Kompromiß! Wir verpflichten uns zu nichts, wir opfern kein Prinzip, wir opfern kein Interesse – im Gegenteil, wir handeln einzig in unserem eigenen Interesse, das wir schädigen würden, handelten wir anders. Verpflichtungen liegen höchstens auf Seiten unserer Gegner vor. Diese Taktik ist so einfach und natürlich, daß sie nur durch unklare Prinzipienreiterei eine Zeitlang in Frage gestellt werden konnte und daß sie, als die Parteileitung es unterließ, sie den Genossen zu empfehlen, über die Köpfe der Parteileitung hinweg von dem gesunden Masseninstinkt der Parteigenossen zur Ausführung gebracht wurde. Und zwar von Fall zu Fall – mit besonderer Entscheidung für jeden besonderen Fall. Keine Schachergeschäfte, keine Mogeleien, klipp und klar: wir schlagen auf den Feind los, und wo zwei Feinde gegeneinanderstehen, von denen einer das Mandat gewinnen muß, schlagen wir den gefährlicheren von beiden zu Boden. Das ist Kampfpolitik, wie sie einer Kampfpartei ziemt.
Bei den Reichsstichwahlen[Anmerkung 143] sind wir kämpfende Partei, die aus eigener Kraft sich ihren Anteil an der Volksvertretung erobert und allen übrigen Parteien ohne Ausnahme die Spitze bietet – auch denen, für deren Angehörige sie im Parteiinteresse bei Stichwahlen ihre Stimme und das Mandat gibt. Bei den preußischen Landtagswahlen sind wir unfähig, aus eigener Kraft auch nur ein einziges Mandat zu gewinnen; um eins oder mehrere gewinnen zu können, müssen wir uns an eine bürgerliche Partei wenden und mit ihr ein Handelsgeschäft abschließen. Bei der Reichstagswahl die stärkste Partei Deutschlands, sind wir bei der preußischen Landtagswahl die schwächste aller Parteien, ja vollkommen ohnmächtig, da wir auf Grund des »elendesten aller Wahlgesetze« zwar wahlberechtigt, aber wahlunfähig sind und ein Mandat nur unter der Bedingung einheimsen können, daß wir uns als Stimmvieh einer bürgerlichen Partei zur Verfügung stellen.
Bei den bayrischen Landtagswahlen liegen die Dinge allerdings etwas anders. In Bayern verbietet uns das Landtagswahlgesetz nicht den Erwerb eigener Mandate – das spricht aber nicht zugunsten eines Wahlkompromisses, sondern läßt im Gegenteil den »Kuhhandel« dieses Sommers nur im schlimmem Lichte erscheinen.
Auf die Gründe, die sonst gegen die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen vorzubringen sind, lasse ich mich jetzt nicht ein. Die Demoralisation durch die verschiedene Frontstellung bei Landtags- und bei Reichstagswahlen, die Verwirrung in den Köpfen, die Lockerung der Disziplin und vor allem die Verwischung des Klassenkampfcharakters unserer Partei ist schon – auch von mir selbst – so oft und so nachdrücklich hervorgehoben worden, daß ich die Leser durch Wiederholung nicht ermüden will.
Nur eins noch.
Wenn das Bürgertum noch Lebenskraft hätte, so brauchte es unsere Hilfe nicht, um bei den preußischen Landtagswahlen den Sieg zu erringen. Die ersten zwei Klassen gehören den bürgerlichen Wählern – niemand kann ihnen die Mehrheit streitig machen, wenn sie nicht selbst sich preisgeben. Und wie können wir ihnen dann helfen? Kann man einem Lahmen oder Schwertrunkenen zum Gehen aufhelfen? Man kann ihn emporheben, allein, sobald man ihn losläßt, fällt er wieder zu Boden wie ein Mehlsack. Wir kommen hier nicht von den Hörnern des Dilemmas los: Entweder das Bürgertum hat noch politische Lebenskraft – dann braucht es keine Hilfe, oder es hat sie nicht, dann nutzt keine Hilfe. Und gibt's ein Bündnis mit einem Leichnam?
Man hat es getadelt, daß ich in einer Zeitungspolemik erklärt habe, die Annahme eines neuen Sozialistengesetzes wäre ein kleineres Übel gewesen als die Verwischung des Klassengegensatzes und der Parteigrenzen durch ein Landtagswahlbündnis mit der preußischen Fortschrittspartei. Je mehr ich darüber nachdenke, desto fester bin ich von der Richtigkeit des Wortes überzeugt. Was soll aus der Partei werden, wenn wir durch angedrohte oder drohende Gefahren und Nachteile uns aus dem Geleise unserer Parteigrundsätze herausdrängen lassen? Die Furcht ist für den Menschen sprichwörtlich ein schlechter Ratgeber – für Parteien ist sie der Untergang. Die Furcht vor der Arbeiterbewegung und dem Sozialismus hat das deutsche, Bürgertum politisch zugrunde gerichtet – und die Tage der Sozialdemokratie wären gezählt, fände der Appell an die Furcht einen Widerhall in uns. Wir sollen nicht herausfordern, aber wir sollen uns auch nicht ins Bockshorn jagen und durch die Furcht zu Schritten verleiten lassen, die den Prinzipien, dem Wesen und der Würde unserer Partei nicht entsprechen. Durch Ängstlichkeit und Zahmheit entwaffnet man den Feind nicht, ermutigt man ihn nur. Nicht, daß wir versuchen sollen, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen. Wir wollen und müssen »praktisch« sein. Aber ist das denn jemals geleugnet, bestritten worden? »Praktisch« sind wir immer – trotz Bernstein – gewesen. Wir haben stets an das Bestehende angeknüpft und mit Hinblick auf unser Ziel planvoll gearbeitet. In Gemeinden, Einzelstaaten, Reich sind alle vernünftigen Neuerungen von der Sozialdemokratie, wenn nicht angeregt, doch gefördert worden. Denken wir nur an die wichtigste aller Reformen: die Sozialreform, in welcher die Regierung, will sie nicht Ruinen oder Luftschlösser bauen, auf unsere vor Jahrzehnten schon gemachten Vorschläge zurückgreifen muß.
Wir können sogar von uns sagen, wir sind die praktischste, ja die einzige praktische Partei – praktisch im Sinne des Vernünftigen. Nur wer die organischen Entwicklungsgesetze kennt und im Einklang mit ihnen einem bestimmten Ziel planmäßig zustrebt, ist praktisch. Und so arbeiten wir. Unsere Gegner kennen diese Gesetze nicht oder sie erkennen sie nicht an und wollen sie beugen oder zerbrechen. Wer das Wasser zwingen will, bergauf zu laufen, ist sicher nicht praktisch, und solch törichtem Ziel gilt die Arbeit unserer Feinde. Freilich hat man gesagt: Die Arbeiter allein können die Emanzipation der Arbeiterklasse nicht bewirken, auch die intelligenten und gebildeten Elemente der anderen Klassen müßten mitarbeiten. Und wir werden auf die mancherlei den Arbeitern nützlichen Maßregeln verwiesen, die von bürgerlichen Parteien durchgeführt oder unterstützt worden sind. Aber das ist sophistisches Gerede. Denn – und in diesem Punkt ist das Zeugnis Bismarcks entscheidend – alle diese sozialreformatorischen Maßregeln – sie sind freilich karg genug – wären nie getroffen worden ohne die Initiative und das Drängen des klassenbewußten Proletariats und der Sozialdemokratie.
Bernstein meint allerdings, der Sozialismus sei die letzte Konsequenz des Liberalismus. Nun, das wäre die radikalste Aufhebung des Klassengegensatzes.
Von meinem ehemaligen Bundesbruder in Communismo, dem jetzigen Reichskanzler in re. Miquel, ist der Satz umgedreht worden: der Liberalismus ist die letzte Konsequenz des Kommunismus. Und daß der Miquelsche Liberalismus dem Konservatismus (im deutschen Sinne), das heißt, dem junkerlichen Mittelalterideal der Leibeigenschaft sehr nahe verwandt ist, das weiß wohl jedermann, der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören.
Nein – die Sozialdemokratie hat für sich zu bleiben, ihre Kraft nur in sich selbst zu suchen und aus sich selbst zu schöpfen. Jede Kraft außer uns, an die wir uns anlehnen, ist für uns Schwächung. In dem Bewußtsein unserer Stärke, in dem Glauben an den Welteroberer-Beruf des Sozialismus ist das Geheimnis unserer außerordentlichen, fast wunderbaren Erfolge.
Der Islam war so lange unbesiegbar, als er an sich allein glaubte und in jedem Nichtmohammedaner einen Feind sah. Von dem Augenblick an, wo der Islam auf Kompromisse einging und in die Wege der nichtmohammedanischen, sogenannten zivilisierten Mächte einlenkte, hat er seine erobernde Kraft eingebüßt. Der Islam konnte nicht anders. Er war nicht der wahre, welterlösende Glaube. Der Sozialismus aber ist es, und der Sozialismus kann die Welt nicht erobern und nicht erlösen, wenn er aufhört, an sich allein zu glauben.
Drum lassen wir nicht ab von der alten Taktik! Und nicht von dem alten Programm! Stets voranschreitend mit der Wissenschaft und der wirtschaftlichen Entwicklung sind wir, was wir waren, und bleiben wir, was wir sind.
Oder – die Sozialdemokratie hört auf, zu sein.
Personenregister
Alexander I. (1777–1825): russischer Zar (1801–1825), Begründer der »Heiligen Allianz«. 232
Alexander II. (1818–1881): russischer Zar (1855–1881); in Petersburg von Narodowolzen getötet. 228, 231 f.
Alson, Archibald (1792–1867): englischer Historiker und Ökonom. 41
Archimedes (etwa 287–212 v.u.Z.): griechischer Mathematiker und Physiker. 220
Aristoteles (384–322 v. u. Z.): bedeutender griechischer Philosoph. 141, 166, 172
Armborst: Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. 30
Attila (gest. 453): Hunnenkönig (433–453). 225
Aurelle de Paltadines, Louis-Jean-Baptiste d' (1804–1877): französischer General, Befehlshaber der Loire-Armee im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71; März 1871 Oberkommandant der Nationalgarde von Paris. 181
Avrial, Augustin (1840–1904): Mechaniker, linker Proudhonist. Mitglied des Föderalrates der Pariser Sektion der I. Internationale und der Pariser Kommune. 186
Babeuf, François-Noël (Gracchus) (1760–1797): französischer Revolutionär, utopischer Kommunist, Organisator der Verschwörung der »Gleichen«. 286
Baker, Robert: Arzt und Fabrikinspektor in England in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. 198
Bakunin, Michail Aiexandrowitsch (1814–1876): Publizist, russischer Revolutionär, später einer der Hauptvertreter des Anarchismus; Teilnehmer der Revolution 1848/49; Mitglied der I. Internationale, in der er als heftiger Gegner des Marxismus auftrat, auf dem Haager Kongreß 1872 wegen Spaltertätigkeit aus der I. Internationale ausgeschlossen: 207
Bebel, August (1840–1913). 78, 115, 264, 267, 314f., 318, 326–331, 333–336, 338–357
Becker, Johann Philipp (1809–1886): Teilnehmer an der demokratischen Bewegung der dreißiger Jahre, »Revolutionsgeneral« (Engels) im badisch-pfälzischen Aufstand 1849 als Befehlshaber der badischen Volkswehr; entwickelte sich vom radikalen Republikaner zu einem der engsten Freunde und Mitstreiter von Marx und Engels, hatte als Leiter der deutschsprachigen Sektionsgruppe und Redakteur des »Vorboten« wesentlichen Anteil an der Ausbeutung der I. Internationale; unterstützte die Herausbildung der Eisenacher Partei. 320, 343
Belisar (505–565): oströmischer Feldherr, germanischer Herkunft, führte mehrere Feldzüge zur Erweiterung bzw. Verteidigung des Byzantinischen Reichs unter Kaiser Justinian; soll als blinder Bettler als Opfer kaiserlichen Undanks gestorben sein. 167
Bernstein, Eduard (1850–1932): sozialdemokratischer Politiker und Publizist, leitete von 1881 bis 1890 unter dem Einfluß besonders von Engels und Bebel den illegalen »Sozialdemokrat« in revolutionärem Sinne. Nach Engels' Tod 1895 bezog er antimarxistische Positionen und wurde zum theoretischen Wortführer des Revisionismus. 260, 266f., 269, 276, 278, 284–286, 289, 294, 309f., 359
Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898): preußisch-deutscher Staatsmann. 1862 (bis 1890) preußischer Ministerpräsident, ab 1867 Bundes- resp. 1871 Reichskanzler. Führte mit Blut und Eisen die großpreußisch-militaristische Reichsgründung von 1871 herbei und suchte mit seiner bonapartistischen Diktatur die Vorherrschaft des Junkertums und der Hohenzollerndynastie zu sichern, die Bourgeoisie auf das Klassenbündnis mit dem Junkertum festzulegen und mit dieser prononciert antidemokratischen Innen- und Außenpolitik sowie mit militaristisch-repressiven Maßnahmen (Sozialistengesetz) jedwede demokratische Entwicklung zu blockieren. Objektive Faktoren und besonders das Scheitern seiner Politik gegenüber der Arbeiterbewegung führten im März 1890 zum Sturz Bismarcks und zum Zusammenbruch der bonapartistischen Diktatur. 8–10, 16 f., 21–26, 78, 84, 93, 96, 101, 146, 149, 153, 182, 208, 214–216, 219, 225, 234, 244, 256f., 263, 271f., 276–280, 293, 310, 324, 328f., 349, 353
Blanqui, Louis-Auguste (1805–1881): französischer Revolutionär und utopischer Kommunist, Organisator mehrerer Geheimgesellschaften und Verschwörungen, aktiver Teilnehmer an den Revolutionen von 1830 und 1848, bedeutender Führer der proletarischen Bewegung in Frankreich. Verbrachte insgesamt sechsunddreißig Jahre im Gefängnis und in Strafkolonien. 179
Blos, Wilhelm (1849–1927): Journalist und Historiker, während der Hubertusburger Haft Liebknechts 1872 bis 1874 einer der Redakteure des »Volksstaates«, gehörte seit Anfang der achtziger Jahre zum opportunistischen Flügel der Sozialdemokratie. 1918 bis 1920 württembergischer Staats- und Ministerpräsident. 349
Blum, Robert (1807–1848): führender Vertreter der kleinbürgerlich-demokratischen Bewegung im Vormärz und in der Revolution von 1848; als Abgesandter der Nationalversammlung nach der Niederschlagung des Wiener Oktoberaufstandes am 9. November 1848 standrechtlich erschossen. 316
Blücher, Gebhard Leberecht, Fürst von Wahlstatt (1742–1819): preußischer Generalfeldmarschall im Kampf gegen Napoleon I. 297
Bonaparte, s. Napoleon I. und III.
Borkheim, Sigismund Ludwig (1825–1885): Journalist und Demokrat; Teilnehmer am badisch-pfälzischen Aufstand von 1849; seit 1851 als Emigrant Kaufmann in London, stand in freundschaftlichen Beziehungen zu Marx und Engels. 320
Bracke, Wilhelm (1842–1880): Verleger und Buchhändler, als Kopf der proletarischen Opposition innerhalb des ADAV; Mitbegründer der Eisenacher Partei 1869, hervorragender Führer der sozialistischen Arbeiterbewegung und einer der engsten Vertrauten von Marx und Engels. 174, 332, 340
Braß, August (1818–1876): Journalist, Teilnehmer an der Revolution von 1848/49; seit den sechziger Jahren Anhänger Bismarcks, Herausgeber und Chefredakteur der offiziösen »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« (bis 1872). 25, 271, 324
Braun, Karl Joseph Wilhelm (1822–1893): Jurist und bürgerlicher politischer Publizist, Teilnehmer der Revolution von 1848/49; führendes Mitglied der Nationalliberalen Partei, nach 1884 Übergang zu den Freisinnigen und Gegner der Schutzzollpolitik Bismarcks. 19, 26
Brisson, Eugène-Henri (1835–1912): französischer Politiker, bürgerlicher Republikaner, Mitglied der Nationalversammlung (1871); Präsident der Republik (ab 1881); Ministerpräsident (1885/86 und 1898). 305
Brunel, Paul-Antoine Magloire (1830–?): französischer Offizier, Blanquist; Mitglied des Zentralkomitees der Nationalgarde und der Pariser Kommune, emigrierte 1871, schwer verwundet, nach England. 185
Bucher, Lothar (1817–1892): preußischer Justizbeamter, Publizist, 1848 Abgeordneter der preußischen Nationalversammlung (linkes Zentrum); später Nationalliberaler, Mitarbeiter Bismarcks (seit 1864). 271
Buckle, Henry Thomas (1821–1862): englischer bürgerlicher Kulturhistoriker und positivistischer Soziologe. 97, 110, 134f., 140, 142, 144, 148, 224
Caprivi, Leo Graf von (1831–1899): preußischer Staatsmann und General, Reichskanzler (1890–1894), Nachfolger Bismarcks. 291
Cäsar, Gajus Julius (etwa 100–44 v.u.Z.): römischer Feldherr und Staatsmann. 231
Cassagnac, Paul Granier de (1843–1904): französischer Publizist und Politiker, Bonapartist. 179
Chassepot, Antoine (1833–1905): Erfinder eines französischen Infanteriegewehres (Chassepotgewehr), das etwa 1866 bis 1874 im Gebrauch und dem preußischen Zündnadelgewehr überlegen war. 126
Chaumette, Pierre-Gaspard (1763–1874): französischer Revolutionär, 1792 Prokurator der Kommune von Paris, Hebertist, im März 1794 guillotiniert. 180
Cladel, Léon (1835–1892): französischer Romanschriftsteller. 316
Custine, Astolphe, marquis de (1790–1857): französischer Publizist; veröffentlichte u. a. die Schrift: »Rußland im Jahre 1839« (1843). 47
Dante Alighieri (1265–1321): größter Dichter Italiens; in seinem Hauptwerk »Die Göttliche Komödie« zeichnete er das Welt- und Menschenbild des Mittelalters. 118
Danton, Georges-Jacques (1759–1794): französischer Revolutionär, spielte bei der Vorbereitung des Volksaufstandes vom 10. August 1792 eine führende Rolle, mobilisierte die Volksmassen für die Verteidigung der Revolution gegen die feudalabsolutistische Intervention und innere Konterrevolution. Trat seit Ende 1793 für die Beendigung der Jakobinerdiktatur ein und wurde im April 1794 hingerichtet. 316
Darwin, Charles (1809–1882): englischer Naturforscher, Begründer der Lehre von der Entstehung und Entwicklung der Pflanzen- und Tierarten. 110, 144
Delescluze, Louis-Charles (1809–1871): französischer Politiker und Journalist, kleinbürgerlicher Revolutionär, Teilnehmer der Revolution von 1848, Mitglied der Pariser Kommune 1871. 185f.
Dietz, Johann Heinrich Wilhelm (1843–1922): Buchdrucker, sozialdemokratischer Politiker und Verleger; hatte als Verleger großen Anteil an der Verbreitung der marxistischen Literatur (Werke von Marx, Engels, Bebel, Kautsky, Mehring u. a., der »Neuen Zeit« der »Gleichheit«). Seine politische Haltung als Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion 1881 bis 1918 war oft schwankend und wurde immer mehr opportunistisch. 174
Dombrowski (Dabrowski), Jaroslaw (1836–1871): polnischer revolutionärer Demokrat, General und – im Mai 1871 – militärischer Oberbefehlshaber der Pariser Kommune. 184f.
Dühring, Eugen (1833–1921): Vulgärsozialist, seit 1863 Privatdozent an der Berliner Universität, 1877 gemaßregelt. Übte in den siebziger Jahren zeitweise starken Einfluß auf Teile der deutschen Sozialdemokratie aus. 344
Duncker, Franz Gustav (1822–1888): Publizist und Verleger, Mitglied der Fortschrittspartei, Mitbegründer der reformistischen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, die bis 1933 bestanden. 95
Duncker, Hermann (1874–1960): marxistischer Arbeiterführer, Propagandist des wissenschaftlichen Kommunismus; Mitbegründer des Spartakusbundes und der KPD. 317
Duval, Theodor: Tischler, Mitbegründer der Allianz der sozialistischen Demokratie, trennte sich 1870 von den Bakunisten und trat als Mitglied des Romanischen Föderalrates der I. Internationale sowie Delegierter zum Haager Kongreß 1872 dem Einfluß Bakunins entgegen. 182
Eccarius, Johann Georg (1818–1889): Mitglied des Bundes der Gerechten, ab 1847 des Bundes der Kommunisten und der Zentralbehörde des Bundes, einer der Führer des Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins in London; sprach auf der Gründungsversammlung der IAA vom 28. September 1864 in der St. Martin's Hall; Mitglied des Generalrats der IAA (1864–1872), Generalsekretär (1867–1871), Korrespondierender Sekretär für Amerika (1870–1872), Delegierter des Generalrats auf allen Kongressen und Konferenzen der IAA bis 1872; vertrat bis 1872 die Linie von Marx, schloß sich später den liberalen Führern der englischen Trade-Unions an. 38
Eichler, Casimir August (geb. 1836): Lackierer, Vorsitzender des Berliner Komitees zur Vorbereitung eines Arbeiterkongresses (1862/63); Agent Bismarcks in der Arbeiterbewegung. 7 f.
Eisert: Wechselagent in Wien, von Anarchisten getötet (1884). 210f.
Engels, Friedrich (1820–1895). 10f., 25, 192, 208, 266, 279, 294, 316f., 319–325, 327, 329, 339–348, 350f., 353–358
Erbach: rheinisch-fränkisches Uradelsgeschlecht seit 1148. 50
Ewald, Heinrich (1803–1875): bedeutender Orientalist, bekämpfte als Partikularist und Reichstagsabgeordneter der Hannoveranischen Welfenpartei die preußisch-deutsche Einigung und vom konservativ-religiösen Standpunkt aus das cäsaristische Kaiserreich. 23
Faucher, Julius (Jules) (1820–1878): Publizist, Junghegelianer, Vulgärökonom und Vertreter des Freihandels,; seit 1850 Emigrant in England, kehrte 1861 nach Deutschland zurück; Mitglied der Fortschrittspartei, der Nationalliberalen Partei (seit 1866), Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. 207
Ferrand, William Bushfield: englischer Grundeigentümer, Mitglied des Parlaments (um 1863), Tory. 194
Feuerbach, Ludwig (1804–1872): hervorragender materialistischer Philosoph der vormarxistischen Periode, Ideologe der radikalsten demokratischen Schichten der deutschen Bourgeoisie, die an bürgerlich-demokratischen Freiheiten interessiert waren; in seinen letzten Lebensjahren begann er sich für die sozialistische Literatur zu interessieren und trat 1870 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. 167
Flourens, Gustave (1838–1871): französischer Naturforscher, Blanquist; einer der Führer der Aufstände vom 31. Oktober 1870 und 22. Januar 1871 in Paris, Mitglied der Pariser Konimune. 182
Fourier, François-Marie-Charles (1772–1837): hervorragender französischer utopischer Sozialist. 316
Fritzsche, Friedrich Wilhelm (1825–1905): Zigarrenmacher, Teilnehmer an der Revolution von 1848/49,1863 Mitbegründer des ADAV, 1865 Präsident des Allgemeinen Deutschen Zigarrenarbeiterverbandes, 1869 Teilnehmer am Gründungskongreß der Eisenacher Partei; 1878 Mitglied des Leipziger Unterstützungskomitees; Emigration in die USA. 345
Galliffet, Gaston (1830–1909): französischer General, Henker der Pariser Kommune; Militärgouverneur von Paris (1880), Kriegsminister (1899). 300, 304 f.
Geiser, Bruno (1846–1898): Journalist; seit 1869 Mitglied der Eisenacher Partei, 1875 Redakteur am »Volksstaat«, einer der Führer des opportunistischen Flügels der deutschen Sozialdemokratie; Schwiegersohn Wilhelm Liebknechts. 349
Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832). 68, 113
Grillenberger, Karl (1848–1897): Schlosser, sozialdemokratischer Politiker, seit den achtziger Jahren einer der Führer des rechtsopportunistischen Flügels der Sozialdemokratie. 356
Grimm, Jacob (1785–1863): Philologe und Kulturhistoriker, begründete mit seinem Bruder Wilhelm die Germanistik als Sprach- und Kulturwissenschaft. 319
Grimm, Wilhelm (1786–1859): Sprachwissenschaftler, Mitbegründer der Germanistik als Sprach- und Kulturwissenschaft. 319
Guesde, Mathieu-Basile, genannt Jules (1845–1922): hervorragender Führer der französischen und Internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung; zuerst bürgerlicher Republikaner, schloß sich in der ersten Hälfte der siebziger Jahre den Anarchisten an; später Mitbegründer der französischen Arbeiterpartei (1879) und Propagandist der Ideen des Marxismus in Frankreich; Führer des revolutionären Flügels der französischen sozialistischen Bewegung, große Verdienste im Kampf gegen den Opportunismus; während des ersten Weltkrieges Übergang auf sozialchauvinistische Positionen. 262, 306
Hannibal (etwa 247–183 v. u. Z.): karthagischer Heerführer und Staatsmann. 67
Hasenclever, Wilhelm (1837–1889): Lohgerber, Sozialdemokrat, 1871 bis 1875 Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Vertreter des rechtsopportunistischen Flügels innerhalb der 1875 vereinigten Partei. 343f., 346, 349
Hasselmann, Wilhelm (1844–?): Lassalleaner, 1871 bis 1876 Redakteur des »Neuen Social-Demokrat«, strebte nach der Vereinigung von 1875 die Spaltung der Partei und die Wiederherstellung des orthodoxen Lassalleanismus an, 1878/79 Übergang auf anarchistische Positionen, 1880 aus der Partei ausgeschlossen; Auswanderung nach Amerika. 344
Hébert, Jacques-René (1757–1794): französischer Revolutionär, einer der Führer der linken Jakobiner. 180
Hecker, Friedrich Franz Karl (1811–1881): Rechtsanwalt, kleinbürgerlich-demokratischer Politiker, Republikaner, Mitglied des Vorparlaments, organisierte 1848 mit Struve einen republikanischen Aufstand in Baden, der jedoch scheiterte. Emigration in die USA, Teilnahme am Sezessionskrieg 1861 bis 1865 auf Seiten der Nordstaaten. 320
Heine, Heinrich (1797–1856). 113
Hepner, Adolf (1846–1923): sozialdemokratischer Journalist, Mitglied der Eisenacher Partei und 1869 bis 1873 Mitredakteur des »Volksstaates«, Mitangeklagter im Leipziger Hochverratsprozeß, 1882 bis 1908 Auswanderung in die USA, unterstützte nach seiner Rückkehr die Politik der rechten Führer der SPD. 338
Herwegh, Georg (1817–1875): revolutionärer Dichter des Vormärz; seit 1842 mit Marx befreundet; führendes Mitglied der Deutschen Demokratischen Gesellschaft in Paris; März/April 1848 Mitorganisator eines (abenteuerlichen) Freischärlerzuges nach Baden-Württemberg, langjähriges Exil in der Schweiz; 1866 Rückkehr nach Deutschland, Mitglied und Ehrenkorrespondent der I. Internationale, Mitarbeiter des »Volksstaates«. 319
Hirsch, Max (1832–1905): bürgerlicher Politiker, Mitglied der Fortschrittspartei, zunächst im Verband Deutscher Arbeitervereine tätig, 1867 Gegenkandidat Bebeis bei der Wahl des Präsidenten dieses Verbandes und unterlegen, 1868 Gründer der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine. 25, 95
Höchberg, Karl (1853–1885): Sohn eines Lotterieeinnehmers, unterstützte die Sozialdemokratie finanziell und vertrat kleinbürgerlichsozialreformerische Auffassungen. Unter dem Pseudonym Dr. Ludwig Richter 1879 bis 1881 Herausgeber des »Jahrbuchs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«. 347
Howitt, William (1792–1879): englischer Schriftsteller, verfaßte u. a. Schriften zur Geschichte des Christentums. 56
Humboldt, Alexander Freiherr von (1769–1859): bedeutender Naturforscher und Popularisator naturwissenschaftlicher Kenntnisse. 141
Hutten, Ulrich von (1488–1523): bedeutender Vertreter des Humanismus, organisierte 1521 mit Sickingen den Reichsritteraufstand. 316
Ihring, Ferdinand: Mitarbeiter der politischen Polizei, Ende 1885 unter dem Namen Mahlow Lockspitzel im Arbeiter-Bezirksverein für den Osten Berlins; im Februar 1886 als Polizeiagent entlarvt. 235
Jacoby, Johann (1805–1877): Arzt, Publizist, revolutionärer Demokrat, 1848 Mitglied des Vorparlaments und einer der Führer der demokratischen Linken in der preußischen konstituierenden Versammlung, trat 1872 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. 27–29, 84, 132, 318
Jäger, Oskar (1830–1910): reaktionärer bürgerlicher Historiker und Pädagoge, Professor in Bonn. 138
Jaurès, Jean (1859–1914): bedeutender Vertreter der französischen und internationalen Arbeiterbewegung, Historiker; Mitglied der Deputiertenkammer (seit 1885), schloß sich 1892 der sozialistischen Arbeiterbewegung an, führende Rolle auf den Kongressen der II. Internationale; 1904 Gründer der »Humanite« und deren Chefredakteur; förderte wesentlich die Vereinigung der französischen Sozialisten 1905, kämpfte trotz reformistischer Illusionen leidenschaftlich gegen Reaktion und Militarismus; 1914 von Chauvinisten ermordet. 293
Johannard, Jules (1843–1888): Lithograph, Blanquist. Mitglied des Generalrates der I. Internationale (1868/69 und 1871/72), Mitglied der Pariser Kommune. 186
Jourde, Francis (1843–1893): rechter Proudhonist, Vorsitzender der Finanzkommission der Pariser Kommune. Floh 1874 von der Strafkolonie in Neukaledonien. 185
Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis) (etwa 60 bis etwa 140): römischer satirischer Dichter. 124
Kanitz, Hans Wilhelm Alexander Graf von (1841–1913): Politiker, einer der Führer der Deutsch-Konservativen Partei, Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses (1885–1890) und des Reichstags (seit 1889), vertrat die Interessen der Großagrarier. 271, 293
Kautsky, Karl (1854–1938): sozialdemokratischer Publizist und Theoretiker; entwickelte sich unter dem Einfluß von Engels und Bebel zum Marxisten, seit 1883 Herausgeber und Redakteur der »Neuen Zeit«. Mitverfasser des marxistischen Erfurter Programms 1891, nach Engels' Tod einflußreichster Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie und der II. Internationale; trat nach anfänglichem Zögern 1899 gegen Bernsteins Auffassungen auf; verließ nach und nach seine marxistischen Positionen, wurde theoretisches Haupt des Zentrismus, während des ersten Weltkrieges Sozialpazifist, 1917 Mitbegründer der USPD; seit 1917 wütender Gegner der Bolschewiki. 352
Kayser, Max (1853–1888): Journalist, Sozialdemokrat, Vertreter des rechten Flügels der Sozialdemokratie. 349
Ketteler, Wilhelm Freiherr von (1811–1877): Bischof von Mainz, führender ultramontaner Politiker. 14
Kistemaekers, Henri: belgischer Verleger, gab 1876 in Brüssel Lissagarays Buch »Histoire de la commune de 1871« heraus. 174
Krüdener, Barbara Juliane, Freiin von (1764–1824): pietistische Schriftstellerin; versuchte Einfluß auf die politischen Entscheidungen Zar Alexanders I. zu nehmen. 232
Lafargue, Paul (1842–1911): Schwiegersohn von Karl Marx (verheiratet mit Laura Marx), französischer Sozialist und Schriftsteller, Mitglied der I. Internationale; mit Jules Guesde 1880 Mitbegründer der Sozialistischen Arbeiterpartei, einer der Führer der revolutionär-marxistischen Arbeiterbewegung Frankreichs, hervorragender Propagandist des Marxismus. 262, 306
Lakanal, Joseph (1762–1845): französischer Politiker, Republikaner; Initiator einer neuen Schulgesetzgebung während der Französischen Revolution. 253
Lassalle, Ferdinand (1825–1864): Schriftsteller; beteiligte sich als revolutionärer Demokrat an der Revolution von 1848; wissenschaftliche und literarische Studien in den fünfziger Jahren; stellte sich 1862/63 an die Spitze der fortgeschrittensten, nach Selbständigkeit strebenden Arbeiter, 1863 Gründer und bis zu seinem Tod Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins; durch seine idealistische Staatsauffassung und illusionären Hauptforderungen (Wahlrecht und Produktionsgenossenschaften als Weg zum Sozialismus) wurde der Lassalleanismus als opportunistische Strömung zum entscheidenden Hindernis für die Herausbildung der marxistischen Arbeiterpartei in Deutschland. 9–11, 18 f., 22, 25, 119, 266, 276, 279, 294, 325
Lecomte, Claude-Martin (1817–1871): französischer General, am 18. März 1871 nach dem mißglückten Versuch der Regierung Thiers, die Nationalgarde zu entwaffnen, von aufständischen Soldaten erschossen. 184
Lenin, Wladimir Iljitsch (1870–1924). 328, 359
Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781). 10
Liebig, Justus Freiherr von (1803–1873): bedeutender Chemiker, bahnbrechend besonders in der organischen Chemie, Begründer der Agrikulturchemie. 61
Liebknecht, Alice (1857–?): Tochter von Wilhelm und Ernestine Liebknecht, 1877 verheiratet mit Bruno Geiser (gest. 1898). 326
Liebknecht, Curt (1879–?): jüngster Sohn von Wilhelm und Natalie Liebknecht. 326, 352
Liebknecht, Ernestine, geb. Landoldt (1834–1867): erste Frau Wilhelm Liebknechts. 323, 326
Liebknecht, Gertrud (1863–?): Tochter von Wilhelm und Ernestine Liebknecht, lebte eine Zeitlang – als Erzieherin – in den USA, kehrte etwa 1894 nach Deutschland zurück und heiratete den Redakteur der Halleschen Volkszeitung W. Swienty (gest. 1899). 326
Liebknecht, Karl (1871-1919): Sohn von Wilhelm und Natalie Liebknecht, Rechtsanwalt; hervorragender Führer der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, Mitbegründer der KPD. 1919 von der Reaktion ermordet. 326, 331, 335, 352
Liebknecht, Natalie, geb. Reh (1835–1909): zweite Frau von Wilhelm Liebknecht. 326, 346, 354
Liebknecht, Otto (1876–?): Sohn von Wilhelm und Natalie Liebknecht. 326, 352
Liebknecht, Theodor (1870–1948): Sohn von Wilhelm und Natalie Liebknecht; Rechtsanwalt. 326, 352
Liebknecht, Wilhelm Alexander (1877–?): Sohn von Wilhelm und Natalie Liebknecht. 326, 352
Lieske, Schuhmachergeselle in Frankfurt (Main), des Mordes an Polizeirat Rumpf beschuldigt und hingerichtet (1885). 210
Lincoln, Abraham (1809–1865): amerikanischer Staatsmann, Mitbegründer der republikanischen Partei, Präsident der USA (1861–1865); führte durch bürgerliche Umgestaltungen den Sieg der Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg herbei; 1865 ermordet. 75
Lisbonne, Maxime (1839–1905): 1871 Mitglied des Zentralkomitees der Nationalgarden, Kommunard, Ende Mai 1871 verwundet, zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt, nach der Amnestie 1880 Rückkehr nach Frankreich, Leiter des Volkstheaters Bouffes-du-Nord. 185
Lissagaray, Prosper-Olivier (1834–1901): französischer Journalist und Historiker, Teilnehmer der Pariser Kommune. 174–176, 178, 180 f., 183, 185, 187 f., 315
Longuet, Jenny, geb. Marx (1844–1883): älteste Tochter von Karl Marx, Journalistin, seit 1872 Frau von Charles Longuet. 346
Louis-Philippe, duc d'Orléans (1773–1850): König der Franzosen (1830-1848). 82
Ludwig XIV. (1638–1715): König von Frankreich (1643–1715). 78
Ludwig XVI. (1754–1793): König von Frankreich (1774–1792), während der Französischen Revolution hingerichtet. 69, 78, 253
Luxemburg, Rosa (1871–1919). 317
Mahlow-lhring, s. Ihring.
Manteuffel, Otto Theodor Freiherr von (1805–1882): preußischer Staatsmann, Vertreter der Adelsbürokratie; Innenminister (November 1848 bis Dezember 1850); Ministerpräsident und Außenminister (1850–1858). 6
Marat, Jean-Paul (1744–1893): französischer Revolutionär, einer der Organisatoren des Aufstandes vom 31. Mai bis 2. Juni 1893, der die Herrschaft der Girondisten stürzte, trat für die konsequente Weiterführung der Revolution durch die Jakobiner ein. Am 13. Juli 1893 ermordet. 180, 316
Marius, Gajus (156–86 v. u. Z.): römischer Heerführer und Konsul, bekannt für grausame Verfolgung seiner politischen Gegner. 282
Marx, Karl (1818–1883): 5, 9–11, 19, 25, 46, 71, 80, 110, 190, 192, 194, 201, 208, 241 f., 252, 258, 266, 270 f., 279, 286, 288 f., 294, 314–317, 320–325, 327, 329 f., 336, 339–344, 347 f., 351, 353, 356, 358
Mazzini, Guiseppe (1805–1872): italienischer bürgerlich-demokratischer Revolutionär und Ideologe des republikanisch-demokratischen Flügels in der nationalen Befreiungsbewegung Italiens. 226 f.
Mechi, John Joseph (1802–1880): englischer Agronom, veröffentlichte zahlreiche agrarwissenschaftliche Schriften. 41
Metternich, Clemens Wenzel Lothar, Fürst von (1773–1859), österreichischer Staatsmann; Außenminister (1809–1821) und Staatskanzler (1821–1848); 1814/15 auf dem Wiener Kongreß führender Staatsmann der europäischen Reaktion, versuchte durch Zusammenarbeit der Großmächte (»Heilige Allianz«) die feudalabsolutistischen Zustände Europas zu konservieren. Die Revolution von 1848 beseitigte das »System Metternichs«. 318
Mill, John Stuart (1806–1873): englischer Ökonom und positivistischer Philosoph; vulgarisierte die Lehre Ricardos; suchte zwischen den Profitinteressen der Bourgeoisie und den Lebensinteressen der Arbeiterklasse durch liberale Reformen zu vermitteln und bot damit Ansatzpunkte für sozialreformistische Bestrebungen, wie der bürgerlichen Sozialreformer oder des rechtssozialistischen Reformismus. 59, 65 f.
Millerand, Etienne-Alexandre (1859–1943): Advokat; französischer Politiker, kleinbürgerlicher Radikaler, Mitglied der Deputiertenkammer (seit 1885); schloß sich in den neunziger Jahren der sozialistischen Bewegung an, wurde zum Führer der opportunistischen Strömung; erster Sozialist, der in ein bürgerliches Ministerium eintrat, Handelsminister (1899–1902); 1904 aus der sozialistischen Partei Frankreichs ausgeschlossen; einer der Organisatoren der Intervention in Sowjetrußland; Ministerpräsident und Außenminister (1920), Präsident der Republik (1920–1924). 262, 300 f., 305
Miquel, Johannes von (1828–1901): Rechtsanwalt und Bankier, Politiker; bis 1852 Mitglied des Bundes der Kommunisten, trat später auf die Seite der Bourgeoisie über; 1859 Mitbegründer des Nationalvereins und seit 1867 einer der Führer des rechten Flügels der Nationalliberalen Partei; preußischer Finanzminister (1890–1901), politischer Repräsentant des Klassenbündnisses der Großbourgeoisie und des Junkertums. 1897 geadelt. 26, 310
Morris, William (1834–1896): Kunsthandwerker, Buchkünstler, Schriftsteller und sozialistischer Politiker; trat 1883 der britischen sozialistischen Bewegung bei (Mitbegründer der sozialistischen Liga), bekannte sich zum »Kommunistischen Manifest« und zur Pariser Kommune; wirkte dem einseitigen Sozialismusbild Bellamys mit seinem Roman »Kunde von Nirgendwo« (1891, deutsch 1892/93) entgegen. 316
Most, Johann Joseph (1846–1906): Buchbinder, Sozialdemokrat, später Anarchist; seit 1868 in der österreichischen, seit 1871 in der deutschen Arbeiterbewegung tätig; Redakteur mehrerer sozialdemokratischer Zeitungen; Führer des Chemnitzer Metallarbeiterstreiks 1871; Popularisator des »Kapitals«; 1878 aus Berlin ausgewiesen, emigrierte nach London; seit 1879 Herausgeber und Redakteur der »Freiheit«; 1880 als Anarchist aus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands ausgeschlossen; übersiedelte 1883 in die USA und setzte dort seine anarchistische Propaganda fort. 206, 209 f., 213
Münster, Georg Herbert, Fürst von Dorneburg, Reichsgraf zu M.-Ledenburg, Freiherr von Grotthaus (1820–1902): Staatsmann, hannoverscher Gesandter in Petersburg (1857–1864), ging 1866 auf die Seite Preußens über, seit 1867 erbliches Mitglied des preußischen Herrenhauses. 230
Napoleon I., Bonaparte (1769–1821): Kaiser der Franzosen (1804–1814). 22, 27, 67, 100
Napoleon III., Louis N. Bonaparte (1808–1873): Neffe Napoleons I., Präsident der Republik (1848–1852), Kaiser der Franzosen (1852–1870). 8, 16, 82, 84, 92 f., 101, 137, 153, 178, 274, 278
Nero, Claudius Caesar Drusus Germanicus (37–68 u. Z.): römischer Kaiser (54–68). 111, 214
Nikolaus I. (1796–1855): russischer Zar (1825–1855): »Gendarm Europas«. 230
Olivier, John: englischer Fabrikarbeiter aus Manchester, veröffentlichte die Schrift »Halsstarrige Tatsachen aus den Fabriken« (»Stubborn Facts«) (1844). 197
Ollivier, Emile (1825–1913): französischer Politiker, gemäßigter bürgerlicher Republikaner, Ende der sechziger Jahre Bonapartist; Ministerpräsident (1870). 27
Otto-Walster, August (1834–1898): Schriftsteller, Sozialist; stieß über die kleinbürgerlich-demokratische Bewegung zur Arbeiterbewegung; zunächst Mitglied des ADAV, löste er sich vom Lassalleanismus; 1869 Teilnehmer am Eisenacher Kongreß; Redakteur des »Dresdner Volksboten« (seit 1871) und des »Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund« (1875/76), 1876 Auswanderung in die USA, 1891 Rückkehr, auf Empfehlung Liebknechts kurze Zeit Redakteur der Chemnitzer »Presse«; Verfasser von Romanen und Erzählungen. 343
Owen, Robert (1771–1858): englischer utopischer Sozialist. 161, 316
Paul I. (1754–1801): russischer Zar (1796–1801); im Ergebnis einer Adelsverschwörung ermordet. 230, 232
Proudhon, Pierre-Joseph (1809–1865): französischer Schriftsteller, kleinbürgerlicher Sozialist, einer der theoretischen Begründer des Anarchismus; lehnte den revolutionären Klassenkampf ab und strebte auf reformistischem Wege eine Gesellschaft kleiner Warenproduzenten an; Marx und Engels übten scharfe Kritik an seinen kleinbürgerlichen Auffassungen. 207 f.
Puttkamer, Robert Victor von (1828–1900): reaktionärer preußischer Staatsmann und Politiker; Innenminister (1881–1888), berüchtigt durch sein brutales Vorgehen gegen die Arbeiterbewegung. 206–210, 221, 235
Racowitz, Janko von (gest. 1865): rumänischer Adliger, verwundete 1864 Lassalle tödlich im Duell. 276
Reinsdorf, August: Schriftsetzer in Elberfeld, Anarchist; wurde im Zusammenhang mit einem gescheiterten Attentatsversuch auf Kaiser Wilhelm I. (Sprengung des Niederwalddenkmals) verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet. 210 f.
Richard III. (1452–1485): König von England (1483–1485); Held eines Dramas von Shakespeare. 230
Richter, Eugen (1838–1906): führender Linksliberaler (Fortschrittspartei), Mitglied des Reichstags (1867–1906), Gegner der Sozialdemokratie. 276
Robespierre, Maximilien de (1758–1794): bedeutender Führer der französischen Revolution; trat für die Weiterführung der Revolution ein, einer der Organisatoren des Sturmes auf die Tuilerien 1892, trug wesentlich zum Sturz der Girondisten 1873 bei; führte an der Spitze des Wohlfahrtsausschusses die Revolution zu ihrem Höhepunkt. 1894 gestürzt und guillotiniert. 316
Rodbertus(-Jagetzow), Karl (1805–1875): preußischer Großgrundbesitzer, 1848 Abgeordneter der preußischen Nationalversammlung und Führer des linken Zentrums; Theoretiker des preußisch-junkerlichen »Staatssozialismus«. 201
Rittinghausen, Moritz (1814–1890): Publizist, kleinbürgerlicher Demokrat; Teilnehmer an der Revolution von 1848/49, Mitarbeiter der »Neuen Rheinischen Zeitung«, Mitglied der I. Internationale und der Eisenacher Partei; Rechtsopportunist, 1848 aus der Partei ausgeschieden. 349
Ronson. 180
Rascher, Wilhelm (1817–1894): Begründer der Historischen Schule der bürgerlichen Vulgärökonomie; Professor an der Universität Leipzig. 117
Rothschild, James baron de (1792–1868): Chef des gleichnamigen Pariser Bankhauses, hatte durch seine Finanztransaktionen unter Louis Philippe großen politischen Einfluß. 114
Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778): einer der bedeutendsten Staatstheoretiker der französischen Aufklärung, führender Vertreter des revolutionären Kleinbürgertums vor der Französischen Revolution. 60
Rumpf: Polizeirat und Leiter der politischen Polizei in Frankfurt (Main), 1885 getötet. Trotz zweifelhafter Indizien wurde der Schuhmachergeselle Lieske als angeblicher Täter zum Tode verurteilt und hingerichtet. 210
Saint-Simon, Claude-Henri de (1760–1825): bedeutender französischer utopischer Sozialist. 319
Savigny, Friedrich Karl von (1779–1861): Rechtswissenschaftler und preußischer Staatsbeamter; Minister für Revision der Gesetzgebung (1842–1848); Hauptvertreter der historischen Rechtsschule zur Verteidigung der feudalen Rechtsordnung gegenüber Forderungen nach einer Kodifikation des deutschen bürgerlichen Rechts. 63 f.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775–1854): Vertreter der idealistischen deutschen Philosophie. 319
Schippel, Max (1859–1929): Ökonom und Publizist, zunächst Anhänger von Rodbertus, seit 1886 Sozialdemokrat, einer der Wortführer der linksopportunistischen Gruppe der »Jungen«, später Revisionist; während des ersten Weltkrieges Sozialchauvinist. 260
Schulze-Delitzsch, Franz Hermann (1808–1883): kleinbürgerlicher Ökonom; 1848 Abgeordneter der Preußischen Nationalversammlung (linkes Zentrum), Begründer des deutschen Genossenschaftswesens; in den sechziger Jahren einer der Führer der Fortschrittspartei. 6–8, 12, 55, 57, 289
Schumacher, Georg (1844–?): Sozialdemokrat, Gerber, später Unternehmer; gehörte zum opportunistischen Flügel der Sozialdemokratie; ging 1898 während der Reichstagswahlen zu den Liberalen über und wurde aus der Sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen. 300
Schweichel, Robert (1821–1907): Journalist und Schriftsteller, Sozialist, Freund Wilhelm Liebknechts; Teilnehmer an der Revolution 1848/49; 1850 bis 1862 Emigration in die Schweiz; bedeutender sozialistischer Schriftsteller. 325, 327, 343
Schweitzer, Johann Baptist von (1834–1875): Rechtsanwalt, Schriftsteller, Lassalleaner, Herausgeber und Chefredakteur des »Social-Demokrat« (1864–1867); Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (1867–1871), unterstützte Bismarcks Politik der Einigung Deutschlands »von oben« unter der Hegemonie Preußens; hemmte den Anschluß der deutschen Arbeiter an die I. Internationale und die Herstellung der Einheit der Arbeiterbewegung auf marxistischer Grundlage; wurde 1872 nach der Aufdeckung seiner Beziehungen zur preußischen Regierung aus dem ADAV ausgeschlossen. 21, 271 f., 276, 281, 325
Shakespeare, William (1564–1616). 230
Singer, Paul (1844–1911): Fabrikant; einer der Führer der deutschen Sozialdemokratie; seit 1887 Mitglied des Parteivorstandes und seit 1890 gemeinsam mit Bebel Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei. 264 f.
Smith, Adam (1723–1790): englischer Ökonom, Vertreter der klassischen bürgerlichen Ökonomie. 160
Solms-Laubach: Adelsgeschlecht in Hessen seit 1496. 50
Solms-Lich: Adelsgeschlecht in Hessen seit 1491. 50
Stieber, Wilhelm (1818–1882): Polizeirat, Leiter der preußischen politischen Polizei; einer der Organisatoren des Kölner Kommunistenprozesses 1852; im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 Chef der Militärpolizei sowie der deutschen Spionage und Spionageabwehr in Frankreich; Synonym für skrupellose Bekämpfung der revolutionären Arbeiterbewegung durch Spitzelwirtschaft, Verleumdungen und Fälschungen. 93
Strousberg, Bethel Henry (1823–1884): deutscher Großfinanzier und Spekulant. 114
Struve, Gustav (1805–1870): Rechtsanwalt und Publizist, kleinbürgerlicher Demokrat; Teilnehmer der badisch-pfälzischen Aufstände 1848/49; Emigration nach England und in die USA. 320
Stumm-Halberg, Karl-Ferdinand Freiherr von (1836–1901): Großindustrieller und Politiker, Mitbegründer und Führer der Deutschen Reichspartei; als »König Stumm« einflußreichste Persönlichkeit im Saargebiet; scharfmacherischer Gegner der Arbeiterbewegung, persönlicher Freund Wilhelms II. 282
Sulla, Lucius Cornelius (138–78 v. u. Z.): römischer Feldherr und Diktator, bekannt für grausame Verfolgung seiner politischen Gegner. 282
Talleyrand, Charles-Maurice (1754–1838): französischer Politiker und Diplomat. 136
Theiß, Albert-Frédéric-Jules (1839–1881): Graveur, Proudhonist; Mitglied des Föderalrats der Pariser Sektion der I. Internationale, des Zentralkomitees der Nationalgarde und der Pariser Kommune; 1871 Mitglied und Schatzmeister des Generalrats der I. Internationale; Führer der ungarischen Arbeiterbewegung. 186
Thiers, Louis-Adolphe (1797–1877): französischer Historiker und großbürgerlicher Politiker, Ministerpräsident (1836–1840), Präsident der Republik (1871–1873); einer der Henker der Pariser Kommune. 188
Thomas, Clément (1809–1871): französischer Politiker, General, bürgerlicher Republikaner. Nahm an der blutigen Niederwerfung der Juni-Insurrektion 1848 in Paris teil; Oberkommandant der Nationalgarde von Paris (November 1870 bis Februar 1871). 184
Timur (Tamerlan) (1336–1405): Mongolenchan, seit 1370 Herrscher in Samarkand; eroberte Mittelasien und Persien. 225
Tölcke, Karl Wilhelm (1817–1893): Rechtsanwalt, Lassalleaner; Teilnehmer der Revolution 1848/49; seit 1864 Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Präsident (1865/66) und Vorstandsmitglied (bis 1874) des ADAV. Mitglied und lokaler Funktionär der vereinigten Partei. 298
Trochu, Louis-Jules (1815–1896): französischer General und Politiker, Chef der Regierung der nationalen Verteidigung und Oberbefehlshaber der französischen Armee (September 1870 bis Januar 1871). 179
Vaillant, Edouard (1840–1915): französischer Sozialist, Blanquist, Mitglied der Pariser Kommune, Mitglied des Generalrates der IAA (1871/72), Delegierter der Londoner Konferenz (1871); Mitbegründer der Sozialistischen Partei Frankreichs, später Reformist. 262
Vandervelde, Emile (1866–1938): belgischer Sozialist, Mitbegründer der belgischen Arbeiterpartei, später einer der Führer des opportunistischen Flügels der II. Internationale; während des ersten Weltkrieges Sozialchauvinist; mehrmals Minister. 285
Varlin, Louis-Eugène (1839–1871): Buchbinder, linker Proudhonist, bedeutender Führer der französischen Arbeiterbewegung; einer der Leiter der Sektionen der I. Internationale in Frankreich, Delegierter mehrerer Kongresse der I. Internationale; Mitglied des Zentralkomitees der Nationalgarde und der Pariser Kommune. 187
Vermorel, Auguste-Jean-Marie (1841–1871): französischer Publizist, Proudhonist, Mitglied der Pariser Kommune; im Mai 1871 schwer verwundet, nach Versailles geschleppt und qualvoll in der Gefangenschaft verstorben. 185
Viereck, Louis (1851–1921): Referendar, Verleger und Redakteur, Sozialdemokrat; führender Vertreter des rechtsopportunistischen Flügels der Sozialdemokratie, 1887 durch Parteitagsbeschluß aller Vertrauensstellungen in der Partei entbunden; wandte sich danach von der Sozialdemokratie ab und wanderte 1890 in die USA aus. 349
Vollmar, Georg von (1850–1922): ehemaliger bayrischer Offizier, Sozialdemokrat; 1879/80 Redakteur des »Sozialdemokrat«, schwenkte 1890 von radikalen zu opportunistischen Positionen über; seitdem einer der einflußreichsten opportunistischen Führer der Sozialdemokratie; im ersten Weltkrieg Sozialchauvinist. 347, 354, 356
Wagener, Hermann (1815–1889): Publizist und Politiker, Ideologe des verbürgerlichten preußischen Junkertums; Redakteur der »Neuen Preußischen Zeitung« (1848–1854), einer der Gründer der preußischen Konservativen Partei, Geheimer Regierungs- und Vortragender Rat im Staatsministerium Bismarcks (1866–1873); Anhänger des reaktionären preußischen »Staatssozialismus«. 14, 25, 114, 281
Waldeck-Rousseau, Pierre-Marie-Rene (1846–1904): französischer bürgerlicher Politiker; bezog als Ministerpräsident (1899–1902) den Henker der Pariser Kommune, General Galliffet, und den Renegaten Millerand in sein Kabinett ein. 262, 300, 304 f.
Weidig, Friedrich Ludwig (1791–1837): Pfarrer in Hessen, Teilnehmer an der demokratischen Bewegung (seit 1813); 1835 wegen Abfassung und Verbreitung revolutionärer Druckschriften – bes. des »Hessischen Landbotens« Georg Büchners – verhaftet und in der Haft sadistisch in den Tod getrieben. 318 f.
Wellington, Arthur Wellesley, Duke of (1769–1852): britischer Feldherr und Staatsmann, Tory; befehligte 1808 bis 1815 die englischen Truppen in den Kriegen gegen Napoleon I., Generalfeldzeugmeister (1818-1827), Oberbefehlshaber der Armee(1827/28 und l842-1852), Premierminister (1828-1830), Außenminister (1834/35). 222 f.
Wilhelm I. (1797-1888): König von Preußen (seit 1861), deutscher Kaiser (1871-1888). 6
Wilhelm II. (1859-1941): 1888 bis 1918 König von Preußen und deutscher Kaiser, durch die Novemberrevolution 1918 gestürzt. 283, 355
Wolff: Polizeiagent in der anarchistischen Richtung Most-Hasselmann. 209
Xerxes: altpersischer König seit 486 v. u. Z., ermordet 465 v. u. Z. 231
Zimmermann: Großfabrikant und Millionär in Chemnitz (Karl-Marx-Stadt). 108 f.
Fußnoten
- ↑ Gemeint ist der Beschluß über das Eigentum an Grund und Boden, den der Baseler Kongreß der I. Internationale am 10. September 1870 faßte (vgl. S. 37). Als Delegierter zum Kongreß hatte Liebknecht dem Beschluß über die Grund- und Bodenfrage, zugestimmt, dann aber eine klare Stellungnahme der Eisenacher Partei dazu verhindert, um die Auseinandersetzung mit den noch innerhalb oder am Rande der Eisenacher Partei verbliebenen kleinbürgerlichen Kräften zu umgehen. Erst ein halbes Jahr später – als die Auseinandersetzungen offen entbrannt waren und von Bebel offensiv geführt wurden – trat Liebknecht öffentlich und mit aller Konsequenz für die Baseler Beschlüsse und eine sozialistische Lösung der »Grund- und Bodenfrage« ein.
- ↑ Die Vereinsgesetze der einzelnen deutschen Staaten entsprangen überwiegend – wie das preußische vom März 1850 oder das sächsische vom November 1850 – der Reaktionszeit nach 1848/49. Sie enthielten das Verbot für politische Vereine, untereinander in Verbindung zu treten. Daher konnte die Eisenacher Partei sich nicht als Partei der I. Internationale anschließen; ihre Mitglieder konnten ihr lediglich als Einzelmitglieder beitreten.
- ↑ Gemeint ist die 1868 gegründete kleinbürgerlich-demokratische Deutsche Volkspartei. Antipreußisch und zugleich föderalistisch orientiert, war diese letzte kleinbürgerlich-demokratische Partei im vorimperialistischen Deutschland fast ausschließlich auf Süddeutschland beschränkt und besaß hier auch Anhang in der Bauernschaft.
- ↑ Das Nürnberger Programm, das der fünfte Verbandstag des Verbandes Deutscher Arbeitervereine (5.–7. September 1868 in Nürnberg) gegen den Widerstand einer liberalen Minderheit annahm, lehnte sich in wesentlichen Punkten an die von Marx verfaßten Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation an. Die Volkspartei stimmte diesem Programm zu in der Hoffnung, dadurch Einfluß auf die Arbeitervereine behalten zu können.
- ↑ Der Brüsseler Kongreß der I. Internationale, an dem fast 100 Delegierte aus 7 Ländern teilnahmen, fand vom 6. bis 13. September 1868 statt.
- ↑ Vgl. die gegenüber der von Liebknecht gegebenen Fassung leicht abweichende, inhaltlich übereinstimmende Übersetzung aus dem Englischen in: Die I. Internationale in Deutschland, S. 263f.
- ↑ Ebenda, S.261.
- ↑ Ebenda, S.427.
- ↑ Flächenmaß, 1 engl. Acre = 1,584 Preußische Morgen = 4044 m.
- ↑ Ökonomische und politisch-ideologische Doktrin der aufstrebenden Bourgeoisie, die »freies Spiel der Kräfte« zur Durchsetzung und Entfaltung des Kapitalismus verlangte.
- ↑ Nach seinem Sieg über die angelsächsischen Truppen 1066 zog Wilhelm I. (der Eroberer) den angelsächsischen Grundbesitz ein und belehnte damit seine Vasallen, um die von ihm gegründete normannische Dynastie zu festigen. Dem fielen, um geschlossene Gutskomplexe zu schaffen, ganze Dörfer zum Opfer.
- ↑ »Buch des Jüngsten Gerichts«, weil – wie beim »Jüngsten Gericht« – »keiner verschont werde«. – Volkstümliche Bezeichnung für ein 1085/86 als Grundlage für die Besteuerung angelegtes Verzeichnis über Größe, Inventar, Einkünfte und Produzenten der Güter des angelsächsischen England.
- ↑ Arbeitshaus (engl.): die »Bastille des armen Mannes«. Zwangsanstalten, in denen erwerbsunfähige, arbeits- oder mittellose Personen unter menschenunwürdigen Bedingungen eingepfercht und ausgebeutet wurden.
- ↑ Hohlmaß. 1 Bushel = 36,35 Liter.
- ↑ 1 Reichstaler = 30 Silbergroschen.
- ↑ Hohlmaß. 1 Scheffel = 33,9 Liter.
- ↑ Ergänzung der 2. Auflage: Der Dampfpflug wird den Ackerbau ebenso revolutionieren, wie der Dampfwebstuhl und die Spinnmaschine die Industrie revolutioniert haben – er vernichtet die Kleinproduktion.
- ↑ Cottage, auch cot, entsprechend dem deutschen Wort Kote, Kotte, Käthe, Käthe (wonach Kotsassen, Kassäten, Kötner, Kätner, Katner). (Anm. Wilhelm Liebknechts.)
- ↑ Ergänzung der 2. Auflage: Ob das Häuschen, Gärtchen, Äckerchen dem Arbeiter von irgendeiner mildtätigen Fee, die es vom Himmel mit herunterbringt, als »Eigentum« geschenkt oder vom Gutsherrn ihm vermietet wird, ist für das Wesen des Verhältnisses ganz gleichgültig.
- ↑ In der 2. Auflage heißt es: erreichen. Wir dürfen nicht vergessen, daß Arbeit im nationalökonomischen Sinn ein Produkt der Gesellschaft ist und um so produktiver ist, je mehr das Gesellschaftsprinzip bei ihr zur Geltung kommt, das heißt, je mehr sich die Menschen zur Arbeit zusammengesellen. Der Kapitalismus, welcher die Arbeitskräfte zur Großproduktion konzentriert, hat dies begriffen. In der fortschreitenden Konzentrierung der Arbeitskräfte drückt sich der menschliche Kulturfortschritt aus. Unsere Kultur ist nicht denkbar ohne unsere konzentrierte, intensive Arbeit. Geben wir diese preis, so müssen wir auf jene verzichten. Die Einführung der Einzel- oder Familienarbeit würde uns zwingen, die vieltausendjährigen Errungenschaften der Kultur zu opfern, uns zu einem Leben niedrigster Barbarei verurteilen.
- ↑ Nach der griechischen Sage ließ Zeus als Strafe für den Raub des Feuers durch Prometheus Pandora, die erste Frau, schaffen und schickte sie als »schönes Übel« zu den Menschen. Das von ihr mitgeführte Faß (später Büchse) enthielt alle Übel, die, als Pandora den Deckel hob, frei wurden und die Menschen heimsuchten. Epimetheus hatte Pandora trotz Warnungen, kein Geschenk von Zeus anzunehmen, als seine Gemahlin aufgenommen.
- ↑ Der Paragraph 1 des Preußischen Expropriationsgesetzes, wie er in der Abgeordnetenhaussitzung des 27. April 1874 angenommen wurde, lautet: »Das Grundeigentum kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohls für ein Unternehmen, dessen Ausführung die Ausübung des Enteignungsrechtes erfordert, gegen vollständige Entschädigung entzogen oder beschränkt werden.« Nun, wir fordern die Ausübung des Expropriationsrechts nur »aus Gründen des öffentlichen Wohls«, und die Herbeiführung geordneter und menschenwürdiger Gesellschafts- und Staatsverhältnisse ist ein »Unternehmen« von millionenmal größerer Wichtigkeit als alle »Unternehmen«, zu deren Gunsten bisher das Expropriationsrecht ausgeübt worden ist. (Anm. Wilhelm Liebknechts.)
- ↑ Gemeint ist die von K. F. Eichhorn und F. K. von Savigny begründete historische Rechtsschule, die in der 1. Hälfte des 19. Jh. die allmähliche »organische« Entwicklung des Rechts propagierte und damit, auf konservativen Positionen aufbauend, feudale Verhältnisse bzw. Rudimente gegenüber den Ideen der Französischen Revolution aufrechtzuerhalten suchte.
- ↑ Ergänzung der 2. Auflage: Sämtliche Momente, welche heutzutage, um ein Beispiel herauszugreifen, die Post zu einer – wenn wir von gewissen in dem herrschenden Bürokratismus wurzelnden Mängeln absehen – von keinem Privatetablissement auch nur annähernd erreichten Musteranstalt, die Postbeamten durchschnittlich zu Musterbeamten, Mustern von Eifer und Fleiß, gemacht haben, würden sich auch in der sozialistischen Gesellschaft betätigen, und zwar kräftiger als jetzt, weil ungehemmt durch beschränkte Pedanterie.
- ↑ Ergänzung der 2. Auflage: Der Vorwurf, »antisozial«, »gesellschaftsfeindlich«, »gesellschaftszerstörerisch« zu sein, wird beiläufig jeder aufstrebenden Partei und Klasse von den augenblicklichen Gewalthabern gemacht. In den eigenhändigen Instruktionen, die Ludwig XVI. vor den Revolutionskriegen seinem Agenten Mallet du Pan für die landesverräterischen Unterhandlungen mit dem Ausland gab, wird das »patriotische« Bürgertum eine »faction antisociale«, »gesellschaftsfeindliche Partei« genannt. Das mögen die Herren Bourgeois sich merken, die uns gegenüber so rasch mit dem Vorwurf der »Gesellschaftsfeindlichkeit« bei der Hand sind. Gleich dem vorrevolutionären Adel verstehen sie unter »Gesellschaft« die Gesellschaft oder Gesellschaftsform, in welcher sie die Macht haben, ihre eigene Gesellschaft. Und diese Gesellschaft der Bourgeoisie bekämpfen wir mit demselben Recht wie einst die Bourgeoisie die Gesellschaft des Feudalismus.
- ↑ In der 2. Auflage ist an dieser Stelle folgender Absatz eingeschoben: Weit entfernt, den Herren Bourgeois zulieb, welche das Staats- und Gemeineigentum gerne verschlucken möchten, die Domänen zu zersplittern, sind letztere im Gegenteil durch Erwerbung der umliegenden Güter immer mehr zu vergrößern. Jegliche Parzellierung irgendwelcher Art, auch wenn angeblich zugunsten des Landproletariats, ist vom Übel. Aus den Landarbeitern Parzellenbauern zu machen, hieße nur die Form der ökonomischen Knechtschaft und des Elends verändern. Der Ausbeutung und Mißhandlung des Landproletariats – gleich der des städtischen Proletariats – ist energisch zu steuern, die Leibeigenschaftskontrakte, durch welche der Landarbeiter an das Gut und die Scholle gebunden wird, sind aufzuheben, und die Löcher und Fiebernester, in denen er vegetiert, durch den Forderungen der Gesundheitslehre entsprechende und dem Baustellenwucher entzogene Wohnungen zu ersetzen.
- ↑ Ergänzung der 2. Auflage: Hier eine Bemerkung: Man lasse sich nicht durch das Wort »Staat« erschrecken. Der »Staat« ist heutzutage verrufen. Aber Staat und Staat sind verschiedene Dinge. Als Ausdruck der jeweiligen Gesellschaftsordnung ist der Staat in jeder Gesellschaftsordnung ein anderer. Der heutige Staat entspricht der heutigen Gesellschaftsordnung. Mit Recht trifft ihn daher das Odium der heutigen Gesellschaftsordnung. Dieses Odium darf aber nicht auf den sozialistischen Volksstaat übertragen werden, welcher der Ausdruck der sozialistischen Gesellschaftsordnung ist. Den Staatsbegriff überhaupt verwerfen, weil der heutige Staat uns als etwas Feindliches gegenübersteht, wäre ebenso töricht, als wollten wir den Gesellschaftsbegriff verwerfen, weil die heutige Gesellschaft auf Ungerechtigkeit und Ausbeutung beruht. Im absolut monarchischen Staat sagt der König: der Staat bin ich; im heutigen Klassenstaat sagen die Besitzenden: der Staat sind wir; im sozialistischen Volksstaat wird jeder Staatsbürger sagen können: der Staat ist die sozialistisch organisierte Gesellschaft, die Assoziation aller Staatsbürger zum Zweck des höchstmöglichen Wohlergehens eines jeden einzelnen durch das harmonische Zusammenwirken aller. Ich zeigte eben den friedlichen, reformatorischen Übergang aus der alten in die neue Gesellschaft.
- ↑ frz., sinngemäß: Gehen lassen, wie es geht. Doktrin der Manchesterschule.
- ↑ Gemeint ist das auf dem Eisenacher Kongreß 1869 angenommene Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.
- ↑ Ergänzung der 2. Auflage: und zweitens die positive Forderung, daß wir die genossenschaftliche Arbeit erstreben, die jedem in der sozialistischen Gemeinschaft, direkt oder indirekt, den vollen Ertrag seiner Arbeit sichert, ich sage »direkt oder indirekt«, um dem Mißverständnis vorzubeugen, als könne der »volle Arbeitsertrag«, d. h. ein volles Äquivalent der geleisteten Arbeit dem einzelnen Arbeiter in Gestalt von Lohn ausgezahlt werden. Dies würde die Beibehaltung des Lohnsystems bedingen, die Vermehrung und Verbesserung der Arbeits- und Bildungsmittel unmöglich machen und einen der Grundidee des Sozialismus widersprechenden Zustand der Ungleichheit herbeiführen – ganz abgesehen davon, daß die Arbeitsunfähigen zum Hungertod verurteilt würden, falls sie nicht mitleidige Seelen finden oder »Ersparnisse« gemacht haben. Der sozialistische Staat ist die Gemeinschaft aller zum Wohl aller – der Schwachen wie der Starken, der Arbeitsfähigen wie der Arbeitsunfähigen. Die für das Wohl aller, zur Befriedigung der körperlichen und geistigen Bedürfnisse der Gesamtheit notwendige Arbeit ist von allen arbeitsfähigen Gliedern der Gesellschaft zu leisten, die für eine gerechte Verteilung und zweckmäßige Verwendung zu sorgen hat. Nicht nur, was jeder an Kleidung, Nahrung, Wohnung bedarf, muß aus dem allgemeinen Arbeitsertrag bestritten werden, sondern auch alles, was zur Erhaltung, Vermehrung und Verbesserung der gemeinsamen Arbeits- und Bildungsmittel: Werkstätten, Maschinen, Eisenbahnen, Theater, Schulen, Museen, erforderlich ist. Es sind das Vorteile, die dem einzelnen nur durch die Gemeinschaft erwachsen und die er nur in der Gemeinschaft genießen kann. Das ist festzuhalten: »Wir wollen jedem den vollen Ertrag seiner Arbeit sichern« heißt also einfach: wir wollen eine Organisation der Arbeit, welche es unmöglich macht.
- ↑ Bebels zehnteilige Artikelserie »Gegen die ›Demokratische Correspondenz‹«, die Programm und Haltung der Eisenacher Partei gegen kleinbürgerliche Angriffe verteidigte und weiterentwickelte, erschien im »Volksstaat« vom 9. Februar bis 16. März 1870. Noch im gleichen Jahr erschien diese erste theoretisch-programmatische Arbeit Bebels unter dem Titel »Unsere Ziele« als Broschüre. Vgl. August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin 1970, S. 59ff.
- ↑ Ergänzung der 2. Auflage: die Gemeinde überhaupt, ganz besonders aber die Dorfgemeinde. Im Wort Gemeinde liegt dies schon ausgedrückt. Gemeinde heißt Gemeinschaft, gemeinsames Wirken – es handelt sich nur darum, der Gemeinschaft, dem gemeinsamen Wirken hinlängliche Ausdehnung zu geben, dasselbe auch auf das wirtschaftliche Gebiet zu übertragen, von dem es durch den Kultus und die Kultur des Privateigentums verdrängt worden ist. Mit der Zeit wird unzweifelhaft mit dem Gegensatz zwischen Stadt und Land auch der Unterschied zwischen Stadt und Dorf, die Trennung von Industrie und Ackerbau verschwinden. Jedenfalls aber wird der Sozialismus an die heutigen Städte und Dörfer anknüpfen und die gesellschaftliche Neugestaltung dem Rahmen der vorhandenen Gemeinden anpassen müssen. Und in dem Dorf ist dies weit leichter als in der Stadt. Ohne nennenswerte Schwierigkeit – wenn die sich noch entgegenstellenden Vorurteile einmal überwunden sind –
- ↑ Ergänzung der 2. Auflage: In verschiedenen Orten sind bereits mit bestem Erfolg Versuche in dieser Richtung gemacht worden. Die Bauern haben hier und da Ackerbaumaschinen auf gemeinschaftliche Kosten angeschafft und – namentlich aus dem westlichen Holstein sind mir Beispiele bekannt – Assoziationen für Land- und Viehwirtschaft gegründet. Freilich keine sozialistischen, im engen Sinn des Worts. Allein immerhin bilden derartige, auf dem Boden der herrschenden Eigentumsverhältnisse und sogar bis zu einem gewissen Punkt zur Konservierung der herrschenden Eigentumsverhältnisse gegründete Assoziationen den natürlichen Übergang zu echt sozialistischen Organisationen.
- ↑ Ergänzung der 2. Auflage: Der Ackerbau ist so gut Industrie wie die Gewerbszweige, welche gewöhnlich unter diesem Namen begriffen werden. Und nicht bloß der Lohnarbeiter in Stadt und Land ist Arbeiter, sondern jeder, der nicht von der Ausbeutung fremder Arbeit lebt, also auch der Kleinbauer, der Kleingewerbetreibende, der zwar dauernd oder zeitweilig fremde Arbeit benutzt, jedoch nicht in dem Maße, daß er davon leben kann, ohne selber zu arbeiten. Wir sind eine Arbeiterpartei, im Gegensatz der Partei der Monopolisten der Arbeitsmittel. Die Arbeit ist geknechtet und ausgebeutet, solange die Arbeitsmittel nicht Eigentum der Arbeiter sind. Und Eigentum aller Arbeiter können sie nur sein, wenn sie Eigentum der Gesamtheit, des Staates, der Gesellschaft sind. Die Arbeit ist Menschenpflicht.
- ↑ Ergänzung der 2. Auflage: Bei einem Teil der Vertreter kamen allerdings auch proudhonistisch-kleinbürgerliche Flärren hinzu: die naive Hoffnung, den Kleingrundbesitz durch scheinsozialistische Reformen von dem ihm jetzt aufklebenden Elend zu befreien – als ob dieses Elend nicht dem Wesen des Kleingrundbesitzes entsproßte! Wo das Prinzip falsch ist, gibt es keine Reform, können Reformversuche nur schädlich sein. Doch lassen wir das. Jedenfalls hatten die französischen Delegierten recht, vorsichtig zu sein.
- ↑ Johann Jacoby, Das Ziel der Arbeiterbewegung, Berlin 1870, S. 11. – Schlachttag von Sadowa: Gemeint ist die Entscheidungsschlacht im Preußisch-Österreichischen Krieg am 3. Juli 1866.
- ↑ Gemeint ist der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71.
- ↑ Nach dem Sieg der Februarrevolution 1848 richtete die französische Regierung für etwa 100 000 Arbeitslose Nationalwerkstätten ein, um die Arbeiter dem Einfluß radikaler Ideen zu entziehen, Kleinbürger und Bauern durch diese »Konkurrenz«-Betriebe gegen die Arbeiter aufzubringen und – durch schlechte Leitung bzw. bewußt niedrig gehaltene Produktivität der Nationalwerkstätten – die sozialistischen Auffassungen zu diskreditieren.
- ↑ Trockene Guillotine: Deportation von Tausenden gefangener Junikämpfer in meist unwirtschaftliche, ungesunde außereuropäische Gebiete, wo sie oft schwere Zwangsarbeit verrichten mußten. In noch größerem Umfang wurden gefangene Kommunarden 1871 nach dem 1853 von Frankreich annektierten Archipel Neukaledonien im Stillen Ozean (östlich von Australien) deportiert.
- ↑ Gemeint ist Louis Napoleon, ein Neffe Napoleons I. Er wurde am 10./11. Dezember 1848 vor allem durch die Bourgeoisie zum Präsidenten der französischen Republik gewählt. Am 2. Dezember 1852 rief sich Louis Napoleon als Napoleon III. zum Kaiser aus.
- ↑ Gemeint sind der Streik von etwa 4000 Textilarbeitern in Forst (Lausitz) und von rund 8000 Bergarbeitern in Waldenburg (1. 12. 1869 bis Ende Januar 1870).
- ↑ Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine (benannt nach Max Hirsch und Franz Duncker) wurden 1868 auf bürgerlichen Positionen und unter bürgerlicher (linksliberaler) Führung gegründet. Als Gegengründung gegen die sozialistischen Arbeiterorganisationen sollten sie einen antisozialistischen Damm innerhalb der Arbeiterklasse bilden. Ihre Parole von der »Harmonie der Interessen von Arbeit und Kapital« wurde schlagend durch den Waldenburger Bergarbeiterstreik 1869 widerlegt.
- ↑ Spontane Arbeitsniederlegungen und Emeute der unorganisierten, unter klerikalem Einfluß befindlichen Bergarbeiter in Königshütte am 26. Juni 1871. Die spontane Erhebung wurde durch Ulanen und mehrere Kompanien Infanterie niedergeschlagen. Die Bergarbeiter hatten sieben Tote und viele Verwundete zu beklagen. Über Königshütte wurde der Belagerungszustand verhängt; die Klassenjustiz fällte drakonische Urteile.
- ↑ Die 54 m hohe Vendômesäule wurde als Symbol des Chauvinismus und Militarismus auf Anordnung der Pariser Kommune 1871 gestürzt.
- ↑ Durch den Volksaufstand vom 10. August 1792 wurde die Beseitigung der Monarchie und die Verhaftung Ludwigs XVI. erzwungen. Tuilerien: Residenzschloß der französischen Könige in Paris.
- ↑ Gemeint ist die revolutionär-demokratische Jakobinerdiktatur 1893/94.
- ↑ Durch Massenaktionen des werktätigen Volkes wurde nach der Niederlage und Gefangennahme Napoleons III. durch preußisch-deutsche Truppen in der Schlacht von Sedan am 4. September 1870 das Kaisertum gestürzt und die Republik ausgerufen.
- ↑ Gemeint ist der »Reptilienfonds« Bismarcks, der – aus Zinsen des beschlagnahmten Vermögens des hannoverschen Königs gebildet – Bismarck die Möglichkeit gab, Journalisten und Presseorgane zu bestechen.
- ↑ Unter dem Einfluß der französischen Februarrevolution kam es am 13. März 1848 in Wien zu Demonstrationen und bewaffneten Kämpfen, die zum Sturz Metternichs führten.
- ↑ Durch die französische Julirevolution (27.–29. Juli 1830) wurde Karl X., der Bruder Ludwigs XVI., gestürzt. Die Unorganisiertheit der siegreichen Volksmassen wurde von der Bourgeoisie ausgenutzt, um Louis Philippe als König einzusetzen.
- ↑ In der »Gründerzeit«, der kapitalistischen Hochkonjunktur von 1871 bis 1873, erfolgte durch die Umwandlung bestehender oder fiktiver Firmen in Aktiengesellschaften, Börsenspekulationen, Überwertung von emittierten Aktien usw. in großem Maßstab (»Gründerschwindel«) eine Umverteilung und Konzentration von Kapital zugunsten der Großbourgeoisie.
- ↑ Anspielung auf Hermann Wagener, Geheimer Oberregierungsrat und vertrauter Mitarbeiter von Bismarck.
- ↑ Die Internationale Gewerksgenossenschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeiter beiderlei Geschlechts, 1869 gegründet, war die erste Gewerkschaft, die Arbeiterinnen statutenmäßig als gleichberechtigte Mitglieder aufnahm, sie auch im Vorstand der Gewerkschaft vertreten hatte und gleichen Lohn für gleiche Leistung forderte.
- ↑ »Wissen ist Macht« (»Knowledge is power!«) wurde von Francis Bacon 1598 als antifeudalistische Losung ausgesprochen. »Bildung macht frei!« war das Motto der billigen Klassikerausgaben des liberalen Verlagsbuchhändlers Joseph Meyer, Gründer des Bibliographischen Instituts Leipzig. Beide Parolen wurden seit den sechziger Jahren des 19. Jh. vom Liberalismus in antisozialistischem Sinne, zur Desorientierung der Arbeiterbewegung angewandt, namentlich auch von der bürgerlichen »Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung«.
- ↑ Die folgenden Zitate sind zusammengezogene Übersetzungen Liebknechts aus Henry Thomas Buckle, History of civilisation in England, Erstauflage London 1857.
- ↑ Der Ausspruch wird dem französischen Diplomaten Charles-Maurice Talleyrand zugeschrieben.
- ↑ Gemeint sind die Opfer der Pariser Junischlacht 1848, der ersten offenen Konfrontation zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Die Junischlacht, der Kulminationspunkt der Revolution von 1848/49, war für Liebknechts Geschichtsauffassung stets ein zentraler Bezugspunkt.
- ↑ Gemeint ist Louis Bonaparte (Napoleon III.) und sein Staatsstreich vom Dezember 1851.
- ↑ 1853 bis 1856, Krieg des zaristischen Rußland gegen die Türkei um die Vorherrschaft im Nahen Osten, der durch das Eingreifen Großbritanniens und Frankreichs mit einer Niederlage Rußlands endete.
- ↑ 1859 Krieg zwischen Sardinien-Piemont (Ministerpräsident Cavour) und dem Frankreich Napoleons III. gegen Österreich um die Befreiung Italiens von österreichischer Herrschaft und die Vormachtstellung Frankreichs in Europa.
- ↑ Die Kriege Preußens und Österreichs gegen Dänemark 1864, Preußens gegen Österreich 1866 und Preußen-Deutschlands gegen Frankreich 1870/71 waren Bestandteil des Bismarckschen Konzepts einer »Revolution von oben«, die die Vorherrschaft Preußens und die politische Vorherrschaft des Junkertums sicherstellen, einer »Revolution von unten« zuvorkommen und die Mindestanforderungen der kapitalistischen Entwicklung – Beseitigung der Schranken für die Entfaltung des Kapitalismus, Schaffung eines einheitlichen inneren Marktes und eines Nationalstaates – erfüllen sollte.
- ↑ Gemeint ist der Norddeutsche Reichstag.
- ↑ Gemeint sind die Exzesse gegen den Orientalisten Prof. Heinrich Ewald, der als hannoveranisch-welfischer Partikularist von konservativ-religiösem Standpunkt das Bismarcksche Kaiserreich von 1871 bekämpfte. Die Bemerkung bezieht sich auf die Reichstagssitzung vom 6. Dezember 1870 (vgl. Stenographische Berichte des Norddeutschen Reichstages, II-ao. Session, S. 101 ff.).
- ↑ Gemeint ist Alexander von Humboldt, der die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als insgesamt aufsteigende Kurvenlinie darstellte.
- ↑ Sadowa: Dorf in der damaligen böhmischen Bezirkshauptmannschaft Königgrätz. In der Schlacht von Königgrätz (von französischer Seite als Schlacht von Sadowa bezeichnet) fiel am 3. Juli 1866 die Entscheidung im Preußisch-Österreichischen Krieg zugunsten Preußens. Die liberale Presse führte diesen durch bessere Führung und Bewaffnung errungenen Sieg u. a. auf die höhere Bildung der preußischen Soldaten zurück, wonach der preußische Schulmeister – oft ausgedienter Unteroffizier – der eigentliche »Sieger von Königgrätz« gewesen sei. Diese Legende geht nach Eduard Sack auf eine Eingabe des preußischen Kriegsministers von Roon und des Kultusministers von Mühler an den preußischen König zurück.
- ↑ Gemeint ist der von Bismarck initiierte sogenannte »Kulturkampf«, eine politische Auseinandersetzung zwischen der Bourgeoisie und der Regierung einerseits und dem katholischen politischen Klerikalismus (mit partikularistischen, antipreußischen und z. T. antikapitalistischen Tendenzen) andererseits. Der »Kulturkampf«, der mit den Maigesetzen 1873 den Höhepunkt erreichte, diente als eine Art Ablenkungsstrategie dazu, die grundsätzlichen Klassengegensätze zu überdecken und zugleich das konservativ-protestantische Junkertum gegenüber der Bourgeoisie und den Volksmassen abzuschirmen.
- ↑ Pressefreiheit war eine der meisterhobenen liberalen Forderungen, zumal die Bourgeoisie infolge ihrer ökonomischen Stärke über die auflagengrößten Zeitungen verfügte und faktisch die Presse beherrschte. Nachdem die Revolution von 1848/49 die Karlsbader Beschlüsse mit ihrer Knebelung der Presse (u. a. Vorzensur) hinweggefegt hatte, schränkten die in der Reaktionszeit erlassenen Preßgesetze (z.B. preußisches Preßgesetz vom 12. Mai 1851) die Pressefreiheit u. a. durch Kautionspflicht, Zeitungsstempel und Inseratensteuer sowie durch polizeiliche Repressivdrohungen (Konzessionsentziehung u. a.) ein. Das Reichsgesetz über die Presse vom 9. Mai 1874 hob einen Teil dieser polizeilichen Präventivmaßregeln auf, verlangte aber u.a. die Nennung des Namens und Wohnortes des Druckers bzw. Verlegers für jedes Druckerzeugnis, eines verantwortlichen Redakteurs für jedes Periodicum und die sofortige Ablieferung von Pflichtexemplaren an die Polizeibehörden, ermöglichte die Beschlagnahme von Druckschriften, sah hohe Geld- und Haftstrafen wegen »Preßdelikten« (u. a. Beleidigung, Gotteslästerung, Aufreizung) vor und verbot öffentliche Sammlungen zur Aufbringung von Geldstrafen wegen »Preßvergehen«, wodurch vor allem die Arbeiterpresse getroffen werden sollte. Zur Überwachung der Presse war eine spezielle Preßpolizei eingesetzt.
- ↑ Gemeint ist die Presseabteilung im Auswärtigen Amt, ein wichtiges Mittel Bismarcks zur Lenkung der Presse und zur Manipulierung der öffentlichen Meinung.
- ↑ Es handelt sich um die etwa 550 Abgeordneten des dritten Standes der nach Versailles einberufenen »Generalstaaten«, die sich am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung konstituierten. Das war der unmittelbare Auftakt zur französischen bürgerlichen Revolution, die durch den Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 ausgelöst wurde.
- ↑ Die »Göttinger Sieben« – die Historiker F. Ch. Dahlmann und G. G. Gervinus, die Germanisten Jacob und Wilhelm Grimm, der Sprachwissenschaftler H. Ewald, der Jurist W. E. Albrecht und der Physiker W. Weber – protestierten am 18. November 1837 gegen den Staatsstreich des Königs Ernst August von Hannover, der die 1833 erzwungene Verfassung beseitigte. Der öffentliche Protest und die Entlassung bzw. Ausweisung der »Göttinger Sieben« fanden starken Widerhall.
- ↑ Bürgerkrieg in der Schweiz 1847. Der Krieg der Tagsatzung (Schweizer Bundestag) gegen den reaktionären »Sonderbund« der sieben katholischen Orte bzw. Kantone Luzern, Schwyz, Uri, Unterwalden, Zug, Freiburg und Wallis endete mit dem Sieg über den Sonderbund und der Umgestaltung der Schweiz in einen Bundesstaat (1848), deren Verfassung sich an die nordamerikanische anlehnte.
- ↑ Anspielung auf Bismarck und den »Kulturkampf«.
- ↑ Prosper Lissagaray, Histoire de la Commune de 1871, Brüssel 1876. Ein Jahr später erschien eine von Lissagaray ergänzte deutsche Fassung unter dem Titel Geschichte der Commune von 1871 im Verlag von Wilhelm Bracke, Braunschweig.
- ↑ Xx. (d. h. Wilhelm Liebknecht), Eine Geschichte der Commune, in: Der arme Conrad 1878, S. 121 ff. Bracke, der diesen sozialdemokratischen Volkskalender herausgab, schrieb am 22. Juli 1877 an Liebknecht: »Ihr Commune-Artikel wird der letzte im Kalender. Ich muß ihn in Petit setzen lassen, sonst findet er keinen Platz mehr ... Ich bitte, Zusätze nicht zu machen. Der Artikel wirkt mächtig und bedarf keiner Verschärfung oder Erweiterung.« (Wilhelm Liebknecht, Briefwechsel mit deutschen Sozialdemokraten, Bd. I, hrsg. von Georg Eckert, Assen 1973, S. 750). Die Besprechung wurde von Liebknecht anläßlich des 20. Jahrestages der Pariser Kommune im »Vorwärts« am 18. März 1891 und als Beigabe zu seiner Broschüre »Zum 18. März und Verwandtes«, Hamburg 1891, abgedruckt. Dieser Vorlage folgt unsere Wiedergabe.
- ↑ Nach den ersten Niederlagen im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 kam es zu spontanen politischen Unruhen. Am 14. August 1870 erlitten die Blanquisten bei dem Versuch, durch einen Handstreich eine Feuerwehrkaserne in Paris zu besetzen und damit das Signal zum Aufstand zu geben, eine Niederlage.
- ↑ Gemeint ist der Zusammenbruch des Kaiserreichs und die Proklamation der Republik am 4. September 1870. Die Bourgeoisie vermochte es, den unorganisierten Volksmassen den Sieg zu entwinden und die bürgerliche »Regierung der nationalen Verteidigung« zu bilden.
- ↑ Am 31. Oktober 1870 mißlang der Versuch von Pariser Arbeitern und Demokraten, in der von preußisch-deutschen Truppen eingeschlossenen Hauptstadt die bourgeoise Regierung zu stürzen. Die revolutionäre Aktion scheiterte vor allem an der Programmlosigkeit und Unentschlossenheit der Führer.
- ↑ Am 28. Januar 1871 wurden die drückenden Waffenstillstandsbedingungen, die auch die Kapitulation von Paris verlangten, unterzeichnet.
- ↑ 1861 wurden Manifestationen für ein selbständiges Polen in Warschau durch zaristische Polizei blutig unterdrückt.
- ↑ Der zehnstündige »Normalarbeitstag«, also die gesetzliche auf zehn Stunden begrenzte Arbeitszeit pro Werktag, konkretisierte die unbestimmte Forderung des Gothaer Programms nach einem »den Gesellschaftsbedürfnissen entsprechenden Normalarbeitstag« und war der Kernpunkt des von der sozialdemokratischen Fraktion 1885 im Reichstag eingebrachten Arbeiterschutz-Gesetzentwurfes.
- ↑ Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Erster Band. Achtes Kapitel, Der Arbeitstag. Fabrikgesetzgebung: Gesetzliche Festlegungen betr. die Arbeit in den Industriebetrieben.
- ↑ Vgl. MEW, Bd. 2, S.390ff.
- ↑ Louis Viereck gebrauchte das von Bismarck demagogisch verwandte Wort vom »Recht auf Arbeit« als Titel einer legalen Arbeiterzeitung, deren erste Nummer am 28. Mai 1885 in München erschien. Sie wollte die ökonomisch-sozialen Bestrebungen der Arbeiterklasse als Machtbasis für die Durchsetzung einer opportunistischen Konzeption ausnutzen. Unter diesem Aspekt griff das »Recht auf Arbeit« Liebknechts Argumentation an. Dem trat der »Sozialdemokrat« entgegen: Nr. 45, 5. November 1885 – »Sind wir noch Sozialdemokraten?«
- ↑ Erklärung der Redaktion in »Der Sozialdemokrat« Nr. 46, 12. November 1885.
- ↑ Gemeint ist die Broschüre von Alois Kiefer, 200 000 Vagabunden, München 1884.
- ↑ In der Reichstagsdebatte zur Denkschrift über den nach § 28 des Sozialistengesetzes verhängten Kleinen Belagerungszustand in Berlin, Hamburg, Altona und Harburg prangerten die sozialdemokratischen Redner, darunter Wilhelm Liebknecht, das Polizeiregiment an und verwiesen darauf, daß das Sozialistengesetz und die willkürliche Repressivpolitik »das wesentlichste Beförderungsmittel des sogenannten Anarchismus« ist. Zugleich stellten sie das Lockspitzelsystem des preußischen Innenministers Puttkamer bloß, der durch agents provocateur anarchistische Aktivitäten gelenkt hatte.
- ↑ Zur Durchsetzung und vollen Entfaltung des Kapitalismus der freien Konkurrenz forderte die aufstrebende Bourgeoisie die Nichteinmischung des Staates in Gewerbe- und Handelsbelange, die Beseitigung der Ein- wie Ausfuhrzölle, der indirekten Steuern, des staatlichen Protektionismus usw. Die Freihandelsparole war Bestandteil des bürgerlichen Liberalismus, der entsprechend dem »freien Spiel der Kräfte« den Individualismus betonte. Der bürgerliche Individualismus stellte eine politisch-ideologische Wurzel des Anarchismus dar.
- ↑ Proudhons Gesellschaftskritik richtete sich gegen das Großeigentum (»Eigentum ist Diebstahl«), die Ursache des Elends suchte er aber nicht in der Produktions-, sondern in der Zirkulationssphäre. Mittels zinsfreien Kredites, Produktion und Austauschs ohne Bank- und Handelskapital sollte auf gesetzlichem Wege eine Gesellschaft der gegenseitigen Unterstützung (mutualité) und ein anarchistischer Föderalismus erreicht werden. Proudhon, der den Begriff »Anarchismus« prägte, verwischte den tatsächlichen Klassengegensatz zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, wandte sich gegen den realen Klassenkampf, gegen proletarische Kampforganisationen und gegen die proletarische Revolution. Durch die I. Internationale konnte der Einfluß des Proudhonismus wesentlich zurückgedrängt werden.
- ↑ Der an den Proudhonismus anknüpfende, in sich höchst widersprüchliche Bakunismus wurde um 1870 zur Hauptströmung des Anarchismus. Mit seiner militanten Feindschaft zum Marxismus, der von den realen Bedingungen abstrahierenden putschistischen Taktik, der Negierung des politischen Kampfes und der Unterschätzung der Organisation der Arbeitermassen, der Ablehnung jeden Staates, auch der Diktatur des Proletariats, desorientierte er die Arbeiterbewegung und bedrohte die revolutionäre Einheit der internationalen Arbeiterbewegung.
- ↑ Liebknecht hatte – u. a. in »Wissen ist Macht« – selbst dieser Ansicht Ausdruck verliehen, die den Zugang zum Verständnis der Diktatur des Proletariats von vornherein verbaute. Er korrigierte sich hier, begründete aber die Notwendigkeit des sozialistischen Staates vor allem mit der »Regelung der Produktion« und ließ die politische Funktion des proletarischen Staates – und damit einen zentralen Punkt der Auseinandersetzung mit dem Anarchismus – außer acht.
- ↑ Most, ein führender Funktionär der Sozialdemokratie, war unter dem Eindruck des Sozialistengesetzes auf anarchistische Positionen abgeglitten und bereits vom Wydener Parteikongreß 1880 aus der Partei ausgeschlossen worden. Die Angriffe auf die revolutionäre Sozialdemokratie und die terroristische Taktik, die Most in der von ihm ab 4. Januar 1879 (zunächst in London) herausgegebenen »Freiheit« propagierte, arbeiteten faktisch der preußisch-deutschen Polizei in die Hände, die mehrere Spitzel als Mitarbeiter oder gar Vertraute von Most lanciert hatte, darunter auch Wolff als Korrespondenten der »Freiheit« in Altona.
- ↑ Der besonders heimtückisch gegen die Arbeiterbewegung operierende Leiter der politischen Polizei in Frankfurt (Main), Rumpf, wurde im Januar 1885 umgebracht. Als angeblicher Täter wurde – trotz zweifelhafter Indizien – der Schuhmachergeselle Lieske verurteilt und hingerichtet. Der Wechselagent Eisert war mit seinen beiden Söhnen am 10. Januar 1884 einem Raubmord zum Opfer gefallen, der ein Glied in einer Kette anarchistischer Attentate bildete.
- ↑ Für die Enthüllung des Niederwalddenkmals, die unter Beteiligung Wilhelms I. als chauvinistisches »Nationaldenkmal für den Krieg von 1870/71« am 28. September 1883 erfolgte, hatte der Anarchist August Reinsdorf ein Dynamitattentat vorbereitet, das jedoch infolge Regenwetters, dilettantischer Ausführung und der Mitwirkung von Polizeiagenten mißlang. Erst im Dezember 1884 fand vor dem Reichsgericht der Prozeß statt; von acht Angeklagten wurden drei zum Tode verurteilt und zwei, darunter Reinsdorf, im Februar 1885 hingerichtet.
- ↑ Nachdem sich die italienische Arbeiterbewegung unter dem Einfluß der I. Internationale Ende der sechziger Jahre von mazzinischen Positionen der Klassenzusammenarbeit gelöst hatte, erlangte der Bakunismus vorherrschenden Einfluß. Erst nach dem Bruch mit den anarchistischen Doktrinen konnte sich 1882 die Italienische Arbeiterpartei bilden.
- ↑ Pescherähs sind ein auf der niedrigsten Entwicklungsstufe stehender Stamm auf dem Feuerland-Archipel. (Anm. Wilhelm Liebknecht.)
- ↑ 1866 annektierte Preußen Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt (Main).
- ↑ Gemeint ist die erste Parlamentsreform von 1832, durch die besitzende Schichten der Industriestädte das Wahlrecht erhielten, von dem die Masse der Bevölkerung nach wie vor ausgeschlossen blieb.
- ↑ Gemeint sind Angehörige der »Narodnaja Wolja« (Volkswillen), die durch individuellen Terror das zaristische System zu erschüttern oder zu erstören suchten.
- ↑ Gemeint ist der Russisch-Türkische Krieg 1877/78, der u.a. zur Befreiung Bulgariens von türkischer Herrschaft führte.
- ↑ m 11. und 12. September 1877 suchten russische Truppen in mehreren Sturmangriffen vergeblich, Plewna zu erobern. Die von den Türken verteidigte Stadt fiel erst nach mehrmonatiger Belagerung am 10. Dezember 1877.
- ↑ Schlacht im Krimkrieg (1853–1856) am 5. November 1854.
- ↑ Alexander II. wurde am 1. (13.) März 1881 durch ein Bombenattentat von Angehörigen der »Narodnaj wolja« (Volkswille) getötet.
- ↑ Liebknecht meint offenbar die Bombenexplosion, der am 4. Mai 1886 während einer Massenkundgebung für den Achtstundentag vier Arbeiter und sieben Polizisten zum Opfer fielen. Diese Provokation, die höchstwahrscheinlich von der Polizei selbst ausging, wurde anarcho-syndikalistischen Führern der Chicagoer Arbeiterbewegung zur Last gelegt. Am 11. November 1887 wurden Georg Egel, Adolf Fischer, Albert R. Parsons und August Spieß unschuldig hingerichtet. Ohne ihre Taktik zu billigen, solidarisierte sich die internationale Arbeiterbewegung mit den Opfern der amerikanischen Klassenjustiz.
- ↑ Diese theoretisch verkürzte Entwicklungsperspektive widerspiegelt die Hauptschwäche des Erfurter Programms, die Unklarheit über Notwendigkeit und Funktion der Diktatur des Proletariats.
- ↑ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Abgehalten zu Halle a. S. vom 12. bis 18. Oktober 1890, Berlin 1890, S. 204. Schlußwort Liebknechts zum Tagesordnungspunkt »Das Programm der Partei«: »Der heutige Staat wächst in den Zukunftsstaat hinein.« Gegen diese Illusion richtete sich u. a. Friedrich Engels' Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891; vgl. MEW, Bd. 22, S. 234.
- ↑ Der auf dem Erfurter Parteitag 1891 eingesetzten Programmkommission, die für die Endredaktion des marxistischen Erfurter Programms verantwortlich war, gehörten 21 Mitglieder an. Sie wählte eine dreiköpfige Redaktionskommission, die durch Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht und Georg von Vollmar gebildet wurde. Die Programmkommission nominierte Liebknecht endgültig als Referenten zur Begründung des Parteiprogramms.
- ↑ Für die Reichstagswahlen galt das Persönlichkeits- und Mehrheitswahlrecht. In jedem einzelnen Wahlkreis siegte der Kandidat, der über 51 Prozent der Stimmen auf sich vereinigte (falls das nicht der Fall war, wurde eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen durchgeführt). Die nicht auf den so gewählten Abgeordneten entfallenen Stimmen waren damit ohne Gewicht, selbst wenn sie fast 50 Prozent ausmachten. Diese antidemokratische Schere zwischen Stimmenanzahl und Zahl der Abgeordneten, die besonders stark die sozialistische Partei benachteiligte, sollte durch das Proportionalwahlrecht beseitigt werden. Danach hatte die Zahl der Abgeordneten dem Verhältnis der für die einzelnen Parteien bzw. Listen abgegebenen Stimmen zu entsprechen.
- ↑ »Der Welt erste breite, wirklich Massen erfassende, politisch klar ausgeprägte proletarisch-revolutionäre Bewegung« (Lenin), die infolge der sich in der Endphase der industriellen Revolution verstärkenden Widersprüche zwischen Proletariat und Bourgeoisie in England entstand, 1837/38 ihren ersten Höhepunkt (Volkscharta) und 1847/48 ihren letzten Aufschwung hatte.
- ↑ Tagegelder für Parlamentsabgeordnote, die es auch materiell Unbemittelten ermöglichen sollten, ein Abgeordnetenmandat anzunehmen. Die Nichtbewilligung von Diäten durch die Reichsverfassung und die Bismarck-Regierung war eine antidemokratische Maßregel, um Arbeitern und Demokraten den Zutritt zum Reichstag zu erschweren.
- ↑ Mit dieser, an einen Vorschlag Engels' anlehnenden Formulierung sollte die Forderung nach einer demokratischen Republik umschrieben werden, die infolge der reaktionären Verhältnisse in Preußen-Deutschland nicht offen im Programm erhoben werden konnte.
- ↑ Der Internationale Arbeiterkongreß, der vom 16. bis 22. August 1891 in Brüssel tagte und an dem 374 Delegierte aus 16 Ländern teilnahmen, nahm eine von Liebknecht und Vaillant eingebrachte Resolution an, die die klassenmäßigen Ursachen der Kriegsgefahr enthüllte und die zum Kampf gegen Kriegsgelüste und Kriegsbündnisse der herrschenden Klassen aufrief. Von dieser Position aus wandte sich der Kongreß gegen pazifistische Auffassungen wie gegen die Illusion, Kriege mit einem Generalstreik beantworten und verhindern zu können.
- ↑ Das Parteiprogramm wurde auf dem Erfurter Parteitag am letzten Verhandlungstag (21. Oktober 1891) als letzter Tagesordnungspunkt behandelt und nach Liebknechts Programmrede ohne Diskussion angenommen. Vor dem Parteitag hatte jedoch eine mehrmonatige breite Diskussion der Parteimitgliedschaft über den Programmentwurf stattgefunden. Die prinzipielle Auseinandersetzung sowohl mit der pseudoradikalen »Opposition der Jungen« als auch mit dem rechtsopportunistischen Vorstoß Vollmars, die den Erfurter Parteitag beherrschte, war in gewisser Hinsicht eine Vorwegnahme der Programmdebatte.
- ↑ Am 25. Januar 1890 hatte der Reichstag mit 169 gegen 98 Stimmen eine Verlängerung des Sozialistengesetzes, das sich gegenüber der sozialistischen Arbeiterbewegung als wirkungslos erwiesen hatte, abgelehnt. Am 1. Oktober 1890 verlor es seine Gültigkeit. Am 20. März 1890 erfolgte der Sturz Bismarcks und der Zusammenbruch seiner Diktatur.
- ↑ Wilhelm Liebknecht war seit dem 30. August 1888 bis zu seinem Tode als Vertreter des VI. Berliner Wahlkreises, des zahlenmäßig größten deutschen Wahlkreises, Reichstagsabgeordneter.
- ↑ Nach dem Scheitern der Umsturzvorlage (s. Anm. 169) im Reichstag suchte die Reaktion den preußischen Landtag zum Abbau demokratischer Rechte zu nutzen. Am 13. Mai 1897 brachte die Regierung im Abgeordnetenhaus eine Novelle zum Vereinsgesetz ein, die das Versammlungs- und Koalitionsrecht drastisch beschneiden sollte. Dieses »Kleine Sozialistengesetz« wurde am 31. Mai in erster Lesung angenommen und erst in zweiter Lesung am 24. Juli 1897, unter dem Druck einer machtvollen Protestbewegung, mit knapper Mehrheit von vier Stimmen verworfen. Das war der Anstoß der Diskussion um die bis dahin abgelehnte Beteiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen. Liebknecht umging in seiner Argumentation die Tatsache, daß revolutionäre marxistische Kräfte wie August Bebel und Clara Zetkin für die Wahlbeteiligung trotz des Dreiklassenwahlrechtes eintraten.
- ↑ Gemeint ist Eduard Bernsteins Buch »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie«, Stuttgart 1899. In dieser Broschüre faßte Bernstein seine bereits 1896/97 in einer Artikelserie gleichen Titels in der »Neuen Zeit« entwickelte antimarxistische Konzeption zusammen.
- ↑ Unter dem Pseudonym Isegrimm veröffentlichte Max Schippel im November 1898 einen Artikel »War Friedrich Engels milizgläubisch?« in den »Sozialistischen Monatsheften«, die zum theoretischen Organ des Revisionismus wurden. Schippel suchte damit eine Revision der antimilitaristischen Haltung der deutschen Sozialdemokratie in die Wege zu leiten. Nach einer dadurch ausgelösten öffentlichen Polemik, der »Milizdebatte«, wies der Parteitag zu Hannover 1899 Schippels Auffassungen in einer u. a. von Rosa Luxemburg und Clara Zetkin eingebrachten Resolution als »einen Vorstoß gegen die Grundsätze der sozialdemokratischen Partei« entschieden zurück. (Protokoll des Hannoveranischen Parteitages 1899, S. 247 ff.)
- ↑ Durch eine scharfmacherische Rede Wilhelms II. in Bad Oeynhausen bereits am 6. September 1898 angekündigt und durch einen Streikerlaß Posadowskys vorbereitet, wurde am 20. Juni 1899 im Reichstag ein Gesetzentwurf »zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse« eingebracht, der das Koalitions- und Streikrecht unter Androhung von Zuchthausstrafen faktisch beseitigen sollte. Gegen die »Zuchthausvorlage« erhob sich eine breite Protestbewegung, unter deren Druck der Gesetzentwurf am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen abgelehnt wurde.
- ↑ Partei des politischen Klerikalismus. Das sozial heterogene Zentrum, das sich 1870 zunächst als Sammelbecken antipreußischer und partikularistischer katholischer Kräfte gebildet hatte, wandelte sich im Zusammenhang mit der Anpassung der katholischen Kirche an die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu einer politischen Stütze des junkerlich-großbourgeoisen Herrschaftssystems.
- ↑ Vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 war Alexandre-Etienne Millerand Handelsminister im reaktionären bürgerlichen Ministerium Waldeck-Rousseau. Dieser bis dahin beispiellose Schritt der Einordnung sozialdemokratischer Politiker in die bourgeoise Politik und den kapitalistischen Staat (»Millerandismus«) rief starke Auseinandersetzungen zwischen den marxistischen Kräften und den Opportunisten in der französischen und in der internationalen Arbeiterbewegung hervor.
- ↑ Gemeint ist der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der vom 9. bis 14. Oktober 1899 in Hannover tagte. Hauptpunkt der Tagesordnung war die Auseinandersetzung mit dem Revisionismus (»Die Angriffe auf die Grundanschauungen und die taktische Stellungnahme der Partei«).
- ↑ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Hamburg vom 3. bis 10. Oktober 1897, Berlin 1897, S. 214 ff. August Bebel hatte eine Resolution eingebracht, die die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen unter gewissen Bedingungen vorsah. Referent Ignaz Auer begründete diesen Standpunkt. Liebknecht als Korreferent sprach sich scharf gegen die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen aus.
- ↑ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Stuttgart vom 3. bis 8. Oktober 1898, Berlin 1898, S. 69f. und 161 f. Der Kommissionsantrag war durch Wilhelm Liebknecht kurz begründet worden.
- ↑ Eduard Bernstein, Die preußischen Landtagswahlen und die Sozialdemokratie, Ein Vorschlag zur Diskussion; in: Die Neue Zeit, XI. Jg. 1892/93, 2. Bd., S. 772 ff.
- ↑ Unter dem Titel »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850« veröffentlichte Friedrich Engels 1895, kurz vor seinem Tode, vier Artikel von Marx, die 1850 in der »Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue« erschienen waren. Vgl. MEW, Bd. 7, S. 9 ff. Engels' Einleitung zu dieser Publikation war dessen letzte größere Arbeit. Vgl. MEW, Bd. 22, S. 509 ff.
- ↑ Seinerzeit vielgebrauchtes Schlagwort für die Bestrebungen, die sozialen Gegensätze zwischen der Arbeiterklasse und den Ausbeuterklassen mit Hilfe staatlicher Reformmaßnahmen zu dämpfen. Die daran anknüpfenden opportunistischen Bestrebungen wies der Berliner Parteitag 1892 nach einem Referat von Liebknecht zurück. Er erklärte staatssozialistische Auffassungen als unvereinbar mit sozialdemokratischen Positionen.
- ↑ Gemeint ist die Politik des AD AV-Präsidenten J. B. von Schweitzer, die auf eine Annäherung der Arbeiterbewegung an den Bismarckstaat hinauslief.
- ↑ Im Juni 1878, unmittelbar vor Erlaß des Sozialistengesetzes, machte Marx in einer Erklärung das Angebot Lothar Buchers vom 8. Oktober 1865 publik, regelmäßig Artikel für den »Königlich Preußischen Staats-Anzeiger«, das offizielle Regierungsorgan, zu schreiben.
- ↑ Nach dreitägigen bewaffneten Kämpfen in Paris wurde am 25. Februar 1848 der Bürgerkönig Louis Philippe und mit ihm die Monarchie gestürzt und durch die siegreiche Februarrevolution die Republik erzwungen. Die Februarrevolution war der Beginn der Revolutionen von 1848/49 in Europa.
- ↑ Am 18. März 1848 siegte, nachdem unter dem Einfluß der Februarrevolution und der Revolution in Wien sich in mehreren deutschen Staaten die revolutionäre Krise zugespitzt hatte, die bürgerlich-demokratische Revolution in Berlin.
- ↑ 23. bis 26. Juni 1848 in Paris. Erste offene Klassenschlacht des Proletariats gegen die Bourgeoisie, in der die Pariser Arbeiter gegen die Einschnürung der bürgerlich-demokratischen Revolution und den Abbau ihrer Resultate kämpfen; provoziert durch die Schließung der Nationalwerkstätten (21. Juni 1848), die Zehntausende bitterster Not überantworteten. Der Aufstand wurde durch Militär und Mobilgarde unter Cavaignac brutal im Blut der Insurgenten erstickt.
- ↑ Die Ausführungen Liebknechts über die Diktatur des Proletariats widerspiegeln, daß es die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie nicht vermochte, sich die Lehren der Pariser Kommune von 1871 umfassend zu erarbeiten. Liebknecht blieb damit hinter seinen eigenen Auffassungen über die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats zurück, die er 1891 in Leitartikeln des »Vorwärts« und 1893 in der »Zukunftsstaatsdebatte« äußerte. Hier bekannte er sich ausdrücklich zur Diktatur des Proletariats, die er allerdings nahezu ausschließlich in ihrer repressiven Funktion begriff, und betonte, »daß, um die Verwirklichung der neuen Gesellschaft mit ihren neuen Einrichtungen zu ermöglichen, das Proletariat ... die Gegner unschädlich zu machen hat ... im Bürgerkrieg haben wir doch nicht Friedenszustände ... wir haben ja jetzt schon so etwas wie einen gesellschaftlichen Krieg. Und im Bürgerkrieg muß die Regierung Diktatur üben, ist sie zur Diktatur gezwungen und verpflichtet«. Vgl. Der sozial-demokratische »Zukunftsstaat«, Verhandlungen des Deutschen Reichstages am 31. Januar, 3., 4., 6. und 7. Februar 1893, Berlin 1893, S. 123.
- ↑ Zu 53 Jahren Zuchthaus, 8 Jahren Gefängnis und 70 Jahren Ehrverlust verurteilte der Dresdener Schwurgerichtshof am 3. Februar 1899 neun Bauarbeiter aus Dresden-Löbtau, die, von einem Richtfest kommend, an einer anderen Baustelle Arbeiten zu nichtgewerkschaftlichen Tarifen zu verhindern gesucht hatten. Obwohl sie nicht Sozialdemokraten waren, wurde das drakonische Urteil aus antisozialistischen Motiven gefällt. Ein Unterstützungsaufruf der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion erbrachte bis 18. März über 88 000 M für die betroffenen Familienangehörigen.
- ↑ Im Essener Meineidsprozeß (14.–17. August 1895) wurden sieben führende Mitglieder des Bergarbeiterverbandes zu insgesamt 19 Jahren Zuchthaus verurteilt. Mit diesem Terrorurteil, das sich hauptsächlich auf ein falsches Zeugnis eines Polizeibeamten stützte und 1911 annulliert werden mußte, sollte der Bergarbeiterverband insbesondere im Ruhrgebiet entscheidend getroffen und damit zugleich der im Entstehen begriffenen christlichen Bergarbeiterorganisation der Weg geebnet werden.
- ↑ Am 4. Februar 1890 unterzeichnete Wilhelm II. zwei Erlasse, in denen eine Arbeiterschutzgesetzgebung und die Einberufung einer internationalen Arbeiterschutzkonferenz der Regierungen angekündigt wurden. Die Erlasse waren auf die politischen und ökonomischen Massenkämpfe der Arbeiterklasse und das Fiasko des Sozialistengesetzes zurückzuführen. Unter dem Einfluß von Großindustriellen schränkte Wilhelm II. die Erlasse noch am gleichen Tag ein.
- ↑ 1889 gegründetes Organ der österreichischen Sozialdemokratie, erschien zunächst wöchentlich, ab 1894 zweimal wöchentlich und seit 1895 täglich. Ihr erster Redakteur war Victor Adler, zu ihren Mitarbeitern zählten u. a. Friedrich Engels, August Bebel, Karl Kautsky und Wilhelm Liebknecht.
- ↑ Anhänger einer an Francois Noël Babeuf anknüpfenden revolutionären utopisch-kommunistischen Lehre, die auf eine tatsächliche Gleichheit abzielte und vom utopischen Arbeiterkommunismus in den dreißiger und vierziger Jahren aufgegriffen wurde.
- ↑ Die »Umsturzvorlage« (Gesetzentwurf betr. Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse) wurde vom Reichskanzler Hohenlohe am 6. Dezember 1894 im Reichstag eingebracht. Mit den angedrohten Zuchthausstrafen für »Umsturzbestrebungen« und Gefängnisstrafen für öffentliche »Angriffe« auf Religion, Monarchie, Ehe, Familie oder Eigentum sollte sie der Polizeiwillkür Tür und Tor öffnen und die sozialistische Agitation lahmlegen. Die von der Sozialdemokratie entfachte breite Protestbewegung führte am 11. Mai 1895 zur Ablehnung der Umsturzvorlage im Reichstag.
- ↑ Eine Gesetzesvorlage Bismarcks vom 20. November 1884 hatte regelmäßige Schiffahrtsverbindungen mit Ostasien, Australien und Afrika durch staatlich subventionierte Privatunternehmen gefordert. Die opportunistische Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion war zur Bewilligung der auf jährlich etwa 5 Millionen Mark veranschlagten Subventionsmittel bereit. Die Minderheit (Bebel, Liebknecht u.a.) forderte die strikte Ablehnung nach dem Prinzip: Diesem System keinen Groschen, sie konnte sich auf die breite Parteimitgliedschaft stützen. Die Opportunisten suchten die Führung der Partei an sich zu reißen, wurden jedoch durch den marxistischen Führungskern um Bebel, der durch Friedrich Engels bestärkt wurde, und durch Massenproteste der Parteimitgliedschaft zurückgewiesen. Diese Auseinandersetzung, in der Liebknecht zunächst zu vermitteln suchte, dann aber an der Seite Bebels gegen die opportunistischen Bestrebungen energisch auftrat, endete mit einem Sieg der marxistischen Kräfte und ebnete den Weg zur weiteren Durchsetzung des Marxismus in der deutschen Arbeiterbewegung.
- ↑ Gemeint ist die im Gothaer Programm von 1875 enthaltene, von Lassalle übernommene Phrase, wonach gegenüber der Arbeiterklasse »alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse« seien. Diese für die Strategie und Taktik, namentlich für den demokratischen Kampf und die Bündnispolitik der Arbeiterbewegung unhaltbare These wurde durch das Erfurter Programm von 1891 eliminiert.
- ↑ Gemeint ist die gewaltsame Sprengung »gegnerischer« Versammlungen durch die Lassalleaner. Der Versuch, auf diese Weise den Eisenacher Kongreß 1869 zu verhindern, scheiterte.
- ↑ In Epernay trat am 13.8.1899 der Kongreß der französischen Arbeiterpartei (Guesdisten) zusammen. Die 174 Delegierten debattierten die Haltung zum Eintritt Millerands in die bürgerliche Regierung und die Möglichkeiten zur Einigung der sozialistischen Arbeiterbewegung Frankreichs.
- ↑ Erreichte in einem Wahlkreis kein Kandidat die absolute Mehrheit (mehr als 50 Prozent der Stimmen), war ein zweiter Wahlgang, die Stichwahl, erforderlich zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen.