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Lenins Briefe an Gorki | |
|---|---|
| Autor*in | Wladimir Lenin |
| Verfasst in | 1908 – 1913 |
| Verlag | Verlag für Literatur und Politik Wien VIII |
| Veröffentlicht | 1924 |
| Quelle | https://www.projekt-gutenberg.org/lenin/brigorki/brigorki.html |
Briefe
Brief 1
9. Jan. 08. Genf
Teurer A. M.!
Vor einigen Tagen bin ich mit meiner Frau hier angekommen. Wir haben uns unterwegs beide erkältet. Hier richten wir uns ein, so gut es geht, vorläufig nur vorübergehend, und daher in jeder Beziehung mangelhaft. Ihr Brief hat mich sehr erfreut; es wäre wirklich fein, nach Capri abzudampfen! Unbedingt werde ich mich gelegentlich frei machen, um Sie zu besuchen. Jetzt ist es freilich leider unmöglich. Wir sind mit dem Auftrage hierhergekommen, eine Zeitung zu gründen: den »Proletarier« aus Finnland hierher zu verlegen. Es ist noch nicht endgültig entschieden, ob wir Genf oder eine andere Stadt wählen werden. Auf jeden Fall heißt es sich beeilen, und die Neueinrichtung gibt eine ganze Menge Schererei. Wenn es doch möglich wäre, im Sommer oder Frühling Sie zu besuchen, sobald die Sache schon im Gang ist! Wann ist es bei Ihnen auf Capri besonders schön?
Wie geht's mit der Gesundheit? Wie fühlen Sie sich? Fällt Ihnen das Arbeiten leicht? Auf der Durchreise durch Berlin hörte ich, daß Sie mit Lunatsch[arsk]i eine Tournee durch Italien und speziell in Rom veranstaltet haben. Hat Ihnen Italien gefallen? Sehen Sie viel Russen?
Ich denke, es ist am besten, Sie zu besuchen, wenn Sie keine große Arbeit vorhaben, damit wir zusammen schlendern und plaudern können.
Haben Sie mein Buch [den ersten Band meiner gesammelten Artikel, 12 Jahre umfassend] erhalten? Ich hatte den Auftrag gegeben, es Ihnen aus Petersburg zuzusenden.
Herzlichsten Gruß an M. Feod-wna. Auf Wiedersehen!
Ihr N. LENIN.
Meine Adresse: Mr. WL. Oulianoff. 17, Rue des Deux Ponts, 17 [chez Küpfer], Genève.
Brief 2
15. Jan. 08.
Teure A. M. und M. F.!
Ich habe heute Ihren Expressbrief erhalten. Es ist doch verteufelt verlockend, zu Euch nach Capri zu kommen! Sie haben das so schön ausgemalt, daß ich mich, bei Gott, unbedingt auf den Weg machen werde und auch versuchen will, meine Frau mit herauszubekommen. Nur den Zeitpunkt weiß ich noch nicht: jetzt geht's nicht anders, ich muß mich dem »Proletarier« widmen, er muß auf festen Füßen stehen und die Arbeit um jeden Preis in Schwung gebracht werden. Das wird einen bis zwei Monate minimum in Anspruch nehmen. Aber es muß gemacht werden. Dann aber kommen wir im Frühling – den Capreser Weißwein trinken und uns Neapel ansehen und mit Ihnen plaudern. Ich habe gerade angefangen italienisch zu lernen, und habe mich denn auch wie ein Lernender gleich auf die von M. F-a geschriebene Adresse gestürzt: »expresso« anstatt »espresso«! Her mit dem Wörterbuch!
Nun, und was die Übersendung des »Proletariers« betrifft, das haben Sie sich selbst eingebrockt. Jetzt kommen Sie nicht so leichten Kaufs von uns los! M. F-na soll jetzt gleich einen Haufen Aufträge bekommen.
1. Unbedingt den Sekretär des Verbandes der Schiffahrtsangestellten und -Arbeiter [ein solcher Verband muß existieren!] der Schiffe, die zur Verbindung mit Rußland dienen, aufsuchen.
2. Von ihm in Erfahrung bringen, von wo und wohin Schiffe verkehren; wie oft. Er soll uns unbedingt einen allwöchentlichen Transport zustande bringen. Wieviel es kosten wird? Er soll uns einen zuverlässigen Menschen finden [gibt es zuverlässige Italiener?] Brauchen Sie eine Adresse in Rußland [sagen wir, in Odessa] zur Ablieferung der Zeitung, oder könnten sie zeitweilig unbedeutende Mengen bei irgendeinem italienischen Gastwirt in Odessa aufbewahren? Das ist für uns äußerst wichtig.
3. Sollte es M. F. unmöglich sein, das alles selbst zu bewerkstelligen, zu veranlassen, ausfindig zu machen, auseinanderzusetzen, nachzuprüfen usw., so soll sie uns mit diesem Sekretär unmittelbar in Verbindung setzen: wir werden uns dann brieflich mit ihm verständigen.
Mit dieser Angelegenheit muß man sich beeilen: wir hoffen in 2-3 Wochen den »Proletarier« hier herauszugeben, und er muß sofort abgeschickt werden.
Nun – auf Wiedersehen auf Capri! Daß Sie mir gesund bleiben, A. M.!
Ihr W. ULJANOW.
Brief 3
2. Febr. 08.
Teurer A. M.!
Ich schreibe Ihnen in zwei Angelegenheiten. Erstens, in der Sache Ssemaschko. Wenn Sie ihn nicht persönlich kennen, so verlohnt es sich nicht für Sie, sich in die folgende Angelegenheit einzumischen. Wenn Sie ihn kennen, so lohnt es sich.
L. Martow hat in der Berner s.-d. Zeitung eine »Deklaration« veröffentlicht, wo er sagt, d[aß] Ssemaschko nicht als Delegierter auf dem Stuttg[arter] Kongreß war, sondern einfach als Journalist. Kein Wort über seine Zugehörigkeit zu der s.-d. Partei. Das ist eine Gemeinheit seitens eines Menschewisten gegen einen Bolschewisten, der ins Gefängnis geraten ist. Ich habe meine offizielle Erklärung als Vertreter der SDAPR. bereits an das Internat[ionale] Büro geschickt. Wenn Sie Ssemaschko persönlich kennen oder in Nishnij gekannt haben, so schreiben Sie unbedingt auch an jene Zeitung, daß Martows Erklärung Sie empöre, daß Sie Ssemaschko persönlich als einen S.-D. kennten, daß Sie überzeugt seien von seinem Unbeteiligtsein an Sachen, die von der internationalen Polizei aufgebauscht werden! Nachstehend gebe ich Ihnen die Adresse der Zeitung und den vollständigen Text der Martowschen Erklärung, den M. F. Ihnen übersetzen wird. An die Redaktion schreiben Sie selbst russisch, und bitten Sie M. F., eine deutsche Übersetzung beizufügen.
Die zweite Angelegenheit. Wir sind jetzt alle drei hier zusammengekommen, die wir aus Rußland hergesandt sind, den » Proletarier« in Gang zu bringen. (Bogdanow, ich und ein »Praktiker« Alles in Ordnung, dieser Tage veröffentlichen wir eine Anzeige. Als Mitarbeiter nennen wir Sie. Schreiben Sie mir ein paar Zeilen, ob Sie uns etwas für die ersten Nummern geben könnten (etwa im Sinne der Betrachtungen über das Kleinbürgertum aus dem »Neuen Leben« oder Fragmente aus der Erzählung, d[ie] Sie eben schreiben, und dergleichen).
Ich drücke Ihnen kräftig die Hand. Herzlichen Gruß an M. F-na!
Ihr W. ULJANOW.
In der Zeitung »Berner Tagwacht« (Adresse der Redaktion: Kapellenstraße 6, Bern. Organ der S.-D.), in No. 24, vom 30. Jan. 08, ist folgendes veröffentlicht:
» Erklärung. – In einigen Zeitungen stand zu lesen, daß der unlängst in Genf verhaftete Dr. Simaschko ein Delegierter der Genfer Gruppe der russischen Sozialdemokratie in Stuttgart gewesen sei. Dem gegenüber erkläre ich, daß Dr. Simaschko nicht Mitglied der russischen Sektion auf dem genannten Kongresse war und kein Delegiertenmandat besessen hat. Er war dort nur als Journalist tätig.
L. Martow, Delegierter der russischen Sozialdemokratie auf dem Stuttgarter Kongreß.«
Das ist alles. Die Gemeinheit liegt hier darin, daß die Sozialdemokratie verblümt den Staub von ihren Schuhen schüttelt und sich von Ssemaschko lossagt!
Brief 4
13. Febr. 08.
Teurer Al. M-tsch!
Ich glaube, manches in den von Ihnen angeregten Fragen über unsere Meinungsverschiedenheiten – ist einfach ein Mißverständnis. Ganz gewiß habe ich nicht daran gedacht, »die Intelligenz zu verjagen«, wie es die einfältigen Synd[ikali]sten tun, oder ihre Notwendigkeit für die Arb[eiter]bewegung abzuleugnen. In allen diesen Fragen kann es zwischen uns keine Meinungsverschiedenheit geben; davon bin ich fest überzeugt, und da wir jetzt nicht zusammenkommen können, ist es nötig, gleich anzufangen, zusammen zu arbeiten. In der Arbeit kommen wir am leichtesten und am besten zu einer endgültigen Übereinstimmung.
Ihr Plan, für den »Prol[etarier]« (eine Anzeige ist Ihnen zugegangen) kleine Sachen schreiben zu wollen, freut mich ganz außerordentlich. Es versteht sich aber von selber, wenn Sie eine große Arbeit vorhaben, so lassen Sie sich nicht ablenken.
Wegen Trotzki wollte ich Ihnen voriges Mal antworten, vergaß es aber. Wir (d. h. die hiesige Redaktion des »Proletarier,« Al. Al. [Bogdanow], ich und »Inok« [Dubrowinski] – ein sehr lieber Kollege von den russischen B[olsch]e[wi]sten) – haben sofort beschlossen, ihn zur Mitarbeit am »Proletarier« aufzufordern. Wir haben ihm einen Brief geschrieben, ein Thema vorgemerkt und es ihm vorgeschlagen. Unterschrieben haben wir nach gemeinsamer Übereinkunft »die Redaktion des Proletarier,« weil wir die Sache auf kollegialeren Grund und Boden stellen wollten, (ich persönlich habe z. B. mit Trotzki einen großen Kampf gehabt, wir lagen uns fürchterlich in den Haaren 1903-1905, als er Men[schewi]st war). Ob nun Trotzki über diese Form beleidigt gewesen ist, weiß ich nicht, aber er hat einen Brief geschickt, den er nicht selbst geschrieben hat: »im Auftrage des Gen. Trotzki« wurde die Redaktion des » Prol[etarier]« benachrichtigt, daß er ablehne mitzuwirken, er sei zu beschäftigt.
Das ist Pose, meiner Ansicht nach. Auch auf dem Lond[oner] Parteitag benahm er sich als Poseur. Ich weiß nicht recht, ob er mit den B[olsch]e[wi]sten gehen wird …
Die M[enschewi]sten haben hier eine Voranzeige betreffs der Monatsschrift »Die Stimme des Sozial-Demokraten« mit der Unterschrift von Plechanow, Axelrod, Dan, Martow, Martynow veröffentlicht. Ich werde sie mir verschaffen und sie Ihnen schicken. Der Kampf kann sich zuspitzen. Und Trotzki will »über den kämpfenden Fraktionen« stehen …
Hinsichtlich des Materialismus, und zwar gerade als Weltanschauung, glaube ich, daß ich im wesentlichen nicht mit Ihnen einverstanden bin. Und zwar nicht in bezug auf die »mater[ialistische] Geschichtsauffassung« (unsere »Empirio« leugnen die nicht ab), sondern auf den philosophischen Materialismus. Daß die Angelsachsen und Deutschen dem »Materialismus« ihr Kleinbürgertum zu verdanken hätten und die Romanen – ihren Anarchismus, – das bestreite ich auf das entschiedenste. Der Materialismus als Philosophie ist bei ihnen allen unbeliebt. Die »Neue Zeit,« das allergediegenste und gebildetste Organ, interessiert sich nicht für Philosophie, war niemals eifriger Anhänger des philosoph[ischen] Ma[teriali]smus, und veröffentlichte in letzter Zeit die Empiriokritiker ohne jeden Vorbehalt. Daß man aus dem Materialismus, den Marx und Engels gelehrt haben, eine tote Kleinbürgerlichkeit folgern kann, das ist falsch, falsch! Alle kleinbürgerlichen Strömungen in der Sozial-Demokratie kämpfen vor allen Dingen gegen den philosophischen Materialismus an, neigen zu Kant, zum Neokantianertum, zur kritischen Philosophie. Nein, jene Philosophie, die Engels im »Anti-Dühring« begründete, läßt das Kleinbürgertum nicht einmal über ihre Schwelle. Plechanow schadet dieser Philosophie, indem er den Kampf hier mit dem Fraktionskampf verknüpft, – aber den jetzigen Plechanow darf ja kein russischer S[ozial-]D[emokrat] mit dem alten Plechanow verwechseln.
Al. Al. [Bogdanow] hat mich eben verlassen. Ich werde ihn wieder und immer wieder an den »Konfereur« erinnern. Wenn Sie darauf bestehen, – kann man eine von einigen Tagen veranstalten, und sogar bald.
Mit Händedruck.
LENIN.
Brief 5
25. Febr. 08.
Teurer A. M.!
Ihren Brief habe ich nicht sogleich beantwortet, weil betreffs Ihres Artikels oder in gewissem Zusammenhange damit, wie seltsam das auf den ersten Blick auch scheinen mag, zwischen Al. Al. [Bogdanow] und mir in der Redaktion eine ziemlich ernstliche Rauferei entstanden ist … Hm … Hm … ich habe nicht an der Stelle und nicht aus dem Anlasse gesprochen, wie Sie es meinten!
Das kam so.
Das Buch »Umrisse der Philosophie des M[arxi]smus« hat die seit langem bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den B[olsch]e[wi]sten in den Fragen der Philosophie doppelt verschärft. Ich halte mich nicht für kompetent genug in diesen Fragen, um mich zu beeilen, in der Presse hervorzutreten. Aber verfolgt habe ich unsere Partei-Diskussionen über die Philosophie immer sehr aufmerksam, – angefangen von dem Kampfe Plechanows gegen Michailowski & Co. zu Ende der 80er Jahre bis 1895, ferner seinen Kampf mit den Kantianern 1898 und in den folg. Jahren (damals habe ich ihn nicht nur verfolgt, sondern zum Teil auch daran teilgenommen, als Redaktionsmitglied der » Sarja« [»Morgenröte«], seit 1900); schließlich seinen Kampf mit den Empiriokritikern & Co.
Die philosophischen Werke Bogdanows habe ich seit seinem energetischen Buche von der »Hist[orischen] Ansicht über die Natur« verfolgt, welches Buch ich während meines Aufenthaltes in Sibirien studiert habe. Für Bogdanow war dieser Standpunkt bloß ein Übergang zu anderen philosophischen Ansichten. Seine persönliche Bekanntschaft machte ich im Jahre 1904, wobei wir einander sofort präsentierten: ich ihm – meine »Schritte«, er mir – sein damaliges philosoph[isches] Werk. Und sogleich (im Frühjahr oder Anfang Sommer 1904) schrieb ich ihm aus Genf nach Paris, daß er mich durch seine Schriften mit Nachdruck von seinen Ansichten abbringe und ebenso sehr von der Richtigkeit der Plechanowschen Ansichten überzeuge.
Mit Plechanow habe ich mich, als wir zusammen arbeiteten, nicht selten über Bogdanow unterhalten. Plechanow setzte mir das Irrtümliche in Bogdanows Ansichten auseinander, hielt jedoch diese Abweichung durchaus nicht für hoffnungslos groß. Ich kann mich noch ausgezeichnet daran erinnern, daß Plech[anow] und ich im Sommer 1903 im Namen der Redaktion der » Sarja« [»Morgenröte«] mit dem Delegierten der Redaktion der »Umrisse der realistischen Weltanschauung« in Genf ein Gespräch führten, wobei wir uns einverstanden erklärten, mitzuwirken; ich – in Agr[ar]fragen, Plechanow – auf dem Gebiete der Philosophie gegen Mach. Seinen Kampf gegen Mach stellte Plechanow als Bedingung seiner Mitarbeit auf, – welche Bedingung von dem Delegierten der Redaktion der »Umrisse« voll angenommen wurde. Plechanow betrachtete Bogdanow damals als einen Verbündeten im Kampf gegen den Revisionismus, aber als einen Verbündeten, der insofern irrte, als er mit Ostwald und ferner mit Mach ging.
Im Frühling und Herbste 1904 schlossen Bogdanow und ich uns endgültig einander als B[olsch]e[wi]sten an, und bildeten jenen stillschweigenden und die Philosophie als neutrales Gebiet stillschweigend ausschaltenden Block, der die ganze Zeit der Revolution hindurch dauerte und uns die Möglichkeit gab, in der Revolution gemeinsam jene Taktik der revolutionären Sozial-Demokratie [Bolschewismus] durchzuführen, die nach meiner tiefsten Überzeugung die einzig richtige war.
Mit Philosophie konnte man sich in der Hitze der Revolution nur wenig befassen. Im Gefängnis schrieb Bogdanow Anfang 1906 noch eine Arbeit, – ich glaube, den III. Bd. des Empiriomonismus. Im Sommer 1906 schenkte er ihn mir, und ich machte mich mit Aufmerksamkeit daran. Als ich ihn durchgelesen hatte, war ich fuchswild: es wurde mir noch klarer, daß er einen grundfalschen Weg geht, nicht den marxistischen. Ich schrieb ihm damals eine »Liebeserklärung,« ein Brieflein über Philosophie im Umfange von drei Heften. Dort setzte ich ihm auseinander, daß ich natürlich nur ein simpler Marxist in der Philosophie sei, daß mich aber gerade seine klaren, populären, vortrefflich geschriebenen Arbeiten endgültig von seinem Unrechte in den wesentlichsten Punkten und von Plechanows Rechte überzeugten. Diese Heftchen zeigte ich einigen Freunden (Lunatsch[arski] u. a.) und ging mit dem Gedanken um, sie unter dem Titel zu veröffentlichen: »Betrachtungen eines einfachen Marxisten über die Philosophie,« kam aber nicht dazu. Jetzt tut es mir leid, daß ich sie damals nicht sogleich drucken ließ. Ich habe dieser Tage nach Petersburg geschrieben, mit der Bitte, diese Heftchen aufzufinden und sie mir zu schicken.
Jetzt sind die »Umrisse der Ph[ilosophie] des M[arxi]smus« erschienen. Ich habe alle Artikel durchgelesen, außer dem Suworowschen (ich bin gerade dabei), und bei jedem Artikel war ich einfach toll vor Empörung. Nein, das ist kein Marxismus! Und unsere Empiriokritiker, Empiriomonisten und Empiriosymboliker geraten in einen Sumpf. Dem Leser vorzumachen, daß der »Glaube« an die Realität der Außenwelt »Mystik« sei (Basarow), auf die scheußlichste Weise Materialismus und Kantianertum zu verwechseln (Basarow und Bogdanow), die Wesensverschiedenheit des Agnostizismus (Empiriokritizismus) und des Idealismus (Empiriomonismus) zu predigen, – den Arbeitern einen »religiösen Atheismus« und eine »Anbetung« der höchsten menschlichen Potenzialitäten zu lehren (Lunatscharski), – die Engelssche Lehre von der Dialektik als Mystik zu erklären (Beermann), – aus der stinkenden Quelle irgendwelcher französischer »Positivisten« – Agnostiker oder Metaphysiker zu schöpfen, – hol sie der Teufel – mitsamt der »symbolischen Theorie der Erkenntnis« (Juschkewitsch)! Nein, das ist zu stark! Natürlich wir sind simple Marxisten, in der Philosophie unbelesen, aber warum muß man uns so beleidigen und so etwas als Ph[iloso]phie des M[arxi]smus auftischen! Ich lasse mich eher vierteilen, als daß ich mich damit einverstanden erkläre, an einem Organ oder an einem Kollegium mich zu beteiligen, das solche Sachen predigt.
Ich fühle mich wieder zu den »Betrachtungen eines einfachen Marxisten über die Ph[iloso]phie« hingezogen, und ich habe angefangen, daran zu arbeiten; Al[exander] Al[exandrowi]tsch [Bogdanow] legte ich meine Eindrücke – während meiner Lektüre an den »Umrissen« – natürlich geradeheraus und grob dar.
Was Ihr Artikel mit alledem zu tun hat? – werden Sie mich fragen. Das hat er damit zu tun, daß gerade zu solcher Zeit, da diese Meinungsverschiedenheiten zwischen den B[olsch]e[wi]sten sich besonders zuzuspitzen drohen, Sie ganz offensichtlich anfangen, in Ihrer Arbeit für den »Proletarier« Ansichten der gleichen Richtung zu äußern. Ich weiß natürlich nicht, wie und was bei Ihnen im großen ganzen dabei herausgekommen wäre. Außerdem bin ich der Ansicht, daß ein Künstler aus jeder Philosophie viel Nützliches für sich schöpfen kann. Endlich bin ich vollkommen und unbedingt damit einverstanden, daß Sie in Fragen künstlerischen Schaffens das unfehlbarste Urteil besitzen und daß, wenn Sie derartige Anschauungen sowohl aus Ihrer künstlerischen Erfahrung als auch aus der Philosophie schöpfen, auch wenn diese Philosophie eine idealistische ist, Sie zu Schlußfolgerungen gelangen können, die der Arbeiterpartei ungeheuren Nutzen bringen können. Das ist alles richtig. Und trotzdem muß der »Proletarier« gegenüber unseren sämtlichen Meinungsverschiedenheiten in der Philosophie absolut neutral bleiben und den Lesern auch nicht den geringsten Anlaß geben, die B[olsch]e[wi]sten als Richtung, als taktische Linie des revolutionären Flügels der russischen S.-D., mit dem Empiriokritizismus oder mit dem Empiriomonismus in Verbindung zu bringen.
Als ich Ihren Artikel gelesen und noch einmal gelesen hatte und darauf A. A. [Bogdanow] sagte, ich sei gegen seine Veröffentlichung, wurde dieser finsterer als eine Gewitterwolke. Eine Atmosphäre der Spaltung hängt förmlich in der Luft. Gestern versammelten wir unser Redaktions-Dreigespann zu einer speziellen Sitzung, um diese Frage zu besprechen. Da kam uns plötzlich ein dummer Ausfall der Zeitschrift »Neue Zeit« zu Hilfe. In No. 20 hat ein unbekannter Übersetzer einen Artikel von Bogdanow über Mach veröffentlicht, wobei er in seinem Vorwort die blödsinnige Äußerung machte, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen Plechanow und Bogdanow die Tendenz hätten, unter den russischen S.-D. zu einer fraktionellen Meinungsverschiedenheit zwischen B[olsch]e[wi]sten und Me[nschewi]sten zu werden! Durch diese Worte hat der dumme Verfasser oder Verfasserin dieses Vorworts uns zusammengeschlossen. Wir kamen sofort darin überein, daß eine Erklärung unserer Neutralität unbedingt jetzt gleich in der nächsten Nummer des »Proletarier« notwendig sei. Dies entsprach auf das genaueste meiner Stimmung nach dem Erscheinen der »Umrisse.« Die Erklärung wurde verfaßt, einstimmig bekräftigt, morgen erscheint sie in No. 21 des » Prol[etarier]« und wird Ihnen zugesandt.
Was nun Ihren Artikel betrifft, so haben wir beschlossen, die Frage hierüber zu verschieben, Ihnen in drei Briefen – eines jeden der drei Redakteure des » Proletarier« die ganze Sachlage darzulegen und meine und Bogdanows Reise zu Ihnen zu beschleunigen.
Sie haben also einen Brief sowohl von Al. Al. [Bogdanow] als auch von dem dritten Redakteur [Dubrowinski], von dem ich Ihnen einmal früher schrieb, zu erwarten.
Meine Meinung glaube ich Ihnen ganz offen sagen zu müssen. Eine gewisse Rauferei unter den B[olsch]e[wi]sten in der Frage der Philosophie halte ich jetzt für ganz unvermeidlich. Aber sich deswegen zu spalten wäre, meiner Meinung nach, dumm. Wir haben einen Block zur Durchführung einer bestimmten Taktik in der Arbeiterpartei gebildet. Diese Taktik führten und führen wir bisher ohne Meinungsverschiedenheiten durch, (die einzige Meinungsverschiedenheit gab es gelegentlich des Boykotts der 3. Duma), aber erstens hat sie sich bei uns nie auch nur bis zu einer Andeutung auf eine Spaltung verschärft; zweitens entsprach sie nicht der Meinungsverschiedenheit der Materialisten und Machisten, denn der Machist Basarow z. B. war, wie ich, gegen den Boykott und schrieb darüber (ein großes Feuilleton im »Proletarier«) Die Sache der Durchführung der Taktik der revolutionären Sozialdemokratie in der Arbeiterpartei wegen Streitigkeiten darüber, ob Materialismus oder Machismus, zu behindern, wäre meiner Ansicht nach eine unverzeihliche Dummheit. Wir müssen uns wegen der Philosophie so in den Haaren liegen, daß der »Proletarier« und die B[olsch]e[wi]sten, als Fraktion der Partei, davon nicht berührt werden. Und das ist durchaus möglich.
Und Sie müssen meiner Meinung nach dabei mithelfen. Helfen können Sie aber dadurch, daß Sie im » Prol[etarier]« über neutrale (d. h. durch nichts mit der Philosophie verknüpfte) Fragen der Literaturkritik, der Publizistik und des künstlerischen Schaffens usw. schreiben. Ihren Artikel hingegen – wenn Sie eine Spaltung verhindern und neuen Zank lokalisieren wollen – sollten Sie umarbeiten: alles, was auch nur indirekt mit der Bogdanowschen Philosophie verbunden ist, müßten Sie anderswohin verlegen. Sie haben ja gottlob Stellen genug, wo Sie schreiben können, abgesehen vom » Prol[etarier].« Alles, was mit Bogdanows Philosophie nicht zusammenhängt – und der größte Teil Ihres Artikels hängt nicht mit ihr zusammen – müßten Sie in einer Reihe Artikel für den » Proletarier« darlegen. Eine andere Haltung Ihrerseits, d. h. eine Weigerung, den Artikel umzuarbeiten, oder eine Verweigerung der Mitarbeit am »Proletarier,« wird meiner Meinung nach unvermeidlich zu einer Verschärfung des Konfliktes unter den B[olsch]e[wi]sten führen, zu einer Erschwerung der Lokalisierung eines neuen Zankes, zu einer Schwächung der dringenden, praktisch und politisch notwendigen Sache der revolutionären S.-D. in Rußland.
Dies ist meine Meinung. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich denke, und erwarte jetzt Ihre Antwort.
Heute wollten wir zu Ihnen reisen, aber es erwies sich, daß wir es um mindestens eine Woche, vielleicht auch um zwei, drei Wochen aufschieben müssen.
Ich drücke Ihnen kräftig die Hand.
Ihr W. LENIN.
Brief 6
[März 1908].
Teurer A. M.!
Ziemlich lange habe ich Ihnen nicht mehr geschrieben. Unsere Reise verzögert sich immer wieder: jetzt eben ist das Haupthindernis – das Fehlen jeglicher Nachrichten aus Brüssel. Mir wurde von meinen dortigen Freunden geschrieben, daß man mich dort zur Sitzung des Büros (des Intern[ationalen] Sozial[istischen]) erwarte. Ich fragte den Sekretär an, wann ich denn kommen solle (da ich nach Italien müsse). Eine Antwort habe ich noch nicht erhalten.
Und Brüssel darf man nicht versäumen.
Haben Sie den » Prol[etarier]« erhalten? Was haben Sie denn für Absichten in bezug auf ihn? Und An. Wass. [Lunatscharski]? Seine Weigerung, über die Kommune zu schreiben, habe ich mit Bedauern erhalten. Unser dritter Redakteur ist Innokentij [Dubrowinski]. Schreiben Sie mir, ob Sie und An. Wass. irgendwelche Pläne für den Proletarier haben.
Mit Händedruck.
Ihr LEN[IN].
Brief 7
16. März 08.
Teurer A. M.!
Wie ärgerlich, daß aus meiner Reise zu Ihnen nichts wird. Aus Brüssel habe ich Antwort erhalten, und hier stände nichts im Wege. Aber ich habe kein Geld, keine Zeit, ich kann die Zeitung nicht im Stich lassen.
Danach zu urteilen, daß Sie eine Ziege haben und daß dies Tatsache ist – ist Ihre Stimmung gut und Ihre Geistesverfassung die richtige und Ihr Leben normal. Bei uns hingegen klappt es nicht so recht. Mit A. Al. (Bogdanow) bin ich gewissermaßen verzankt. Die Zeitung vernachlässige ich wegen meiner philosophischen Passion: heute lese ich einen Empiriokritiker und schimpfe wie ein Rohrspatz; morgen – einen anderen – und fluche wie ein Fuhrmann. Und Innokentij [Dubrowinski] schilt mich, und mit Recht, wegen meiner Nachlässigkeit dem »Proletarier« gegenüber. Es klappt nicht recht.
Na, anders kann es nicht sein. Kommt Zeit – kommt Rat.
Es wäre herrlich, wenn es Ihnen möglich wäre, für den »Prol[etarier]« zu schreiben ohne Abbruch für die großen Arbeiten.
Ich drücke Ihnen die Hand – und herzlichen Gruß an A[natol] Wass[iljewitsch] und an M[aria] Fe[odorowna].
Ihr LENIN.
Brief 8
24. März 08.
An Al. M-tsch persönlich.
Teurer A. M.!
Ich habe Ihren Brief bezüglich meiner Rauferei mit den Machisten bekommen. Ich verstehe und achte vollkommen Ihr Gefühl und muß sagen, daß ich von meinen Petersburger Freunden etwas Ähnliches erhalte, aber ich bin tiefinnerst überzeugt, daß Sie sich irren.
Sie müssen und werden es natürlich verstehen, daß, wenn ein Parteimensch einmal zu der Überzeugung der doppelt- und dreifachen Irrtümlichkeit und der Schädlichkeit einer bestimmten Lehre kommt, es seine Pflicht ist, gegen dieselbe vorzugehen. Ich hätte kein Geschrei erhoben, wenn ich mich nicht unbedingt davon überzeugt hätte (und ich überzeuge mich mit jedem Tage immer mehr davon, je näher ich die Urquellen der Weisheit von Bas[arow], Bogd[anow] und Co. kennen lerne), daß ihr Buch – durch und durch unsinnig, schädlich, philiströs, pfäffisch von A bis Z ist, von den Zweigen bis zur Wurzel, bis zu Mach und Avenarius. Plechanow ist im wesentlichen durchaus im Recht ihnen gegenüber, nur versteht er es nicht, oder er will nicht, oder er ist zu träge, das konkret, ausführlich, einfach zu sagen, ohne das Publikum durch philosophische Feinheiten einzuschüchtern. Und ich werde das in meiner Weise sagen, koste es was es wolle.
Von was für einer »Versöhnung« kann denn hier die Rede sein, lieber A. M.? Ich bitte Sie, es ist lächerlich, davon auch nur anzufangen. Der Kampf ist absolut unvermeidlich. Und die Parteileute müssen ihre Bemühungen nicht auf ein Zusammenkitten, ein Aufschieben oder ein Ausweichen richten, sondern darauf, daß die praktisch notwendige Parteiarbeit nicht darunter leidet. Dafür müssen Sie sorgen, und neun Zehntel der russischen B[olsch]e[wi]sten werden Ihnen hierin helfen und Ihnen großen Dank dafür sagen.
Wie das zu machen ist? Durch »Neutralität«? Nein. Neutralität kann und wird es in einer solchen Frage nicht geben. Wenn man davon reden kann, dann allenfalls in bedingtem Sinn: man muß diesen ganzen Zwist von der Fraktion scheiden. Bisher haben Sie »abseits« geschrieben, außerhalb der fraktionellen Veröffentlichungen; schreiben Sie auch ferner so. Nur so wird die Fraktion nicht engagiert, nicht hineinverwickelt, nicht gezwungen, morgen oder übermorgen zu entscheiden, ob zustimmen, d. h. den Zwist in einen chronischen, langwierigen, aussichtslosen zu verwandeln.
Eben deswegen bin ich gegen die Aufnahme irgendwelcher Philosophie in die Zeitschrift. Ich weiß, man schilt mich dafür: er will anderen den Mund verbieten, bevor er noch seinen eigenen aufgetan hat! Aber denken Sie nur einmal kaltblütig darüber nach.
Die Zeitschrift mit Philosophie: No. 1 – drei Artikel von Bas[arow], Bogd[anow], Lunatsch[arski] gegen Plech[ano]w. Ein Artikel von mir, wo es heißt, daß die »Umr[isse] der Ph[ilosophie] des M[arxis]mus« – Berdjaewsche Philosophie und Pfaffengewäsch sind.
No. 2 – dreimal drei Artikel von Bogd[anow], Bas[arow], Lunatsch[arski] gegen Plech[anow] und Lenin in gereiztem Tone. Ein Artikel von mir, wo andererseits bewiesen wird, d[aß] die »Umr[isse] der Ph[ilosophie] des M[arxis]mus« – Pfaffengewäsch sind.
Nr. 3 – Heulen und Fluchen!
Ich kann sechs oder zwölf Artikel gegen die »Umr[isse] der Ph[ilosophie] des M[arxis]mus« schreiben, je einen Artikel gegen jeden Verfasser und gegen jede Seite ihrer Anschauungen. Kann das so weitergehen? Wie lange? Macht dies eine Spaltung nicht unvermeidlich infolge endloser Verschärfung und Erbitterung? Verpflichtet dies die Fraktion nicht zu einer Entscheidung: fasse doch einen Beschluß, werde dir doch klar darüber, mache doch der »Diskussion« durch ein Votum endlich ein Ende …
Denken Sie gründlich darüber nach, wenn Sie eine Spaltung befürchten. Werden die Praktiker es übernehmen, Bücher mit einem solchen »Kampfe« zu verbreiten? Ist der andere Weg nicht besser: schreibt, wie bisher, abseits, außerhalb der Fraktionspresse. Zankt euch abseits, die Fraktion kann vorläufig warten. Wenn eine Möglichkeit besteht, die unvermeidliche Erbitterung abzuschwächen, so ist es nur diese, meiner Ansicht nach.
Sie schreiben: die Me[nschewi]sten werden in diesem Zanke gewinnen. Sie irren sich, Sie irren sich gründlich, A. M.! Sie werden gewinnen, wenn die Beksche Fraktion sich nicht von der Philosophie dreier B[olsch]e[wi]sten absondert. Dann werden sie endgültig gewinnen. Wenn hingegen der philosophische Zwist außerhalb der Fraktion seinen Verlauf nehmen wird, dann werden die M[enschewi]sten sich endgültig auf die Politik beschränkt sehen, und das ist ihr Tod.
Ich sage: den Zwist von der Fraktion scheiden. Natürlich ist es ein bißchen schwierig, ein bißchen schmerzhaft, diese Scheidung an lebendigen Menschen vorzunehmen. Dazu gehört Zeit; gehören sorgsame Genossen. Hier können die Praktiker helfen, hier müssen Sie helfen, – hier ist »Psychologie,« hier ist Ihr Arbeitsfeld. Ich glaube, Sie könnten hier viel helfen – wenn Sie natürlich nach dem Lesen meines Buches gegen die »Umrisse« nicht ebenso wütend auf mich werden, wie ich – gegen sie. Überlegen Sie sich das mit der Zeitschrift ordentlich und antworten Sie mir bald. Ich bin ein wenig im Zweifel, ob es sich lohnt, daß wir jetzt zusammen zu Ihnen kommen? Was nützt es, die Nerven überflüssigerweise zu martern? »Langer Abschied« … und ohne Zank geht's nun doch einmal nicht. Wäre es nicht besser, die Sache mit der Zeitschrift ohne lange Unterhandlungen, ohne feierliche und zu nichts führende Konferenzen möglichst einfach zu entscheiden? Diese Fragen stelle ich Ihnen nur, um mich mit Ihnen zu beraten.
Herzlichen Gruß an M. F. Nach Capri komme ich ganz bestimmt und will mich bemühen, auch meine Frau mitzubringen, nur möchte ich es gern unabhängig von dem philos[ophischen] Zank tun.
Ich drücke Ihnen kräftig die Hand.
Ihr LENIN.
P. – Ich füge eine wichtige Mitteilung betreffs eines Spitzels bei Ihnen bei.
Brief 9
1. April 08.
Warum haben wir keine Nachrichten von Ihnen, teurer A. M.? Längst schon, schrieben Sie, hätten Sie Ihre große Arbeit beendet, und wollten uns im »Proletarier« helfen. Wann denn? Wie wäre es, wenn Sie uns ein Feuilletönchen schickten über Tolstoi oder dergl.? Schreiben Sie doch, ob Sie die Absicht haben.
Al. Al. [Bogdanow] ist zu Ihnen abgereist. Ich kann weder die Zeitung im Stiche lassen, noch mich von der Arbeit losreißen. Nun, das ist nur ein Aufschub, ich komme doch.
Wie finden Sie den » Proletarier?« Verwahrlost ist er. Ich habe noch nie meine Zeitung so vernachlässigt: ganze Tage lang lese ich die verdammten Machisten, und meine Zeit[ungs]artikel schreibe ich unglaublich flüchtig.
Nun, ich drücke Ihnen die Hand.
Ihr LE[NIN]
An M. F-na tausend Grüße! Ich komme auf dem Fahrrade zu ihr.
Tragen Sie auch Anat[ol] Wass[iljewitsch] auf, für den » Prol[etarier]« zu schreiben! Lassen Sie mich ein wenig in philosophischer Tonart schimpfen, helfen Sie so lange dem »Proletarier!«
Brief 10
16. April 08.
Teurer Al. M.!
Ich erhielt heute Ihren Brief und beeile mich, zu antworten. Eine Reise ist für mich unnütz und schädlich: mit Leuten sprechen, die darauf aus sind, eine Vereinigung des wissensch[aftlichen] Sozialismus mit der Religion zu predigen, kann und will ich nicht. Die Zeit der Heftchen ist vorüber. Streiten läßt sich nicht, nutzlos an den Nerven zu zerren ist dumm. Man muß die Ph[iloso]phie von den Partei-(Fraktions-)Angelegenheiten scheiden: hierzu verpflichtet auch der Beschluß der B. Z. Ich habe schon die denkbar formellste Kriegserklärung zum Druck eingesandt. Diplomatie ist hier nicht mehr angebracht, – ich spreche natürlich nicht im schlechten Sinne von der Diplomatie, sondern im guten.
Eine »gute« Diplomatie Ihrerseits, lieber A. M. (wenn Sie sich nicht auch zu Gott bekehrt haben), müßte in einer Scheidung unserer gemeinsamen (d. h. mich eingeschlossen) Angelegenheiten von der Ph[iloso]phie bestehen.
Aus einem Gespräch über andere Angelegenheiten außer der Philosophie würde jetzt nichts werden: es würde unnatürlich herauskommen. Übrigens, wenn diese anderen Angelegenheiten wirklich keine philosophischen sind, sondern wenn der »Prol[etarier]« zum Beispiel gerade jetzt und gerade bei Ihnen ein Gespräch erfordert, so könnte ich kommen (ich weiß nicht, ob ich das Geld dazu aufbringen werde: es sind da eben jetzt Schwierigkeiten), doch ich wiederhole: nur unter der Bedingung, daß ich über Philosophie und Religion nicht spreche.
Zu Ihnen will ich ganz bestimmt kommen, sobald ich freier bin und meine Arbeit beendet habe, um zu plaudern.
Ich drücke Ihre Hand kräftig.
Ihr L[ENIN].
An M. F-na einen herzlichen Gruß: sie ist wohl nicht für Gott, was?
Brief 11
19. April 08.
Teurer A. M.!
Ich habe Ihr und M. F.'s Telegramm erhalten und schicke Ihnen heute oder morgen früh meine Absage. Ich wiederhole es nochmals, – es ist keinesfalls zulässig, Literatenstreitigkeiten über Philosophie mit der Sache der Partei (d. h. der Fraktion) durcheinanderzumengen. Ich habe dies schon An[atol] Wass[iljewitsch] [Lunatscharski] geschrieben, und um allen Mißdeutungen oder Trugschlüssen aus meiner Absage, zu Ihnen zu kommen, vorzubeugen, wiederhole ich es für alle Genossen. Wir müssen unsere Fraktionssache nach wie vor gemeinschaftlich führen; die Politik, die wir während der Revolutionszeit geführt und durchgeführt haben, hat niemand von uns gereut. Also ist es unsere Pflicht, sie gegen die Partei zu verteidigen und durchzuführen. Das können wir nur alle zusammen machen und müssen es im » Prol[etarier]« und in der ganzen Parteiarbeit tun.
Wenn hierbei A den B oder B den A wegen seiner Philosophie ausschimpft, so müssen wir das gesondert, das will besagen – ohne Nachteil für die Sache, tun.
Ich bitte Sie und die Genossen inständig, meine Weigerung, hinzukommen, nicht schlecht auszulegen. Ich bitte sehr um Entschuldigung, aber nach der ganzen Sachlage und dem Stande der Redaktion kann ich nicht reisen.
Ich sende allen einen kräftigen Händedruck,
Ihr LENIN.
Von An[atol] Wass[iljewitsch] [Lunatscharski] erwarten wir baldmöglichst den versprochenen Artikel über den römischen Streik.
Von allen Literaten erwarten wir Hilfe für den » Proletarier«: wir tragen alle die Verantwortung vor den Russen, die unzufrieden mit ihm sind.
Al. Al. [Bogdanow] soll sich ordentlich um Geld bemühen. In Rußland heult man vor Geldmangel.
Brief 12
11. April 10.
An Al. Max-tsch.
Teurer A. M.!
Erst heute ist es mir gelungen, Ihren und M. F.'s Brief zu erhalten, der mir durch M. S. Botkina vermittelt wurde. Um es nicht zu vergessen: Sie können mir sowohl an meine persönliche Adresse schreiben (Oulianoff, 4, rue Marie Rose, 4. Paris XIV), als auch an die Parteiadresse – dann ist es sicherer, in 2 Briefumschlägen, und auf dem inneren: persönlich für Lenin (110, Avenue d'Orléans. Mr. Kotliarenko. Paris XIV).
Die gewünschte Literatur will ich versuchen, Ihnen gleich morgen zuzusenden.
Ob ich Sie heruntergemacht habe und wo? Wahrscheinlich, im »Diskus[sions-]Blatt« Nr. 1 (herausgegeben vom Z[entral] O[rgan]). Ich schicke es Ihnen. Wenn diejenigen, die Ihnen das sagten, etwas anderes im Sinne hatten, so kann ich mich jetzt nicht mehr daran erinnern. Sonst habe ich in dieser Zeit nichts geschrieben.
Jetzt bezüglich der Vereinigung. »Ist es Tatsache oder eine Anekdote?« fragen Sie. Da muß ich weit ausholen, denn in dieser Tatsache liegt ein gewisses »anekdotenhaftes« (mehr kleinliches) Etwas, und auch etwas Ernstes, nach meiner Überzeugung.
Zu einer Parteivereinigung führten und führen ernstliche, eingreifende Faktoren: die Notwendigkeit einer Säuberung der S[ozial]-D[emokra]tie von der Liquidatorenwirtschaft und dem Otsowismus, auf ideellem Gebiete; die fürchterlich schwierige Lage der Partei und der ganzen s[ozial]-d[emokratischen] Arbeit und das Heranreifen eines neuen Typus des S[ozial]-D[emokraten] unter den Arbeitern, auf praktischem Gebiet.
Im Plenum des Z[entral-]K[omitees] (»dem langen Plenum« – drei Wochen lang dauerte die Quälerei, alle Nerven gingen kaputt, Tod und Teufel!) gesellten sich zu diesen ernstlichen und tief eingreifenden Faktoren, die längst nicht allen zum Bewußtsein kamen, kleine und kleinliche hinzu, es kam eine Stimmung der »Versöhnlichkeit überhaupt« (ohne klaren Gedanken, mit wem, wozu, wie), es kam der Haß gegen die b[olschewistische] Zentrale wegen ihres erbarmungslosen ideellen Kampfes hinzu, es kam der Zwist und bei den Me[nschewi]sten der Wunsch, Krakehl zu machen, hinzu – und aus alledem kam ein Kind mit Eiterbeulen heraus.
Und so quälen wir uns denn jetzt ab. Entweder werden wir – bestenfalls – die Eiterbeulen aufschneiden und den Eiter herauslassen, das Kind heilen und aufziehen.
Oder – schlimmstenfalls – das Kind stirbt. Dann werden wir eine Zeitl[an]g kinderlos bleiben (das will heißen: wir werden die b[olschewistische] Fraktion wiederherstellen), und dann werden wir ein gesünderes Kind zur Welt bringen.
Von den Me[nschewi]sten streben etliche einer ernstlichen Vereinigung zu (nicht ganz bewußt zwar, langsam, schwankend, aber sie streben doch und, was die Hauptsache ist, sie können nicht anders als vorwärts streben) – die Plechanowianer, die Parteiler, die Arbeiter. Die Stimmler hingegen machen Ausflüchte, bringen Verwirrung, schaden. Es bildet sich bei ihnen ein starkes, legales, opportunistisches Zentrum in Rußland (Potressow & Co. in der Literatur: s. »Unser Morgenrot,« Nr. 2 – welcher …, dieser Potressow! – und Michail, Roman, Jurij – die 16 Verfasser des offenen Briefes in Nr. 19/20 der »Stimme« – in der praktischen Organisationsarbeit). Das Plenum des Z[entral-]K[omitees] hatte den Wunsch, alle zu vereinigen. Jetzt werden die Stimmler abtrünnig. Diese Eiterbeule muß entfernt werden. Ohne Zank, Skandal, Plackerei, Schmutz und »Bodensatz« ist das nicht zu machen.
Wir sitzen jetzt mitten in dem dicksten Quark. Entweder wird das russische Z[entral-]K[omitee] den Stimmlern die Flügel stutzen, indem es sie aus den wichtigen Behörden (so z. B. aus dem Z[entral-]Organ usw.) entfernt, oder wir werden die Fraktion wiederherstellen müssen.
Plechanow hat in Nr. 11 des »Tagebuches« eine Einschätzung des Plenums gegeben, die deutlich bewies, daß bei ihm jetzt der aufrichtige und ernste Wunsch nach einer Bekämpfung des Opportunismus den kleinen und kleinlichen Wunsch überwiegt, die Stimmler-Opportunisten gegen die B[olsch]e[wi]sten auszunutzen. Hier geht auch ein verwickelter Wirrwarr vor sich, aber das legalistische, liquidatorische Zentrum der Me[nschewi]sten, das sich in Rußland gebildet hat, führt unvermeidlich dazu, daß ernsthafte S[ozial-]D[emokraten] sich von ihnen abgestoßen fühlen.
Jetzt [ – ] bei den »Vorwärtslern«. Eine Zeit lang schien es mir, daß es auch innerhalb dieser Gruppe zwei Richtungen gäbe: zur Partei, zum Marxismus, zur Lossage von Machismus und Otsowismus – und das Gegenteil. Der ersteren würde eine Parteivereinigung den Weg zu einem bequemen, nicht beschämenden Entgegenkommen zwecks Widergutmachung der offenkundigen Ungereimtheiten des Otsowismus usw. ebnen. Aber die zweite Strömung gewinnt bei ihnen augenscheinlich die Oberhand. Alexinski (ein richtiges Wickelkind in der Politik, jedoch ein bösartiges und eine Dummheit nach der anderen begehendes Wickelkind) ist mit einem Krach sowohl aus der Redaktion des »Diskus[sions-]Blattes« als auch aus der Parteischulkommission ausgetreten. Wahrscheinlich werden sie doch ihre Schule begründen, wieder eine Fraktionsschule, wieder abseits. Wenn es so kommen sollte – so wollen wir wiederum Streit führen, wollen ihnen die Arbeiter abspenstig machen.
Und so stellt es sich denn heraus, daß das »Anekdotenhafte« im Zusammenschluß jetzt eben vorwiegt, sich in den Vordergrund drängt, zu hämischem Kichern und dgl. Anlaß gibt. Man sagt, der S[ozial-]R[evolutionär] Tschernow habe anläßlich des Zusammenschlusses der S[ozial-]D[emokraten] sogar ein Vaudeville unter dem Titel »Der Sturm im Wasserglase« geschrieben, und dies Vaudeville gelange dieser Tage in einer (sensationslustigen) Gruppe der Emigrantenkolonie zur Aufführung.
Mitten drin in diesem »Anekdotenhaften,« in diesem Gezänk und Skandal, dieser Plackerei und diesem »Bodensatz« zu sitzen, ist ekelhaft; das alles mit anzusehen – ist auch ekelhaft. Aber es ist unverzeihlich, sich seiner Stimmung hinzugeben. Das Emigrantentum ist jetzt hundertmal drückender als vor der Revolution. Emigrantentum und Zänkerei sind unzertrennlich.
Aber die Zänkerei wird wegfallen; die Zänkerei wird zu neun Zehnteln im Ausland bleiben; die Zänkerei ist ein Akzessorium. Die Entwicklung der Partei dagegen, die Entwicklung der s[ozial-]d[emokratischen] Bewegung schreitet und schreitet vorwärts durch alle verteufelten Schwierigkeiten des jetzigen Zustandes. Die Säuberung der s[ozial-]d[emokratischen] Partei von ihren gefährlichen »Abweichungen,« vom Liquidatorentum und Otsowismus schreitet unaufhaltsam vorwärts; im Rahmen des Zusammenschlusses ist sie bedeutend weiter vorgeschritten als früher. Mit dem Otsowismus sind wir, im Grunde genommen, bereits im Plenum ideell fertig gewesen. Mit dem Liquidatorentum haben wir damals keinen Schluß gemacht, weil es den Me[nschewi]sten gelungen war, eine Zeitlang die Schlange zu verbergen, jetzt aber hat man sie ans Tageslicht befördert, jetzt sehen sie alle, jetzt wollen wir sie vernichten, – und wir werden es erreichen!
Und diese Säuberung ist durchaus nicht nur eine »ideelle« Aufgabe, durchaus nicht nur »Literatur,« wie dieser … Potressow meint, der ebenso für die Machisten eintritt, wie die Men[schewi]sten im Plenum für die »Vorwärtsler« eingetreten sind. Nein, diese Säuberung ist untrennbar mit dem Kern der Arbeiterbewegung verbunden, die in der heutigen schwierigen Zeit das Wesen der s[ozial-]d[emokratischen] Arbeit lernt, und zwar auf dem Wege der Verneinung lernt, auf dem Wege der Verneinung des Liquidatorentums und des Otsowismus ihre Fahrt antritt. Nur der … Trotzki bildet sich ein, man könne diese Verneinung umgehen, sie wäre überflüssig, das ginge die Arbeiter nichts an, die Fragen des Liquidatorentums und des Otsowismus würden nicht vom Leben, sondern von der Presse der bösen Polemiker gestellt.
Ich kann mir vorstellen, wie schwer es jenen fällt, die das schwierige Wachsen der neuen s[ozial-]d[emokratischen] Bewegung am Ende der 80er und am Anfang der 90er Jahre nicht mit angesehen und miterlebt haben, dieses schwierige Wachsen jetzt mit anzusehen. Damals gab es nur wenige Dutzend oder noch weniger solcher S[ozial-]D[emokraten]. Jetzt sind ihrer Hunderte und Tausende. Daher die Krisis und die Krisen. Und die S[ozial-]D[emokratie] in ihrer Gesamtheit macht sie offen durch und wird sie auch weiterhin ehrlich durchkämpfen.
Mit kräftigem Händedruck.
Ihr LENIN.
Brief 13
22. Nov. 10.
Teurer A. M.!
Ich schrieb Ihnen vor ein paar Tagen und schickte Ihnen die »Arb[eiter-]Zeitung«; ich fragte Sie auch, was aus der Zeitschrift geworden wäre, von der wir im Sommer sprachen und von der Sie mir zu schreiben versprachen.
Heute lese ich in der »Rjetsch« eine Anzeige bezüglich des »Sowremennik«, herausgegeben »unter allernächster und ausschließlicher Mitwirkung [so steht es da gedruckt! in völliger Unkenntnis der Grammatik, aber um so prätentiöser und vielsagender] von Amphiteatrow« und mit Ihrer ständigen Mitarbeit.
Was ist das? Was heißt das? »Eine große Monatsschrift,« mit Abteilungen für »Politik, Wissenschaft, Geschichte, öffentliches Leben,« – das ist ja aber ganz und gar nicht dasselbe wie die Sammelbücher, die die besten Kräfte der schönen Literatur zu konzentrieren suchten. Eine solche Zeitschrift muß doch entweder eine ganz bestimmte, ernsthafte, streng durchgeführte Richtung haben, oder sie wird sich und ihre Mitarbeiter unfehlbar blamieren. Eine Richtung hat der » Westn[ik] Jewropy« (»Europäischer Kurier«), – eine schlechte, schwache, talentlose zwar, aber doch eine Richtung, die einem best[immten] Element dient, gewissen Bürgerschichten, und die auch bestimmte Kreise von Professoren, Beamten und der s[ogenannten] Intelligenz unter den »anständigen« (richtiger – anständig sein wollenden) Liberalen umfaßt. Eine Richtung hat die » Rus[skaja] Mysl« (»Russischer Gedanke«) – eine widerliche zwar, aber doch eine Richtung die der konterrevolutionären liberalen Bourgeoisie sehr gute Dienste erweist. Eine Richtung hat das »Rus[skoje] Bogatstwo« (»Russischer Reichtum«) – im Sinne der Narodniki, der Narodniki-Kadetten, aber doch eine Richtung, die jahrzehntelang sich an ihre Richtlinie hält, die gewissen Bevölkerungsschichten dient. Eine Richtung hat auch der » Ssowr[emenny] Mir« (»Heutige Welt«), – häufig eine menschewistische Kadettenrichtung (jetzt mit einer Neigung zum Parteimenschewismus hin), aber doch eine Richtung. Eine Zeitschrift ohne Richtung – ist ein ungereimtes, unsinniges, skandalöses und schädliches Ding. Was für eine Richtung aber kann es bei einer »ausschließlichen Mitwirkung« von Amphitheatrow geben? Es ist doch nicht etwa G. Lopatin, der eine Richtung zu geben vermag, und wenn die Gerüchte (es heißt, sie wären auch in die Zeitungen gelangt), von der Mitwirkung Katscharowskis stimmen, so ist das schon eine »Richtung,« aber eine von den stumpfsinnig sozialrevolutionären Richtungen.
Als wir im Sommer unser Gespräch hatten, und ich Ihnen erzählte, daß ich Ihnen schon einen bekümmerten Brief über die » Beichte« fertiggeschrieben hatte, ihn aber wegen der damals beginnenden Spaltung mit den Machisten nicht absandte, entgegneten Sie: »Da taten Sie unrecht daran!« Dann machten Sie mir auch zum Vorwurf, daß ich die Schule auf Capri nicht besucht hatte, und sagten, daß die Loslösung der Machisten-Otsowisten Sie, bei einem anderen Verlauf der Sache, weniger Nerven, weniger verausgabte Kräfte gekostet hätte. In der Erinnerung an diese Worte, habe ich beschlossen, Ihnen jetzt zu schreiben, ohne Aufschub, und ohne jegliche Nachprüfung abzuwarten, unter dem frischen Eindruck der Erzählung.
Ich finde, eine dicke politische und ökonomische Zeitschrift unter ausschließlicher Mitwirkung Amphitheatrows ist eine viel schlimmere Angelegenheit als eine besondere machistisch-otsowistische Fraktion. Schlimm war und ist an dieser Fraktion, daß die ideelle Strömung vom Marxismus, von der Sozial-Demokratie wegführt, ohne indessen den Bruch mit dem Marxismus auszusprechen, sondern nur Verwirrung anrichtend.
Die Amphitheatrowsche Zeitschrift (wie gut hat seine »Rote Fahne« daran getan, zu rechter Zeit zu sterben!) ist eine politische Handlung, ein politisches Unternehmen, dem es sogar am Bewußtsein fehlt, daß eine allgemeine »Linksheit« in der Politik nicht genügt, daß nach 1905 ernstlich über Politik zu reden, ohne Klarstellung seiner Beziehungen zum Marxismus und zur Sozial-Demokratie – unmöglich, undenkbar ist.
Die Sache steht übel. Meine Stimmung ist traurig.
Ihr LENIN.
An M[aria] F[eodorow]na – salut et fraternité!
Brief 14
3. Jan. 11.
Teurer A. M.!
Schon längst hatte ich vor, Ihnen auf Ihren Brief zu antworten, aber die Verschärfung der hiesigen Zänkerei (daß hunderttausend Teufel sie holten!) lenkte mich immer wieder ab.
Und ich möchte doch so gern mit Ihnen plaudern.
Zu allererst, ehe ich es vergesse: Tria ist verhaftet, zusammen mit Jordania und Ramischwili. Man behauptet, es wäre Tatsache. Schade um den feinen Burschen. Ein Revolutionär ist er.
Betreffs des »Sowrem[ennik].« Ich lese heute in der »Rjetsch« den Inhalt des ersten Heftes und fluche, fluche. Wodowosow über Muromzew … Koloso über Mich[ailow]ski, Lopatin »Nicht die Unsrigen« usw. Soll man da nicht fluchen? Dabei scheinen Sie auch noch zu spotten: »Realismus, Demokratie, Aktivität.«
Meinen Sie, das seien gute Worte? Üble Worte sind es, von sämtlichen bürgerlichen Schlauköpfen der Welt ausgenutzt, von den Kadetten und Essers (Sozialrevolutionären) bei uns bis zu Briand oder Millerand hier, Lloyd George in England usw. Sowohl die Worte sind übel, hohl als auch der Inhalt, der etwas Sozialrevolutionäres, Kadettisches verspricht. Es ist nicht schön.
Was Tolstoi betrifft, so teile ich vollkommen Ihre Meinung, daß die Heuchler und Spitzbuben einen Heiligen aus ihm machen werden. Plechanow ist auch wütend über den Schwindel und das Schweifwedeln vor Tolstoi, und hierin sind wir einig. Er schimpft dafür auf »Unsere Morgenröte« im Z. O. (nächste Nummer), ich – in der »Mysl« (heute kam Nr. 1 an. Gratulieren Sie uns – unser Journälchen, ein marxistisches, erscheint in Moskau! Das war heute eine Freude bei uns). In der »Swesda« Nr. 1 (erschienen am 16. Dez. in SPB.) ist auch ein gutes Feuilleton von Plechanow, mit einer abgeschmackten Anmerkung, für die wir die Redaktion bereits ausgeschimpft haben … Das wird wahrscheinlich Jordanski mit Bontsch[-Brujewitsch] ausgedacht haben! Aber was kann der »Sowremennik« gegen die »Legende von T[olstoi] und seiner Religion« ausrichten! Etwa – Wodowosow und Lopatin? Sie geruhen wohl zu scherzen.
Daß man anfängt, die Studenten zu verhauen, ist meiner Ansicht nach untröstlich, aber dem Tolstoi darf man weder »Passivismus,« noch Anarchismus, noch Narodnitschestwo, noch Religion hingehen lassen.
Hinsichtlich der Donquichotterie in der internationalen Politik der S[ozial-]D[emokratie] dünkt mich, sind Sie im Unrecht. Die Revisionisten behaupten ja schon lange, daß die koloniale Politik progressiv sei, daß sie den Kapitalismus festige, und daß es daher zwecklos sei, ihn der Habgier und der Grausamkeit zu bezichtigen, denn »ohne diese Eigenschaften« sei das Kapital gleichsam »ohne Hände.«
Donquichotterie und Wehleidigkeit wäre es, wenn die S[ozial-]D[emokraten] den Arbeitern sagen würden, es gäbe vielleicht irgendwo eine Rettung außerhalb der Entwicklung des Kapitalismus, nicht durch die Entwicklung des Kapitalismus. Jedoch wir sagen das nicht. Wir sagen: das Kapital frißt euch auf, frißt die Perser, frißt alle und wird so lange fressen, bis ihr es niederwerft. Das ist die Wahrheit. Und wir vergessen nicht hinzuzufügen: außer dem Wachstum des Kapitalismus gibt es kein Pfand des Sieges über ihn.
Die Marxisten verfechten keinerlei reaktionäre Maßnahmen, wie z. B. Trustverbote, Handelsbeschränkungen und dergl. Aber – jedem das seine: mögen Chomiakow & Co. Eisenbahnen quer durch Persien bauen, mögen sie Liachows hinschicken – Sache der Marxisten ist: ihre Entlarvung in den Augen der Arbeiter. »Er frißt euch und wird euch auffressen, er würgt euch und wird euch erwürgen; wehrt euch.«
Der Widerstand gegen die Kolonialpolitik und die intern[ationale] Räuberei auf dem Wege der Organisation des Proletariats, auf dem Wege der Verteidigung der Freiheit für den proletarischen Kampf hemmt nicht die Entwicklung des Kapitalismus, sondern beschleunigt sie, weil das alles eine Zuhilfenahme von verfeinerteren, technisch höherstehenden Mitteln des Kapitalismus zur Folge hat. Es gibt zweierlei Kapitalismus. Es gibt einen Kapitalismus der Schwarzen Hundert, des Oktobrismus, und es gibt einen Kapitalismus der Narodniki (den realistischen, demokratischen, »aktiven«). Je mehr wir den Kapitalismus in den Augen der Arbeiter der »Habgier« und der »Grausamkeit« überführen, um so schwerer wird der Kapitalismus der ersten Art standhalten können, um so unausbleiblicher ist sein Übergang in den Kapitalismus der zweiten Art. Das aber kommt uns, kommt dem Proletariat gerade recht.
Vielleicht meinen Sie, ich widerspreche mir selber? Am Anfang des Briefes fand ich die Worte »Realismus, Demokratie, Aktivität« übel, und jetzt finde ich sie gut? Hierin liegt kein Widerspruch: für den Proletarier ist es übel, für den Bourgeois gut.
Die Deutschen haben eine musterhafte opportunistische Zeitschrift: »Sozialistische Monatshefte.« Darin fallen schon lange solche Herren, wie Schippel und Bernstein, über die intern[ationale] Politik der revolutionären S[ozial-]D[emokratie] mit dem lauten Geschrei her, daß deren Politik angeblich auf das »Lamentieren mitleidiger Menschen« hinauslaufe. Das ist ein Kunststück opportunistischer Spitzbuben, mein Lieber. Bitten Sie, daß man Ihnen aus Neapel diese Zeitschrift kommen läßt und ihre Artikel übersetzt, wenn Sie sich für internationale Politik interessieren. Sicherlich haben Sie auch in Italien solche Opportunisten, – bloß Marxisten gibt es in Italien nicht, das ist das Übel an diesem Lande.
Das internationale Proletariat bedrängt das Kapital zwiefach: dadurch, daß es ihn aus dem oktobristischen in einen demokratischen verwandelt, und dadurch, daß es, indem es das oktobristische Kapital von sich jagt, dasselbe zu den Wilden verlegt. Das aber erweitert die Basis des Kapitals und nähert es seinem Tode. In Westeuropa gibt es fast gar keinen oktobristischen Kapitalismus mehr; beinahe das ganze Kapital ist demokratisch. Das oktobristische Kapital ist aus England, Frankreich nach Rußland und Asien ausgewandert. Die russische Revolution und die Revolution in Asien ist ein Kampf um die Verdrängung des oktobristischen Kapitals und seinen Ersatz durch ein demokratisches. Das demokratische Kapital aber ist eine Letztgeburt. Weiter führt sein Weg nicht. Dann kommt sein Ende.
Wie haben Sie die » Swesda« und die » Mysl« gefunden? Die erstere ist farblos, meiner Ansicht nach. Aber die zweite ist ganz unser und freut mich unmäßig. Aber man wird sie nicht lange leben lassen.
Wie ist's, könnten Sie nicht mein Buch über die Agr[ar-]Frage im Verlag »Snanije« anbringen? Sprechen Sie doch einmal mit Pjatnitzki. Ich finde und finde keinen Verleger. Es ist einfach zum Schreien.
Ich lese Ihre Endbemerkung: »Meine Hände zittern und frieren« – und bin empört. Diese miserablen Häuser auf Capri! Das ist doch abscheulich! Sogar wir haben Dampfheizung, es ist ganz warm, und Ihnen »frieren die Hände.« Sie müssen rebellieren.
Mit kräftigem Händedruck.
Ihr LENIN.
Ich habe aus Bologna eine Einladung erhalten, die Schule zu besuchen (20 Arbeiter). Ich habe mit einer Absage geantwortet. Mit den Vorwärtslern will ich nichts zu tun haben. Wir ziehen die Arbeiter wieder hier herüber.
Brief 15
[April 1911.]
Teurer A. M.!
Wie geht es mit der Gesundheit? M. F. schrieb, daß Sie mit Husten und dergl. zurückgekehrt sind. Ich hoffe, Sie sind wieder wohl.
Wir haben Unglück gehabt mit der »Mysl.« Aus der » Rjetsch« u. a. Zeitungen wissen Sie wohl schon, um was es sich handelt. Wir müssen die Sache nach Petersburg überführen und von vorne anfangen. Wir haben aber keine legalen, zuverlässigen Leute.
Könnten Sie uns nicht helfen, wenn Sie Sympathie für die »Mysl« haben? Oder vielleicht könnte Pjatnitzki helfen? Die Dinge liegen so, daß wir vorläufig noch Geld haben für die Herausgabe so eines kleinen Journälchens (natürlich unter der Bedingung einer unentgeltlichen Mitarbeit unser aller und eines Honorars von 20 Rbl. pro Bogen an Unbeteiligte! Es ist nicht üppig, wie Sie sehen). Somit ist jetzt ausschließlich technische Hilfe erforderlich: einen Verleger finden, der, ohne einen einzigen Heller von seinem eigenen Gelde zu verausgaben, die Zeitschrift herausgeben würde (wobei wir so sehr auf strengste Legalität bedacht sind, daß wir sowohl dem Verleger als auch dem Sekretär der Red[aktion] und dem Syndikus des Verlages das Recht einräumen, alles auch nur im mindesten Gefährliche zurückzuhalten: vier Nummern haben wir ohne die geringste Schikane seitens des Gerichtes veröffentlicht, Nr. 5 ist wegen Kautsky beschlagnahmt worden!! Es ist ganz klar, daß dies Schikane ist. Bei K[autsky] gibt es nichts Illegales).
Warum sollte Pjatnitzki oder jemand anders uns in einer so ungefährlichen Sache nicht helfen?
Wenn es unmöglich ist, einen Verleger zu finden, ließe sich dann nicht ein Sekretär finden – ein legaler Mensch, dem wir monatlich 50 Rbl. zahlen würden für die Plackerei mit der Druckerei und der Expedition? Es muß ein ehrlicher und sorgsamer Mensch sein, das ist alles. Wir haben keine legalen Leute, – außer den Arbeitern (die passen dazu nicht), – das ist unser Unglück.
Die zweite Angelegenheit. Wir besitzen eine bereits bezahlte Übersetzung der neuesten Aufsätze von Kautsky gegen Maslow. Eine legale Sache. Eine notwendige Sache, denn Maslow hat eine kolossale Menge geflunkert und die russischen Leser belogen. Es sind 3 bis 5 Druckbogen. Könnte man das nicht herausgeben – ohne Honorar (denn unsere Übersetzung ist bereits bezahlt), zum Selbstkostenpreis? Taugt Pjatn[itzki] für so etwas (oder sonst jemand) oder nicht?
Die dritte Angelegenheit. J. M. Nachamkes, der wegen seiner Beziehungen zu der s[ozialdemokratischen] Fraktion aus Petersburg ausgewiesen wurde und hierher kommen mußte ( Newsorow, auch Steklow genannt, Verfasser eines guten Buches über Tschernyschewski), sucht dringend Arbeit und bittet mich, Sie zu fragen, ob man nicht Pearys » Reise nach dem Nordpol« herausgeben könnte. Er meint, es würde vergriffen werden.
Was gibt es bei Ihnen Neues hinsichtlich der »Pläne?« Schreiben Sie mir. Den Arbeitern aus unserer Schule antworten Sie doch mal. Es sind brave Burschen. Einer ist Dichter, der arme Kerl, – er dichtet Verse und hat niemanden, der ihn unterweisen, ihm helfen, ihn belehren und beraten könnte.
Mit Händedruck.
Ihr LENIN.
Robert E. Peary:
»La découverte du pôle Nord.« – Paris, – prachtvolle Illustr[ationen]. Die Klischees kann man hier billig kaufen. Es sind ca. 15 Druckbogen zu je 40.000 Buchstaben. (Eben war ich bei Steklow, der mir diese Einzelheiten mitgeteilt hat.)
Brief 16
27. Mai 11.
Teurer A. M.!
Dieser Tage erhielt ich einen Brief von Poletajew. Er schreibt unter anderem: »Ich habe einen Brief von Gorki erhalten. Er macht N. I. den Vorschlag, ins Ausland zu kommen, zwecks Ausarbeitung eines Planes zum Zusammenschluß um irgendein Organ, fügt hinzu, daß er diesbezüglich mit Ihnen und mit dem M[enschewi]sten M. (ich versteh Martow darunter) gesprochen hat.«
Poletajew fügt hinzu, daß N. I. (Jordanski) wohl kaum für diesen Plan tauglich sei und daß, wenn schon jemand reisen müßte, es jemand anders sein müsse. Pokrowski würde wohl schwerlich reisen.
Nachdem ich diesen Brief von Poletajew durchgelesen hatte, bekam ich einen Schreck – bei Gott, ich kriegte einen Schreck.
Ein Zusammenschluß unsererseits mit M[enschewi]sten wie Martow ist absolut hoffnungslos, wie ich Ihnen hier schon sagte. Wenn wir um eines so hoffnungslosen Planes willen eine »Konferenz« zustande bringen wollen, – so kommt nichts als eine Blamage heraus (ich persönlich würde nicht einmal zu einer Beratung mit Martow kommen).
Nach Poletajews Brief zu urteilen, ist die Beteiligung der Dumafraktion vorgesehen; ist das notwendig? Wenn es sich um eine Zeitschrift handelt – dann hat die Dumafraktion nichts dabei zu tun. Handelt es sich um eine Zeitung, so darf nicht vergessen werden, daß wir mit der » Swesda« (»Stern«) genug Uneinigkeiten hatten und noch haben: sie haben keine Richtlinie, sie haben Angst, mit uns zu gehen, sie haben auch Angst, mit den Liquidatoren zu gehen, sie drehen und wenden sich, sie schwanken hin und her.
Wenn überdies ein Zusammenschluß der Plechanowzer + wir + die Dumafraktion in Aussicht genommen werden soll, so droht dies Plechanow das Übergewicht zu geben, da in der Dumafraktion die Me[nschewi]sten überwiegen. Ist es wünschenswert und vernünftig, Plechanow das Übergewicht zu lassen?
Ich fürchte sehr, daß Jordanski für solche Pläne ungeeignet ist (denn er hat » seine« Zeitschrift, und er wird entweder ein Hemmnis sein oder nach »seiner« Zeitschrift hinüberziehen wollen, die er ferner in seinem halbliberalen Geiste führen wird).
Um Enttäuschungen und hoffnungslosen Zänkereien aus dem Wege zu gehen, muß man, meiner Ansicht nach, in bezug auf den »Zusammenschluß« sehr vorsichtig sein. Wirklich und wahrhaftig, man müßte sich jetzt nicht zusammenschließen, sondern absondern! Wenn sich ein Herausgeber für eine Zeitschrift oder Zeitung findet, muß persönlich von Ihnen ein Vertrag mit ihm geschlossen werden (oder, wenn möglich, ohne Vertrag Geld von ihm erhalten werden); bei einer »Konferenz« hingegen kommt nur Kohl heraus, wirklich, nur Kohl.
Ich schreibe Ihnen das, weil ich zuallerletzt möchte, daß Sie Zeit, Nerven und dergl. an derartige Dinge vergeuden. Ich weiß selber aus bitterer Erfahrung der Jahre 1908-1911, daß ein »Zusammenschluß« jetzt unmöglich ist. Bei uns in der »Mysl«, z. B., hatte Plechanow öfters seine Launen – er ist, z. B., mit meinem Aufsatz über die Streiks und über Potressow unzufrieden, weil er meint, daß ich »ihn« heruntermache! Eingerenkt haben wir es ja wieder, und einstweilen kann und muß man mit Plechanow arbeiten, aber formelle Zusammenschlüsse und Konferenzen sind verfrüht und können alles verderben.
Beeilen Sie sich nicht mit der Konferenz!
Bei uns wird mit Bestimmtheit davon gesprochen, daß ein Zirkular von Stolypin hinsichtlich der Schließung aller s.-d. Organe existiert. Das sieht nach Wahrheit aus. Vor der IV. Duma wird man die Zügel vermutlich noch zehnmal straffer ziehen.
Die legalen Möglichkeiten werden in nächster Zeit offenbar geringer werden. Man muß sich an die illegale Arbeit halten.
M. F. schrieb, daß Sie ganz aus dem »Snanije« ausgetreten sind. Also – ein völliger Bruch mit Pjatn[itzki], und mein vorhergehender Brief ist zu spät gekommen?
Mit Händedruck.
Ihr LENIN.
P. S. – Die »Sowr[emennaja] Shisjn« in Baku hat man auch beschlagnahmt und erwürgt!
Brief 17
(Vor dem Sommer 1912).
Teurer A. M.!
Am Sonnabend bin ich frei und werde zu Hause sein. Paßt es Ihnen um 2 ½ Uhr? Wenn nicht, so könnte es auch abends sein.
Mit Händedruck
Ihr LENIN.
4, Rue Marie Rose, 2. Stock (nach russischer Auffassung der dritte), linke Tür.
Brief 18
Krakau, 1. August 1912.
Krakau, Österreich.
Zwierzyniec 218.
Wl. Ulijanow.
Teurer A. M.!
Ich habe Ihren Brief und den der Sibirier erhalten. Meine Adresse ist jetzt nicht mehr Paris, – s. oben.
Es ist mir nicht ganz klar geworden, aus welcher Partei Sie mich hinausjagen wollen, – doch nicht aus der Sozialrevolutionären?
Nein, Scherz beiseite, eine üble Manier haben Sie sich da angewöhnt, eine spießige, bürgerliche – die Manier, abzuwinken: »Ihr seid alle Zankhähne.« Sehen Sie sich doch einmal die neue Sozialrevolutionäre Literatur an: »Die Initiative,« »Nachr[ichten] der ausl[ändischen] Bezirks-Or[ganisa]tion,« – vergleichen Sie das mit dem »Rev[olutionären] Gedanken,« mit dem »Rev[olutionären] Rußland« – und dann auch noch mit Ropschin usw. Denken Sie an die »Wechi« und die Polemik (quasi-Polemik) Miljukows mit ihnen, an Gredeskul, (der heute entdeckt hat, daß Rußland keine zweite Revolution braucht), usw. usw.
Vergleichen Sie das alles in seiner Gesamtheit, die ganze Summe der ideologischen Strömungen in den Jahren 1908 bis 1912 bei den Sozial-Revolutionären, bei den »Trudowiki«, »Bessaglawzy« und Kadetten, mit dem, was bei den Sozialdemokraten war und ist (irgendeinmal wird irgendein Historiker diese Arbeit gewiß machen) und Sie werden sehen, daß alle, buchstäblich alle außer den Sozialdemokraten dieselben, buchstäblich dieselben Fragen zu lösen suchten, derentwegen sich von unserer Partei Grüppchen mit der Tendenz zu Liquidation und Rückzug lösten.
Die Bourgeois, die Liberalen und die Sozial-Revolutionäre, die die »großen Fragen« niemals ernst behandeln, hinter den andern dreintrotten, diplomatisieren, sich mit Eklektizismus durchhelfen, sie alle schreien andauernd darüber, daß es bei den Sozialdemokraten Händel und Reibereien gäbe. Der Unterschied zwischen der Sozialdemokratie und ihnen allen ist der, daß der Kampf innerhalb der einzelnen Gruppen der Sozialdemokratie tiefen und klaren ideellen Wurzeln entstammte, während bei ihnen die Gegensätze äußerlich geglättet, innerlich aber leer, kleinlich und oberflächlich sind. Niemals und um keinen Preis würde ich den scharfen Kampf der Strömungen bei der Sozialdemokratie gegen die geschniegelte Leere und Armut der Sozial-Revolutionäre und Konsorten eintauschen.
Mit kräftigem Händedruck.
Ihr LENIN.
P. S. – Gruß an M. F.!
P. S. – In Rußland herrscht gehobene, revolutionäre Stimmung, keine andere, sondern gerade eine revolutionäre. Und es ist uns schließlich doch gelungen, die Tageszeitung »Prawda« zu begründen – unter anderem, gerade dank jener Konferenz (im Januar), die von den Dummköpfen so bekläfft wurde.
Brief 19
[August-September 1912]
Teurer A. M.!
Wenn Sie zugeben, daß »unsere Zänkerei« durch nicht in Einklang zu bringende Unterschiede der ideellen Wurzeln hervorgerufen wird« – daß es bei den S.-R. dasselbe ist – (daß es sich bei den Kadetten – »Wechi« – ebenso verhält, das haben Sie nicht hinzugefügt, aber daran ist nicht zu zweifeln) – daß sich eine reformistische Partei (ein treffendes Wort!) bildet, dann darf man nicht sowohl zum Liquidator als auch zu seinem Feinde sagen: »Ihr seid alle beide Zankhähne.«
Dann ist es Sache derer, die die ideellen Wurzeln der »Zänkerei« erfaßt haben, ohne daran teilzunehmen, der Masse behilflich zu sein, die Wurzeln aufzufinden, nicht aber die Masse darin zu rechtfertigen, daß sie die Zwistigkeiten als »persönliche Sache der Generale« ansieht.
Wir »Führer haben kein einziges klares Buch, keine einzige große Broschüre geschrieben« … Stimmt nicht. Wir haben geschrieben, wie wir's verstanden. Nicht weniger klar, nicht weniger sachlich als früher. Und wir haben viel geschrieben. Es kam vor, daß wir gegen Leute ohne jede »Zänkerei« (gegen die »Wechi«, gegen Tschernow, gegen Roschkow usw.) schrieben. (Bekommen Sie alle Nummern der »Newskaja Swesda« zu Gesicht?) … »Das Ergebnis hiervon: es gibt gegenwärtig in Rußland unter den A[rbeit]ern sehr viel tüchtige … -Jugend, aber sie ist so ingrimmig gegen das Ausland gestimmt« … das ist Tatsache, aber es ist nicht das Ergebnis einer Schuld seitens der »Führer«, sondern des Losgerissenseins oder, richtiger, des Zerrissenseins Rußlands und der Emigrantenzentren. Das Zerrissene muß man zusammenknüpfen; die Führer herunterzumachen ist jedoch billig, populär; aber von geringem Nutzen ist, … »was die A[rbeit]er von einer Beteiligung an der Konferenz abbringt.«
An was für einer Konferenz? Die jetzt von den Liquidatoren einberufen wird? Davon raten auch wir ab! Liegt hier nicht ein Mißverständnis Ihrerseits vor?
Ich habe gelesen, d[aß] Amphitheatrow, ich glaube fast in der Warschauer Zeitung, für den Boykott der IV. Duma eintritt? Haben Sie diesen Artikel vielleicht? Schicken Sie ihn mir – ich schicke ihn Ihnen zurück.
Und in der Baltischen Flotte kocht's! In Paris besuchte mich (unter uns gesagt) ein spezieller, von der Matrosen- und S.-D.-Versammlung entsandter Delegierter. Es ist keine Organisation da – es ist geradezu zum Heulen!! Wenn Sie Verbindungen in Offizierskreisen haben, so müssen alle Kräfte darangesetzt werden, um da irgend etwas zu schaffen. Die Stimmung unter den Matrosen ist eine kampflustige, aber es kann sein, daß sie wieder alle vergeblich umkommen.
Ihre Aufsätze in den »Saprossy Shisjni« sind aber nicht gut. Eine sonderbare Zeitschrift im übrigen – liquidatorisch-trudowikisch-wechistisch. Übrigens – so recht »die ständelose reformistische Partei« …
Sie fragen, weshalb ich in Österreich bin. Das Z. K. hat hier ein Bureau begründet (unter uns gesagt): die Grenze ist nahe, wir nutzen sie aus, es ist näher zu Petersburg, am 3. Tage haben wir schon die dortigen Zeitungen in der Hand, auch das Einsenden an die dortigen Zeitungen ist unvergleichlich leichter geworden, die Mitarbeit kommt besser in Gang. Zänkerei gibt es hier weniger, das ist ein Plus. Eine gute Bibliothek gibt es hier nicht, das ist ein Minus. Ohne Bücher ist es schwer.
Mit kräftigem Händedruck.
Ihr LENIN.
Gruß an M. F.
Brief 20
[7. Nov. 1912].
Teurer A. M.!
Dieser Tage erhielt ich von der Redaktion der »Prawda« aus Petersburg einen Brief, in w[elch]em sie mich bitten, Ihnen zu schreiben, daß sie über Ihre ständige Mitarbeit außerordentlich erfreut sein würden. »Wir möchten Gorki 25 Kopeken pro Zeile anbieten, aber wir fürchten, er könne sich gekränkt fühlen« – so schreiben sie mir.
Meiner Ansicht nach liegt darin durchaus nichts Kränkendes. Daß Ihre Mitarbeit sich unter dem Einfluß irgendwelcher Erwägungen hinsichtlich des Honorars ändern könnte, das kann niemandem auch nur in den Sinn kommen. Ebenso ist es allbekannt, daß die Arbeiterzeitung »Prawda«, die gewöhnlich 2 Kopeken pro Zeile, noch öfter aber nichts zahlt, durch Honorar überhaupt nicht anzulocken imstande ist.
Aber daß die Mitarbeiter einer Arbeiterzeitung ein regelmäßiges, wenn auch noch so bescheidenes Gehalt beziehen, daran ist nichts Schlimmes, »außer nur Gutes.« Der Absatz beträgt jetzt 20-25 Tausend. Es wird Zeit, an einen soliden Betrieb mit bezahlten Beiträgen der Mitarbeiter zu denken. Was ist denn Schlimmes daran, wenn allmählich alle, die für eine Arb[eiter-]Zeitung schreiben, zu verdienen anfangen? Und was kann an diesem Angebot Kränkendes sein?
Ich bin sicher, daß die Befürchtungen der Petersburger Redaktion der »Prawda« ganz unbegründet sind und daß Sie ihr Angebot nicht anders als kameradschaftlich auffassen werden. Schreiben Sie ein paar Worte entweder direkt an die Redaktion oder an mich.
Morgen finden in Petersburg die Wahlen der Wahlmänner (in der Arb[eiter-]Kurie) statt. Der Kampf mit den Liquidat[oren] ist entbrannt. In Moskau und in Charkow haben die Parteiler gesiegt.
Haben Sie den »Lutsch« gesehen, und halten Sie ihn überhaupt? Haben die aber ihre Karten gefälscht und sich als die »Gutmütigen« aufgespielt!
Ich habe die Anzeige betreffs des »Krugosor« gesehen. Ist das Ihr Unternehmen, oder sind Sie dort nur Gast?
Ich drücke Ihnen kräftig die Hand und wünsche Ihnen vor allem Gesundheit. An M. F. einen Gruß.
Ihr LENIN.
47. Ulica Lubomirskiego. Krakau.
Brief 21
[23. Dez. 1912].
Teurer A. M.!
Lange habe ich keine Nachricht mehr von Ihnen. Wie geht es? Sind Sie gesund?
Heute erhielt ich Nr. 187 der »Prawda« mit dem Abonnement für 1913. Die Lage der Zeitung ist schwierig: nach dem sommerlichen Sturz des Absatzes geht der Aufstieg sehr langsam, und es bleibt ein Defizit. Vorübergehend sind sogar die Zahlungen an zwei ständige Mitarbeiter eingestellt und unsere Lage überaus erschwert worden.
Wir beabsichtigen, unter den Arbeitern eine verstärkte Agitation zugunsten des Abonnements zu betreiben, um mit dem erhaltenen Gelde die Zeitung zu festigen und zu erweitern, sonst bleibt nach Beginn der Duma gar kein Platz mehr für die Aufsätze übrig.
Hoffentlich beteiligen auch Sie sich an der Agitation zugunsten des Abonnements, um die Zeitung wieder hoch zu bringen. In welcher Form aber? Wenn Sie ein Märchen oder sonst etwas Passendes haben – so wäre eine diesbezügliche Anzeige eine sehr gute Agitation. Wenn nicht – so geben Sie Ihr briefliches Versprechen ab, in allernächster Zeit, und zwar im Jahre 1913, etwas einzusenden. Schließlich wären ein paar Zeilen eines Briefes von Ihnen an die Arbeiter über die Wichtigkeit einer aktiven Unterstützung (durch Abonnements, Verbreitung, Kollekten) der Arbeiterzeitung auch eine ausgezeichnete Agitation.
Schreiben Sie bitte das eine oder das andere – direkt an die Redaktion der »Prawda« (Jamskaja 2, St.-Petersburg), oder hierher an mich. Ulijanow. (47. Lubomirskiego. Krakau).
Krieg wird es wahrscheinlich nicht geben, und vorläufig bleiben wir hier, um den erbitterten Haß der Polen gegen den Zarismus »auszunutzen«.
Die Liquidatoren richten jetzt einen Angriff gegen revolutionäre Streiks! So weit sind sie also schon. Man spricht von einem Streik und einer Demonstration am 9. Januar. Von Arbeiterdelegierten sind zum ersten Male seit drei [2., 3., 4.] Dumas alle sechs Deputierten der Hauptgouvernements auf Seiten der Partei. Wenn auch schwer, so geht die Sache doch vorwärts.
Haben Sie die »Verteidigung« von Ropschin in den »Sawjety«, im Namen der »Freiheit des Gedankens und der Kritik« (in der Antwort auf den Brief von Natansohn & Co. an die Redaktion) gesehen? Das ist ja schlimmer als alles Liquidatorentum – ein verwickeltes, feiges, geschicktes und nichtsdestoweniger systematisches Renegatentum!
Wir kämpfen »gegen den Strom« … Für die revolutionäre Agitation unter den Massen muß man jetzt gegen sehr viele »Auch-Revolutionäre« kämpfen … In den Arbeitermassen ist die revolutionäre Stimmung zweifellos da, aber die neue demokratische Intelligenz (und auch die Arbeiterintelligenz darunter) mit einer revolutionären Ideologie wächst langsam heran, bleibt zurück, holt uns vorläufig noch nicht ein.
Herzlichsten Gruß!
Schreiben Sie mir ein paar Worte.
Ihr LENIN.
P. S. – An M. F. einen Gruß! Sie läßt auch ganz und gar nichts mehr von sich hören …
Brief 22
21. Jan. 13.
Teurer A. M.!
Der Genosse, der Ihnen diesen Brief übermitteln wird, ist der jetzt in Wien lebende Trojanowski. Er und seine Frau machen sich jetzt energisch an die »Prosweschtschenije« er hat einen kleinen Happen Geld zusammengebracht, und wir hoffen, daß dank ihrer Energie und Hilfe es uns gelingen wird, ein kleines marxistisches Journälchen gegen die liquidatorischen Renegaten zu begründen. Ich denke, auch Sie werden der »Prosweschtschenije« Ihre Beihilfe nicht verweigern?
Ihr LENIN.
P. S. – Hoffentlich haben Sie meinen langen Brief über die Vorwärtsler erhalten?
Aber wie sind Sie denn in den »Lutsch« geraten??? Doch nicht im Gefolge der Deputierten? Die sind ja einfach in die Falle gegangen und werden vermutlich bald wieder hinausgelangen.
Brief 23
[Januar 1913]
Teurer A. M.!
Dagegen, daß Sie meinen Brief an Tich[onow] senden, habe ich selbstverständlich nichts einzuwenden.
Lunatsch[arski]s Feuilleton »Zwischen Furcht und Hoffnung« hat nach Ihrer Erzählung mein Interesse geweckt. Könnten Sie es mir nicht zusenden, wenn Sie es nicht brauchen? Ich werde es auf Wunsch pünktlich zurücksenden.
Die Kollekte für die Moskauer Zeitung hat uns sehr gefreut. Diese Angelegenheit wird unser Dreigespann der Deputierten des Moskauer Bezirks in die Hand nehmen: Malinowski, Schagow und Ssamoilow. Das ist schon abgemacht. Aber es ist Vorsicht notwendig: ohne die »Prawda« befestigt zu haben, darf man keine Moskauer Zeitung in Angriff nehmen. Wir hegen den Plan der Begründung einer »Moskowskaja Prawda«.
Schreiben Sie bitte an Tichonow, er möge nur mit Badajew und Malinowski sprechen, mit diesen aber auf jeden Fall.
Besonders haben mich in Ihrem Briefe die Worte gefreut: »Aus allen Plänen und Tendenzen der russischen Intelligenz geht mit aller Deutlichkeit hervor, daß der sozialistische Gedanke durchwachsen ist von verschiedenen, in der Wurzel ihm feindseligen Strömungen: da findet sich Mystik, Metaphysik, Opportunismus, Reformismus, Nachwehen des Narodnitschestwo. Alle diese Strömungen sind um so gefährlicher, als sie äußerst unbestimmt sind und, da sie kein eigenes Sprachrohr besitzen, sich nicht mit gehöriger Klarheit definieren lassen können.«
Ich unterstreiche die mich am meisten begeisternden Worte. Das ist es ja gerade: »in der Wurzel feindselig«, und das um so mehr, weil sie unbestimmt sind. Da fragen Sie nach Stepanow (J. J.) Was ist aus ihm geworden (dabei war er ein braver Bursche, fleißig, tüchtig usw.) während der Epoche des Zerfalls und der Schwankungen? (1908-1911.) Er wollte uns mit den Vorwärtslern aussöhnen. Das heißt aber, daß er selbst schwankend war.
Er schrieb mir Briefe, daß man unter die demokratische Revolution in Rußland einen Strich machen müßte, daß es bei uns auf österreichische Weise ohne Revolution gehen würde. Ich habe ihn für diese Abgeschmacktheiten einen Liquidatoren geschimpft. Er hat's mir übel genommen. Und später platzte Larin in der Presse mit seinen Ideen heraus.
Jetzt schreibt Stepanow ostentativ nicht für uns, sondern für Roschkows Zeitung »Nowaja Sibirj« in Irkutsk. Und wissen Sie, was Roschkow für eine neue »Strömung« entdeckt hat? Haben Sie seinen Aufsatz in »Nascha Sarja« vom Jahre 1911 und meine Antwort in der »Swesda« gelesen? Auch Roschkow versteift sich in seinem Opportunismus. Und Stepanow? Allah mag aus ihm klug werden. Das ist's ja eben: eine »äußerst unbestimmte« und verwickelte Stellungnahme. Ich würde nie eine irgendwie selbständige Abteilung Stepanow jetzt anvertrauen: er könnte einen Sprung machen, ohne selber zu wissen wohin. Und doch könnte er wahrscheinlich ein nützlicher Mitarbeiter sein. Es ist einer von denen, die aus sich selber »nicht klug geworden sind.« Ihm die »Organisation« einer Abteilung zu übertragen, hieße sowohl ihn als auch die Abteilung dem sicheren Verderben weihen.
Sie schreiben: »Es ist Zeit für uns, eine eigene Zeitschrift zu besitzen, aber wir haben nicht die genügende Menge gut miteinander eingearbeiteter Menschen dafür.«
Den zweiten Teil dieses Satzes lehne ich ab. Eine Zeitschrift würde eine genügende Menge Menschen zwingen, sich miteinander einzuarbeiten, eine Zeitschrift oder irgendein anderer Sammelpunkt.
Ein Sammelpunkt ist da, aber eine (dicke) Zeitschrift fehlt aus äußerlichen Gründen: es ist kein Geld da. Wäre Geld da, so bin ich sicher, wir könnten auch jetzt eine dicke Zeitschrift zuwege bringen, denn zu einem Grundstock von Mitarbeitern kann man gegen Bezahlung viele andere hinzuziehen, wenn man Themen verteilt und die Plätze anweist.
Solange kein Geld da ist, dürfen wir, meiner Ansicht nach, nicht nur Zukunftspläne machen, sondern müssen auch aufbauen, auf der Grundlage des Vorhandenen, das will besagen – auf der Grundlage der »Prosweschtschenije.« Das ist natürlich nur ein kleiner Fisch im Netz, aber erstens wächst ja alles Große aus dem Kleinen heraus. Zweitens ist ein kleines Fischchen besser als eine große Schabe.
Es ist Zeit, höchste Zeit, daß wir mit Proben anfangen, wenn wir »miteinander eingearbeitete Menschen« in großer Menge haben wollen.
»Es ist Zeit für uns, eine eigene Zeitschrift zu haben.« Ein Grundstock von Literaten ist da. Die Richtigkeit der Richtlinie wird durch die Erfahrung von 12 (oder sogar 20) Jahren bekräftigt, und durch die Erfahrung der letzten 6 Jahre erst recht. Um diesen Kern muß man sich sammeln, ihn ausführlicher herausarbeiten, aufziehen und erweitern. Mit dem Illegalen und der »Prawda« mußten wir anfangen. Aber uns dabei aufhalten wollen wir nicht. Und weil Sie nun schon gesagt haben, »es ist Zeit für uns, eine eigene Zeitschrift zu haben,« so gestatten Sie, daß ich Sie beim Worte fasse: entweder entwerfen Sie sogleich einen Plan zur Aufbringung von Geld für eine dicke Zeitschrift mit dem und dem Programm, mit der und der Redaktion, mit dem und dem Mitarbeiterbestand, oder fangen Sie an, nach demselben Plane, die » Prosweschtsch[enije]« zu erweitern.
Noch richtiger: nicht entweder – oder, sondern: – sowohl – als auch.
Ich warte auf Antwort. Aus Wien haben Sie wahrscheinlich bereits einen Brief über die » Prosweschtsch[enije]« erhalten. Es ist bestimmte Aussicht da, sie in verkleinerter Gestalt für 1913 sicherzustellen. Wenn Sie wollen, daß »wir unsere eigene Zeitschrift haben,« dann lassen Sie uns zusammen Hand mit anlegen.
Über die Daschnaks habe ich nichts gehört. Aber ich halte das Gerücht für Unsinn. Es ist von der Regierung in Umlauf gebracht, die das türkische Armenien verschlingen möchte.
Die P. P. S. ist unzweifelhaft für Österreich und wird dafür kämpfen. Ein Krieg zwischen Österreich und Rußland wäre eine für die Revolution (in ganz Ost-Europa) sehr nützliche Sache, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß Franz Joseph und Nikolascha uns dies Vergnügen machen werden.
Sie bitten um häufigere Information. Mit Vergnügen – geben Sie nur Antwort. Ich sende Ihnen (vorläufig geheim) den Beschluß unserer jüngstverflossenen Beratung (die, meiner Ansicht nach, sehr gut geraten ist und von Bedeutung sein wird).
Es heißt, Beschlüsse seien von allen Arten der Literatur die allerlangweiligste. Ich bin ein allzusehr in Beschlüsse verbissener Mensch. Schreiben Sie mir, inwieweit sie Ihnen lesbar scheinen, (besonders die über die revolut[ionären] Streiks und über die Liquidatoren).
Was hat das Gerücht von einer Amnestie in Rußland Schlimmes aufgewirbelt? Ich weiß nichts davon. Schreiben Sie. N. K. läßt grüßen.
Mit kräftigem Händedruck.
Ihr LENIN.
Brief 24
[Anfang Februar 1913]
Teurer A. M.!
Was ist denn das für ein schlechtes Betragen, Freundchen? Sie sind überarbeitet, übermüdet, haben Nervenschmerzen. Eine schöne Ordnung das! Auf Capri, noch dazu im Winter, wenn der Besucherstrom doch wahrscheinlich geringer ist, sollten Sie eine regelmäßige Lebensweise führen. Kommt es, weil Sie ohne Obhut sind, daß Sie sich so haben gehen lassen? Wirklich und wahrhaftig, das ist unrecht. Nehmen Sie sich zusammen und stellen Sie für sich ein strenges Regime auf, wirklich! Bei den jetzigen Zeiten krank zu sein ist ein ganz unzulässiges Ding. Haben Sie etwa angefangen nachts zu arbeiten? Als ich aber auf Capri war, hieß es, nur ich sei es, der Unordnung hereinbrächte, vor meiner Ankunft hätte man sich beizeiten schlafen gelegt. Sie müssen sich erholen und ein Regime einführen, unbedingt.
An Trojanowski und seine Frau werde ich betreffs ihres Wunsches, sie wiederzusehen, schreiben. Das wäre wirklich schön. Es sind gute Menschen. Bei der Arbeit haben wir sie noch nicht viel gesehen; aber alles, was wir bis jetzt von ihnen wissen, spricht zu ihren Gunsten. Auch haben sie Mittel. Sie könnten ihre Hand auftun und viel für die Zeitschrift tun. Die Trojanowskaja reist bald nach Rußland.
Ungemein hat es mich und uns alle gefreut, daß Sie sich an die »Prosweschtschenije« machen. Ich hatte schon – daß ich's Ihnen nur beichte – gedacht: sobald ich nur das kleine oder winzige Journälchen erwähne, wird A. M. sofort alle Lust vergehen. Ich tue Buße, aufrichtige Buße für solche Gedanken.
Das wäre wirklich ausgezeichnet, wenn wir nach und nach Belletristen heranziehen und die »Prosweschtschenije« vorwärts bringen! Ausgezeichnet! Der Leserkreis ist jetzt ein neuer, proletarischer – wir machen die Zeitschrift billig. – Sie lassen nur demokratische Belletristik herein, ohne Wehleidigkeit, ohne Renegatentum.
Die Arbeiter wollen wir schon zusammenschließen. Und die Arbeiter sind jetzt brave Menschen. Unsere sechs Arbeiterdeputierten in der Duma fangen jetzt an, sich für die Arbeit außerhalb der Duma so herauszumachen, daß es eine Lust ist. Hier werden die Leute eine Arbeiterpartei, eine echte, zusammenschließen! Nie hat man es in der dritten Duma dazu bringen können. Haben Sie im »Lutsch« (Nr. 24) den Brief der vier Deputierten über ihren Austritt gesehen?
Ein famoser Brief, nicht?
Und in der »Prawda« – haben Sie gelesen? Alexinski schreibt – gut! und randaliert vorläufig nicht! Erstaunlich! Er hat ein Manifest eingesandt (warum er in die »Prawda« eingetreten ist). Man hat es nicht aufgenommen. Und doch randaliert er vorläufig nicht. Er – staun – lich! Bogdanow hingegen randaliert: in Nr. 24 der »Prawda« steht eine Erzdummheit drin. Nein, mit dem ist nichts anzufangen! Ich habe seinen »Ingenieur Manny« gelesen. Immer derselbe Machismus-Idealismus, so versteckt, daß weder die Arbeiter, noch … die Redakteure in der »Prawda« etwas davon verstanden haben. Nein, dieser Machist ist hoffnungslos, ebenso wie Lunatscharski (für seinen Aufsatz – danke). Wenn man Lunatscharski in der Ästhetik ebenso von Bogdanow trennen könnte, wie Alexinski sich von ihm in der Politik zu trennen beginnt … ja, wenn und aber …
Hinsichtlich der Lehre über den Stoff und seine Struktur bin ich vollkommen mit Ihnen einverstanden, daß man darüber schreiben muß und daß es ein gutes Mittel ist gegen das »Gift, das die formlose russ[ische] Seele einsaugt.« Aber Sie tun unrecht daran, dieses Gift »Metaphysik« zu nennen. Es sollte Idealismus und Agnostizismus heißen.
Denn Metaphysik nennen ja die Machisten den Materialismus! Und gerade ist eine Menge der hervorragendsten modernen Physiker gelegentlich der »Wunder« des Radiums, der Elektronen usw. dabei, den lieben Gott – sowohl den allergröbsten als auch den allerfeinsten, als philosophischen Idealismus überall hineinzuschmuggeln.
Hinsichtlich des Nationalismus bin ich vollkommen Ihrer Meinung, daß man sich damit ernstlicher befassen müßte. Wir haben einen feinen Grusier hier, der für die »Prosweschtschenije« einen großen Artikel schreibt, für den er alle österreichischen und andere Daten gesammelt hat. Wir wollen uns gründlich daran machen. Aber daß unsere Beschlüsse (ich schicke sie Ihnen im Druck) »Federfuchserei, Kanzleiwust« sind – da geruhen Sie mit Ihrem Schelten unrecht zu haben. Nein. Das ist keine Federfuchserei. Hier und im Kaukasus haben die S.-D. unter den Grusiern, Armeniern, Tataren, Russen gemeinsam, in einer s.-d. Organisation über zehn Jahre lang gearbeitet. Das ist keine Phrase, sondern die proletarische Lösung der nationalen Frage. Die einzige Lösung. So war es auch in Riga: Russen, Letten, Litauer; es lösten sich nur die Separatisten – der »Bund« – los. Desgleichen in Wilna.
Es gibt zwei gute s.-d. Broschüren über die nationale Frage: von Strasser und von Pannekoek. Soll ich sie Ihnen schicken? Wenn sie sich bei Ihnen finden sollten, wer könnte sie Ihnen aus dem Deutschen übersetzen?
Nein, solche Gemeinheit, wie in Österreich, wird es bei uns nicht geben. Wir lassen es nicht zu! Überdies gibt es hier mehr von unsereinem, von den Großrussen. Bei den Arbeitern lassen wir es nicht zum »österreichischen Geiste« kommen.
Betreffs Pjatnitzki bin ich für das Gericht. Da brauchen keine Umstände gemacht zu werden. Sentimentalität wäre hier unverzeihlich. Die Sozialisten sind durchaus nicht gegen die Verwertung des Gerichts. Wir sind für die Ausnützung der Legalität. Marx und Bebel haben sich sogar wider ihre sozialistischen Gegner an das Gericht gewandt. Man muß wissen, wie das zu machen ist, aber gemacht muß es werden.
Pjatnitzki muß ohne weiteres verdonnert werden. Wenn Ihnen daraus ein Vorwurf gemacht werden sollte – spucken Sie denen, die das tun, ins Gesicht. Nur Heuchler werden Ihnen daraus einen Vorwurf machen. Pjatnitzki nachgeben, ihm das hingehen lassen aus Angst vor dem Gericht, wäre unverzeihlich.
Nun, ich habe unmäßig viel geschwatzt. Schreiben Sie, wie es mit der Gesundheit steht.
Ihr LENIN.
P. S. –
Wir kennen einen Petersburger Foma. Er ist jetzt in Narym. Foma aus dem Ural? Wir können uns nicht entsinnen. Auf dem Kongreß von 1907 war der Petersburger Foma.
Brief 25
[10. März 1913]
Teurer A. M.!
Heute habe ich das »Manifest« gelesen …
Den Literaten scheint volle Amnestie gewährt zu sein. Sie müssen versuchen heimzukehren – Selbstverständlich, nachdem Sie erst in Erfahrung gebracht haben, ob man Ihnen wegen der »Schule« usw. nicht ein Bein stellen wird. Wahrscheinlich wird man Sie dafür nicht verantwortlich machen können.
Hoffentlich sehen Sie die Dinge nicht so an, daß die Amnestie nicht »angenommen« werden darf? Das wäre eine falsche Auffassung: ein Revolutionär wird heutzutage innerhalb Rußlands mehr ausrichten, und unsere Deputierten unterschreiben sogar das »feierl[iche] Versprechen.«
Bei Ihnen handelt es sich jedoch nicht um die Unterschrift, sondern um die Ausnutzung der Amnestie. Schreiben Sie mir, Ihre Meinung und Ihre Absichten. Sie werden doch wohl einen Abstecher hierher machen, wenn Sie fahren werden – es ist ja Ihr Weg!
Einem revolutionären Schriftsteller bietet die Möglichkeit, Rußland (das neue Rußland) zu durchstreifen – eine hundertfach bessere Gelegenheit, den Romanows & Co. einen tüchtigen Schlag zu versetzen …
Haben Sie meinen vorhergehenden Brief erhalten? Ich habe schon lange keine Nachricht. Sind Sie gesund?
Ihr LENIN.
P. S. – Haben Sie N. K.'s Brief mit den Materialien erhalten?
Brief 26
[Anfang Mai 1913]
Teurer A. M.!
Wie steht's mit einem Artikelchen oder einer Erzählung für das Maiheft der »Prosweschtschenije? Man schreibt mir von dort, daß man 10-15 Tausend herausgeben könnte (solche Sprünge machen wir!), wenn etwas von Ihnen da wäre. Schreiben Sie, ob etwas kommt. Darauf druckt die »Prawda« es ab, und so kommen 40 000 Leser dabei heraus. Ja … die Geschäfte der »Prosw[eschtschenije]« könnten gut gehen, denn es gibt, weiß der Teufel, keine einzige streng gehaltene Zeitschrift für Arbeiter, für S.-D., für die revolutionäre Demokratie – lauter ekelhafte Schlapphähne.
Wie steht es mit der Gesundheit? Haben Sie sich erholt, und werden Sie im Sommer ausruhen? Es ist wirklich und wahrhaftig notwendig für Sie, einmal ordentlich sich auszuruhen!
Bei mir gibt's Ungemach. Meine Frau ist an der Basedowschen Krankheit erkrankt. Die Nerven! Meine Nerven gehen auch ein bißchen mit mir durch. Wir sind den Sommer über in das Dorf Poronin, unweit von Zakopanie gefahren. Meine Adresse: (Herrn Wl. Ulianow, Poronin, Galizien. Austria).
Die Gegend ist schön, gesund. Höhe ca. 700 Meter. Wie ist's, gedenken Sie nicht einen Ausflug hierher zu machen? Es werden interessante Arbeiter aus Rußland da sein. Zakopanie (7 Werst von uns entfernt) ist ein bekannter klimatischer Luftkurort.
»Haben Sie die »Fabeln« von Demjan Bedny gesehen? Ich will sie Ihnen schicken, wenn Sie sie noch nicht gesehen haben. Und wenn Sie sie gesehen haben, schreiben Sie, wie sie Ihnen gefallen.
Erhalten Sie auch die »Prawda« und den »Lutsch« regelmäßig? Unsere Sache schreitet – allem zum Trotz – vorwärts, und die Arbeiterpartei baut sich als eine revolutionäre, sozial-demokratische, gegen die liberalen Renegaten, die Liquidatoren, gerichtete Partei auf. Unsere Stunde schlägt auch noch einmal. Jetzt triumphieren wir anläßlich der Siege der Arbeiter in Petersburg über die Liquidatoren bei der Wahl der Leitung des neuen Metallarbeiterverbandes.
»Ihr« Lunatscharski ist aber gut!! Sehr gut!! Maeterlinck soll »wissenschaftlichen Mystizismus« besitzen … Oder sind etwa Lunatscharski und Bogdanow nicht mehr die Ihrigen?
Spaß beiseite. Bleiben Sie gesund, schreiben Sie zwei Worte. Ruhen Sie sich recht gut aus.
Ihr LENIN.
Ulianow. Austria, Poronin (Galizien).
P. S. – Wie haben Sie die Jubiläumsnummer der »Prawda« gefunden?
Brief 27
[Mai 1913]
Teurer A. M.!
Vor langer, langer Zeit schrieb ich Ihnen aus Krakau – und keine Antwort.
Heute kam ein Brief aus Rußland, aus Odessa, daß Stark (?) (aus Capri) sich wundere, warum ich dem Odessiten nichts davon mitgeteilt hätte, was ich durch Stark und durch Sie(!) über die odessitische bolschew[istische] Zeitung wisse!!
Was ist das für ein Mißverständnis, und woher stammt es?? Ich sagte dem Odessiten – schreiben Sie mir über die Odes[saer] bolschew[istische] Zeitung, über die ich nichts weiß. Und auch bis jetzt noch nichts weiß. Der Odessite schreibt, daß dort »Maliantowitsch der Jüngere« beteiligt sei. Das höre ich zum erstenmal. Was ist das für ein Maliantowitsch? Der »Nikititsch'sche?« (ich kenne keinen einzigen Maliantowitsch persönlich). Ist es der Moskauer Advokat oder ein anderer?
Schreiben Sie mir, was Ihnen darüber bekannt ist. Man muß dies Mißverständnis entwirren.
Ich bin den Sommer über nach Poronin (unweit von Zakopane) übergesiedelt, um meine Frau behandeln zu lassen. Ich reise zum 27 April 13 mit ihr nach Bern zur Operation. Meine Adresse: Poronin (Galizien) Austria.
In Bern bleibe ich 2-3 Wochen. Dorthin kann man an mich per Adresse Herrn Schklowsky, 9, Falkenweg, 9, Bern (für Lenin) schreiben.
Wie geht es mit Ihrer Gesundheit? Haben Sie sich nach dem Frühjahr erholt? Ich wünsche Ihnen aus ganzer Seele Ruhe und gute Erholung.
Ihr LENIN.
Brief 28
[Juni 1913]
Teurer Al. Max.!
Heute erhielten wir einen Brief aus Petersburg, daß unser Plan bezüglich des Hierherkommens der s.-d. Deputierten (höchst konspirativ: es wurde beschlossen, daß nur Sie es erfahren dürfen) seiner Verwirklichung nahe ist. Außer den sechs Anhängern der »Prawda« ist, wie man schreibt, die Herreise von Tuliakow, Burjanow, Chaustow und sogar vielleicht Manjkow möglich. Wahrscheinlich gelingt es, noch jemanden von den Arbeitern (nicht Deputierte) heranzuziehen. Schreiben Sie mir, bitte, ob Sie kommen können (für eine Reihe von Vorlesungen oder Kursen, wie Sie wollen) oder nicht? Es wäre so schön! 7 Km. weit von hier (mit der Bahn) liegt Zakopanie – ein sehr guter Kurort. Was das Reisegeld anbetrifft, so werden wir es aller Wahrscheinlichkeit nach (so schreibt man) aufbringen. Über Zakopanie als Kurort können wir das Nähere erfahren und es Ihnen mitteilen.
Wenn die Gesundheit es Ihnen erlaubt, kommen Sie doch auf kurze Zeit, wirklich! Nach London und nach der Schule auf Capri bekämen Sie noch andere Arbeiter zu sehen.
Malinowski wollte zu Ihnen reisen, aber es gelang ihm nicht, er hatte keine Zeit. Sowohl er als auch alle Deputierten senden Ihnen einen herzlichen Gruß.
Ich warte auf Antwort.
Ihr LENIN.
Die Zeitungen sind voller Nachrichten über den »Konflikt«. Ich vermute, die »Prawda« wird man uns erwürgen. Das wird Maklakow so oder so, ohne die Duma, gegen die Duma oder sonst wie, aber er wird es durchsetzen!
Dann verlegen wir uns wieder auf die illegale Literatur, wir haben bloß kein Geld.
Wie ist's denn, hat der »Kaufmann« noch nicht angefangen, zu geben? Es ist Zeit. Höchste Zeit.
Adresse: Herrn Wl. Ulianow, Poronin (Galizien) Autriche.
Brief 29
25. Juli 1913.
Teurer A. M.!
Ich hatte immer vor, Ihnen zu schreiben, verschob es aber wieder wegen der Operation meiner Frau. Vorgestern war endlich die Operation, und es geht jetzt bereits der Besserung zu. Die Operation erwies sich als ziemlich schwierig – ich bin sehr froh, daß es uns gelungen ist, bei Kocher operieren zu lassen.
Jetzt das Geschäftliche. Sie schrieben, daß Sie im August in Berlin sein würden? Wann im August? Anfang oder Ende des Monats? Wir beabsichtigen, am 4. August von hier abzureisen. Wir haben Fahrkarten über Zürich – München – Wien und werden in allen diesen Städten Aufenthalt haben. (Es ist möglich, daß der Arzt uns am 4. noch nicht fortläßt – dann verschieben wir es noch.)
Könnten wir uns nicht irgendwo sehen? Es würde doch gewiß Ihr Weg sein, wenn Sie über Bern oder über Zürich oder über München reisten?
Wiedersehen müßten wir uns dringend. Das Verbot der » Prawda« schafft eine verteufelt schwierige Lage. Vielleicht könnten wir uns doch etwas ausdenken. Und dann könnten Sie in Berlin sehr viel für uns, d. h. für die » Prawda«, tun.
Daher bitte ich Sie sehr, mir sofort wenn auch nur ein paar Worte, zu schreiben, ob ein Wiedersehen zwischen uns hier oder an den erwähnten Orten Anfang Aug[ust] möglich ist. Sollte es unmöglich sein, so schreibe ich Ihnen dann ausführlicher über alle Geschäfte, namentlich über die Schule (der Verlust des Organisators hat uns verteufelt hineingelegt; wir suchen einen anderen).
Ich drücke Ihnen kräftig die Hand und wünsche Ihnen alles mögliche Gute, vor allem Gesundheit für die Reise. Also antworten Sie sofort!
Ihr LENIN.
Adresse: Herrn Ulianow, 4 Gesellschaftsstraße 4 (Svizzera). Bern.
Brief 30
30. Sept. 1913
Teurer A. M.!
Ich habe mich etwas mit der Antwort verspätet. Bitte um Entschuldigung. Wie ich mich in diesem verteufelten Bern und nachher geärgert habe!! Ich habe mir gedacht: wenn Sie in Verona sind (das Tel[egramm] von Ihnen betreffs Bebel war aus Verona) – oder dies rätselhafte Rom …?? Ich hätte ja aus Bern nach Verona kommen können!! Und damals kam von Ihnen monatelang kein Wort …
Was Sie mir über Ihre Krankheit schreiben, beunruhigt mich schrecklich. Tun Sie auch recht daran, ohne ärztliche Behandlung auf Capri zu leben? Die Deutschen haben ausgezeichnete Sanatorien (z. B. in St. Blasien, unweit der Schweiz), wo Lungenkrankheiten kuriert und völlig auskuriert werden, man bringt es zu einer vollständigen Vernarbung, füttert die Patienten heraus, dann gewöhnt man sie systematisch an Kälte, härtet sie gegen Erkältungen ab und entläßt brauchbare, arbeitsfähige Menschen.
Und Sie wollen von Capri im Winter – nach Rußland????? Ich habe fürchterliche Angst, daß das Ihrer Gesundheit schadet und Ihrer Arbeitsfähigkeit Abbruch tun wird. Gibt es in diesem Italien erstklassige Ärzte??
Wirklich, fahren Sie doch einmal zu einem erstklassigen Arzte nach der Schweiz (ich kann Ihnen Namen und Adressen in Erfahrung bringen) oder nach D[eutschland] – befassen Sie sich an die 2 Monate ernstlich mit der Behandlung in einem guten Sanatorium. Denn Staatseigentum unnütz rauben – d. h. krank sein und seine Arbeitsfähigkeit untergraben – ist in jeder Beziehung unzulässig.
Ich habe (von dem Red[akteur] der »Prosw[eschtschenije]«, der Ladyschnikow gesehen hat), gehört, daß Sie mit der » Prawda« wegen deren Nüchternheit unzufrieden sind? Das stimmt. Aber dieser Fehler läßt sich nicht so leicht auf einmal beseitigen. Wir haben keine Leute. Mit großer Mühe haben wir es ein Jahr nach dem Beginn nur zu einer erträglichen Redaktion in Petersburg gebracht. (Ihren Brief an die »Prosw[eschtschenije]« habe ich übermittelt).
Schreiben Sie, was Sie für Pläne haben und wie es mit der Gesundheit steht. Ich bitte Sie inständig, sich ernstlich kurieren zu lassen – wirklich und wahrhaftig, es ist durchaus möglich, gesund zu werden, aber es einreißen zu lassen – wäre einfach gottlos und verbrecherisch.
Ihr LENIN.
P. S. – Wir hatten teils, teils werden wir noch nette Leute bei uns haben. Haben Sie auch »Nasch Putj« gesehen? Wie finden Sie den Erfolg? Das ist nun schon die zweite Zeitung. Wir werden auch noch die dritte im Süden begründen.
Adresse: Ulianow. Poronin (Galizien), Austria. (Im Winter bin ich in Krakau: Lubomirskiego 51).
Brief 31
[Anfang Nov. 1913]
Teurer Alexej Maximowitsch!
Ich schicke Ihnen heute unter Kreuzband, eingeschrieben, den Anfang des in der » Prosweschtschenije« erscheinenden Romanes. Wir denken, daß Sie nicht dagegen sein werden. Sollten Sie, wider Erwarten, dagegen sein, – so telegraphieren Sie an die »Prosweschtschenije«: »Woitinski zurücklegen« oder »Woitinskis Roman nicht aufnehmen.«
Die Nachricht, daß Sie auf neue Art von »einem Bolschewisten«, wenn auch von einem gewesenen, behandelt werden, hat mich wirklich und wahrhaftig beunruhigt. Gott behüte uns vor Genossen als Ärzte überhaupt, vor bolschewistischen Ärzten im besonderen! Wirklich, in 99 Fällen von 100 sind Genossen als Ärzte »Esel«, wie mir einmal ein guter Arzt gesagt hat. Ich versichere Ihnen, daß man sich (außer in geringfügigen Fällen), nur von erstklassigen Berühmtheiten behandeln lassen sollte. Die Erfindungen eines Bolschewisten an sich auszuprobieren – das ist fürchterlich!! Es bleibt nur die Kontrolle der neapolitanischen Professoren … wenn diese Professoren wirklich tüchtig sind … Wissen Sie was? wenn Sie im Winter reisen werden, machen Sie auf jeden Fall einen Abstecher zu den erstklassigen Ärzten in der Schweiz und in Wien – es wäre unverzeihlich, wenn Sie das nicht tun würden. Wie geht es jetzt mit der Gesundheit?
Ihr N. LENIN.
P. S. – Unsere Geschäfte gehen nicht schlecht; in Petersburg schließen sich die Arbeiter in allen legalen Vereinigungen, darunter – in den Versicherungsvereinigungen, parteilich zusammen. Hier waren interessante und auch tüchtige Burschen.
Adresse: Wl. Ulianow. 51, Ulica Lubomirskiego., Krakow. Krakau (Galizien).
Brief 32
[14. Nov. 1913]
Teurer A. M.!
Was machen Sie denn nun eigentlich? – Es ist ja geradezu entsetzlich!
Gestern las ich in der »Rjetsch« Ihre Antwort auf das »Geheul« wegen Dostojewsky und ich wollte mich schon freuen, heute aber trifft die »Liquidations«-Zeitung ein, in der ein Absatz Ihres Artikels abgedruckt ist, den es in der »Rjetsch« nicht gegeben hat.
Dieser Absatz lautet folgendermaßen:
»Die ›Gottsucherei‹ aber muß man eine Zeitlang (nur eine Zeitlang?) aufschieben – das ist eine zwecklose Beschäftigung: es hat keinen Zweck zu suchen, wenn es einem nicht gegeben ist. Wer nicht erntet, der säet nicht. Ihr habt keinen Gott, Ihr habt ihn noch (noch)! nicht geschaffen. Die Götter sucht man nicht – man schafft sie; das Leben wird nicht ausgedacht, man erzeugt es.«
Daraus geht also hervor, daß Sie nur »eine Zeitlang« gegen die »Gottsucherei« sind!! Daß Sie nur deshalb gegen die Gottsucherei sind, weil Sie sie durch eine Gotterschaffung ersetzen wollen!!
Nun, ist es denn nicht grauenhaft, was da bei Ihnen für eine Sache herauskommt??
Das Gottsuchen unterscheidet sich von dem Gotterschaffen oder von dem Gotterzeugen usw. keineswegs mehr, als ein gelber Teufel sich von einem blauen unterscheidet. Gegen das Gottsuchen sprechen, nicht um sich gegen alle Teufel und Götter auszusprechen, gegen jede ideologische Seuche – (jeder Gott ist eine Seuche und mag es der reinlichste, idealste, nicht gesuchte, sondern erschaffene Gott sein, das ist einerlei), sondern um einen blauen Teufel dem gelben vorzuziehen – das ist hundertmal schlimmer, als überhaupt nicht davon reden.
In den freiesten Ländern, in solchen Ländern, wo ein Aufruf »An die Demokratie, an das Volk, an die Öffentlichkeit und Wissenschaft« ganz unangebracht wäre, in solchen Ländern (Amerika, Schweiz usw.) macht man das Volk und die Arbeiter gerade mit der Idee eines reinlichen, geistigen, erst zu schaffenden Gottes auf das eifrigste stumpfsinnig. Gerade deshalb, weil jede religiöse Idee, jede Idee von jedem Gott, jedes Kokettieren sogar – unaussprechbare Gemeinheit ist, wird sie von der demokratischen Bourgeoisie besonders gern geduldet (oft sogar mit Wohlwollen aufgenommen), – gerade deshalb, weil es die gefährlichste Gemeinheit, die niederträchtigste »Infektion« ist. Millionen von Sünden, Schweinereien, Vergewaltigungen und Ansteckungen physischer Art werden von der Menge viel leichter entlarvt und sind daher weniger gefährlich als jene feine, vergeistigte, auf das beste mit »ideologischen Kostümen geschmückte Gottidee. Ein katholischer Pfaffe, der Mädchen vergewaltigt (von dem ich jetzt gerade zufällig in einer deutschen Zeitung las), ist für die »Demokratie« weit weniger gefährlich als ein Pfaffe ohne Meßgewand, ein Pfaffe ohne grobe Religion, ein ideeller und demokratischer Pfaffe, der die Erschaffung eines neuen Gottes predigt. Denn den ersten Pfaffen zu entlarven, ist leicht, es ist nicht schwer, ihn zu verurteilen und hinauszuwerfen – aber der zweite läßt sich nicht so einfach hinauswerfen – es ist tausendmal schwerer, ihn zu entlarven, und kein »zerbrechlicher und wankelmütiger« Kleinbürger wird sich bereit erklären, ihn zu verurteilen«.
Und Sie, der Sie die »Zerbrechlichkeit und weiche Wankelmütigkeit« (der russischen, warum der russischen? ist die italienische besser??) der kleinbürgerlichen Seele kennen, verwirren diese Seele mit einem Gift, das viel süßer und weit mehr mit Zuckerwerk und allerlei buntem Firlefanz verhüllt ist!!
Das ist wirklich entsetzlich.
Genug der »Selbstbespeiungen, die bei uns die Selbstkritik ersetzen«.
Und die Gotterschaffung – ist es nicht die übelste Art der Selbstbespeiung?? Jeder Mensch, der sich mit der Konstruktion eines Gottes beschäftigt oder auch nur eine solche Konstruktion zuläßt, bespeit sich auf die übelste Art, denn er beschäftigt sich statt mit dem »Tun« gerade mit der Selbstbetrachtung und der Selbstbespiegelung, wobei ein solcher Mensch die unsaubersten stupidesten, knechtischsten Züge oder Züglein seines »Ichs«, die er mit seinem Gotterschaffen zu vergöttern sucht, liebevoll »betrachtet«.
Vom sozialen Gesichtspunkte, nicht vom persönlichen, ist jede Gottschafferei nichts anderes als die liebevolle Selbstbetrachtung des stumpfsinnigen Kleinbürgertums, des zerbrechlichen Philisters, der träumerischen »selbstbespeienden« Kleinbourgeois, die »verzweifelt und müde« sind (wie Sie das sehr richtig von der Seele zu sagen geruhten – nur hätten Sie nicht von der »russischen«, sondern von der kleinbürgerlichen Seele sprechen müssen, denn die jüdische, italienische, englische ist nicht um ein Haar besser – sie alle sind des Teufels, gleich niederträchtig, überall ist das Kleinbürgertum gleich gemein, während das »demokratische Kleinbürgertum«, das sich mit ideologischer Verseuchung beschäftigt, dreifach gemein ist).
Ich lese mich in Ihren Artikel hinein und suche danach, wie dieser Fehler bei Ihnen entstehen konnte – ich bin ratlos. Was ist das? Sind es Reste Ihrer »Beichte«, die Sie selbst nicht mehr billigen?? Ihr Widerhall??
Oder etwas anderes – z. B. ein mißglückter Versuch, sich zum allgemeinen demokratischen Standpunkt hinabzubeugen, statt den proletarischen Standpunkt einzunehmen? Vielleicht wollten Sie, um ein Gespräch mit der »Demokratie im allgemeinen« zu ermöglichen, ein wenig (entschuldigen Sie den Ausdruck!) »zuzzeln«, wie man es mit Kindern zu tun pflegt? Vielleicht wollten Sie »zu populären Zwecken« diese oder jene Vorurteile des Kleinbürgers annehmen?
Aber das ist doch eine unrichtige Methode, unrichtig in jedem Sinne!
Ich sagte oben, daß in demokratischen Ländern ein Appellieren »an die Demokratie, an das Volk, an die Öffentlichkeit und Wissenschaft« von seiten eines proletarischen Schriftstellers durchaus unangebracht wäre. Nun, und bei uns in Rußland? Ein solcher Appell ist nicht ganz angebracht, denn er schmeichelt ebenfalls auf irgendeine Weise den kleinbürgerlichen Vorurteilen. Einen solchen Appell von dieser Nebelhaftigkeit würde bei uns sogar ein Isgojew aus der »Rußkaja Mysl« mit beiden Händen unterschreiben.
Warum soll man Parolen nehmen, die Sie zwar von denen Isgojews zu scheiden wissen, aber nicht der Leser?? Warum dem Leser eine demokratische Verschleierung auftischen, statt der klaren Unterscheidung von Kleinbürgern – der zerbrechlichen, kläglich wankelmütigen, ermüdeten,, verzweifelten, sich betrachtenden, gottbetrachtenden, gotterschaffenden, gottgewährenden, sich selbst bespeienden, blöd-anarchistischen (ein prachtvolles Wort!! usw. usw.) – und Proletariern (die es verstehen, nicht nur mit Worten mutig zu sein, die es verstehen, »Wissenschaft und Öffentlichkeit« der Bourgeoisie von ihrer eigenen, die bürgerliche Demokratie von der proletarischen zu unterscheiden)?
Warum tun Sie das?
Es kränkt einen verteufelt.
Ihr W. ULJANOW.
P. S. Wir haben den Roman eingeschrieben abgeschickt.
Haben Sie ihn erhalten?
P.P.S. Kurieren Sie sich so gut wie möglich, wirklich, damit man im Winter ohne Erkältungen reisen kann. (Im Winter ist es gefährlich.)
Ihr W. ULJANOW.
Brief 33
[15. Nov. 1913]
Teurer A. M.!
Ich habe den Roman und Ihren Brief erhalten. Meiner Ansicht nach ist der Roman zurückzuhalten, da Sie nun einmal nicht dafür sind. Ich lege einen Brief von Kamenew bei, der den Roman gelesen hat (ich habe ihn noch nicht gelesen).
Wir wollen nach Petersburg schreiben, daß man ihn zurückhält.
Ich lege meinen gestrigen Brief hier bei: seien Sie nicht böse, daß ich wütend wurde. Vielleicht habe ich Sie nicht richtig verstanden? Vielleicht haben Sie »eine Zeitlang« zum Scherz hingeschrieben? Und über die Gotterschaffung haben Sie vielleicht auch nicht im Ernst geschrieben??
Lassen Sie sich um Gotteswillen tüchtig behandeln.
Ihr LENIN.
Brief 34.
[Dezember 1913]
In der Frage nach Gott und allem, was damit zusammenhängt, kommt bei Ihnen ein Widerspruch heraus – derselbe, meiner Ansicht nach, auf den ich in unseren Gesprächen während unseres letzten Beisammenseins auf Capri hinwies: Sie haben mit den »Vorwärtslern« gebrochen (oder scheinen mit ihnen gebrochen zu haben), ohne die ideellen Grundlagen des »Vorwärtslertums« zu bemerken.
So auch jetzt. Sie sind »ärgerlich«, Sie »können nicht begreifen, wie der Ausdruck »eine Zeitlang« Ihnen entschlüpfen konnte«, – so schreiben Sie, und gleichzeitig verteidigen Sie die Idee von Gott und Gotterschaffung.
»Gott ist der Komplex jener von Rasse, Nation, Menschheit erschaffenen Ideen, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren, mit dem Ziele, die Persönlichkeit mit der Gesellschaft zu vereinigen, den zoologischen Individualismus zu zügeln.«
Diese Theorie hängt offensichtlich mit der Theorie oder den Theorien von Bogdanow und Lunatscharski zusammen.
Und auch sie ist offensichtlich falsch und offensichtlich reaktionär. Nach dem Ebenbilde der christlichen Sozialisten (der schlimmsten Abart des »Sozialismus« und seiner schlimmsten Verzerrung), gebrauchen Sie ein Mittel, das (trotz Ihrer besten Absichten) den Hokus-Pokus des Popentums wiederholt: aus der Gott[heits]idee wird das ausgeschaltet, was ihr historisch und in der Lebenspraxis anhaftet (Teufelsspuk, Vorurteile, Heiligsprechung der Unwissenheit und Verschüchtertheit einserseits, der Leibeigenschaft und der Monarchie anderseits), wobei an Stelle der historischen und alltäglichen Realität in die Gott[heits]idee eine gutherzige, kleinbürgerliche Phrase hineingelegt wird (Gott = »die die sozialen Gefühle weckenden und organisierenden Ideen«).
Sie wollen damit etwas »Gutes und Schönes« sagen, auf die »Wahrheit – Gerechtigkeit« hinweisen und dergleichen mehr. Aber dieser Ihr frommer Wunsch bleibt Ihr persönliches Eigentum, ein subjektiver »unschuldiger Wunsch«. »Wenn Sie ihn einmal niedergeschrieben haben, dann dringt er in die Masse, und seine Bedeutung wird nicht durch Ihren frommen Wunsch, sondern durch die Wechselbeziehung zwischen den sozialen Kräften, durch die objektive Wechselbeziehung der Klassen bestimmt. Kraft dieser Wechselbeziehung erweist es sich (wider Ihren Willen und unabhängig von Ihrem Bewußtsein), erweist es sich, daß Sie die Idee der Klerikalen, der Purischkewitschs, N[ikolaus] II und der Herren Struve geschminkt und gezuckert wiedergegeben haben, denn tatsächlich hilft die Gott[heits]idee diesen Leuten, das Volk in Sklaverei zu halten. Indem Sie die Gott[heits]idee ausschmücken, schmücken Sie die Ketten, mit denen sie die unwissenden Arbeiter und Bauern fesseln. »Seht ihr wohl« – werden die Popen & Co. sagen – »was für eine schöne und tiefe Idee das ist (die Gott[heits]idee), daß sie sogar von » euren« Herren Demokraten, von den Führern anerkannt wird, – und wir (die Popen & Co.) dienen dieser Idee.«
Es ist nicht richtig, daß Gott der Komplex von Ideen ist, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren. Das ist Bogdanowscher Idealismus, der den materiellen Ursprung der Ideen vertuschen will. Gott ist (historisch und praktisch) zu allererst ein Komplex von Ideen, die durch die stumpfsinnige Niedergedrücktheit des Menschen und die äußere Natur und die Klassenunterdrückung erzeugt wurden – von Ideen, die diese Niedergedrücktheit festigen, die den Klassenkampf einschläfern. Es gab eine Zeit in der Geschichte, da trotz eines solchen Ursprungs und einer solchen tatsächlichen Bedeutung der Gott[heits]idee der Kampf der Demokratie und des Proletariats in Gestalt des Kampfes einer religiösen Idee wider die andere vor sich ging.
Aber auch diese Zeit ist längst vorüber.
Jetzt ist, sowohl in Europa als auch in Rußland, jede, selbst die raffinierteste, die wohlgemeinteste Verteidigung oder Rechtfertigung der Gott[heits]idee – eine Rechtfertigung der Reaktion.
Ihre ganze Definition ist durch und durch reaktionär und bürgerlich. Gott – ein Komplex von Ideen, die »die sozialen Gefühle wecken und organisieren, mit dem Bestreben, die Persönlichkeit mit der Gesellschaft zu verbinden, den zoologischen Individualismus zu zügeln«.
Weshalb das reaktionär ist? Weil es die Idee der Popen und der Verfechter der Leibeigenschaft von der »Zügelung« der Zoologie ausschmückt.
In Wirklichkeit hat nicht die Gott[heits]idee den »zoologischen Individualismus« gezügelt; das tat sowohl die ursprüngliche Herde als auch die ursprüngliche Kommune. Die Gott[heits]idee hat die »sozialen Gefühle« immer eingeschläfert und abgestumpft und Lebendes durch Totes ersetzt, da sie immer die Idee einer Sklaverei (der schlimmsten, rettungslosen Sklaverei) war. Nie hat die Gott[heits]idee »die Persönlichkeit mit der Gesellschaft verbunden«, aber immer fesselte sie die unterdrückten Klassen durch den Glauben an die Göttlichkeit der Unterdrücker.
Bürgerlich ist Ihre Definition (und nicht wissenschaftlich, nicht historisch), weil sie mit undifferenzierten, allgemeinen, »robinsonhaften« Begriffen überhaupt – und nicht mit bestimmten Klassen einer bestimmten geschichtlichen Epoche operiert.
Eine Sache für sich ist die Gott[heits]idee bei einem Wilden, einem Syrjanan usw. (auch einem Halbwilden), eine andere Sache – bei Struve & Co. In beiden Fällen unterstützt die Klassenherrschaft diese Idee (und wird von dieser Idee unterstützt). Der »volkstümliche« Begriff vom lieben Gott und dem Göttlichen ist »volkstümlicher« Stumpfsinn, Verprügeltheit, Unwissenheit, genau dasselbe wie »die volkstümliche Vorstellung« vom Zaren, vom Waldteufel, vom Prügeln der Ehefrauen. Wie Sie die »volkstümliche Vorstellung« von Gott eine »demokratische« nennen können, ist mir absolut unverständlich.
Daß der philosophische Idealismus »immer nur die Interessen der Persönlichkeit im Auge hat«, das stimmt nicht. Hat Descartes im Vergleich zu Gassendi die Interessen der Persönlichkeit etwa mehr im Auge? Oder Fichte und Hegel verglichen mit Feuerbach?
Daß »die Gotterschaffung ein Prozeß weiterer Entwicklung und Ansammlung sozialer Momente im Individuum und in der Gesellschaft« sein soll, das ist einfach fürchterlich!! Wenn in Rußland Freiheit herrschte – die ganze Bourgeoisie würde Sie ja für solche Sachen, für diese Soziologie und Theologie von rein bürgerlichem Typus und Charakter auf den Schild heben.
Nun genug vorläufig – der Brief hat sich ohnedies in die Länge gezogen. Nochmals drücke ich Ihnen kräftig die Hand und wünsche Ihnen Gesundheit.
Ihr W. I.