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Souveränität im Dienst der Völker  (Samir Amin)

Aus ProleWiki


Souveränität im Dienst der Völker
Autor*inSamir Amin
Übersetzt vonAus dem Französischen von Birgit Althaler
VerlagPromedia Verlag
ISBNISBN: 978-3-85371-872-8


Über den Autor

Samir Amin, geboren 1931 in Kairo, war Direktor des Dritte-Welt- Forums in Dakar/Senegal. Er gehörte zu den einflussreichsten Intellektuellen des »globalen Südens« und hat maßgeblich an dependenztheoretischen und weltsystemischen Ansätzen gearbeitet. Sein 1970 zuerst auf Französisch erschienenes Werk »L’accumulation à l’échelle mondiale« prägte eine ganze Generation entwicklungspolitischer DenkerInnen. Samir Amin starb am 12. August 2018 in Paris.

Einleitung

Dieses Buchprojekt ist das Ergebnis von Samir Amins letztem Besuch in Wien im Oktober 2017. Drei Tage lang diskutierte der renommierte Entwicklungstheoretiker seine Thesen zur Notwendigkeit einer sozialistischen Perspektive, seine Einschätzung der Russischen Revolution, der Sowjetunion und China sowie zum Potenzial globalisierungskritischer Kräfte weltweit mit Student Innen und AktivistInnen aus sozialen Bewegungen. Daraufhin entstand die Idee einer neuen deutschsprachigen Publikation, basierend auf Texten, die kurz zuvor auf Französisch veröffentlicht worden waren. Amin ist in Frankreich und im nördlichen Afrika, seinen Lebensmittelpunkten, in der globalen entwicklungstheoretischen ForscherInnen-Community sowie unter antiimperialistischen AktivistInnen, die sich für eine andere, sozial gerechtere Welt einsetzen, gut bekannt. Im deutschen Sprachraum hingegen wird er nach wie vor als Geheimtipp gehandelt.

Dieses Buch soll Abhilfe schaffen, zumal Amin angesichts aktueller Verunsicherungen nicht nur Klarheit in der Analyse schafft, sondern vor allem Handlungsperspektiven aufzeigt. Durch seinen Tod am 12. August 2018 konnte Amin das Erscheinen dieses Buches nicht mehr erleben. Wer sich für die wissenschaftlichen Positionen Amins interessiert, hat dazu in den mehr als 30 Büchern, davon viele in andere Sprachen übersetzt, sowie in zahlreichen Fachartikeln Gelegenheit. Dieses Werk entstammt der zweiten Kategorie von Amins Werk, der politischen Kampfschrift. Sie basiert in der Analyse selbstredend auf wissenschaftlichen Grundlagen, geht in ihren Ansprüchen und Forderungen jedoch weit darüber hinaus. Es ist der Text eines ungeduldigen Militanten, wie auf Französisch PolitaktivistInnen genannt werden. Amin der Militante hält sich nicht mit historischen Erläuterungen und Forschungskontroversen auf, sondern steuert direkt auf die seiner Meinung nach brennendsten Fragen der Menschheit zu: das Überleben der Menschen auf dem Planeten in einer Weise, dass alle seine BewohnerInnen darin in angemessener und würdiger Weise teilhaben können. Die Basis dieses Überlebens ist die Produktion von und der Zugang zu Nahrungsmitteln.

Amin ist 85 Jahre alt, als er diese Texte schreibt. Er blickt auf ein außergewöhnliches Dasein zurück, das ihn Kolonialismus, Entkolonisierung, Aufbruchstimmung der postkolonialen Staaten und sozialistische Experimente ebenso wie eine Reihe von Rückschlägen erleben ließ. Die Einschätzung der aktuellen Lage ist widersprüchlich: Einerseits sind die Hoffnungen der postkolonialen Staaten auf eigenständige Entwicklung zerplatzt, nachdem die führenden kapitalistischen Mächte – allen voran die USA – ihre Hegemonie über den Süden im Zuge der jüngsten Globalisierungswelle erneut konsolidiert haben. Andererseits haben sie die Zügel nicht mehr so fest in der Hand wie im klassischen Imperialismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie sehen sich wie während der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Kräfteverschiebungen aus dem Süden gegenüber. Diesem fehle zwar eine gemeinsame Perspektive, aber immerhin: seit der erfolgreichen Konsolidierung der kapitalistischen Weltwirtschaft unter westlicher Dominanz nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus gibt es nicht nur Zeichen, sondern auch konkrete Anknüpfungspunkte für einen anderen Weg der Entwicklung. Amin will diesen Weg und diejenigen, die dafür eintreten, unterstützen.

Dabei warnt er vor Illusionen in Reformen, vor einem Nachholen unter kapitalistischen Bedingungen und vor der Hoffnung auf nationale und regionale Alleingänge, die auf dem Rücken anderer Völker und Regionen erzielt werden. Kein Wunder, dass er ungeduldig ist, nachdem sein Lebensweg schon öfter mit Krisen und Aufbrüchen, aber auch mit Sackgassen und Enttäuschungen gepflastert war. Dabei mahnt er keineswegs Eile oder vorauseilenden Radikalismus ein, nein, es geht ihm darum, angesichts der verbreiteten Alternativlosigkeit und dem Trend zur Flucht in ethnische oder religiöse Identitätsvorstellungen die gesellschaftspolitischen Ziele einer gerechten Welt nicht aus dem Auge zu verlieren. Jetzt, wo Amin tot ist, ist diese Aufgabe auf die jüngere Generation übergegangen. Der Text fasst, ohne auf Wissenschaftssprache Rekurs zu nehmen, die zentralen Positionen der Amin’schen Weltsystemanalyse zusammen. Der Fokus liegt dabei auf der Agrarfrage und auf der nationalen Frage, die er über den Begriff der Souveränität verknüpft: Volkssouveränität als Voraussetzung für Ernährungssouveränität. Aus Amins Perspektive – jene des globalen Südens, wo die Mehrheit der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig ist – müssen die vom Westen vorangetriebenen Agrarreformen zum Aufbau einer großbetrieblichen produktivitätsorientierten industriellen Landwirtschaft desaströs enden.

Wir sind ja schon mitten drin im Desaster der Privatisierung der Böden, der Monopolisierung des Saatguts und dem Einsatz von Chemie und Schädlingsbekämpfung zur Produktivitätssteigerung. Der agro industrielle Komplex kann sich als großer Gewinner dieser Entwicklung sehen, während die kleinbäuerliche Bevölkerung vom Land in die Städte und von den Slums in die Arbeitsmigration getrieben wird. Es geht Amin darum, diesen Menschen ein angemessenes Auskommen am Land zu ermöglichen. Auch dies muss mit verbesserten Produktionsbedingungen und höheren Erträgen einhergehen, allerdings im Kontext einer Politik gestützter Preise, die das Überleben als bäuerlicher Haushalt ermöglicht, genossenschaftlicher oder staatlicher Vertriebsformen sowie einer Verknüpfung des Agrarsektors mit den anderen wirtschaftlichen Sektoren. An diesem Punkt gehen die agrarpolitischen Vorstellungen unmittelbar in eine volkswirtschaftliche Strategie über, die die Landwirtschaft mit der infrastrukturellen Erschließung der Regionen sowie der Maschinen- und der Lebensmittelindustrie verknüpft.

Im regionalen Kontext bzw. auf dem Binnenmarkt, versteht sich, denn in der herrschenden Weltwirtschaftsordnung geht die großbetriebliche Agrarproduktion, die die Kleinbauern an den Rand drängt, in den Export und wird in den entwickelten Staaten verarbeitet. Sämtliche Inputs wie Saatgut, Maschinen, Dünger und Insektizide kommen ebenfalls von wenigen marktbeherrschenden Konzernen aus dem Westen. Und anstelle einheimischer Preispolitik, die den bäuerlichen Betrieben die Existenz ermöglicht, verordnet die Welthandelsorganisation Freihandel. Damit öffnet sich der Markt für Nahrungsmittelimporte aus den USA und europäischen Staaten, die– doppelten Standards sei dank – aufgrund von Agrarsubventionen an die dortigen Landwirte die lokalen Märkte noch weiter unter Druck setzen. Amin ist hier ganz klar: Die grundlegenden Probleme der Mehrheitsbevölkerung dieser Welt, auch wenn sich die Sachlage aus der Perspektive der entwickelten Industriestaaten anders darstellt, muss von unten angegangen werden. Er führt im zweiten Kapitel sowohl die Verwerfungen der kolonialen Zeit, der »grünen Revolutionen« der 1960er- und 1970er-Jahre und der Bodenprivatisierung und Bodenmonopolisierung der letzten Jahrzehnte als auch althergebrachte örtliche Regelungen zur Beteiligung breiter Bevölkerungskreise an Bodennutzung und Konsum aus; dazu kommen die revolutionären Experimente kollektiver Landwirtschaft, die er im Fall der Sowjetunion aufgrund der Zwangskollektivierungen der 1930er-Jahre negativ einschätzt, während er gegenüber den Landkollektiven im Maoismus keine Kritik aufkommen lässt.

Amin führt aber auch aus seiner eigenen Erfahrung als Berater verschiedener afrikanischer Regierungen für uns Zentraleuropäer Innen gänzlich unbekannte sozialistische Experimente an, etwa die in Mali von der Partei der Sudanesischen Union 1960 umgesetzten Formen kollektiver Landwirtschaft, die auf dem Familienbetrieb als zentraler wirtschaftlicher Einheit beruhten. So kann es nicht verwundern, dass Amin auch in den Ländern des Zentrums die bäuerliche Familienwirtschaft gegenüber der Durchsetzung eines monopolisierten agro-industriellen Komplexes schützen will, der die bäuerlichen Betriebe zu bloßen Handlagern bzw. Zulieferern des Agrobusiness macht oder die Produktion gänzlich übernimmt. Die Bauern- und Bäuerinnen-Bewegungen im Norden werden damit zu selbstverständlichen BündnispartnerInnen für den Kampf gegen die Diktate der WTO und für eine bäuerliche Agrarpolitik im Süden. Amin will über diese hinaus in der Linken, die in ihren Strategien stark auf die Industriearbeiterschaft fixiert ist, Verständnis für die Agrarfrage wecken. Das zweite große Thema auf Amins Prioritätenliste in diesem Buch ist die nationale Souveränität. Amin ist sich dessen bewusst, dass er damit ein großes Dogma der Linken bis hin zum liberalen Mainstream im Norden berührt, demgemäß Nationalismus in jeder Form abzulehnen sei.

Für Amin ist diese Haltung Ausdruck eines im Norden weithin verinnerlichten Eurozentrismus, der Nationalismus lediglich als Phänomen der europäischen Großmächte begreift. In dieser Lesart steht Nationalismus für die Expansion und das Machtstreben, das mit der innerimperialistischen Rivalität Leid über die gesamte Menschheit brachte. Völlig ausgeklammert wird dabei der Nationalismus des Südens, der den Weg zur Überwindung der kolonialen Abhängigkeit bereitete und den unabhängigen Staaten im globalen Süden den Aufbau und die Verteidigung ihrer eigenständigen Entwicklung ermöglichte. Für Amin ist Befreiungsnationalismus immer mit einem internationalistischen Anspruch verbunden. Er will Volkssouveränität nicht als Kopie des bürgerlich-liberalen Nationalismus der Zentren verstehen, sondern als eine Strategie, die auf die enge Kooperation zwischen den Staaten des Südens setzt, damit diese gemeinsam die koloniale Abhängigkeit überwinden und die neokoloniale Abhängigkeit vermeiden. Damit distanziert er sich klar von Staatsführern, die ihren lokalen Machterhalt an die guten Dienste binden, die sie den imperialistischen Mächten beim Zugang zu Ressourcen bieten.

Er nennt solche Machthaber, die als verlängerter Arm des Zentrums in der Peripherie wirken, »Kompradoren«. Sie können nur existieren, weil das globale Machtungleichgewicht im Interesse des Nordens nach ihnen verlangt. Daraus leitet er die Notwendigkeit für eine grundlegende Änderung der globalen Machtverhältnisse ab. Wie aber das System verändern? Den Ausgangspunkt für politische Aktivität bilden die Staaten. Sie sind durch ihre wie auch immer unvollkommene Verfassung das Terrain, auf dem sich politische Auseinandersetzungen vollziehen. Ein Befreiungsnationalismus aus der Peripherie hat also immer eine antisystemische Komponente. Diesen Zusammenhang auszublenden, betrachtet Amin als fundamentalen Irrtum der Linken. Amins Positionen werden besser verständlich, wenn wir sie im Lichte seines Werdegangs betrachten. Er wuchs als Sohn eines ägyptischen Vaters und einer französischen Mutter, beide Ärzte, in Kairo auf, absolvierte die Studien der Politikwissenschaft, der Statistik und der Ökonomie in Paris, wo er 1957 zum Thema Aux origines du sous-développement. L’accumulation capitaliste à l’échelle mondiale promovierte. In diesem Werk, das erst 1970 veröffentlicht wurde, legte er die Grundlagen für eine globale Analyse der Ungleichheit im Weltsystem.

Er stellte einem metropolitanen Kapitalismus der Zentren, der diesen eine autozentrierte Entwicklung ermöglichte, einen peripheren Kapitalismus in den Kolonien und abhängigen Gebieten gegenüber, die aufgrund dieser Abhängigkeit zum deformierten Anhängsel der Zentren wurden. Diese Ausgangsposition ungleicher Entwicklung im Weltmaßstab, die in den Amerikas mit der von den Europäern so genannten »Entdeckung« begann, während ihr asiatische und afrikanische Länder und Reiche erst zu einem späteren Zeitpunkt unterworfen wurden, reproduzierte die Abhängigkeit der Peripherien in immer wieder neuer Form. Um diesen Mechanismus zu durchbrechen, brauche es eine Abkoppelung davon, ein Delinking, das zum Markenzeichen der Amin’schen entwicklungspolitischen Empfehlung wurde. Er meint damit nicht eine nationale Autarkie, sondern eine Abkehr von den Abhängigkeit produzierenden Mechanismen der kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung. Und weil er dafür aufgrund der Funktionsweise des Kapitalismus, der als System auf Expansion und Ungleichheit angewiesen ist, keine Chance sah, war für ihn Delinking immer auch mit einer sozialistischen Orientierung verbunden. Schon als Student in Paris war Amin politisch aktiv und das sollte sich Zeit seines Lebens nichts ändern. Sein beruflicher Werdegang war eine Gratwanderung zwischen wissenschaftlicher Forschung und Lehre an verschiedenen französischen Universitäten sowie entwicklungspolitischer Erfahrung, die er als Berater in der Entwicklungsplanung in Kairo (1957–60), Bamako (1960–63) und Dakar (1963–1980) sammelte.

Er gewann praktische Einblicke in die Probleme des Staatsaufbaus in afrikanischen Staaten. In seiner Zeit am Institut Africain de Développement Économique et de Planification (IDEP) in Dakar war er Wegbegleiter für rund 1000 junge afrikanische Intellektuelle, die die Entwicklungspolitik ihrer Staaten beeinflussen sollten. Amin skizzierte einen Analyse- und Handlungsrahmen, der bald als Theorie des peripheren Kapitalismus, Dependenztheorie oder Weltsystemanalyse in die kritische Entwicklungstheorie Eingang fand. Der deutsche Entwicklungsforscher Dieter Senghaas berichtet, wie er 1972 als junger Wissenschaftler an einer von Amins Dakar-Konferenzen teilnehmen durfte, wo einander die bekanntesten internationalen Entwicklungstheoretiker aus Nord und Süd begegneten. Für Senghaas war dies der Auftakt, deren Werke als Herausgeber in einer Reihe von Sammelbänden einem deutschsprachigen Publikum näherzubringen, die auch für meine eigene Orientierung unerlässlich waren.

In der Folge entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit zwischen Samir Amin und Immanuel Wallerstein, Andre Gunder Frank und Giovanni Arrighi, die mitunter als die Viererbande (Gang of Four) der Weltsystem-Forschung bezeichnet werden. Die vier publizierten viel gemeinsam (Dynamik der globalen Krise 1986; Transforming the Revolution 1990), bevor sich ihre Wege in den 1990er-Jahren trennten. Sie trugen ihre oft sehr grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten jedoch weiterhin untereinander aus. Amin stellte als einziger afrikanischer Intellektueller eine Besonderheit unter den im anglo-amerikanischen Kontext agierenden Weltsystemforschern dar. Zusammen mit Andre Gunder Frank, der in der Amtszeit von Präsident Salvador Allende in Chile wirkte, gehörte er zu den Militanten unter den Forschern. Anders als Frank, dessen universitäre Karriere durch den Putsch in Chile einen Einbruch erlebte, war Amin in der afrikanischen Entwicklungsforschungs- und Planungslandschaft fest verankert.

1980 wurde er Direktor des Forum du Tiers Monde, einer in Dakar ansässigen Nichtregierungsorganisation, die sich als weltweites Forum für Entwicklungspolitik etablierte. Er war bis zu seinem Tod unaufhörlich als Lehrer, Planer, Organisator und Agitator aktiv. Im Gegensatz zu vielen Kollegen war Amin überzeugter Marxist und dafür berühmt, Marx im Sinne einer globalen Perspektive zu interpretieren und für antiimperialistische Befreiungskämpfe nützlich zu machen. Der weltpolitisch prägendste Moment in Amins Lebenszeit war wohl die Konferenz von 23 asiatischen und sechs afrikanischen Staaten unter dem Präsidium von Jawaharlal Nehru, Gamal Abdel Nasser, Zhou Enlai, Josip Broz Tito und Sukarno, die im April 1955 im indonesischen Bandung stattfand. In Folgekonferenzen stieg die Zahl der Teilnehmer auf 60 an. Hier konstituierte sich der globale Süden (vorerst ohne Lateinamerika, wo der Kolonialismus formal bereits im 19. Jahrhundert endete) als Gruppe aufstrebender postkolonialer Staaten, die weder den westlich-kapitalistischen Weg anstrebten noch sich dem Sowjetblock anschließen wollten. Vielmehr bildeten sie einen dritten Weg, einen dritten Block, eine dritte Welt. Das war Wasser auf Amins Mühlen.

Interessanterweise findet er die Teilnahme Jugoslawiens an der Konstituierung der »Dritten Welt« keiner besonderen Erwähnung wert und weist auch nicht darauf hin, dass die Bewegung der Blockfreien (NAM), die aus der Bandung-Konferenz hervorging, 1961 in Belgrad unter führender Beteiligung von Tito gegründet wurde und neben Jugoslawien (bis zu dessen Zerfall) auch die europäischen Staaten Malta und Zypern (bis zu deren EU-Beitritt) umfasste. Angesichts der großen Welle der Unabhängigkeitswerdung afrikanischer Staaten in diesen Jahren soll das aber auch nicht verwundern. Amin gliedert die Jahre seit Bandung in die Bandung-Ära (1955 1975), die Zeit des »kollektiven Imperialismus der Triade« (1980 2000) und in eine Zeit seit den 2000er-Jahren, in der der globale Süden ein neues Selbstverständnis entwickelt. Während in den meisten Darstellungen die Zeit von 1945–1975 als Kalter Krieg und Bipolarität der Großmächte charakterisiert wird, verkörpert sie für Amin, der konsequent seine afrikanische Perspektive einbringt, eine multipolare Welt. Er weiß aus eigener Anschauung, wie es den frisch gebackenen Staatsmännern gelang, die Großmächte gegeneinander auszuspielen, um möglichst viel Unterstützung für ihre entwicklungspolitischen Projekte zu erlangen.

Sie schufen damit genau jenen Freiraum, der für einen dritten Weg notwendig war. So sehr Amin diesem Aufbruch nachhing, so kritisch ging er mit den Illusionen der neuen Machthaber ins Gericht, dass eine nachholende Entwicklung nach dem Vorbild der kapitalistischen Zentren in Alleinregie möglich sei. Der Grat zwischen Eigenständigkeit und »Kompradoren«-Rolle war schmal und bevor die Führer der »Dritten Welt« ihre entwicklungspolitischen Vorhaben realisieren konnten, hatte sich der Imperialismus bereits umorganisiert. Der Westen war bereit, die althergebrachte Arbeitsteilung zwischen Industrieländern und Agrarländern zugunsten einer nachholenden Industrialisierung der Entwicklungsländer aufzugeben, sofern letztere ihre niedrig entlohnten Arbeitskräfte für Verlagerung von billigen Industriestandorten anboten, wie dies als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise der 1970er-Jahre verstärkt der Fall war. Für Amin änderte sich am Zentrum-Peripherie-Verhältnis nichts, solange die Newly Industrializing Countries keine ausgewogene Wirtschaft aufbauten, die örtlichen Arbeitskräfte keine angemessenen Löhne erhielten, mit denen diese wiederum auch als KonsumentInnen der Nahrungsmittel und Industrieprodukte auftreten konnten.

Dass solche Strategien scheiterten, lastet er nicht nur den einheimischen Statthaltern des westlichen Kapitals an, sondern auch dem imperialistischen Rückschlag der Triade, wie Amin die Dreieinigkeit von USA, Westeuropa und Japan bezeichnet, der die entwicklungspolitischen Bemühungen im Geiste des Bandung’schen Multilateralismus beendete und eine »Apartheid auf Weltebene« einführte. In der Beschreibung dieses globalen Rückschlags, der in den 1980er-Jahren begann und sich mit dem Zusammenbruch des realsozialistischen Blocks zuspitzte, nimmt sich Amin kein Blatt vor den Mund. Er wäre jedoch kein historischer Materialist, würde er nicht auch die Widersprüche sehen, die dem neoliberalen Umbau der Weltwirtschaft unter Führung der Triade innewohnten. Damit meint er einerseits die Zunahme der weltweiten Ungleichheit, bei der die Befriedigung der Grundbedürfnisse im globalen Süden, der nun auch auf Osteuropa ausgreift, nicht mehr gewährleistet ist, andererseits sieht er, wie sich neue Schwellenländer formieren, die die Herrschaft des »kollektiven Imperialismus« in Frage stellen. Diese sind sogar in der Lage, in jene Monopole vorzudringen, die bisher den westlichen Großmächten vorbehalten waren: Wissensproduktion, Rohstoffsicherung, Aufrüstung, Aufbau von Süd Süd-Beziehungen.

Amin ist in der Beurteilung dieser Bemühungen, die besonders mit dem chinesischen Projekt verbunden sind, deutlich milder als bei der Kritik der afrikanischen Eliten und ihrer Kompromissbereitschaft mit dem Imperialismus. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass er am Ende seines Lebens noch einmal Hoffnung schöpfen wollte. Seine Sympathie hat auch mit seiner Einschätzung des chinesischen Sozialismus zu tun, der anders als die Sowjetunion nicht auf Kollektivierung, sondern auf bäuerliche Landwirtschaft setzte. Für Amin ist die chinesische Revolution keineswegs beendet. Er betont die Kontinuität zwischen der Abkoppelung und Grundbedürfnisstrategie unter Mao und dem »Öffnung-und-Reform« Kurs, den Deng Xiaoping ab 1978 eingeschlagen hat. Die Kombination einer starken Hand mit der Flexibilität im Umgang mit Öffnung und Schutz der chinesischen Volkswirtschaft kommt Amins Vorstellung von Delinking und eigenständiger Entwicklung wohl am nächsten.

Nur gelegentlich schimmert in seinen Texten die Furcht durch, auch die chinesische Revolution könnte in einem Thermidor enden, das heißt in Anlehnung an die Französische Revolution: in einer Abkehr von den revolutionären Prinzipien. Was nicht sein soll, will Amin im Fall von China nicht wahr haben, daher kommt ihm auch kein Wort der Kritik zum Aufkaufen von Landflächen, Rohstoffen und Nahrungsmitteln über die Lippen, die China in Afrika zu einem Konkurrenten der westlichen Staaten werden lässt. Vielmehr verortet er hier wahrscheinlich eine Wiederauflage der Multipolarität der Bandung-Ära, in der afrikanische Staatsmänner nun nicht mehr den Ost-West-Konflikt, sondern den Konflikt zwischen dem Westen und China als Chance zur Durchsetzung örtlicher Interessen nutzen können. Bei den letzten Veranstaltungen in Wien im Oktober 2017 stand die Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen in China im Mittelpunkt. Amin verhehlte nicht die Hoffnung, die er in China als Wegbereiter einer neuen Multipolarität setzt. Im dritten und letzten Teil des Buches widmet sich Amin den Zentren der Weltwirtschaft, den USA, Japan, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Süd- und Nordeuropa sowie der Europäischen Union.

Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung in den einzelnen Staaten skizziert er die herrschenden Interessen und machtpolitischen Konstellationen, die zur jeweiligen Zentrenbildung geführt haben. Er geht auf die Machtverschiebungen ein, die diese Vorherrschaft durch soziale Bewegungen in den Ländern sowie durch das Erstarken der »Dritten Welt« erfuhren, sowie auf die Bemühungen der Herrschenden, diese privilegierte Position nicht aufgeben zu müssen. Während er in einzelnen Staaten durchaus Erfolge antisystemischer Bewegungen ausmacht, die sich als Bündnispartner antiimperialistischer Kräfte des globalen Südens in Richtung einer sozialistischen Alternative anbieten, ist Amin den Europäischen Gemeinschaften gegenüber sehr klar. Er sieht die Vertiefung und Erweiterung der Union als eine Maßnahme, die westeuropäische Vorherrschaft in einer Phase globaler Umbrüche zu verteidigen. Die Staaten der Union sind gefangen zwischen ihrer Rolle als historische Kolonialmächte und als Juniorpartner der USA. Eine Sackgasse sozusagen, die Amin nicht für reformierbar hält. Aus dem Beharren der Zentren – sei es vereint oder in gegenseitiger Konkurrenz – auf ihren globalen Machterhalt ergeben sich Blockaden für eine Transformation in Richtung einer sozial gerechteren Welt.

Dies wirkt sich auch auf die antisystemischen Kräfte aus. Amins Hoffnung auf Veränderung richtet sich daher auf Bewegungen aus dem Süden. Russland kommt in seiner Bestandsaufnahme nicht vor, doch ist aus anderen Bemerkungen anzunehmen, dass er Osteuropa seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in vieler Hinsicht als Teil des globalen Südens begreift. Wenn sich Amin mit diesem Buch an westliche LeserInnen wendet, möchte er ihnen die Perspektiven des globalen Südens nahe bringen und Verständnis dafür wecken, dass sich daraus andere Prioritäten im politischen Kampf ergeben, nämlich Ernährungssouveränität und nationale Kontrolle über Ressourcen und Entwicklung. In seinem Beitrag zum Band »Transforming the Revolution« stellte Amin die Frage: »Wieso mache ich so viel Aufhebens um nationalen Zusammenhalt zu einem Zeitpunkt, zu dem der Westen dabei ist, das Stadium des Nationalstaats hinter sich zu lassen?« Und er gibt zu: »Zweifelsohne befindet sich der Nationalstaat in einer Krise, zumindest in Europa. Doch hat diese Krise, die Jahrhunderte nach der Nationsbildung auftaucht, nur wenig gemeinsam mit Krisen in jenen Staaten, die von Anfang an der Peripherisierung unterworfen waren.« Und er formuliert seine Antwort entsprechend einer antikolonialen und antisystemischen Perspektive aus dem globalen Süden: »Ich behaupte, dass es für uns kaum von Bedeutung ist, wie die europäischen Völker auf ihre Krisen reagieren. Wir hoffen natürlich, dass sie dabei eine sozialistische Transformation Europas beginnen, die wir keineswegs als unmögliche Utopie abtun wollen. Wir können aber nicht darauf warten, welche Antwort von ihnen kommen wird.« Andrea Komlosy Wien, im Januar 2019

Vorwort

Hundert Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917 und zweihundertfünfzig Jahre nach der Veröffentlichung von Marx’ Das Kapital gehört es heute zum guten Ton, den Marxismus als definitiv überholt zu bezeichnen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion habe bewiesen, so heißt es, dass der von Marx inspirierte Sozialismus nur eine gefährliche Utopie gewesen sei und der Oktober 1917 nichts als ein tragischer Irrtum der Geschichte. Und trotzdem entdeckt die Welt den Kommunismus neu, wie der Erfolg der »Renaissance von Commons« oder Gemeingütern in der öffentlichen Wahrnehmung und das Aufkommen von Kräften, die sich für deren Verwirklichung engagieren, bezeugen. Die Commons sind zur Universalität berufen. Und wie Benjamin Coriat schreibt: »Jedes Gut, das als solches deklariert ist, wird zu einem Gemeingut, wenn die Institutionen, die seine kollektive Verwaltung gewährleisten, um dieses herum angelegt sind. (…) Durch Einführung einer Ebene, auf der über die Verwaltung der gemeinsamen Ressourcen beraten wird, gewährleistet das Gemeingut gleichzeitig den Fortschritt der Demokratie und die Bedingungen des Erhalts der Ressource gegen ihre vorzeitige Aufzehrung.«[1]

Diese wunderschöne Definition entspricht genau der Marx’schen Definition von Kommunismus, der sich auf das Prinzip der verantwortungsvollen Solidarität der Arbeitenden, der BürgerInnen und der Völker stützt und sie an die Stelle des primitiven Wettbewerbs unter entfremdeten Individuen und Gruppen setzt. Die Verantwortung für Entscheidungen, die gegenwärtig die Eigentümer für sich beanspruchen, wird dann direkt den Völkern übertragen, die ihr wirtschaftliches und soziales Leben direkt verwalten (der Staat als notwendige Ergänzung für die Verwaltung durch die Eigentümer verkümmert). Die Vision der Pariser Kommune des Jahres 1871 war genau dieses; die Nation wird eine Föderation von Gemeinden; der Internationalismus der Völker schafft den Nationalismus und den Kosmopolitismus der Bourgeoisien ab. Doch die sozialistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts sahen sich mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Sie haben nur »in einem Land« gesiegt und waren somit konfrontiert mit der permanenten gewaltsamen Feindschaft der kapitalistischen Globalisierung; überdies gehörten diese Länder der Peripherie des Weltsystems an, deren Bevölkerung in der großen Mehrheit bäuerlich war.

Die Lehren, die sich aus ihren Erfahrungen und ihren Misserfolgen angesichts dieser Herausforderungen ziehen lassen, müssen diskutiert werden, schon deshalb, weil die wünschbaren Fortschritte des Sozialismus des 21. Jahrhunderts (siehe die Commons) mit genau denselben Herausforderungen konfrontiert sein werden. Mit dieser Arbeit werden einige Thesen zu dieser doppelten Herausforderung für den künftigen Sozialismus vorgelegt. Konkret handelt es sich um zwei eng miteinander verbundene Thematiken. Im ersten Teil werde ich zeigen, dass der Übergang durch eine Etappe des Aufbaus souveräner nationaler, bevölkerungsnaher und demokratischer Projekte unverzichtbar ist. Er stellt die »neue Agrarfrage« in diesen Rahmen. Die Notwendigkeit dieses Übergangs leitet sich aus der Feststellung ab, dass die Welt nie »von oben« mittels eines von der Gesamtheit der herrschenden Klassen, die in den Staaten dieser Welt an der Macht sind, akzeptierten Konsenses verändert werden wird.

Diese Umwandlung wird auch nicht durch eine »Weltrevolution« ermöglicht werden, die zeitgleich oder nahezu zeitgleich umgesetzt wird, auch nicht durch die Globalisierung eines Sozialismus, der durch radikale Fortschritte in dem am meisten entwickelten kapitalistischen Ländern errungen worden ist. Der Weg zum Sozialismus wird lange dauern– vielleicht mehr als ein Jahrhundert– und in Bezug auf die Fortschritte in Richtung dieses Sozialismus wird es von einem Land zum anderen immer Unterschiede geben. Dass in den Ländern der Peripherie Fortschritte in Gang gesetzt werden, ist nach wie vor möglich und sogar wahrscheinlich. Die Frage der Bauern, die sich jedem Land stellt, spielt bei der Identifizierung der Herausforderungen eine wichtige Rolle. Die LeserInnen werden also nachvollziehen können, warum ich in diesem Teil die Konzepte des souveränen Volksprojektes und des bürgerlichen Nationalismus nicht vermische, sondern gegenüberstelle. Ergänzend zum ersten Teil wird im zweiten diese neue Agrarfrage vertieft untersucht. Denn der historische Kapitalismus hat das Agrarproblem in Europa und den USA bereits auf seine Art und Weise beantwortet.

Das ungeheure Produktivitätswachstum in der landwirtschaftlichen Produktion erlaubt in der Tat der in diesem Bereich tätigen aktiven Bevölkerung, die nicht mehr als 5% der Arbeitskraft der entsprechenden Länder stellt, ausreichend Nahrungsmittel für die mehrheitlich städtische Bevölkerung anzubieten und sogar Überschüsse für den Export zu erzielen. Die Frage lautet: Ist die Reproduktion desselben Modells von »Entwicklung« für die im heutigen Asien, Afrika und Lateinamerika lebenden Völker möglich? Meine Antwort ist Nein. Daher ist die Welt heute mit einer Herausforderung konfrontiert, die nur durch eine mutige Vision von Sozialismus lösbar ist. Was nottut, ist ein alternativer Weg der Modernisierung der bäuerlichen Ökonomie, nicht nur für die Länder des Südens, wo die Bauern einen wichtigen Anteil an der Bevölkerung ausmachen, sondern mittlerweile auch für die hoch entwickelten kapitalistischen Länder. Die TheoretikerInnen und IdeologInnen des Kapitalismus stellen sich die Lösung der Agrar- und somit der Ernährungsfrage dahingehend vor, dass sie die Organisationsformen der Großindustrie auf die Landwirtschaft übertragen wollen. Die Geschichte hat ihnen Unrecht gegeben; konkret ist in ihrem Konzept eine neue, aus Landwirten (und nicht Bauern) bestehende soziale Schicht entstanden.

Diese moderne Form von familiären kapitalistischen Landwirtschaftsbetrieben befindet sich aber durch das Großkapital der Finanzmonopole in Bedrängnis; ihre Zukunft ist unsicher und an ihre Stelle tritt tendenziell die neue Formel einer vom Agrobusiness betriebenen industriellen Landwirtschaft. Der Sowjetsozialismus hatte die herrschenden Vorstellungen des 19. Jahrhunderts übernommen, die Karl Kautsky, der Inspirator der sowjetischen Kollektivierung, vermittelt hatte. Ich habe ausgeführt, warum ich der Meinung bin, dass dieser Irrtum zum Bruch des Bündnisses zwischen Arbeiter- und Bauernschaft führte, das der Oktoberrevolution zum Erfolg verholfen hatte. Der Maoismus verstand dagegen, diesen Fehler zu vermeiden und eröffnete damit den Weg zu einer anderen Lösung der Bauernfrage, die sich auf den Grundsatz des gleichen Zugangs aller LandbewohnerInnen zum Boden stützte. Diese Lehre ist nach wie vor von zentraler Bedeutung für die Zukunft der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas.

Mit meiner Unterscheidung von kapitalistischer Landwirtschaft und Landwirtschaft im Kapitalismus leiste ich daher meiner bescheidenen Ansicht nach einen mir neu erscheinenden Beitrag, den die verschiedenen Richtungen des Marxismus in der Vergangenheit und erst recht die bürgerlichen Theorien ignoriert haben. Der dritte Teil des Buches zeigt auf, wie sich die Gesellschaften des gegenwärtigen imperialistischen Zentrums formiert haben. Er kann dazu beitragen, den Einfluss der konservativen Ordnungsvorstellungen zu erklären, die die Völker im Zentrum ideologisch fest im Griff haben. Dies stellt ein großes Hindernis für die Freisetzung einer kreativen revolutionären Vorstellungskraft dar. Das Hauptaugenmerk in diesem Buch lege ich auf die Herausforderung, die die bäuerliche Frage mit sich bringt. Ich räume ihr deshalb einen so großen Stellenwert ein, weil die heutigen sozialen Protestbewegungen vor allem aus dem städtischen Bereich kommen und die bäuerliche Frage meist vollkommen ausklammern. Diese Vernachlässigung verunmöglicht es, eine wirkungsvolle Strategie für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu formulieren.

Samir Amin, im Oktober 2017

Teil I: Das Projekt der Volkssouveränität – die Alternative zur liberalen Globalisierung

Der heutige globale Kapitalismus ist ein komplexes Gebilde, bestehend aus Staaten (im Prinzip souveräne Nationen), aus Völkern und Nationen (»homogen« oder nicht) sowie sozialen Klassen, die durch den dem Kapitalismus zugrunde liegenden Konflikt von Kapital und Arbeit definiert sind. Konflikte zwischen Staaten und Klassenkämpfe sind in einem engen Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeiten miteinander verwoben. Wie die sozialen Kämpfe in verschiedenen Ländern der Welt miteinander verflochten sind, hängt davon ab, wie die verschiedenen herrschenden Blöcke ihre Möglichkeiten auf der internationalen Bühne nutzen. Der Bildung weltweiter Bündnisse der unterdrückten Klassen, aus denen eine »bessere globale Alternative« hervorgehen könnte, stehen somit ernsthafte Hindernisse im Weg, die zu analysieren sich lohnt. Ist nationale Souveränität zu unterstützen oder abzulehnen? In dieser Frage der Strategie kommt es zu gravierenden Missverständnissen, solange ihr Klasseninhalt nicht identifiziert ist.

Der gesellschaftlich vorherrschende Block in kapitalistischen Gesellschaften versteht die nationale Souveränität immer als ein Instrument, um durch die kapitalistische Ausbeutung indigener Arbeitskräfte und die gleichzeitige Konsolidierung seiner Stellung im globalen System seine Klasseninteressen zu befördern. Im heutigen Kontext eines globalisierten liberalen Systems, das dominiert ist durch finanzmarktorientierte Monopole der »Triade« (Vereinigte Staaten, Europa, Japan), ist die nationale Souveränität ein Instrument, das den herrschenden Klassen erlaubt, ihre Wettbewerbsposition innerhalb des Systems zu sichern. Das klarste Beispiel für diese anhaltende Praxis ist die Regierung der Vereinigten Staaten: Sie erachtet die Souveränität als eine dem US amerikanischen Monopolkapital vorbehaltene Domäne und räumt daher dem Binnenrecht der USA Vorrang gegenüber dem Völkerrecht ein.

Die europäischen imperialistischen Mächte verhielten sich in der Vergangenheit genau gleich, und die wichtigsten europäischen Staaten innerhalb der Europäischen Union tun es immer noch. So wird nachvollziehbar, warum der nationale Diskurs, der die Werte der Souveränität hochhält und gleichzeitig die Klasseninteressen verdeckt, für jene, die sich für die arbeitenden Klassen einsetzen, immer schon inakzeptabel war. Dennoch sollte die Verteidigung der Souveränität nicht auf diese dem bürgerlichen Nationalismus eigene Modalität reduziert werden. Genausoffentscheidend ist diese Verteidigung der Souveränität, wenn es um den Schutz einer der volksnahen Alternative geht, die im Rahmen des langen Wegs zum Sozialismus steht. Sie ist sogar eine unumgängliche Bedingung für entsprechende Fortschritte.

Und sie steht in keinerlei Widerspruch zu einem Aufruf zum »Internationalismus«, zur Geschwisterlichkeit unter den Völkern und deren praktischer Umsetzung, wie dies unter sehr unterschiedlichen Umständen die Vorreiter der »nationalen Unabhängigkeit« von Patrice Lumumba, Kwame Nkrumah, Ho Chi Minh bis Fidel Castro, um nur ein paar wenige zu nennen, gezeigt und unaufhörlich wiederholt haben. Denn die Weltordnung (wie auch deren europäische Subordnung) wird niemals »von oben« durch kollektive Entscheidungen der herrschenden Klassen verändert werden. Fortschritte in diese Richtung sind immer das Ergebnis ungleicher Vorsprünge der Kämpfe in verschiedenen Ländern. Die Transformation des Weltsystems (oder des europäischen Subsystems) ergibt sich aus den Veränderungen, die sich in den verschiedenen Staaten durchsetzen und die ihrerseits die internationalen Kräfteverhältnisse zwischen diesen Staaten verändern. Der Nationalstaat bleibt der einzige Rahmen, in dem die entscheidenden Kämpfe stattfinden, die letztlich die Welt verändern. Die Völker an der Peripherie dieses von Natur aus polarisierten Systems haben eine reiche Erfahrung mit diesem positiven, fortschrittlichen Nationalismus: einem antiimperialistischen Nationalismus, der die von den Zentren durchgesetzte Weltordnung ablehnt und damit potenziell antikapitalistisch ist.

Potenziell sage ich deshalb, weil er auch mit der Illusion behaftet sein kann, es ließe sich ein nationaler Kapitalismus aufbauen, der den nationalen Aufbau der herrschenden Zentren »aufholen« könne. Der Nationalismus in den Peripherien ist nur dann fortschrittlich, wenn er seinen antiimperialistischen Charakter wahrt, sich heute also gegen die liberale (und auch unter Bedingungen der Globalisierung liberal bleibende) Weltordnung stellt; jeglicher andere Nationalismus, der diese Ordnung akzeptiert und damit vorgetäuscht bleibt, ist nur ein Instrument der lokalen herrschenden Klassen, die sich an der Ausbeutung ihres Volkes und letztlich anderer, schwächerer Partner beteiligen wollen, indem sie als subimperialistische Mächte auftreten. Die Verwechslung dieser zwei widersprüchlichen Begriffe von nationaler Souveränität und damit die Ablehnung jeder Art von »Nationalismus« vereitelt die Möglichkeit, sich der neoliberalen Weltordnung zu entziehen. Leider bringt das die Linke in Europa und anderenorts oft durcheinander.

1. Der real existierende globale Kapitalismus ist von Natur aus imperialistisch

Die Vielfalt sozialer und politischer Gegebenheiten in den Staaten, die das Weltsystem ausmachen, geht auf unterschiedliche Entwicklungsformen zurück, die durch die weltweite Expansion des Kapitalismus realisiert wurden, um dem Zwang zur Akkumulation im Zentrum des Systems zu entsprechen. Diese Formen haben sich von einer historischen Phase zur anderen verändert. Die hegemonialen Klassen- und Interessenblöcke, die dem Kapitalismus die Festigung seiner Herrschaft erlaubten, wie auch die von den Opfern des Systems als Widerstand gegen die damit einhergehenden Herausforderungen gebildeten oder versuchten Blöcke unterschieden sich schon immer von Land zu Land und von einer historischen Phase zur anderen. Diese Entwicklungen prägten ihrerseits spezifische politische Kulturen mit den ihnen eigenen Wertesystemen und »Traditionen« von politischer Ausdrucksweise, Organisations- und Kampfform.

Ihre Vielfalt ist so real und objektiv wie die Kulturen, die sie verkörpern. Schließlich haben die Entwicklung der Produktivkräfte und die sie prägenden wissenschaftlichen und technologischen Revolutionen die Arbeitsorganisation und ihre vielfältigen Formen der Unterwerfung unter die Erfordernisse der kapitalistischen Ausbeutung verändert. Die Vielfältigkeit dieser politischen Gegebenheiten verbietet es, die Akteure auf den Konflikt Bourgeoisie versus Proletariat zu reduzieren. Der Kapitalismus fußt auf einem dreifach integrierten Markt (Markt für Waren und Dienstleistungen, Finanzmarkt und Arbeitsmarkt). Der real existierende Kapitalismus als Weltsystem stützt sich global aber nur auf die Expansion der beiden ersteren, denn die Einrichtung eines weltweiten Arbeitsmarkts wird durch die beharrliche Beibehaltung staatlicher politischer Barrieren und die Kontrolle internationaler Migration behindert. So bleibt die Globalisierung der Wirtschaft begrenzt.

Der real existierende Kapitalismus ist aus diesem Grund auf globaler Ebene zwangsläufig polarisierend; und die sich daraus ergebende ungleiche Entwicklung wird zum heftigsten Widerspruch der Neuzeit, zu einem wachsenden, im Rahmen der Entwicklung der kapitalistischen Logik unüberwindbaren Widerspruch. Entwicklung und »Unterentwicklung« sind die zwei Seiten ein und derselben Realität: des globalen Kapitalismus. Der herrschende Diskurs, der den Kapitalismus mit dem Wohlstand der Länder des Zentrums assoziiert und die anderen (Entwicklungsländer) als »zurückgeblieben« bezeichnet, entbehrt jeglicher wissenschaftlichen Grundlage. Die nationalen Befreiungskämpfe der Völker der Peripherie standen daher objektiv immer schon in Konflikt mit der Logik des Kapitalismus. Sie sind »antisystemisch« (antikapitalistisch), wenn auch in unterschiedlichem Maß, je nach Bewusstseinsstand der beteiligten Akteure und der Radikalität ihrer Projekte.

Das impliziert, dass man sich den Übergang zum weltweiten Sozialismus als langen Weg vorstellen muss. Denn der Kapitalismus hat zwar die Grundlagen für eine globale Wirtschaft und Gesellschaft geschaffen, ist aber unfähig, die Logik der Globalisierung zu vollenden. Der als qualitativ überlegene Stufe der Menschheit verstandene Sozialismus kann folglich als universell betrachtet werden. Doch sein Aufbau wird einen langwierigen historischen Übergang erfordern und strategisch auf eine die kapitalistische Globalisierung ablehnende Haltung zurückgreifen müssen. Auf die politische und soziale Strategie übertragen, impliziert dieser allgemeine Grundsatz eines langen Übergangs, dass er zwingend und unausweichlich den Aufbau einer volksnahen nationalen Gesellschaft voraussetzt, verbunden mit einer autozentrierten nationalen Wirtschaft.

Dieser Aufbau ist auf allen Ebenen widersprüchlich: Darin verbinden sich Kriterien, Institutionen und Funktionsweisen kapitalistischer Natur mit sozialen Bestrebungen und Reformen, die in Widerspruch zur Logik des globalen Kapitalismus stehen; zudem verbindet sich darin eine gewisse (möglichst kontrollierte) Außenöffnung mit dem Schutz der Erfordernisse einer fortschrittlichen sozialen Transformation, die den herrschenden kapitalistischen Interessen widerspricht. Die herrschenden Klassen verbinden ihre Visionen und Bestrebungen mit der Perspektive des real existierenden globalen Kapitalismus. Sie de nieren ihre Strategie wohl oder übel nach den Zwängen der globalen Expansion des Kapitalismus. Deshalb ist für sie eine Abkoppelung nicht wirklich vorstellbar. Für das einfache Volk drängt sich eine solche Abkoppelung dagegen auf, da es versucht, die politische Macht zur Änderung seiner Bedingungen zu nutzen, um seine Lage zu verbessern und sich von den unmenschlichen Folgen zu befreien, die ihm die polarisierende Expansion des Kapitalismus aufzwingt. Die strategischen Entscheidungen der Regierungspolitiken wie auch jene der Bewegungen der unterdrückten Massen im Süden sind daher anhand dieser Kriterien zu beurteilen.

Eine autozentrierte Entwicklung (oder auch eine »endogene Entwicklung«, auf Englisch »self reliant«) war historisch gesehen das spezifische Kennzeichen des Akkumulationsprozesses des Kapitals in den kapitalistischen Zentren. Sie bestimmte die Modalitäten ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, die wiederum hauptsächlich von der Dynamik der internen sozialen Verhältnisse abhing und verstärkt wurde durch die ihnen zugutekommenden Außenbeziehungen. In den Peripherien ist der Akkumulationsprozess des Kapitals dagegen hauptsächlich aus der Entwicklung der Zentren abgeleitet, was ihre Abhängigkeit noch verstärkt. Das dynamische autozentrierte Entwicklungsmodell ist darauf gestützt, dass zwei eng voneinander abhängende Faktoren wesentlich miteinander verknüpft sind: die Produktionssteigerung von Investitionsgütern und die Produktionssteigerung von Massenkonsumgütern.

Diese Verkoppelung widerspiegelt die konfliktgeladenen sozialen Verhältnisse zwischen den beiden Hauptblöcken des Systems, der nationalen Bourgeoisie und der Welt der Arbeit. Diese autozentrierten Ökonomien sind nicht abgeschottet, sondern im Gegenteil dezidiert offen, um entsprechend ihrer politischen und wirtschaftlichen Interventionsfähigkeit auf globaler Ebene den Lauf des gesamten Weltsystems zu beeinflussen. Im Gegensatz dazu stützt sich die Dynamik des peripheren Kapitalismus – die per Definition im Widerspruch zum autozentrierten Kapitalismus des Zentrums steht – auf eine andere grundlegende Verknüpfung: jene, die die Exportkapazität auf der einen Seite mit dem – importierten oder lokal hergestellten Konsum einer Minderheit auf der anderen Seite verbindet. Dieses Modell kennzeichnet – in Abgrenzung zu Nationalbourgeoisien – die Kompradoren-Bourgeoisien der Peripherien. Aus diesem Gegensatz leiten sich zwei unterschiedliche Tendenzen ab: eine Tendenz, die die Integration der Nationen des Zentrums begünstigt, wo die zentripetalen Kräfte die autozentrierte Akkumulation dominieren; eine andere, die zur Desintegration der Nationen der Peripherien führt – eine Gefahr, die angesichts der zentrifugalen Wirkung der mit der abhängigen Akkumulation zusammenhängenden Kräfte permanent droht. Die imperialistischen Politiken fördern diese Tendenzen arrogant und zynisch und berufen sich entschuldigend und rechtfertigend auf das »Recht auf Einmischung«, auf »humanitäre« Interventionen und missbräuchlich auf das Recht auf nationale Selbstbestimmung.

2. Das Erwachen des Südens

Die Entfaltung des Imperialismus setzt 1492 ein (dem Datum der Eroberung und Vernichtung der Völker Amerikas statt dessen »Entdeckung«) und geht mit der Eroberung der Welt durch die Europäer in den vier darauf folgenden Jahrhunderten weiter. Den Völkern Asiens und Afrikas, den nordamerikanischen Indianern, die den Völkermord überlebt haben, und später den neuen Nationen Lateinamerikas und der Karibik blieb nichts anderes übrig, als sich an die Erfordernisse anzupassen, die mit dieser Unterwerfung einhergingen. Die Völker, die diese Entfaltung des Kapitalismus/Imperialismus erdulden mussten, erlebten die schlimmste Tragödie in der Geschichte der Menschheit – ein Beweis für den zerstörerischen Charakter der kapitalistischen Akkumulation schlechthin. Aus diesem Grund ist der Kapitalismus nur eine »Fußnote« in der Geschichte und seine Entwicklung bringt permanent die Barbarei hervor. Langfristig ist dieses System untragbar (und nicht »das Ende der Geschichte«!); Dies nicht nur aus den – tatsächlich zutreffenden – ökologischen Gründen, sondern vor allem aufgrund der zerstörerischen Folgen der privatwirtschaftlichen Entfremdung für den Einzelnen und ganze »überflüssig« gemachte Völker. Konkret führte diese Katastrophe zur Auslöschung ganzer Bevölkerungen und zur Verringerung der Bevölkerungen außerhalb Europas, die zwischen 1500 bis 1900 von 82% der Weltbevölkerung auf 63% schrumpften.

Das Unglück der einen begründete zur gleichen Zeit das Glück der anderen. Die zu Lasten ganzer Bevölkerungen erfolgte Akkumulation erlaubte nicht nur den die Weltordnung beherrschenden Klassen, sich zu bereichern, sondern und vor allem die administrative und militärische Stärkung der europäischen Länder. Die Industrielle Revolution Ende des 18. Jahrhunderts wäre nicht möglich gewesen ohne diese erste Frühphase der Entfaltung des Imperialismus. Die militärische Vormacht des modernen Europa hat ihrerseits das 19. Jahrhundert geprägt. Dieses kurze Jahrhundert ist insofern der – ebenfalls historisch kurze – Moment der triumphalen Blüte des Kapitalismus, in dem sich die Kluft zwischen Nord und Süd vertieft: Zwischen 1800 und heute verschiebt sich das Verhältnis des sichtbaren Reichtums (das nicht immer zugunsten der Europäer ausgefallen ist) von 1 zu 1,3 auf 1 zu 40. Das von Marx formulierte Gesetz der Verarmung wirkt auf dieser Systemebene noch viel härter, als sich der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus das vorgestellt hatte. Unterdessen hat sich dieses Blatt der Geschichte gewendet.

Die Völker der Peripherien nehmen das ihnen vorbehaltene Schicksal nicht mehr hin. Diese entscheidende Haltungsänderung lässt sich nicht rückgängig machen; sie bedeutet, dass der Kapitalismus in eine Phase des Niedergangs eingetreten ist – ein Niedergang, der mit der Revolution von 1917 begonnen und seine Fortsetzung in den sozialistischen Revolutionen in China, Vietnam und Kuba sowie der Radikalisierung der nationalen Befreiungsbewegungen in anderen Ländern Asiens und Afrikas gefunden hat. Das gleichzeitige Bestehen dieser verschiedenen Dimensionen der Transformation der Welt ist kein Zufall. Das bedeutet noch nicht, dass sich verschiedene Illusionen nicht hartnäckig halten; dass Reformen dem Kapitalismus ein menschliches Gesicht verleihen (das ist ihm für die meisten Völker und Menschen nie gelungen); dass es innerhalb des Systems ein »Nachholen« geben könne, wovon die vom Erfolg des Augenblicks berauschten herrschenden Klassen der »aufstrebenden« Nationen träumen; und der vergangenheitsgewandte (pseudoreligiöse oder -ethnische) Traditionalismus, dem die große Mehrheit der zurzeit »Ausgeschlossenen« verfallen ist. Diese Illusionen stehen heute im Zentrum. Der Grund dafür ist, dass wir eine Übergangsphase durchqueren: die Welle der Revolutionen des 20. Jahrhunderts ist hinter uns, die eines zeitgemäßen Radikalismus des 21. Jahrhunderts noch nicht da. Und wie Antonio Gramsci es formuliert hat, tauchen im Dämmerlicht des Übergangs die Monster auf. Das Erwachen der Völker der Peripherien äußerte sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur im demogra schen Wachstum, sondern vor allem in deren bekräftigter Absicht, die eigenen Länder und Gesellschaften, die vom Imperialismus im Zuge der vier vorangegangenen Jahrhunderte geschwächt wurden, wiederaufzubauen.

Bandung und die erste Globalisierung der Kämpfe (1955 1975)

1955 brachten die Regierungen und Völker Asiens und Afrikas im indonesischen Bandung ihren Willen zum Ausdruck, das neue Weltsystem auf der Grundlage des Prinzips der Anerkennung der Rechte der zuvor beherrschten Völker wiederaufzubauen. Dieses »Recht auf Entwicklung« bildete die Grundlage der damaligen Globalisierung, die durch eine dem Imperialismus aufgenötigte multipolare Verhandlung in Gang gebracht wurde und ihn zwang, sich den neuen Realitäten »anzupassen«. Der Industrialisierungsprozess, der in der Bandung-Phase verwirklicht wurde, entzog sich der Logik der imperialistischen Entwicklung. Durchgesetzt wurde er durch die Siege der Völker des Südens, die sich dieser Logik widersetzten.

Gleichzeitig nährte dieser Prozess jedoch die Illusion eines möglichen »Nachholens«, das man scheinbar schon in Gang wähnte, während sich der Imperialismus, zur Anpassung an die Realitäten der Entwicklung in den Peripherien gezwungen, umorganisierte, um seine Herrschaftsmacht unter neuen Formen auszuüben. Der alte Kontrast zwischen imperialistischen Ländern und beherrschten Nationen, in dem sich industrialisierte und nicht-industrialisierte Länder gegenüberstehen, wich schrittweise einer neuen Form des Gegensatzes, beruhend auf jenen Vorteilen, die ich als die »fünf neuen Monopole der imperialistischen Länder« bezeichnet habe: die Kontrolle über die Produktion moderner Technologien, durch den Zugang zu natürlichen Ressourcen, die Beherrschung des globalisierten Finanzsystems, die Medien und Kommunikationsmittel und schließlich das Monopol über Massenvernichtungswaffen. Die Phase von Bandung war auch die der afrikanischen Renaissance.

Der Panafrikanismus ist im Kontext dieser Perspektive zu sehen. Nicht zufällig haben die afrikanischen Länder damals mit Modernisierungsprojekten begonnen, die von den Werten des Sozialismus inspiriert waren. Die Befreiung der Völker der Peripherien ist ein antikapitalistischer Fortschritt. Es besteht kein Anlass, auf die zahlreichen auf diesem Kontinent durchgeführten Experimente herabzusehen, wie dies heute geschieht. Selbst das fürchterliche Mobutu-Regime im Kongo hat innerhalb von 30 Jahren ein 40 Mal höheres Bildungskapital hervorgebracht, als die Belgier nach 80 Jahren Kolonisierung hinterlassen haben! Die von den afrikanischen Ländern umgesetzten Politiken bilden die Grundlage für die Bildung wirklicher Nationen. Begünstigt wurde ihr Herauskristallisieren durch die von den herrschenden Klassen damals ergri enen (»transethnischen«) Optionen. Erst später arteten sie in Ethnizismus aus, nachdem die damaligen Mächte mit dem Zerfall des Bandung-Systems ihre Legitimität einbüßten, was mache Herrscher dazu bewog, auf die Ethnizität zurückzugreifen, um ihre Macht wiederherzustellen.

Neue Ära, neue Herausforderungen?

Die Dichotomie Zentrum/Peripherie ist nicht mehr synonym für den Gegensatz industrialisierte Länder/nicht-industrialisierte Länder. Doch die für die imperialistische Ausbreitung des globalisierten Kapitalismus kennzeichnende Polarisierung Zentren/Peripherien ist nach wie vor wirksam. Sie vertieft sich sogar durch die Implementierung der weiter oben erwähnten »fünf neuen Monopole«, von denen die imperialistischen Länder profitieren. Auch unter den Bedingungen einer beschleunigten Entwicklung in den aufstrebenden Peripherien – deren Erfolg insbesondere in China, aber auch in anderen Ländern des Südens unbestreitbar ist – ist die imperialistische Vorherrschaft nicht aufgehoben. Diese Entwicklung begünstigt im Gegenteil eher einen neuen Gegensatz zwischen Zentren und Peripherien, als dass dieser abgebaut würde. Im Gegensatz zu früheren Phasen seiner Ausbreitung kann heute nicht mehr gesagt werden, der Imperialismus habe verschiedene Gesichter. Es handelt sich mittlerweile um einen von der »Triade« (Vereinigte Staaten, Europa, Japan) getragenen »kollektiven Imperialismus«.

Die gemeinsamen Interessen der Oligopole der Triade überwiegen gegenüber den (»merkantilen«) Interessenkonflikten, die diesen entgegenstehen könnten. Dieser kollektive Zug des Imperialismus drückt sich in der Kontrolle aus, die die Triade mittels ihrer ebenfalls kollektiven Instrumente auf das Weltsystem ausübt: auf wirtschaftlicher Ebene die WTO (das Ministerium für Kolonien der Triade), der IWF (die Kolonialagentur für die kollektive Verwaltung der Währungen der subalternen Länder), die Weltbank (das Propagandaministerium), die OECD und die Europäische Union (die dafür eingerichtet wurden, um zu verhindern, dass sich Europa vom Liberalismus verabschiedet); auf politischer Ebene die G7, die NATO als bewaffneter Arm der Vereinigten Staaten und ihrer Untergebenen und nicht zuletzt die marginalisierte und domestizierte UNO. Die Entfaltung des hegemonialen Projekts der Vereinigten Staaten, das mit der militärischen Kontrolle über die Erde einhergeht (und damit die Abschaffung des Völkerrechts zugunsten des »Rechts«, das Washington sich herausnimmt, »Präventivkriege« zu führen, wo immer es will), stützt sich auf diesen kollektiven Imperialismus und liefert dem nordamerikanischen Führer die Mittel, seine ökonomischen Unzulänglichkeiten zu überwinden.

Ziele und Mittel einer Strategie des Aufbaus von Konvergenz in der Diversität

Die Völker der drei Kontinente (Asien, Afrika und Lateinamerika) sind mit einem Expansionsprojekt des imperialistischen Systems konfrontiert: jenem eines globalisierten neoliberalen Systems, das heute nichts anderes ist als die Entwicklung einer »Apartheid auf Weltebene«. Wird diese neue imperialistische Ordnung in Zukunft infrage gestellt werden? Wer kann sie herausfordern? Und was wird bei einer solchen Anfechtung herauskommen? Steht das von der vorherrschenden Realität abgegebene Bild nicht der Vorstellung einer möglichen unmittelbaren Konfrontation mit der bestehenden Ordnung entgegen?

Die herrschenden Klassen der segmentierten Länder des Südens haben ihre Stellung als untergebene Kompradoren weitgehend akzeptiert; die in ihrem Kampf ums tägliche Überleben weitgehend im Stich gelassenen Völker neigen gewöhnlich dazu, ihr Schicksal in Kauf zu nehmen, oder schlimmer noch, nostalgischen Illusionen anzuhängen, die ihnen die herrschenden Klassen einreden (der politische Islam ist das dramatischste Beispiel dafür). Anders betrachtet, beweist jedoch das Aufkommen von Widerstandsbewegungen und Kämpfen gegen Kapitalismus und Imperialismus sowie die erzielten Erfolge mancher Regierungen in Lateinamerika und in Nepal auch bei Wahlen – wie begrenzt diese auch sein mögen – die zunehmende Radikalisierung.

Auch die kritische Haltung von Regierungen des Südens innerhalb der WTO zeigt, dass eine unserer Ansicht nach bessere »andere Welt« möglich ist. Die strategische O ensive, die es für den Wiederaufbau der Front der Völker des Südens braucht, bedarf einer Radikalisierung des gesellschaftlichen Widerstands gegenüber der imperialistischen O ensive des Kapitalismus. In manchen Ländern des Südens setzen die herrschenden Klassen offensichtlich auf eine Strategie, die weder mit passiver Unterwerfung noch mit deklarierter Opposition zu den herrschenden Kräften des Weltsystems gleichzusetzen ist: eine Strategie aktiver Eingri e, verbunden mit der Hoffnung, die Entwicklung ihres Landes damit voranbringen zu können. China hat schon alleine seiner schieren Größe wegen eine bessere Ausgangslage als andere, um positiv Nutzen aus dieser Option zu ziehen, und es hat fraglos glänzende Erfolge zu verzeichnen. Das verdankt es der Solidität des von der Revolution und dem Maoismus inspirierten nationalen Aufbaus, dem Entscheid, die Kontrolle über die Währung und über die Finanzflüsse zu behalten, und der Weigerung, das kollektive Eigentum an Boden in Frage zu stellen (die bedeutendste revolutionäre Errungenschaft, die den Bauern zugutekommt).

Kann diese Erfahrung anderswo imitiert werden? Was sind daneben die Schwächen, unter denen das chinesische Modell leidet? Die Analyse der dieser Option innewohnenden Widersprüche hat mich zu dem Schluss gebracht, dass das Projekt eines nationalen Kapitalismus, der in der Lage wäre, sich nach dem Vorbild der herrschenden Mächte ins Weltsystem einzufügen, weitgehend illusorisch ist. Die geschichtlich vererbten objektiven Bedingungen erlauben es nicht, einen sozialen Kompromiss zwischen Kapital/Arbeit/Landbevölkerungen von historischer Tragweite zu nden, der die Stabilität des Systems gewährleisten würde. Folglich muss sich das Projekt weiterentwickeln: entweder nach rechts (wobei es sich dann mit wachsenden sozialen Bewegungen der arbeitenden Klassen konfrontieren muss) oder nach links durch die Einführung eines »Marktsozialismus«, der dann tatsächlich zu einer Etappe auf dem langen Übergang zum Sozialismus würde.

Die von den herrschenden Klassen anderer »aufstrebender« Länder formulierten scheinbar ähnlichen Optionen sind noch fragiler. Weder Brasilien noch Indien, die beide keine China vergleichbaren radikalen Revolutionen erlebt haben, sind in der Lage, dem kombinierten Druck des Imperialismus und der reaktionären lokalen Klassen effizient Widerstand entgegenzubringen. Dennoch verfügen die Nationen des Südens oder zumindest manche davon unterdessen über die Mittel, das technologische »Monopol« der imperialistischen Länder völlig zu neutralisieren. Die fraglichen Nationen sind in der Lage, sich durch eigene Kraft zu entwickeln, ohne in die Falle der Abhängigkeit zu tappen. Sie verfügen potenziell über ein technologisches Wissen, das ihnen erlaubt, ihre Ressourcen für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Sie können den Norden durch die Wiederaneignung der natürlichen Rohsto e auch zwingen, sich den Erfordernissen einer weniger zerstörerischen Konsumweise zu unterwerfen. Und sie können auch aus der Finanzglobalisierung aussteigen. Schon jetzt haben sie begonnen, das Monopol über Massenvernichtungswaffen, das die USA behalten wollen, in Frage zu stellen.

Daneben bemühen sie sich um den Aufbau einer Süd-Süd-Handelskooperation – für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Technologie –, die noch 1955, als es in allen Ländern an Industrie und technologischem Wissen fehlte, unvorstellbar gewesen wäre. Mehr denn je ist die Ablösung vom Imperialismus in den Bereich des Möglichen gerückt. Wird das diesen Nationen gelingen? Und wer wird es machen? Die herrschenden bürgerlichen Klassen, die gegenwärtig regieren? Das bezwei e ich stark. Die an die Macht gekommenen arbeitenden Klassen? Eine derartige Entwicklung könnte durch national und volksnah ausgerichtete Übergangsregimes in Gang gesetzt werden. Im Zentrum der zu lösenden Probleme steht die Agrarfrage; ihre Lösung stellt für die nationale Frage die größte Herausforderung dar. Die kapitalistische Option, die sich auf die Aneignung des Bodens durch eine Minderheit unter Ausschluss der anderen stützt, lehnt sich an das historische Modell Europas an. Doch dieser Weg war in Europa nur machbar dank der Möglichkeiten, die sich durch die Massenemigration der ausgegrenzten Landbevölkerung boten.

Der Kapitalismus kann das Bauernproblem in den Peripherien, deren Landbevölkerung noch fast die Hälfte der Weltbevölkerung ausmacht, nicht auf dieselbe Weise lösen. Um erfolgreich den »europäischen Weg« umsetzen zu können, müssten dem heutigen Süden fünf Amerikas für seine Emigration zur Verfügung stehen! Es gibt also keine andere Alternative als den bäuerlichen Weg, der sich auf den Zugang aller zum Boden stützt. Tatsächlich bietet der bäuerliche Weg mehr Fortschrittspotenzial als das historische Modell des Kapitalismus. Denn müsste die Wachstumsrate der Produktivität moderner kapitalistischer Agrarbetriebe – deren Anzahl begrenzt ist – unter den Millionen von Bauern aufgeteilt werden, die ausgeschlossen und heute »überflüssig« gemacht worden sind, wäre diese wesentlich bescheidener, als es den Anschein macht. Das bäuerliche System, das im Rahmen einer Entwicklung »sozialistischer Orientierung« erfolgt, um die Formulierung Chinas und Vietnams aufzugreifen, erweist sich den anderen als überlegen. Es bietet übrigens allein die Gewähr, die Solidarität des nationalen Aufbaus aufrechterhalten zu können. Der (kapitalistischen, antibäuerlichen) »Agrarrevolution« steht die (potenziell sozialistische) »bäuerliche Revolution« gegenüber.

3. Welche Perspektive haben Nationalstaaten heute?

Der heute vorherrschende Diskurs behauptet, Nationalstaaten stellten nicht mehr den Rahmen dar, in dem bedeutende Entscheidungen bezüglich der Entwicklung des wirtschaftlichen, des sozialen und selbst des politischen Lebens der Gemeinschaften getroffen werden könnten. Die durch die Expansion der modernen Ökonomie hervorgebrachte »Globalisierung« habe die Souveränität des Staates aufgehoben. Daher gebe es keine Alternative zu dieser Art von Globalisierung, wie Margaret Thatcher zu sagen pflegte. In Wirklichkeit gibt es immer Alternativen und die Nationalstaaten verfügen über Handlungsspielräume, dank deren sie eingreifen und das Weltsystem verändern können. Es gibt keine »Gesetze der kapitalistischen Expansion«, die wie eine übernatürliche Kraft wirken. Es gibt auch keinen vorherbestimmenden Faktor in der Geschichte. Die Geschichte ist noch nicht geschrieben, bevor sie gelebt wird. Es gibt keine Gesetze, die jeder Möglichkeit entgegenstehen, die der Logik des Kapitalismus inhärenten Tendenzen infrage zu stellen.

Die Geschichte ist nicht unfehlbar vorbestimmt durch den Verlauf von »rein« ökonomisch ableitbaren Gesetzen. Die wirkliche Geschichte ist ein Ergebnis des Konflikts zwischen der expansionistischen Logik des Kapitalismus und den sozialen Kämpfen, die seine Opfer führen, um sich gegen ihre Folgen zu wehren. Wie wirksam die Völker auf diese Herausforderungen antworten können, hängt davon ab, wie die gesellschaftlichen Kräfte auf die Tendenzen reagieren, die sich in den sogenannten »ökonomischen« Gesetzen zeigen. Die »antisystemischen« Kräfte – wir verstehen darunter die organisierte, kohärente und wirksame Weigerung, sich einseitig und vollständig den Erfordernissen dieser sogenannten Gesetze zu unterwerfen, die in Wirklichkeit nur das für den Kapitalismus kennzeichnende Gesetz des Privatbesitzes sind – prägen die reale Geschichte genauso wie die »reine« Logik der kapitalistischen Akkumulation. Sie diktieren die Möglichkeiten und definieren die Ausdrucksformen in den von ihnen organisierten Räumen.

Die Zukunft gestaltet sich über die Veränderungen der Verhältnisse zwischen sozialen und politischen Kräften, die ihrerseits aus Kämpfen hervorgehen, deren Ausgang nicht von vornherein feststeht. Damit sich ein kohärentes und realistisches Alternativprojekt herauskristallisieren kann, bedarf es intensiver Reflexion; anderenfalls drohen sich soziale Bewegungen in »Scheinlösungen« festzufahren. Die Interessen und Visionen der betroffenen sozialen und politischen Kräfte sind von Natur aus mannigfaltig und vielseitig. Gegenwärtig scheinen die Wortführer der Interessen des vorherrschenden transnationalen Kapitalismus (der Länder der imperialistischen Triade) oder der ihnen untergeordneten und mit ihnen verbündeten Kompradoren (der Länder der Peripherie) die Szene zu monopolisieren. In diesem Zusammenhang wurde die Rolle der meisten Länder der Peripherie darauf reduziert, die Ordnung im Inneren aufrechtzuerhalten, während die momentane Supermacht die Vereinigten Staaten – die Funktion eines »Pseudo-Globalstaates« erfüllt.

Die Vereinigten Staaten verfügen damit über einen viel größeren und die Peripherien scheinbar über keinen Spielraum mehr. Die Entwicklung der sozialen Kämpfe kann dennoch andere hegemoniale Blöcke an die Macht bringen als jene, die heute die neoliberale Welt beherrschen; Blöcke, die sich auf den Kompromiss zwischen sozialen Interessen stützen, die als vielfältig und voneinander abweichend anerkannt werden, namentlich von Blöcken, die aus einem Kompromiss von Kapital und Arbeit in den kapitalistischen Zentren und national-populär-demokratischen Bündnissen in den Peripherien hervorgehen. Im Lauf solcher Entwicklungen erhält der Staat je nach Umständen eine größere Aktionsfreiheit im positiven wie im negativen Sinn zurück. Ergänzend sei erwähnt, dass es auch »nationale Interessen« gibt, die nach dem Aufbau einer multipolaren Weltordnung rufen. Im Allgemeinen berufen sich Regierungen auf solche »nationalen Interessen«, um ihre eigenen spezifischen Optionen zu rechtfertigen.

Experten der Geopolitik stellen diese Interessen oft als geografisch und geschichtlich vererbte Unveränderlichkeit dar. Obwohl diese Sichtweise wissenschaftlich auf schwachen Füßen steht, ist unbestritten, dass es solche Interessen gibt und sie eine bestimmende Rolle bei internationalen Bündnissen und Konflikten spielen und damit die Effizienz staatlichen Eingreifens erhöhen oder begrenzen. Die aus der russischen und der chinesischen Revolution hervorgegangene und später von Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika teilweise durchgesetzte multipolare Welt hatte einen besonderen Charakter, den zu analysieren sich lohnt. Ich charakterisiere die Phase nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wie üblich in Begri en der »Bipolarität« und des »Kalten Kriegs«. Diese Ansätze ignorieren die in den Ländern des Südens während der entsprechenden Phase erzielten Fortschritte. Ich analysiere die Multipolarität dieser Periode unter dem Gesichtspunkt eines Kampfes, der jenseits dieser ideologisch verzerrten Ausdrücke auf den Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus verweist.

Die Völker der Peripherien hatten – unabhängig davon, ob sie für den Sozialismus kämpften oder nicht – die Ambition, die polarisierenden Folgen der kapitalistischen Expansion aufzuheben und schrieben sich damit objektiv in eine antikapitalistische Perspektive ein. Die Multipolarität verweist somit auf die tatsächlich vorhandenen Spielräume staatlicher Autonomie. Und diese werden gemäß dem sozialen Inhalt jedes einzelnen Staates auf vielfältige Weise genutzt. In der Bandung-Ära (1955–1975) konnten die Länder Asiens und Afrikas damit neue Wege beschreiten, die ich als eine mit dem volksnahen Projekt der aus der nationalen Befreiung hervorgegangenen Regierungen kohärente autozentrierte, abgekoppelte Entwicklung beschrieben habe. Zweifellos gibt es einen Zusammenhang zwischen den »internen« Bedingungen einerseits, die definiert sind durch das für die nationale Befreiung eingegangene Bündnis – in dem das spezifische Projekt des betreffenden Landes wurzelt –, und den damals relativ günstigen äußeren Bedingungen andererseits (der Ost-West-Konflikt neutralisierte die Aggressivität des Imperialismus).

Ich spreche hier von Autonomie, die per se mit einer relativen Unabhängigkeit einhergeht: Ihre Grenzen hängen zugleich von der Art des nationalen Projekts und dem Handlungsspielraum ab, den das stets präsente, repressiv bleibende Weltsystem gewährt. Aus diesem Grund wird in gewissen Analysen der internationalen Wirtschaftspolitik und der Weltsystem-Schule das Vorhandensein dieses Spielraums für Nationen an sich infrage gestellt und als nicht gegeben betrachtet. Das kommt der Behauptung gleich, im globalisierten System bestimme das »Ganze« (das Weltsystem) die »Teile« (die nationalen Situationen). Ich ziehe eine Analyse in den Begri en von Konfliktualität und Komplementarität zwischen diesen Polen vor; sie misst der Autonomie von sozialen und politischen Kämpfen im Inneren und von internationalen Konflikten viel mehr Gewicht bei. Die Nach- und Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges (die Jahre 1945 bis 1980) sind unterdessen Vergangenheit und haben einem Projekt des kollektiven Imperialismus der Triade Platz gemacht, der sich heute unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten entfaltet. Die Autonomie der Länder des Südens wird dadurch vereitelt und jene der mit Washington verbündeten Länder innerhalb der Triade eingeschränkt. Der kollektive Imperialismus der Triade ist kein unvermeidliches Ergebnis des Aufkommens eines »transnationalisierten« Kapitalismus, der sich durch die Entwicklung aufgedrängt habe (wie es Hardt und Negri in ihren Werken nahelegen). Es handelt sich um eine gewollte politische Strategie.

Sie ist das gewünschte Ergebnis einer Übereinstimmung unter den nationalen Oligopolen der Partnerländer des Systems und Ausdruck ihres Wunschs, die Welt zu ihrem ausschließlichen Vorteil »gemeinsam zu kontrollieren«. Doch während die »Wirtschaft« (verstanden als einseitiger Ausdruck der Erfordernisse der herrschenden Sektoren des Kapitalismus) die Länder der Triade vereint, spaltet die Politik deren Nationen. Entwickeln sich soziale Kämpfe, kann das die vom Staat insbesondere in Europa exklusiv zugunsten des Großkapitals ausgeübte Rolle infrage stellen. Dieser Annahme zufolge könnte man vom Aufstieg eines Polyzentrismus sprechen, der Europa erneut einen relativ großen Spielraum an Autonomie gebe. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass die Entwicklung des »europäischen Projekts« nicht diesem Rahmen folgt – was eine Voraussetzung wäre, um Washington zur Vernunft zu bringen. Die Europäische Union ist nichts anderes als der »europäische Flügel des amerikanischen Projekts«. Seine Kon guration bestätigt die zweifache Option, für die sich Europa entscheiden hat: den Neoliberalismus und das atlantische Bündnis. Welches Potenzial in einem möglichen Konflikt zwischen dem Projekt der Vereinigten Staaten und den politischen Kulturen Europas lege, der die amerikafreundliche Politik beenden würde, wird vom Großteil der sich um den Sozialliberalismus scharenden Linken (auf Wahlebene die sozialdemokratischen Parteien Europas) unterschätzt – wobei der Begriff Sozialliberalismus an sich widersprüchlich ist, da der Liberalismus selbst nicht sozial, sondern antisozial, wenn nicht reaktionär ist.

China und Russland sind die beiden strategischen Hauptopponenten des Projekts der Vereinigten Staaten. Die momentanen Regierungen dieser zwei Länder sind sich dessen immer bewusster. Sie vermitteln aber den Eindruck, als könnten sie handeln, ohne die US-Regierung direkt zu brüskieren, oder sogar bei ihren Konflikten mit Drittstaaten auf die Freundschaft der Vereinigten Staaten setzen. Die »gemeinsame Front gegen den Terrorismus« – der alle anzugehören versuchen – schmälert ihre Opposition. Hier wird das doppelte Spiel Washingtons offensichtlich: Einerseits unterstützen die Vereinigten Staaten die Tschetschenen, die Uiguren und die Tibeter, wie sie auch die islamistischen Bewegungen in Algerien, Ägypten, Syrien und anderswo fördern. Andererseits versuchen sie, Moskau, Peking und Delhi im Kampf gegen den islamischen Terrorismus hinter sich zu scharen. Können die Länder des Südens eine aktive Rolle spielen, um die militärischen Pläne und Ambitionen der Vereinigten Staaten zu vereiteln?

Die unter den Angriffen Washingtons leidenden Völker sind heute die einzigen aktiven Opponenten, die in der Lage wären, Washington in seiner anmaßenden Politik zu bremsen. Dennoch gilt es festzuhalten, dass sie in ihren Kämpfen nach wie vor wenig überzeugende Methoden anwenden. Dadurch verzögert sich eine Solidarität der Völker des Nordens mit ihrem legitimen Kampf. Im Übrigen ist aus der von mir vorgeschlagenen Analyse der »verallgemeinerten Kompradorisierung« der herrschenden Klassen in allen Regionen des Südens der Schluss zu ziehen, dass in naher Zukunft von den momentanen Regierungen nicht viel zu erwarten ist. Und schon gar nicht von Regierungen, die sich als »fundamentalistisch« bezeichnen (Islamisten, Hinduisten oder ethnische Gruppen). Gegenwärtig hat der Süden allgemein kein eigenes Projekt, wie das in der Zeit von Bandung (1955–1975) der Fall war. Die herrschenden Klassen der als »aufstrebend« bezeichneten Länder (China, Indien, Südkorea, Südostasien, Brasilien und einige andere) haben sich zweifellos Ziele gesetzt und arbeiten an deren Umsetzung. Diese Ziele können in einem einfachen Satz zusammengefasst werden: Maximierung des Wachstums im Rahmen des bestehenden Systems der Globalisierung.

Diese Länder glauben oder malen sich aus –, dass sie über eine Verhandlungsmacht verfügen, die ihnen erlauben würde, mehr Vorteil aus einer »egoistischen« Strategie zu ziehen als aus einer vagen »gemeinsamen Front« mit Ländern, die schwächer sind als sie selbst. Die betreffenden Vorteile, in deren Genuss sie kommen können, hängen jedoch von spezifischen Interessenbereichen ab und stellen die allgemeine Struktur des Systems nicht infrage. Daher stellen sie keinerlei Alternative dar und machen aus dem vagen Konzept des Aufbaus eines (illusionären) »nationalen Kapitalismus« kein wirklich kohärentes gemeinsames Projekt. Die verletzlichsten Länder des Südens (die »vierte Welt«) haben nicht einmal ein vergleichbares Projekt und ihre allfälligen Ersatzprodukte (religiöser oder ethnischer Fundamentalismus) verdienen nicht, als solche bezeichnet zu werden.

Tatsächlich ergreift nur der Norden die Initiative und entwirft seine eigenen Konzepte »für sie« (oder besser gesagt »gegen sie«). Von dieser traurigen Realität zeugen das »Partnerschaftsabkommen« zwischen AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik) und der EU, jenes »Wirtschaftspartnerschaftsabkommen«, das anstelle des Cotonou-Abkommens mit den AKP-Ländern treten soll, der »Mittelmeer-Dialog« (die »euro-mediterrane Partnerschaft«) sowie die amerikanisch-israelischen Pläne für den »Nahen Osten«, wenn nicht für einen »Großen Nahen Osten«. Die Herausforderungen, die sich den Plänen zur Errichtung einer stabilen multipolaren Welt stellen, sind viel ernster, als sich viele globalisierungskritische Bewegungen vorstellen. Zuerst ist da eine Vorbedingung: die Vereitelung der militärischen Pläne Washingtons.

Das ist eine unerlässliche Voraussetzung, um die nötigen Freiräume zu schaffen, ohne die jeder soziale und demokratische Fortschritt, jeder Fortschritt hin zur Einrichtung einer multipolaren Welt ausgesprochen angreifbar bleibt. Der – maßlose – Plan der Vereinigten Staaten wird zweifellos scheitern, aber die menschlichen Kosten für diese Niederlage sind sehr hoch. Der Widerstand der Opfer – der Völker des Südens – wird dauerhaft sein. Er wird so lange zunehmen, wie die Vereinigten Staaten fortfahren, sich in unzähligen Kriegen zu verzetteln. Dieser Widerstand wird den Feind letztlich erschöpfen und vielleicht die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten aufrütteln, wie das beim Vietnamkrieg der Fall war. Dennoch wäre es besser, diese Katastrophe schneller zu beenden. Das kann die internationale Diplomatie leisten; vor allem, wenn Europa als wichtiger Akteur seine Verp ichtungen ernst nehme. Eine »andere Globalisierung« wird über einen wesentlich längeren Zeitraum die Optionen des liberalen Kapitalismus und den kollektiven Imperialismus der Triade infrage stellen müssen – sei es in der Form übertriebener Amerikafreundlichkeit oder in einer gemäßigteren Variante. Eine stabile multipolare Welt wird aber nur dann verwirklicht werden, wenn die vier folgenden Bedingungen erfüllt sind:

  1. a) Europa wird sich entschlossen an den Aufbau eines in sozialer Hinsicht »anderen Europa« machen müssen (und damit zum langen Übergang in Richtung eines globalen Sozialismus beitragen). Dafür wird es sein nach wie vor bestehendes imperialistisches Erbe aufgeben müssen. Das beinhaltet weit mehr, als sich von der Amerikafreundlichkeit und dem verheerenden Neoliberalismus abzuwenden. Gegenwärtig geben die Proteste gegen das »System« einem Wiedererstehen des Neofaschismus Nahrung, der gegenüber dem Internationalismus der Völker unzugänglich ist.
  2. b) In China wird der »Marktsozialismus« die Illusionen über den Aufbau eines »nationalen Kapitalismus« überwinden müssen, der sich unmöglich stabilisieren lässt, weil er die Mehrheit der Erwerbstätigen und der Landbevölkerung ausschließt.
  3. c) Die Länder des Südens (Völker und Staaten) müssen in die Lage versetzt werden, eine gemeinsame Front aufzubauen, die dem einfachen Volk den nötigen Spielraum bietet, Konzessionen zu seinem Vorteil durchzusetzen. Dieses Erfordernis beinhaltet selbstverständlich, dass »nationale bevölkerungsnahe demokratische« Blöcke die aktuell herrschenden Kompradorenblöcke stürzen.
  4. d) Allgemein sind Fortschritte in Bezug auf die Wahrung der nationalen Souveränität (von der Souveränität der Nationen bis zu jener der Völker) und der individuellen und kollektiven politischen wie sozialen Rechte angesagt.

4. Hin zu einem neuen Geist von Bandung und dem Aufbau einer Front blockfreier Länder

Die erste Welle der Erneuerung der Staaten und Nationen Asiens und Afrikas führte zur Durchsetzung von bedeutenden Änderungen für die Menschheitsgeschichte im Sinn des Geistes von Bandung. Asien und Afrika organisierten sich und lehnten es ab, sich dem Kolonialismus und dem Neokolonialismus – dem damaligen Globalisierungsmodell – anzuschließen. (Eine solche Grobeinschätzung von Bandung steht einer kritischen Analyse der verschiedenen Strategien, die diese Länder anwandten, um ihr Unterordnungsverhältnis zum westlichen Imperialismus infrage zu stellen, nicht entgegen.) Heute sind dieselben Nationen, ergänzt um Lateinamerika und die Karibik, mit der nicht weniger ungerechten neoliberalen Globalisierung konfrontiert. Um diese Herausforderung erfolgreich anzupacken, müssen sie wie in der Vergangenheit einen vereinten Kampf führen. Wenn sie das tun, werden sie die Welt zu einer neuen Phase des Fortschritts führen, der von drei Kontinenten ausgehen wird. Zur Bewegung der Blockfreien (NAM) gehörten nur die asiatischen und afrikanischen Nationen. Die Staaten Lateinamerikas blieben, mit Ausnahme Kubas, abseits und schlossen sich der Organisation nicht an. Die Gründe für diesen Entscheid sind bekannt:

  • die Länder Lateinamerikas waren seit Ende des 19. Jahrhunderts formal unabhängig; sie standen nicht wie die Nationen Asiens und Afrikas im Kampf für die Wiedergewinnung ihrer Souveränität.
  • die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten über den Kontinent – die Monroe-Doktrin – wurde von keiner damals amtierenden Staatsmacht (außer von Kuba) bekämpft. Die Organisation der Amerikanischen Staaten wurde von deren Boss, den Vereinigten Staaten, geführt. Kuba bezeichnete diese Organisation übrigens – zu Recht – als »Ministerium der Kolonien der Vereinigten Staaten«;
  • die Führungsschichten europäischen Ursprungs betrachteten Europa und die Vereinigten Staaten als das einziges Nachahmungsmodell. Daher scheiterte der von Kuba unternommene Versuch, einen »trikontinentalen« Konsens herzustellen. Der Bandung-Bewegung schlossen sich nur kämpferische (oft bewaffnete) Bewegungen des Kontinents an, während sie von allen damaligen Staatsgewalten abgelehnt wurde.

Die Dinge haben sich geändert:

  • Die Länder Lateinamerikas und der Karibik haben kürzlich ihre eigene Organisation gegründet (die Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC)). Die CELAC schließt die USA und Kanada aus; formal hat sie die Monroe-Doktrin also abgelehnt.
  • Neue volksnahe Bewegungen haben das Ausmaß des plurinationalen Charakters ihrer Gesellschaften erkannt (und anerkannt, dass sie auf ein vielseitiges Erbe amerikanischer, europäischer und afrikanischer Urahnen zurückblicken).
  • Diese Bewegungen haben auch neue Strategien zur Befreiung vom neoliberalen Joch angewandt, die in gewisser Hinsicht erfolgreicher waren als in anderen Ländern des Südens. Heute kann und muss die Blockfreien-Bewegung (die sich dem Block der neoimperialistischen Globalisierung also nicht angeschlossen hat) eine trikontinentale Front werden.

Die im Kontext von Bandung vereinigten Staaten hatten vielfältige und manchmal recht gegensätzliche Vorstellungen über die Wege und Mittel, die imperialistische Vorherrschaft abzuschütteln und den Aufbau ihrer Gesellschaft voranzubringen; dennoch gelang es ihnen, ihre Differenzen zu überwinden und sich der gemeinsamen Herausforderung zu stellen. Dasselbe gilt für heute. Die heutigen Regierungen der drei Kontinente und die Volksbefreiungsbewegungen haben ziemlich divergierende Ansichten über die nötigen Wege und Mittel im Umgang mit den Herausforderungen – die teilweise neu, im Wesentlichen aber weitgehend analog zu jenen der Bandung-Ära sind. In manchen Ländern des Südens sind gegenwärtig »souveräne« Projekte im Entstehen. Diese haben zum Ziel, systematisch ein nationales System von kohärenter, integrierter und moderner Industrieproduktion aufzubauen, die von einer aggressiven Exportkapazität gestützt wird. Ihre Ansichten über die Öffnung gegenüber ausländischem Kapital und Finanzflüssen verschiedener Art (ausländische Direktinvestitionen, Portofolio-Anlagen und spekulative Finanzinvestitionen) unterscheiden sich von einem Land und einem Moment zum anderen. Die Politik, die sie in Bezug auf den Zugang zum Boden und anderen natürlichen Ressourcen verfolgen, verweist ebenfalls auf eine Vielfalt an Wahlmöglichkeiten und unterschiedlichen Prioritäten. Die Aktionsprogramme der Volksbewegungen gegen die herrschenden Systeme sind ähnlich vielfältig. Das Spektrum der Prioritäten reicht von demokratischen, sozialen und ökologischen Rechten über die Genderfrage und die Wirtschaftspolitik bis zum Zugang zu Boden und anderen Themen. In einigen Fällen gab es Versuche, diese verschiedenen Forderungen in einem gemeinsamen strategischen Aktionsplan zusammenzuführen; meist ist in dieser Hinsicht wenig realisiert worden. Eine derartige Bandbreite an unterschiedlichen Ausgangslagen und Haltungen stellt ein ernsthaftes Problem für alle dar und kann zu Konflikten zwischen Staaten und/oder Verbündeten im Kampf führen. Was lässt sich unter diesen Umständen tun?

5. Souveräne Projekte in der Perspektive einer verhandelten Globalisierung

Ein souveränes nationales Projekt beinhaltet die Konzeption und Umsetzung einer Reihe von kohärenten nationalen Politiken, die in der Lage sind, »auf zwei Beinen zu gehen«, also ein ausgeglichenes Wachstum zu ermöglichen:

  1. den Aufbau eines Systems integrierter, autozentrierter industrieller Produktion;
  2. die Orientierung auf Politiken, die auf die Wiederbelebung und Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft zielen;
  3. und folglich die Verbindung dieser beiden Ziele in einem kohärenten Aktionsplan.
  1. Ein System integrierter, autozentrierter industrieller Produktion aufzubauen bedeutet, dass jede Industrie so angelegt ist, dass sie ein Hauptlieferant für Inputs und/oder ein bedeutender Abnehmer für andere Industrien ist. Dieser Ansatz gerät in Konflikt mit dem neoliberalen Dogma, das sich ausschließlich auf das Kriterium der Rentabilität jeder einzelnen Industrieanlage unabhängig von den anderen stützt. Das liberale Prinzip führte zum Abbau mancher Industriesysteme, die in früheren Phasen (in der ehemaligen Sowjetunion, in Osteuropa und einzelnen Ländern des Südens) errichtet wurden, und reduzierte das, was davon übrig blieb, auf den Status von Zulieferern im Dienst der globalen Expansion gigantischer transnationaler Konzerne (die für das Finanzkapital der USA, einzelner europäischer Staaten und Japans operieren). Das von mir vertretene alternative Konzept geht von der staatlichen Intervention und von der Planung und Verwaltung eines unabhängigen nationalen Finanzsystems durch den Staat aus, in dem die Finanzierung des Aufbaus von Industrien Priorität hat – sofern es die budgetäre Lage zulässt, ohne In ation und eine Aufblähung der Auslandsverschuldung zu bewirken. Die Steuersysteme müssten ebenfalls so konzipiert sein, dass sie die Ausbreitung dieses Konzepts unterstützen. Nicht zuletzt müsste der Rückgriff auf direkte Auslandsinvestitionen bestimmten Bedingungen unterworfen werden, die gewährleisten, dass das nationale Projekt gestärkt wird, anstatt es in seiner Wirksamkeit auszuhebeln.
  2. Die Politiken zur Wiederbelebung und Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft sollten erlauben, die Land ucht entsprechend der Aufnahmefähigkeit, die sich im Zug der städtischen industriellen Entwicklung ergibt, zu begrenzen. Dieses Ziel beinhaltet, dass der Boden nicht als »Ware« betrachtet wird, sondern als nationales Gemeingut, das der gesamten Bevölkerung zur Verfügung steht. Das setzt also voraus, dass Eigentumsmodelle übernommen werden, die den Zugang zum Boden für alle Bauernfamilien auf möglichst gleichberechtigter Grundlage schützen. Ein anderes Ziel ist, die nationale Ernährungssouveränität zu gewährleisten. Diese Vision gerät in Konflikt mit den neoliberalen Dogmen, die eine angebliche »Entwicklung der Landwirtschaft« vorsehen, die sich auf die massenhafte Enteignung der bäuerlichen Bevölkerung zum Vorteil von Agrobusiness, Großbesitzern und einer Minderheit von reichen Bauern stützt.

Eine gewisse Anzahl an prioritären Industrien sollte die Modernisierung der bäuerlichen Landwirtschaft unterstützen, indem sie die erforderlichen Inputs und die wünschbaren Konsumgüter liefert.

  1. Solche Pläne zur Wiederbelebung des ländlichen Lebens müssten in der großen Mehrheit der Länder Asiens, Afrikas, aber auch Lateinamerikas entwickelt werden, solange die Landbevölkerung dort einen wichtigen Teil der Gesamtbevölkerung ausmacht (mindestens 30%). Sie müssten den Besonderheiten jeder nationalen Situation angepasst werden.

Das vorrangige Ziel dieser souveränen Projekte sollte sein, den sozialen Fortschritt für die große Mehrheit der arbeitenden Klassen zu gewährleisten und die Ungleichheiten abzubauen. Der deregulierte Markt, der angeblich soziale Gerechtigkeit herstellen soll, hat in Wirklichkeit bewiesen, dass er hauptverantwortlich für die Verschärfung der Ungleichheiten ist. Das Gerede über »gute Regierungsführung«, verbunden mit der Praxis des Markts, ist daher diskreditiert. Das zweite Ziel wäre, objektive Bedingungen zu schaffen, die die Erfindung einer partizipativen Demokratie begünstigen. Die repräsentative Wahldemokratie ging allzu oft mit sozialen Katastrophen einher.

Sie hat ihre Glaubwürdigkeit in weiten Teilen der Gesellschaft daher bereits eingebüßt. Das dritte Ziel wäre, das Terrain für weltweite Verhandlungen vorzubereiten, die den Ländern des Südens (und des Ostens) Chancen bieten, aktive und gleichwertige Partner in der Neudefinition eines Globalisierungsmodells zu werden, das in der Lage ist, den hegemonialen imperialistischen Bestrebungen zu widerstehen. Um diese drei Ziele zu verwirklichen, ist es unumgänglich, mit BürgerInnen, Gewerkschaften und andere authentischen volksnahen zivilgesellschaftlichen Organisationen in die Diskussion einzutreten, um staatliche Strategien für eine kohärente Industrialisierung entwickeln zu können. Darüber hinaus müssen Diskussionen mit den bäuerlichen Basisorganisationen geführt werden, um Programme zur Unterstützung der bäuerlichen Landwirtschaft zu entwerfen. Dergestalt sind vielleicht die ersten konkreten Schritte, die im Hinblick auf die Umsetzung der in diesem Text vorgeschlagenen ambitionierten Ziele unternommen werden könnten.

Teil II: Die bäuerliche Landwirtschaft, der Weg in die Zukunft!

  • Bäuerliche Landwirtschaft, moderne familiäre Landwirtschaft
  • Kapitalistische Landwirte oder Landwirte im Kapitalismus
  • Die notwendigen Bodenreformen in Asien und Afrika

1. Im Norden: eine effiziente, in den vorherrschenden Kapitalismus perfekt integrierte familiäre Landwirtschaft

Die moderne, in Westeuropa und den USA dominierende familiäre Landwirtschaft hat ihre Überlegenheit gegenüber anderen Formen der landwirtschaftlichen Produktion deutlich bewiesen. Die für diese Form charakteristische Produktion pro Landwirt/Jahr (das Äquivalent von 1000 bis 2000 Tonnen Getreide) ist beispiellos; so kann ein winziges Segment der aktiven Bevölkerung (rund 5%) das ganze Land reichlich ernähren und sogar Exportüberschüsse erwirtschaften. Die moderne familiäre Landwirtschaft hat sich zudem als fähig erwiesen, außerordentliche Innovationen aufzugreifen und sich sehr flexibel der Entwicklung der Nachfrage anzupassen. Dagegen teilt sie mit dem Kapitalismus nicht dessen spezifische Eigenschaft, seine sehr weitreichende Organisationsform der Arbeit. In der Fabrik wird durch die Bedeutung der Arbeiterkollektive eine weitreichende Arbeitsteilung möglich, die wiederum dem sprunghaften Produktivitätswachstum zugrunde liegt.

Im familiären Agrarbetrieb beschränkt sich dieses Kollektiv im Wesentlichen auf ein oder zwei Personen (das Bauernehepaar), das manchmal von ein, zwei oder drei Partnern oder ständigen Mitarbeitenden unterstützt wird, in gewissen Fällen aber auch durch eine höhere Zahl an Saisonarbeitskräften (insbesondere bei der Obst- und Gemüseernte). Es gibt im Allgemeinen keinerlei definitiv festgelegte Arbeitsteilung und die Aufgaben sind vielseitig und wechselnd. In diesem Sinn ist diese familiäre Landwirtschaft nicht kapitalistisch. Dennoch stellt die moderne familiäre Landwirtschaft ein untrennbares Segment der kapitalistischen Wirtschaft dar, in die sie völlig integriert ist:

  • Im landwirtschaftlichen Familienbetrieb spielt der Eigenkonsum keine Rolle; das Unternehmen bezieht seine Legitimität zur Gänze aus der Produktion für den Markt. Die bestimmende Logik für die Produktionsoptionen ist eine andere als jene, die für die bäuerliche Landwirtschaft früher (wie Tschajanow[Anmerkung 1] analysiert hat) und heute (in den Ländern der heutigen Dritten Welt) kennzeichnend war und ist.
  • Die Effizienz des Familienbetriebs hängt mit dessen moderner Ausstattung zusammen. Auf diese Landwirtschaft konzentrieren sich bekanntlich 90% der Traktoren und anderer Arbeitsgeräte. Diese Arbeitsmittel, die von den genannten Landwirten »gekauft« wurden (und sei es auf Kredit), bilden also deren »Eigentum«. In der Logik des Kapitalismus ist der Landwirt zugleich ein Arbeiter und ein Kapitalist und sein Einkommen sollte der Lohnsumme seiner Arbeit und dem aus dem eingesetzten Kapitaleigentum gezogenen Profit entsprechen. Bekanntlich ist das aber nicht so. Die Nettoeinkommen der besagten Landwirte sind den Durchschnittslöhnen in der Industrie ihres jeweiligen Landes vergleichbar. Die insbesondere in Europa und den USA verfolgten nationalen Interventions- und Regulierungspolitiken haben explizit zum Ziel, die Einkommensgleichheit zwischen »Bauern« und »Arbeitern« (über Subventionierungssysteme) zu gewährleisten. Die Profite aus dem vom Landwirt umgesetzten Kapital werden hier also von Segmenten des vorgelagerten Industrie- und Finanzkapitalismus gebunden.[Anmerkung 2]
  • In Europa und in den USA ist in der familiären Landwirtschaft der durch die Bodenrente repräsentierte Anteil, der in der konventionellen Wirtschaft die Produktivität des Bodens vergüten sollte, nicht in der Entlohnung des Bauern/Eigentümers bzw. des Besitzers (sofern er nicht mit dem Bauern zusammenfällt) enthalten. Erhellend ist hier das französische Modell der »Ruhigstellung des Eigentümers«, da in der Gesetzgebung den Rechten des Bewirtschafters Vorrang gegenüber jenen des Eigentümers eingeräumt wird. In den Vereinigten Staaten, wo die »Achtung des Eigentums« nach wie vor absoluten Vorrang hat, wird dasselbe Ergebnis erzielt, indem de facto nahezu alle Familienbetriebe dazu gezwungen werden, Besitzer des von ihnen bewirtschafteten Bodens zu sein. Damit verschwindet die Besitzrente aus der Vergütung der Bauern.
  • Die Effizienz der familiären Landwirtschaft hängt auch davon ab, dass entsprechende Flächen mit guten Böden (im Eigentum oder nicht) bearbeitet werden, die weder zu klein noch zu groß sind. Die bewirtschaftete Fläche, die für jede Entwicklungsphase der mechanisierten Hilfsmittel dem entspricht, was ein Bauer allein (oder in einem kleinen Familienverband) bearbeiten kann, hat sich schrittweise ausgedehnt, wie der französische Agrarökonom Marcel Mazoyer sehr gut (anhand der Fakten) gezeigt und (als Effizienzerfordernis) belegt hat.
  • Auch nachgelagert erfolgt die Kontrolle der landwirtschaftlichen Produktion durch den modernen Handel (insbesondere durch die Einkaufszentren).
  • Definitiv ist also der landwirtschaftliche Familienbetrieb, so effizient er sein mag (und das ist er), nur ein »Subunternehmer«, der doppelt in die Zange genommen wird: vorgelagert vom Agrobusiness (das ausgewählte Saaten und demnächst genetisch veränderte Organismen durchsetzt), der Industrie (die die Arbeitsmittel und die chemischen Produkte herstellt) und der Finanz (die die nötigen Kredite vergibt), nachgelagert von der Vermarktung durch Einkaufszentren. Sein Status ist dem des Handwerkers (als individuellen Produzenten) näher, der einst im Rahmen des Verlagssystems ausgebeutet wurde (der Weber, der vom Verleger und Kaufmann beherrscht wurde, die ihm den Faden lieferten und die Stoffe absetzten).

Zweifellos gibt es in der modernen kapitalistischen Welt nicht nur diese Form von Landwirtschaft. Manchmal gibt es agroindustrielle Agrobusiness-Großunternehmen, manchmal »Großgrundbesitzer« mit vielen Lohnarbeitenden (sofern diese Besitztümer nicht familiären Landwirten in Pacht überlassen werden). Das war generell bei kolonialen Ländereien der Fall und besteht in Südafrika immer noch fort (in Simbabwe wurde diese Form von »Latifundienwirtschaft« im Zuge der Landreform verboten). Unterschiedliche Ausprägungen davon findet man in Lateinamerika, wo sie teilweise kaum, teilweise stark »modernisiert« (also mechanisiert) sind, wie auch am südlichen Kap. Alles in allem ist die familiäre Landwirtschaft in Europa und den USA die vorherrschende Form. Bei den Versuchen des »real existierenden Sozialismus« wurden »industrielle« Formen von landwirtschaftlicher Produktion eingeführt.

Der dieser Option zugrunde liegende Marxismus war jener von Karl Kautsky,[Anmerkung 3] der Ende des 19. Jahrhunderts nicht die Modernisierung des landwirtschaftlichen Familienbetriebs (seiner Ausstattung und Spezialisierung) vorausgesagt hatte, sondern sein Verschwinden zugunsten großer Produktionseinheiten nach dem Muster von Fabriken, die von den Vorteilen einer weit fortgeschrittenen internen Arbeitsteilung profitieren würden. Diese Annahme hat sich in Westeuropa und den Vereinigten Staaten nicht bewahrheitet. In der Sowjetunion, in Osteuropa (mit verschiedenen Schattierungen), in China, Vietnam und eine Zeitlang in Kuba schenkte man dem damit verbundenen Mythos dagegen Glauben. Unabhängig von anderen Gründen, die zum Scheitern dieser Versuche beitrugen (die bürokratische Verwaltung in Verbindung mit einer schlechten makroökonomischen Planung, die Verwässerung der Verantwortlichkeiten aufgrund fehlender Demokratie etc.), ist es in erster Linie auf eine Fehleinschätzung der Vorteile der Arbeitsteilung und Spezialisierung zurückzuführen, in der gewisse Formen der Industrie unbegründet auf andere Bereiche der Produktion und der gesellschaftlichen Tätigkeit verallgemeinert wurden.

Festzuhalten ist, dass in diesem Bereich das Scheitern unterdessen zugegeben wird, was für weiter vorne genannte Formen der kapitalistischen Landwirtschaft in Regionen Lateinamerikas und des südlichen Afrikas nicht gilt. Das Scheitern ist dort trotz der Rentabilität und der Wettbewerbsfähigkeit dieser Formen von modernisierten Latifundien aber genauso offensichtlich. Denn diese Rentabilität wird durch eine fürchterliche Verschwendung in ökologischer Hinsicht (die unwiederbringliche Zerstörung von produktivem Potenzial und Ackerland) und in sozialer Hinsicht (Hungerlöhne) erzielt.

2. Im Süden: bäuerliche Landwirtschaften als arme Bestandteile des dominierenden Kapitalismus der Peripherie

Die bäuerliche Bevölkerung im Globalen Süden stellt nahezu die Hälfte der Menschheit, etwas drei Milliarden Männer, Frauen und Kinder. Diese Landwirte lassen sich wiederum einteilen in jene, die in den Genuss der grünen »Revolution« gekommen sind (Düngermittel, Pestizide und selektiertes Saatgut), aber trotzdem wenig motorisiert sind und deren Produktion bei 100 bis 500 Doppelzentnern, umgerechnet 10.000 bis 50.000 Kilogramm pro Arbeitskraft liegt, und jenen, denen diese Revolution noch bevorsteht und deren Produktion bei lediglich rund 10 Doppelzentnern pro Aktivem liegt. Der Abstand zwischen der durchschnittlichen Produktivität von Landwirten im Norden und Bauern im Süden, der 1940 bei 10:1 lag, liegt heute bei 100:1.

Die Rhythmen der Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft liegen also deutlich über denen anderer Tätigkeitsfelder und haben dazu geführt, dass die Realpreise, wenn man sie indexiert, von 5 auf 1 gesunken sind. Diese bäuerliche Landwirtschaft der Länder des Südens ist ebenfalls deutlich in den lokalen und globalen Kapitalismus integriert. Eine Zustandsanalyse zeigt jedoch sofort die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zwischen diesen beiden Formen der »familiären« Wirtschaft. Gigantische sichtbare und unbestrittene Unterschiede:

  • die Bedeutung des Eigenverzehrs in den bäuerlichen Wirtschaften des Südens als einzige Überlebensform für die betroffenen ländlichen Bevölkerungen;
  • die geringe Effizienz dieser Landwirtschaft, in der es an Traktoren und anderem Material fehlt, oft Kleinstbetriebe in Bezug auf Anbauflächen;
  • diese Schwäche erklärt sich aus der Armut der betrachteten Landregionen (drei Viertel der Opfer von Unterernährung leben auf dem Land);
  • die wachsende Unfähigkeit dieser Systeme, die Lebensmittelversorgung ihrer Städte zu sichern;
  • das Ausmaß der Probleme, da die genannte bäuerliche Wirtschaft nahezu die Hälfte der Menschheit betrifft.

Trotz dieser Unterschiede ist diese bäuerliche Landwirtschaft bereits in das global vorherrschende kapitalistische System eingebunden. Sofern sie Beiträge an den Markt liefert, hängt sie von gekauften Inputs (zumindest chemische Produkte und selektiertes Saatgut) ab und ist Opfer der Oligopole, die die Vermarktung ihrer Erzeugnisse kontrollieren. Für die Regionen, die »in den Genuss« der »grünen Revolution« gekommen sind (die Hälfte der Bauernschaft im Süden), fallen die durch das dominante Kapital vor- und nachgelagerten Wertentnahmen außerordentlich stark ins Gewicht. Relativ gesehen gilt dies angesichts ihrer schwachen Produktion aber auch für die andere Hälfte der Bauernschaft des Südens.

3. Ist die Modernisierung der Landwirtschaft im Süden auf »kapitalistischem Weg« möglich und wünschenswert?

Nehmen wir hypothetisch eine Entwicklungsstrategie für die Landwirtschaft an, die versuchen würde, für den Süden systematisch den Verlauf zu reproduzieren, der im Norden die moderne familiäre Landwirtschaft hervorgebracht hat. Gut möglich, dass dann zwanzig (oder fünfzig) Millionen zusätzliche moderne Landwirtschaftsbetriebe, wenn sie Zugang zu den in großem Maßstab benötigten Landflächen erhalten (die dafür den bäuerlichen Betrieben entzogen würden, wobei zweifellos die besten Böden ausgewählt würden) und, um sich besser auszurüsten, Zugang zu den Kapitalmärkten erhalten, einen wesentlichen Anteil dessen produzieren könnten, was an landwirtschaftlichen Produkten noch an die kaufkräftigen städtischen Konsumenten absetzbar ist. Was würde dann aber aus den Milliarden nicht wettbewerbsfähigen bäuerlichen Produzenten?

Sie würden in der geschichtlich kurzen Zeitspanne von einigen Jahrzehnten unaufhaltsam ausgelöscht. Was wird aus diesen Milliarden Menschen werden, die zum größten Teil bereits zu den ärmsten gehören, sich aber so gut wie möglich – oder, zu einem Drittel, eher schlecht – selbst ernähren? Selbst bei der völlig unrealistischen Annahme, dass für drei Viertel der Menschheit das Wachstum dauerhaft 7 % pro Jahr betragen würde, könnte keine mehr oder weniger wettbewerbsfähige industrielle Entwicklung im Zeitraum von fünfzig Jahren auch nur ein Drittel dieser Reserve absorbieren. Der Kapitalismus ist mit anderen Worten von Natur aus unfähig, die bäuerliche Frage zu lösen. Die einzigen Perspektiven, die er bietet, sind die eines verslumten Planeten mit Milliarden von »überzähligen« Menschen. Wir sind also an einem Punkt angelangt, wo – in menschlichen Begriffen – ganze Gesellschaften zerstört werden müssten, um der Expansion von Kapital (»der Modernisierung der landwirtschaftlichen Produktion«) ein neues Feld zu eröffnen.

Zwanzig oder fünfzig Millionen effiziente neue Produzenten (fünfzig oder zweihundert Millionen Menschen mit ihren Familien) auf der einen, drei Milliarden Ausgeschlossene auf der anderen Seite. Die schöpferische Dimension der Operation stellt nur noch einen Tropfen dar gegenüber dem Ozean an Zerstörung, die sie erfordert. Ich ziehe daraus den Schluss, dass der Kapitalismus in die Jahre gekommen und am absteigenden Ast ist, da die dieses System steuernde Logik nicht mehr in der Lage ist, das schlichte Überleben der Hälfte der Menschheit zu gewährleisten. Der Kapitalismus wird Barbarei und lädt direkt zum Völkermord ein. Mehr denn je ist es nötig, ihn durch andere Entwicklungslogiken zu ersetzen, die von einer höheren Rationalität geprägt sind. Was also tun? Es gilt den Erhalt einer bäuerlichen Landwirtschaft für die ganze vorhersehbare Zukunft des 21. Jahrhunderts zu erhalten.

Nicht aus Gründen der romantischen Verklärung der Vergangenheit, sondern schlicht, weil die Lösung des Problems, eingeschrieben in den jahrhundertelangen Übergang zum Weltsozialismus, über die Überwindung der Logiken des Kapitalismus erfolgt. Es gilt also, sich Politiken auszudenken, die das Verhältnis von »Markt« und bäuerlicher Landwirtschaft regulieren. Auf nationaler und regionaler Ebene müssen diese den lokalen Bedingungen angepassten einzigartigen Regulierungen die nationale Produktion schützen, um so die unverzichtbare Ernährungssouveränität der Nationen sicherzustellen und dem Imperialismus die Wa e aus der Hand zu nehmen, über die Ernährung zu entscheiden. Mit anderen Worten, man muss die Binnenpreise von jenen des sogenannten Weltmarkts loslösen. Ebenso müssen diese Regulierungen durch eine zweifellos langsame, aber kontinuierliche Produktivitätssteigerung der bäuerlichen Landwirtschaft die Möglichkeit bieten, die Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte zu kontrollieren. Auf Ebene des sogenannten Weltmarkts erfolgt die Regulierung vermutlich durch interregionale Abkommen, die den Erfordernissen einer integrierenden statt ausschließenden Entwicklung Rechnung tragen.

4. Die Bodenreform als zentrale Option für die Zukunft bäuerlicher Gesellschaften

Die Diskussion über die Zukunft bäuerlicher Landwirtschaften dreht sich zentral um die Frage des Status, der den Zugang zum Boden regelt. Die nötigen Bodenreformen in Afrika und Asien müssen sich in eine Entwicklung einschreiben, die im Dienst der Gesamtgesellschaft und insbesondere der Arbeiterschichten und des einfachen Volkes, natürlich einschließlich der Bauern, stehen und sich auf den Abbau von Ungleichheiten und die völlige Eliminierung der »Armut« orientieren. Dieses Entwicklungsparadigma setzt eine Kombination aus zwei Optionen voraus: einer »gemischten« Makroökonomie (eine Verbindung von Privatunternehmertum und öffentlicher Planung), die sich auf die gleichzeitige Demokratisierung der marktwirtschaftlichen und der staatlichen Verwaltung und deren Interventionen stützt, und eine Begünstigung der Entwicklung einer Landwirtschaft, die sich auf den bäuerlichen Familienbetrieb stützt.

Die Umsetzung all dieser entscheidenden Grundsätze – deren konkrete, spezifische Modalitäten für jedes Land und jede Etappe der Entwicklung natürlich zu definieren wären – bedeutet selbst schon den Aufbau der Alternative in ihrer nationalen Dimension. Natürlich braucht es begleitend dazu Entwicklungen, die diese Entwicklung sowohl auf der erforderlichen regionalen wie auch auf der weltweiten Ebene durch den Aufbau einer alternativen Globalisierung unterstützen können, die ausgehandelt und nicht länger vom vorherrschenden transnationalen Kapital, dem kollektiven Imperialismus der Triade (USA, Europa, Japan) und der Hegemonialmacht der Vereinigten Staaten einseitig aufgezwungen sind. Ein einziger Aspekt dieser komplexen Problematik sei hier aufgegriffen, nämlich bezüglich der Regeln, die den Zugang zum landwirtschaftlichen Boden bestimmen.

Diese müssen in einer »integrierenden statt ausschließenden« Perspektive entworfen werden, die also der Gesamtheit der Landwirte Zugang zum Boden gibt, was die Ausgangsbedingung für die Reproduktion einer »bäuerlichen Gesellschaft« ist. Dieses Grundrecht allein genügt zweifellos noch nicht. Darüber hinaus muss gewährleistet sein, dass es von Politiken begleitet ist, die den bäuerlichen Familienbetrieben ermöglicht, unter Bedingungen zu produzieren, die ein kräftiges Wachstum der nationalen Produktion gewährleistet (was ihrerseits die Ernährungssouveränität eines Landes sicherstellt) und gleichzeitig erlaubt, die Realeinkommen aller betroffenen Bauern zu steigern. Es geht darum, eine Gesamtheit von makro ökonomischen Vorschlägen umzusetzen, geeignete Formen für ihre politische Verwaltung einzuführen und die Verhandlungen über die Organisation von Systemen des internationalen Handels den Erfordernissen der Ersteren unterzuordnen. Hier soll nicht weiter auf diese Dimensionen des Problems eingegangen werden. Da der Zugang zum Boden durch den Eigentumsstatus bestimmt wird, geht es in unserer Erörterung um die diesen Status betreffenden »Reformen«. Dabei wird oft eine unpräzise Sprache verwendet, die konzeptuell zu wenig eingebettet ist. Auf Französisch werden die Begri e »Bodenreform«, »Agrarreform« und manchmal »Gesetze betreffend den nationalen Bereich« oder »Transformierung der Bewirtschaftungsweise« und auf Englisch »land tenure« oder »land system« synonym verwendet. Zuerst muss zwischen zwei Klassen von »Bodenbesitzverhältnissen« (oder »Bodenordnungen«) unterschieden werden: dem Bodenbesitz, der sich auf Privateigentum an landwirtschaftlichen Flächen stützt, und dem, wo dies nicht der Fall ist.

Auf Privateigentum an Boden gestützte Bodenordnungen

Der Eigentümer bestimmt hier, um die Begri e des Römischen Rechts zu verwenden, über das Recht auf Usus (Profit aus dem Eigentum), Fructus (Genuss aus dem Eigentum) und Abusus (Veräußerung des Eigentums). Dieses Recht ist »absolut« insofern, als der Eigentümer sein Eigentum selbst kultivieren oder es vermieten und sogar brach liegen lassen kann. Das Eigentum kann verschenkt oder verkauft werden und geht in die Gesamtheit der im Erbrecht begünstigten Vermögenswerte ein. Dieses Recht ist zweifellos oft weniger absolut, als es den Anschein macht. Auf alle Fälle untersteht die Nutzung Gesetzen zur öffentlichen Ordnung (die beispielsweise die illegale Nutzung des Bodens für den Anbau von Drogen verbietet) und zunehmend auch Umweltschutzbedingungen. In manchen Ländern, die eine Agrarreform durchgeführt haben (siehe später), gibt es Beschränkungen in Bezug auf die Fläche, die eine Person oder eine Familie besitzen darf.

Die Rechte der Pächter (Dauer und Sicherstellung der Pacht, Betrag der Bodenrente) schränken jene der Eigentümer in unterschiedlichem Ausmaß ein. Im Extremfall kann der Pächter den Hauptnutzen aus dem staatlichen Schutz und der staatlichen Landwirtschaftspolitik ziehen (beispielsweise in Frankreich). Nicht immer kann frei darüber entschieden werden, was angebaut werden darf. In Ägypten haben die staatlichen Agrardienste die Proportionen der Parzellen für die verschiedenen Kulturen schon immer entsprechend deren Bewässerungserfordernissen festgelegt. Diese Bodenordnung ist modern in dem Sinn, dass sie ein Ergebnis der Beschaffenheit des von Westeuropa (insbesondere Großbritannien) und den europäischen Siedlerkolonien in Amerika ausgehenden (»real existierenden«) historischen Kapitalismus ist.

Sie wurde durch die Zerstörung von »gewohnheitsrechtlichen« Systemen der Regulierung des Zugangs zum Boden in Europa selbst festgelegt. In den Bodenbesitzverhältnissen des feudalen Europa überlagerten sich zwei unterschiedliche Rechte auf ein und denselben Boden: jenes der betroffenen Bauern und anderer Angehöriger von Dorfgemeinschaften (Leibeigene oder Freie) und jenes der Feudalherren, des Königs. Der Angrifferfolgte in Form von Einhegungen in England,[2] die im Lauf des 19. Jahrhunderts in unterschiedlicher Form in allen europäischen Ländern nachgeahmt wurden. Marx hatte diese radikale Veränderung, die die meisten Bauern vom Zugang zum Land aussperrte – was sie (durch den Zwang der Dinge) zu den ersten in die Stadt ausgewanderten Proletariern machte, sofern sie nicht als Landarbeiter (oder bäuerliche Halbpächter) vor Ort blieben –, schon sehr früh kritisiert. Er verbuchte sie als eine der Maßnahmen der ursprünglichen Akkumulation, die dazu führte, dass die Produzenten ihres Besitzes oder der Nutzung ihrer Produktionsmittel enteignet wurden. Die Verwendung der Begriffe aus dem Römischen Recht (Usus und Abusus) zur Beschreibung des Charakters des modernen bürgerlichen Eigentums deutet vielleicht darauf hin, dass dessen »Wurzeln« weit in die Vergangenheit zurückweisen, im vorliegenden Fall auf die Bodenbesitzverhältnisse im Römischen Reich und genauer auf den Latifundien-Besitz der Sklavenhalter.

Diese besondere Form des Eigentums war im feudalen Europa jedoch verschwunden, sodass nicht von »Kontinuität« eines »westlichen« Eigentumsverständnisses gesprochen werden kann (das seinerseits mit »Individualismus« und den dadurch vertretenen Werten verbunden wäre); das hat es so tatsächlich nie gegeben. Die Rhetorik, in der sich der Kapitalismus selbst beschreibt – die »liberale« Ideologie – hat nicht nur diesen Mythos der »westlichen Kontinuität« hervorgebracht. Sie hat vor allem einen weiteren, noch gefährlicheren Mythos geschaffen: den der »absoluten und überlegenen Rationalität« einer Wirtschaftsverwaltung, die auf das exklusive Privateigentum an Produktionsmitteln gestützt ist, zu denen der landwirtschaftliche Boden gezählt wird. Tatsächlich behauptet die konventionelle Wirtschaft, der »Markt«, also die Möglichkeit, Kapital- und Bodeneigentum zu veräußern, beeinflusse die optimale (effizienteste) Nutzung dieser »Produktionsfaktoren«.

In dieser Logik muss aus dem Boden also »eine Ware wie alle anderen« werden, veräußerbar zum »Markt«-Preis, um sicherzustellen, dass er sowohl im Sinn des betreffenden Eigentümers als auch der Gesamtgesellschaft bestmöglich genutzt wird. Was hier vorliegt, ist eine kümmerliche Tautologie, aus der sich nichtsdestotrotz der ganze Diskurs der (um mit Marx zu sprechen »vulgären«, d.h. akritischen) bürgerlichen Ökonomie speist. Ebendiese Rhetorik glaubt das Prinzip des Bodeneigentums durch die Tatsache rechtfertigen zu können, dass der Landwirt, der investiert, um den Hektarertrag und seine Arbeitsproduktivität (und gegebenenfalls die seiner Angestellten) zu steigern, nur so die Gewähr hat, nicht plötzlich der Frucht seiner Arbeit und seiner Ersparnisse enteignet zu werden. Das stimmt so nicht und andere Formen der Regelung des Rechts auf Bodennutzung können zu gleichwertigen Ergebnissen führen.

Schließlich bedeutet dieser dominante Diskurs, dass die Schlussfolgerungen, die gemäß diesem Denken aus dem Aufbau der westlichen Moderne gezogen werden können, ausgeweitet werden, um sie allen anderen Völkern als angeblich einzig mögliche Regeln für Fortschritt anzutragen. Den Boden überall in Privateigentum in der aktuellen Bedeutung des Wortes zu verwandeln, wie das in den kapitalistischen Zentren geschieht, bedeutet eine Verallgemeinerung der Politik der »Einhegungen« auf die ganze Welt und beschleunigt damit die Enteignung der Bauern. Dieser Prozess ist nicht neu: Vor allem im Rahmen der Kolonialsysteme hat er bereits in den Jahrhunderten vor der weltweiten Expansion des Kapitalismus eingesetzt. Heute versucht die Welthandelsorganisation (WTO) diese Bewegung zu beschleunigen, während die mit dieser kapitalistischen Option einhergehenden zukünftigen Zerstörungen immer deutlicher vorhersehbar und berechenbar sind, sodass der sich ausbreitende Widerstand der betroffenen Bauern und Völker den Aufbau einer echten, authentisch menschlichen Alternative erlauben würde.

Nicht auf Privateigentum an Grund und Boden gestützte Bodenordnungen

Diese De nition ist, wie man sieht, negativ formuliert – nicht auf Privateigentum an Boden gestützt – und kann daher kein homogenes Ganzes bezeichnen. Der Zugang zum Boden ist in allen menschlichen Gesellschaften geregelt. Doch diese Regulierung wird entweder durch »Gemeinschaften im Gewohnheitsrecht« oder durch »moderne Kollektive« oder den Staat verwaltet. Oder genauer gesagt und häufiger durch eine Anzahl Institutionen und Praktiken betreffend Individuen, Kollektive und Staat.

Die gewohnheitsmäßige Verwaltung (ausgedrückt in Begriffen des Gewohnheitsrechts oder dessen, was man als solches bezeichnet) hat Privateigentum (im modernen Sinn) immer (oder fast immer) ausgeschlossen und stets sichergestellt, dass alle beteiligten Familien (und weniger die Individuen), d.h. alle, die eine unterscheidbare und als solches sich verstehende »Dorfgemeinschaft« bilden, Zugang zum Boden haben. Den »gleichberechtigten« Zugang zum Boden hat sie aber nie (oder fast nie) sichergestellt. Erstens blieben »Fremde« (meist Überbleibsel von eroberten Völkern) und »Sklaven« (mit diversem Status) fast immer ausgeschlossen und das Land wurde je nach Zugehörigkeit zu Klans, Abstammung, Kaste oder Status (»Chefs«, »Freie« etc.) ungleich verteilt. Diese Gewohnheitsrechte bedenkenlos hochzujubeln, wie dies leider zahlreiche Ideologen antiimperialistischer Nationalismen tun, ist also nicht angesagt. In fortschrittlicher Hinsicht müssen sie sicher hinterfragt werden.

Die »Unabhängigen Dörfer« waren nie – oder fast nie gewohnheitsrechtlich verwaltet. Sie waren immer in staatliche Zusammenhänge eingebunden, die je nach den Umständen stabil oder sich wandelnd, solid oder prekär waren, aber kaum je fehlten. Die Rechte auf Bodennutzung durch die Gemeinschaften und Familien, aus denen sie sich zusammensetzten, waren also immer schon begrenzt durch die Rechte des Staates, dem ein Tribut zu entrichten war (weshalb ich die umfassende Familie vormoderner Produktionsweisen als »tributpflichtig« bezeichnet habe). Diese komplexen Formen der »gewohnheitsmäßigen« Verwaltung, die sich von einem Land und einer Epoche zur anderen unterschieden, bestehen bestenfalls nur noch in extrem abgeschwächter Form weiter, nachdem sie seit mindestens zwei (in Asien und Afrika), manchmal seit fünf Jahrhunderten (Lateinamerika) dem Angriff der vorherrschenden Logiken des globalisierten Kapitals ausgesetzt waren. Das Beispiel Indiens ist in dieser Hinsicht ausgesprochen erhellend.

Vor der britischen Kolonisierung wurde der Zugang zum Boden von »Dorfgemeinschaften« verwaltet, oder genauer gesagt durch deren obere Kasten – die herrschenden Klassen, die im Übrigen die niedrigeren Kasten ausschlossen, denn die Dalits wurden als Art von kollektiven Sklaven ähnlich den Heloten Spartas behandelt. Diese Gemeinschaften wurden ihrerseits vom imperialen Staat Moghul und seinen Vasallen (Staaten der Rajahs und anderer Könige) kontrolliert und ausgebeutet, die einen Tribut erhoben. Die Briten erhoben die Zamindars (Steuerpächter), die vorher mit der Eintreibung des Tributs beauftragt waren, in den Status von »Eigentümern« und schufen damit unter Missachtung der Tradition eine Klasse von verbündeten Großgrundbesitzern. Umgekehrt hielten sie an der Tradition fest, wenn ihnen dies entgegenkam, beispielsweise, indem sie den Ausschluss der Dalits vom Zugang zum Land »respektierten«. Das unabhängige Indien stellte dieses schwere koloniale Erbe, das der Grund für das unglaubliche Elend des Großteils der Bauernschaft und daher des städtischen Proletariats ist, nicht infrage.

Die Lösung für diese Probleme und der Aufbau einer überlebensfähigen familiären bäuerlichen Wirtschaft als Mehrheitsform müssen daher durch eine Agrarreform im strengen Sinn des Wortes erfolgen. Die europäischen Kolonisatoren in Südostasien und die US amerikanischen auf den Philippinen haben zu gleichgearteten Entwicklungen geführt. Die Regime des »aufgeklärten Despotismus« im Orient (Osmanisches Reich, Ägypten unter Mohamed Ali, der Schah im Iran) haben die alten Formen ebenfalls weitgehend durch das Privateigentum im modernen Sinn des Wortes ersetzt, wovon eine neue, (von Mehrheitsströmungen des historischen Marxismus) fälschlicherweise als »feudal« bezeichnete Klasse pro tierte, die unter den höheren Beamten ihres Machtapparats rekrutiert wurde. So be ndet sich heute in ganz Asien mit Ausnahme Chinas, Vietnams und der ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken der Großteil des landwirtschaftlichen Bodens – insbesondere die besten Böden – in Privateigentum.

Von den abgeschwächten (vor)gewohnheitsrechtlichen Systemen sind nur einige Überbleibsel, insbesondere in den ärmsten, für die bestehende kapitalistische Landwirtschaft uninteressantesten Regionen übrig geblieben. Diese Struktur ist hochgradig di erenziert, wobei sich Großgrundbesitz (in der von mir vorgeschlagenen Begri ichkeit Landkapitalisten), reiche Bauern, mittlere Bauern, arme Bauern und Landlose gegenüberstehen. Es gibt weder eine »Organisation« noch eine »Bewegung« von Bauern, die diese zugespitzten Klassenkon ikte übergreifend repräsentiert. Im arabischen Teil Afrikas, in Südafrika, Simbabwe und Kenia hatten die Kolonisatoren (mit Ausnahme Ägyptens) ihren Kolonialherren (oder in Südafrika den Buren) »modernes« Privateigentum, im Allgemeinen nach Art von Latifundien, zugebilligt. Dieses Erbe wurde zwar in Algerien aufgehoben, doch die dortige Bauernschaft war bereits fast vollständig verschwunden und durch die Ausweitung der kolonialen Ländereien proletarisiert (oder verelendet) worden, während in Marokko und Tunesien (wie auch in Kenia) die lokalen Bourgeoisien die Nachfolge dieser Struktur antraten. In Simbabwe war im Verlauf der Revolution das Erbe der Kolonisation infrage gestellt worden, was einerseits neuen mittelgroßen Eigentümern eher städtischen als ländlichen Ursprungs und andererseits »armen Bauerngemeinden« zugutekam. In Südafrika ist diese Bewegung noch immer nicht angekommen.

Die Überbleibsel althergebrachter (vor)gemeinschaftlicher Systeme, die in den »armen Regionen« Marokkos oder in den Berber gebieten Algeriens wie auch in den südafrikanischen Bantustans weiter bestanden, geraten in den betreffenden Gesellschaften von innen und außen unter Druck und drohen der privaten Aneignung anheimzufallen. In all diesen Fällen müssen die bäuerlichen Kämpfe (und möglicherweise die diese leitenden oder sich ihnen anschließenden Organisationen) näher bestimmt werden: handelt es sich um Bewegungen und Forderungen von »reichen Bauern«, die sich gegen eine bestimmte Ausrichtung der staatlichen Politik (und der Einflüsse des herrschenden globalen Systems auf dieselbe) stellen, oder um arme und landlose Bauern.

Ist denkbar, dass sich beide auf ein »Bündnis« gegen das herrschende (»neoliberal« genannte) System einlassen? Zu welchen Bedingungen? In welchem Ausmaß? Können die – ausgesprochenen oder nicht ausgesprochenen – Forderungen der armen und landlosen Bauern vergessen werden? Im subtropischen Afrika ist der offenkundige Fortbestand gewohnheitsrechtlicher Systeme zweifellos deutlicher erkennbar. Denn hier hatte das Kolonisationsmodell eine andere, spezielle Richtung eingeschlagen, die man auf Französisch als »économie de traite« (Handels-/Melkwirtschaft) bezeichnet hat. Die Verwaltung des Zugangs zum Boden war den sogenannten »gewohnheitsmäßigen« Behörden überlassen worden, die mittlerweile (mittels echter oder falscher, von der Verwaltung eingesetzter traditioneller Chefs) durch den Kolonialstaat kontrolliert wurden. Das Ziel dieser Kontrolle war, die Bauern zu zwingen, dass sie über ihre eigene Subsistenz hinaus einen Anteil an spezifischen Exportgütern (Erdnüsse, Baumwolle, Ka ee, Kakao) produzierten. Die Beibehaltung einer Bodenordnung, die das Privateigentum ausklammerte, bot sich dabei für die Kolonisierung an, da keinerlei Bodenrente in die Zusammensetzung des Preises der bezeichneten Güter ein oss.

Das führte zu einer Verschwendung von Böden, die durch die Ausdehnung des Anbaus manchmal definitiv zerstört wurden (wie das Beispiel der Wüstenbildung im Erdnüsse produzierenden Teil Senegals zeigt). Einmal mehr zeigte der Kapitalismus hier, dass es tatsächlich die der vorherrschenden Logik immanente »kurzfristige Rationalität« war, die diese ökologische Katastrophe verursachte. Die Überlagerung von Lebensmittelproduktion in Subsistenzwirtschaft und Exportproduktion machte es auch möglich, den Bauern für ihre Arbeit fast nichts zu zahlen. Unter diesen Bedingungen ist es eine ziemliche Übertreibung, von »gewohnheitsmäßiger Bodenordnung« zu sprechen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine neue Ordnung, die von den Traditionen nur die Äußerlichkeiten übernimmt, und dies oft in Bezug auf deren uninteressanteste Aspekte. China und Vietnam liefern ein einzigartiges Beispiel von einem System, das den Zugang zum Boden verwaltet, ohne sich auf Privateigentum oder auf die »Gewohnheit« zu stützen.

Die Grundlage bildet vielmehr ein revolutionäres neues Recht, das überall sonst übergangen wird: das Recht aller Bauern (definiert als Bewohner eines Dorfes) auf gleichen Zugang zum Land (ich betone hier das Adjektiv »gleich«). Dieses Recht ist die beste Errungenschaft der chinesischen und der vietnamesischen Revolution. In China und erst recht in Vietnam, das noch weitreichender kolonisiert worden war, waren die ehemaligen Bodenordnungen (die ich als »tributp ichtig« bezeichnet habe) durch den vorherrschenden Kapitalismus bereits ziemlich erodiert. Die ehemaligen herrschenden Klassen des imperialen Machtsystems hatten sich die landwirtschaftlichen Böden weitgehend angeeignet und sie in Eigentum oder quasi Privateigentum umgewandelt, während die kapitalistische Entwicklung die Entstehung neuer Klassen von reichen Bauern förderte.

Mao Zedung war der Erste und, gefolgt von den chinesischen und vietnamesischen Kommunisten, zweifellos der Einzige –, der für die Agrarrevolution eine Strategie festlegte, die sich auf die Mobilisierung der Mehrheit der armen, land- und mittellosen Bauern stützte. Der Sieg dieser Revolution erlaubte die sofortige Abschaffung des Privateigentums an Land – die durch diejenige des staatlichen Eigentums ersetzt wurde – und die Organisierung neuer Formen des gleichen Zugangs aller Bauern zum Boden. Diese Organisierung erfolgte zwar in mehreren Phasen, darunter einer vom Sowjetmodell inspirierten, die sich auf Produktionskooperativen stützte. Die Grenzen der so erreichten Umsetzung führten in beiden Ländern zur Wiedereinführung des bäuerlichen Familienbetriebs. Ist dieses Modell existenzfähig? Kann man eine dauerhafte Verbesserung der Produktion herbeiführen, ohne einen Überschuss an ländlicher Arbeitskraft zu erzeugen? Unter welchen Bedingungen? Welche staatliche Unterstützungspolitik braucht es dafür?

Welche Formen der staatlichen politischen Verwaltung werden den damit verbundenen Herausforderung gerecht? Idealerweise setzt dieses Modell voraus, dass die Rechte des Staates (als Alleineigentümer) wie die der Nutznießer (der bäuerlichen Familie) bekräftigt werden. Der Staat garantiert die gleiche Verteilung der Böden des Dorfs auf alle Familien. Er verbietet jede andere Nutzung als die Kultivierung durch die Familien, beispielsweise die Vermietung. Er garantiert, dass das Erzeugnis aus den getätigten Investitionen, die der Nutznießer tätigt, durch sein Eigentumsrecht auf die gesamte betriebliche Produktion unmittelbar diesem zufällt (die Produkte können frei verkauft werden, selbst wenn der Staat durch seine Ankäufe einen Mindestpreis garantiert), längerfristig durch Vererbung der Nutzung zum ausschließlichen Vorteil der auf dem Betrieb gebliebenen Kinder (die Abwanderer, die das Dorf verlassen, verlieren ihr Recht auf Zugang zum Boden und es fällt in den Gemeinschaftstopf des zu vergebenden Bodens zurück).

Selbst bei reichen Böden, aber auch bei kleinen (oder winzigen) Betrieben ist das System nur dann existenzfähig, wenn sich die vertikale Investition (die grüne Revolution ohne große Motorisierung) in Bezug auf die Steigerung der Pro-Kopf-Produktion der ländlichen Arbeitskraft als so wirksam erweist wie die horizontale Investition (die Ausweitung der durch Intensivierung der Motorisierung unterstützten Bewirtschaftung). Ist dieses »ideale« Modell je umgesetzt worden? Zweifellos gab es Annäherungen daran (beispielsweise zur Zeit von Deng Xiaoping in China). Trotzdem konnte auch dieses Modell die Ungleichheit von einer Gemeinschaft zur anderen, je nach Qualität des Bodens, der Bevölkerungsdichte oder der Nähe zu städtischen Märkten, nie verhindern, auch wenn es vielleicht innerhalb eines Dorfs zu einem hohen Grad an Gleichheit führte. Kein einziges Umverteilungssystem (selbst über die Strukturen von Kooperativen oder staatliche Handelsmonopole der sowjetischen Phase) konnte mit dieser Herausforderung zurechtkommen. Zweifellos schlimmer ist zudem, dass das System seinerseits internem und externem Druck unterworfen ist, der dessen soziale Tragweite untergräbt.

Über den Zugang zu Krediten und zufriedenstellende Bedingungen für die Lieferung von Inputs wird gefeilscht und auf legaler wie illegaler Ebene verschiedentlich interveniert. Der gleiche Zugang zum Boden ist also nicht gleichzusetzen mit gleichem Zugang zu den besten Produktionsbedingungen. Diese Erosion wird durch die Popularisierung der »Markt«-Ideologie gefördert: Das System toleriert (oder legitimiert sogar erneut) die Vermietung (Pacht) und die Anstellung von Lohnabhängigen. Im – von außen unterstützten Diskurs der Rechten wird wiederholt, dass den betreffenden Bauern unbedingt das »Eigentum« an Land überschrieben und der »Markt für landwirtschaftlichen Boden« geöffnet werden muss. Es liegt auf der Hand, dass hinter diesem Diskurs die reichen Bauern (bzw. das Agrobusiness) stehen, die darauf warten, ihr Eigentum auszubauen.

Die Verwaltung dieses Systems des Zugangs der Bauern zum Boden wird bis heute vom Staat und der mit diesem zusammenfallenden Partei geleistet. Natürlich wäre vorstellbar, das mittels wirklich gewählten Dorfräten zu regeln. Dies wäre zweifellos nötig, denn es gibt kaum eine andere Möglichkeit, die Mehrheitsmeinung dafür zu gewinnen und die Intrigen der Minderheiten möglicher Profiteure einer ausgeprägt kapitalistischeren Entwicklung einzudämmen. Wie sich zeigt, ist die »Diktatur der Partei« stark anfällig für Karrierismus, Opportunismus und Korruption. Zweifellos gibt es aktuell auch in China und Vietnam soziale Kämpfe. Sie äußern sich genauso stark wie anderswo in der Welt. Doch im Wesentlichen bleiben sie »defensiv«, das heißt der Verteidigung des Erbes der Revolution verp ichtet dem gleichen Recht auf Zugang zum Boden für alle.

Dieses Recht zu verteidigen ist nötig, zumal dieses Erbe trotz der wiederholten Beteuerungen der chinesischen wie der vietnamesischen Regierung, »das staatliche Eigentum am Boden wird ›nie‹ zugunsten des Privateigentums aufgehoben werden«, bedrohter ist, als es den Anschein macht. Doch eine Voraussetzung, um dieses Recht zu verteidigen, ist, dass auch das Recht auf Organisierung der Betroffenen, das heißt der Bauern, anerkannt wird. Die verschiedenen Organisationsformen landwirtschaftlicher Produktion und Bodenordnungen auf Ebene des gesamten Asiens und Afrikas sind zu vielfältig, als dass allen eine einzige Formel für den »Aufbau einer bäuerlichen Alternative« empfohlen werden könnte. Unter »Agrarreform« ist die Umverteilung des Privateigentums zu verstehen, sofern dieses zu ungleich verteilt ist. Es geht dabei nicht um eine »Reform der Bodenordnung«, denn man bleibt immer noch bei einer Bodenordnung, die nach dem Grundsatz des Eigentums geregelt ist. Dennoch drängt sich eine solche Reform auf, zum einen, um die völlig legitime Nachfrage der armen und landlosen Bauern zu befriedigen, und zum anderen, um die politische und soziale Macht der Großgrundbesitzer zu begrenzen. Wo aber nach der Befreiung aus alten imperialistischen und kolonialen Herrschaftsformen eine Reform umgesetzt wurde, geschah dies durch hegemoniale, nicht revolutionäre gesellschaftliche Kräfte.

Sie erfolgte mit anderen Worten nicht unter der Führung der mehrheitlich armen und beherrschten Klassen außer in China und Vietnam, wo es übrigens aus diesem Grund keine »Agrarreform« im strengen Sinn des Wortes gab, sondern, wie ich gesagt habe, eine Unterdrückung des privaten Eigentums am Boden, eine Bekräftigung des staatlichen Eigentums und die Umsetzung des Grundsatzes des »gleichen« Zugangs aller Bauern zum Boden. Anderswo wurden im Zug richtiger Reformen allein die Großgrundbesitzer enteignet, wovon letztlich mittlere und sogar (langfristig) reichere Bauern profitierten, während die Interessen der armen und landlosen Bauern unberücksichtigt blieben. Das war in Ägypten und anderen arabischen Länder der Fall. Die unter Robert Mugabe betriebene Reform in Simbabwe hatte sich wohl in eine analoge Richtung bewegt. In anderen Fällen steht die Reform noch immer auf der Tagesordnung und ist überfällig: in Indien, in Südostasien, in Südafrika und Kenia. Selbst wo die Agrarreform noch immer unvermeidlich ansteht, stellt sie angesichts ihrer langfristigen Wirkung dennoch einen widersprüchlichen Fortschritt dar.

Denn sie verstärkt die Bindung an das »Kleineigentum«, was eine Infragestellung der auf Privateigentum gestützten Bodenordnung behindern kann. Von dieser Tragödie zeugt die Geschichte Russlands. Die nach der Abschaffung der Leibeigenschaft (1861) begonnenen Entwicklungen, die durch die Revolution von 1905 und die Politik Pjotr Stolypins[Anmerkung 4] beschleunigt wurden, hatten bereits eine »Nachfrage nach Eigentum« geschaffen, die in der Revolution von 1917 durch eine radikale Agrarreform besiegelt wurde. Bekanntlich haben die neuen Kleineigentümer in den 1930er-Jahren nicht voller Begeisterung auf ihre Rechte zugunsten der damals unglücklich konzipierten Kooperativen verzichtet. Ein »anderer Weg« der Entwicklung, ausgehend von der auf verallgemeinertes Kleineigentum gestützten familiären bäuerlichen Landwirtschaft, wäre möglich gewesen. Das wurde nicht versucht. Doch wie steht es um die Regionen, wo (abgesehen von China und Vietnam) die Bodenordnung (noch) nicht auf Privateigentum beruht? Gemeint ist natürlich das subtropische Afrika. 7 Hier begegnet man wieder einer alten Diskussion.

Ende des 19. Jahrhunderts wagt Marx in seiner Korrespondenz mit den russischen Narodniki[Anmerkung 5] (unter anderem Wera Sassulitsch) zu behaupten, das fehlende Privateigentum könne als Vorteil für die sozialistische Revolution angesehen werden und erlaube den Sprung in eine Form der Verwaltung des Zugangs zum Boden, die nicht über das Privateigentum laufe. Allerdings führte er nicht weiter aus, welche Formen diese neue Ordnung annehmen müsse, und das Adjektiv »kollektiv« reicht, so berechtigt es auch ist, nicht aus. Zwanzig Jahre lang ging Lenin davon aus, dass diese Möglichkeit der Kollektivität nicht mehr länger bestehe, da sie angesichts der kapitalistischen Durchdringung und dem damit einhergehenden Geist des Privateigentums abgeschafft worden sei. Eine korrekte oder eine falsche Beurteilung? Auf diese Frage, die meine Kenntnisse über Russland übersteigt, werde ich mich hier nicht einlassen. Wie auch immer, Lenin schien dieser Frage keine entscheidende Bedeutung beizumessen und akzeptierte den Standpunkt, den Kautsky in Die Agrarfrage ausdrückte. Kautsky verallgemeinerte die Bedeutung des Modells des modernen kapitalistischen Europa und ging davon aus, dass die Bauernschaft durch die kapitalistische Expansion selbst zum »Verschwinden« verurteilt sei.

Der Kapitalismus sei, mit anderen Worten, in der Lage gewesen, »die Agrarfrage zu lösen«. Diese für die kapitalistischen Länder des Zentrums (die Triade mit 15 % der Weltbevölkerung) zutreffende Annahme stimmt für den »Rest der Welt« (85% der Bevölkerung) nicht. Die Geschichte hat nicht nur bewiesen, dass der Kapitalismus diese Frage für 85% der Völker nicht gelöst hat, sondern dass er sie auch in der Perspektive der Weiterverfolgung seiner Expansion nicht regeln können wird (außer durch einen Völkermord! Was für eine Lösung!). Man musste also Mao Zedung und die kommunistischen Parteien Chinas und Vietnams abwarten, um eine angemessene Antwort auf diese Herausforderung zu erhalten. Erneut tauchte diese Frage in den 1960er-Jahren auf, als Afrika die Unabhängigkeit erlangte. Die nationalen Befreiungsbewegungen des Kontinents, die daraus hervorgegangenen Staaten und Staatsparteien, waren in unterschiedlichem Ausmaß von der bäuerlichen Mehrheit ihres Volks unterstützt worden.

Ihr natürlicher Hang zum Populismus verleitete sie dazu, sich einen »afrikanischen Sonderweg zum Sozialismus« auszumalen. Dieser lässt sich zweifellos als gemäßigt radikal beurteilen, was die Beziehungen zum vorherrschenden Imperialismus wie auch zu den mit dessen Expansion verbundenen lokalen Klassen betraf. Dennoch wurde damit die Frage nach dem Wiederaufbau einer bäuerlichen Gesellschaft in einem humanistischen und universalistischen Geist aufgeworfen, der sich gegenüber den »Traditionen« oft als ziemlich kritisch erwies, während die ausländischen Herren versuchten, zu ihrem Vorteil an diesen anzuknüpfen. Alle – oder fast alle – afrikanischen Länder haben dasselbe Prinzip übernommen, das ein »vom Staat ausgehendes Recht auf Eigentum« über den gesamten Boden vorsieht. Ich gehöre nicht zu jenen, die eine solche Verkündung als »Fehler« ansehen, und glaube auch nicht, dass sie von extremem »Etatismus« zeugt. Die Schwierigkeit der Aufgabe lässt sich an den realen Funktionsweisen des heutigen Systems der Einbettung der Bauernschaft und ihrer Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft messen. Diese Einbettung wird durch ein komplexes System gewährleistet, das sowohl an die »Gewohnheit« wie auch an das (kapitalistische) Privateigentum und die Rechte des Staates anknüpft.

Die betreffende »Gewohnheit« ist abgeschwächt und dient mehrheitlich nur noch als Dekor für den Diskurs blutrünstiger Diktatoren, die in bekannter Weise an die »Authentizität« appellieren – ein Feigenblatt, mit dem sie ihren Durst nach Plünderung und ihren Verrat gegenüber dem Imperialismus kaschieren. Dem Hang dazu, die Aneignung für die private Nutzung auszuweiten, steht kein ernsthaftes Hindernis im Weg, es sei denn der allfällige Widerstand der Opfer. In manchen Regionen, die für fruchtbare Kulturen besser geeignet sind (bewässerte Zonen, stadtnahe Gemüseanbaugebiete), wird der Boden ohne formale Bodenrechtstitel gekauft, verkauft oder verpachtet. Das dem Staat unterstehende Eigentum, das ich im Grundsatz verteidige, wird selbst zu einem Mittel für ausschließliche Aneignung.

So kann der Staat die für die Einrichtung eines Tourismusgebiets, eines lokalen oder ausländischen Agrokonzerns oder sogar eines staatlichen Bauernhofs nötigen Böden »vergeben«. Die für den Zugang zu nutzbar gemachten Gebieten nötigen Bodenrechtstitel werden allerdings meist in intransparenter Weise vergeben. In jedem Fall werden die bäuerlichen Familien, die an diesen Orten gelebt haben und die man au ordert, zu verschwinden, zu Opfern dieser von Machtmissbrauch zeugenden Praktiken. Doch das dem Staat unterstehende Eigentum »abzuschaffen«, um es denen zu überlassen, die darauf leben, ist in der Realität nicht machbar (dafür müssten alle dör ichen Gebiete in den Kataster aufgenommen werden!). Und wo dies versucht würde, könnten die ländlichen und städtischen Honoratioren sich die besten Stücke aneignen. Die korrekte Antwort auf die herausfordernde Aufgabe, ein nicht (oder nicht vorherrschend) auf Privateigentum gestütztes Bodensystem zu verwalten, muss durch eine Staatsreform und die aktive Einbindung des Staates in die Verwirklichung eines modernisierten, (wirtschaftlich) effizienten und demokratischen Systems der Verwaltung des Zugangs zum Boden erfolgen (um die Ungleichheiten zu vermeiden oder zumindest abzubauen). Die Lösung kann keinesfalls in der »Rückkehr zur Gewohnheit« liegen, die im Übrigen gar nicht möglich ist und nur dazu dienen würde, die Ungleichheiten zu verschärfen und den Weg zu einem wilden Kapitalismus freizumachen. Dass kein afrikanischer Staat versucht hätte, den hier empfohlenen Weg zu beschreiten, kann nicht behauptet werden.

In Mali wurde von der Sudanesischen Union[Anmerkung 6] nach der Unabhängigkeit im September 1961 mit dem begonnen, was völlig inkorrekt als »Kollektivierung« bezeichnet worden ist. Tatsächlich waren die eingeführten Kooperativen keine Produktionskooperativen und die Produktion blieb gänzlich in der Verantwortung von Familienbetrieben. Vielmehr war es eine Form von modernisierter kollektiver Macht, die an die Stelle der angeblichen »Gewohnheit« trat, auf die sich die Kolonialmacht gestützt hatte. Die Partei, die diese moderne neue Macht ausübte, war sich im Übrigen der Herausforderung deutlich bewusst und hatte sich zum Ziel gesetzt, die gewohnheitsmäßigen Formen der Macht – die als »reaktionär« oder sogar »feudal« beurteilt wurden abzuschaffen. Diese neue, formal demokratische bäuerliche Macht (mit gewählten Verantwortlichen) war in Wirklichkeit zweifellos nur so demokratisch wie der Staat und die Partei. Sie übte jedenfalls »moderne« Verantwortlichkeiten aus: Sie sorgte dafür, dass der Zugang zum Boden »korrekt« erfolgte, das heißt ohne »Diskriminierung«, dass Kredite verwaltet, Inputs (die durch den staatlichen Handel bereitgestellt wurden) verteilt und die Erzeugnisse (ebenfalls teilweise über den staatlichen Handel) vermarktet wurden.

In der Praxis wurden Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch sicher nie ausgerottet. Doch die einzige Antwort auf diesen Missbrauch war die fortschreitende Demokratisierung des Staates und nicht sein »Rückzug«, wie dies durch den Liberalismus (mittels einer ausgesprochen brutalen Militärdiktatur) in der Folge durchgesetzt wurde, was den Händlern (»Dioulas«[Anmerkung 7]) entgegenkam. Andere Erfahrungen in den befreiten Gebieten Guinea-Bissaus 9 10 11 (beein usst von den Theorien von Amílcar Cabral[Anmerkung 8]) oder in Burkina Faso unter Thomas Sankara[Anmerkung 9] haben diese Herausforderungen ebenso angepackt und unbestreitbare Fortschritte erreicht, die man heute aus der Erinnerung zu löschen versucht. In Senegal stellt die Einführung von gewählten ländlichen Kollektiven eine Antwort dar, die ich im Grundsatz ohne Zögern verteidigen würde.

Die Demokratie ist eine Praxis, die immer weiter vertieft werden muss, in Europa wie in Afrika. Was der gegenwärtig vorherrschende liberale Diskurs unter »Reform der Bodenordnung« versteht, geht genau in die gegenteilige Richtung dessen, was für den Aufbau einer authentischen Alternative, die sich auf eine gesunde bäuerliche Wirtschaft stützt, nötig ist. In diesem von Propagandainstrumenten des Imperialismus wie der Weltbank, vielen Kooperationsagenturen, aber auch vielen finanziell gut ausgestatteten NGOs verbreiteten Diskurs wird unter Bodenreform nur die beschleunigte Privatisierung des Bodens verstanden und sonst nichts. Das Ziel ist offenkundig: Es sollen die Bedingungen geschaffen werden, um »modernen« Inseln des (ausländischen oder lokalen) Agrobusiness zu ermöglichen, sich die zu ihrer Expansion nötigen Böden anzueignen.

Die zusätzlichen Erzeugnisse, die diese Inseln hervorbringen könnten (für den Export oder den kaufkräftigen lokalen Markt), wären niemals in der Lage, eine Antwort auf die schwierige Aufgabe zu geben, eine für alle gedeihliche Gesellschaft aufzubauen, die einen Ausbau der gesamten familiären bäuerlichen Wirtschaft voraussetzt. Als Kontrapunkt muss eine Bodenreform im Hinblick auf den Aufbau einer realen, wirksamen und demokratischen Alternative, die sich auf eine orierende familiäre bäuerliche Landwirtschaft stützt, die Rolle des Staates (als Haupteigentümer) und jene der Institutionen und Mechanismen zur Verwaltung des Zugangs zum Boden und den Produktionsmitteln de nieren. Ich schließe hier komplexe, gemischte Vorgehensweisen nicht aus, die zudem für jedes Land spezifischsein müssen. Das Privateigentum an Boden kann hingenommen werden – zumindest dort, wo es eingeführt und als legitim erachtet wird. Seine Verteilung kann – oder muss – dort überprüft werden, wo Agrarreformen dies erfordern (in Afrika südlich der Sahara, in Südafrika, in Simbabwe und Kenia). Dabei schließe ich nicht einmal unbedingt und in allen Fällen die – kontrollierte – Öffnung von Flächen für Plantagen des Agrobusiness aus. Wesentlich ist etwas anderes: die Modernisierung der familiären bäuerlichen Landwirtschaft und die Demokratisierung der Steuerung ihrer Integration in die nationale Wirtschaft und die globalen Zusammenhänge. Ich habe für diese Bereiche kein fixfertiges Rezept (keine Blaupause) vorzuschlagen.

Ich begnüge mich daher mit der Aufzählung einiger Probleme, die diese für die Völker nützliche Reform aufwirft. Eine zentrale Achse für diese schwierige Aufgabe ist unbestritten die demokratische Frage. Diese Frage ist komplex und schwierig und kann nicht auf das langweilige Gerede von guter Regierungsführung und Mehrparteiensystem reduziert werden. Die demokratische Frage enthält ebenso unbestreitbar eine kulturelle Dimension. Die Demokratie lädt ein, ihr widersprechende »Gewohnheiten« zu überwinden (Vorurteile bezüglich gesellschaftlicher Hierarchien und insbesondere die Behandlung von Frauen). Sie enthält rechtliche und institutionelle Dimensionen in Bezug auf den Aufbau von Systemen eines Verwaltungs- und Handelsrechts sowie persönlicher Rechte, die mit dem Plan eines sozialen Aufbaus übereinstimmen, und der Einrichtung von (im Allgemeinen gewählten) entsprechenden Institutionen.

Vor allem aber hängt der Fortschritt der Demokratie vom gesellschaftlichen Einfluss ihrer AnhängerInnen ab. Daher ist es in diesem Sinn absolut unerlässlich, Bauernbewegungen zu organisieren. Nur in dem Maß, wie die Bauernschaft sich ausdrücken kann, können sich Fortschritte in Richtung auf die sogenannte »partizipative Demokratie« den Weg bahnen (im Gegensatz zu einer Reduzierung des Problems auf Dimensionen der »repräsentativen Demokratie«). Eine ebenso wichtige Dimension der Aufgabe, die Demokratie zu vertiefen, ist die Frage der Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Wer von (bäuerlichem) »Familienbetrieb« spricht, bezieht sich natürlich auf die Familie, die bislang fast überall durch Strukturen gekennzeichnet ist, die die Unterordnung der Frauen und die Überausbeutung ihrer Arbeitskraft beinhalten.

Unter diesen Umständen wird die demokratische Transformation nicht ohne organisierte Bewegung der betreffenden Frauen vor sich gehen. Die Aufmerksamkeit muss auf die Frage der Migrations bewegungen gelegt werden. Die »Gewohnheits«-Rechte schließen im Allgemeinen die »Fremden« (also alle, die nicht zu Klan, Abstammungslinie, Familie gehören, aus der sich die jeweilige Dorfgemeinschaft zusammensetzt) vom Recht auf Boden aus oder stellen dafür Bedingungen auf. Doch die von der kolonialen und postkolonialen Entwicklung verursachten Migrationsbewegungen haben zeitweise Dimensionen angenommen, die die Vorstellungen von ethnischer »Homogenität« der betrachteten Regionen über den Haufen werfen.

Welche Rechte ursprünglich aus einem anderen Staat kommende Migranten (z.B. die Burkinabe in Côte d’Ivoire) oder Menschen, die zwar aus demselben Staat sind, aber einer anderen »ethnischen« Gruppe angehören als jener der Region, in der sie sich niedergelassen haben (wie die Hausa im Bundesstaat Plateau in Nigeria), auf den von ihnen kultivierten Boden haben, werden von engstirnigen, chauvinistischen politischen Bewegungen infrage gestellt, die aber ausländische Unterstützung erhalten. Die ideologische und politische Abwehr des betreffenden »Kommunitarismus« und die uneingeschränkte Kritik der ihnen zugrunde liegenden parakulturellen Diskurse ist mittlerweile eine unumgängliche Bedingung für wahre demokratische Fortschritte geworden. Die Gesamtheit der auf den vorangegangenen Seiten ausgeführten Analysen und Vorschläge betreffen nur den Status des Eigentums und Regelungen über den Zugang zum Boden. Tatsächlich spielen diese Fragen eine zentrale Rolle in den Diskussionen über die Zukunft der landwirtschaftlichen und der Lebensmittelproduktion bäuerlicher Gesellschaften und der Einzelpersonen, aus denen sie sich zusammensetzen.

Doch damit sind noch nicht alle Facetten der zu lösenden Aufgabe abgedeckt. Die Frage des Zugangs zum Boden enthält kein Potenzial zum Wandel der Gesellschaft, wenn der davon profitierende Bauer nicht in der Lage ist, die unverzichtbaren Produktionsmittel (Kredit, Saatgut, Inputs, Marktzugang) unter angemessenen Bedingungen zu erhalten. Im Zentrum dieser anderen Ebene der Bauernfrage stehen die binnenstaatlichen Politiken und internationalen Verhandlungen, in denen die Rahmenbedingungen zur Festlegung von Preisen und Einkommen de niert werden. Zu diesen Fragen, die den Rahmen des hier behandelten Themas sprengen, sei auf die Schriften des Ökonomen Jacques Berthelot verwiesen, den besten kritischen Analytiker der Pläne zur Integration der landwirtschaftlichen und der Nahrungsproduktion in die »Welt«-Märkte. Wir begnügen uns hier also mit dem Hinweis auf zwei zentrale Schlussfolgerungen und Vorschläge, zu denen wir gelangt sind:

  • Es ist nicht hinnehmbar, die landwirtschaftliche und die Nahrungsmittelproduktion sowie den Boden als normale »Waren« zu betrachten und zuzulassen, dass sie in den Plan der globalisierten Liberalisierung einbezogen werden, die von den herrschenden Mächten (Vereinigte Staaten, Europäische Union) und dem transnationalen Kapital gefördert werden. Das Programm der 1995 aus dem GATT hervorgegangenen WTO ist schlicht und einfach zurückzuweisen. Es muss gelingen, die Öffentlichkeit in Asien und Afrika – angefangen bei den bäuerlichen Organisationen, aber auch darüber hinaus alle sozialen und politischen Kräfte, die die Interessen der werktätigen Klassen und jene der Nation verteidigen (insbesondere die Forderung nach Ernährungssouveränität) und alle, die noch an einem Plan einer dieses Namens würdigen Entwicklung festhalten – davon zu überzeugen, dass die im Rahmen des WTO-Programms begonnenen Verhandlungen für die Völker Asiens und Afrikas nur katastrophale Ergebnisse hervorbringen können. Sie drohen mehr als zweieinhalb Milliarden Bauern der beiden Kontinente schlicht zu ruinieren, denen keine andere Perspektive geboten wird als die Migration in Elendsviertel oder das Einsperren in »Konzentrationslager«, deren Bau bereits geplant ist, um die unglücklichen potenziellen Migranten unterzubringen. Der Kapitalismus ist in ein Stadium getreten, wo die Fortsetzung der Expansion analog den »Einhegungen« der ersten Phase seiner Entwicklung in England die Umsetzung von »Einhegungs«- Politiken im Weltmaßstab vorsieht. Nur dass heute die weltweite Zerstörung der »bäuerlichen Reserven« an billigen Arbeitskräften im Weltmaßstab nichts Geringeres als einen Genozid an der Hälfte der Menschheit bedeuten wird. Am einen Ende steht die Zerstörung der bäuerlichen Gesellschaften Asiens und Afrikas; am anderen Milliarden von Dollars und Euros an zusätzlichem Profit für das globalisierte Kapital und seine lokalen Verbündeten aus einer sozial unnützen Produktion, da sie nicht dazu dient, die nicht kaufkräftigen Bedürfnisse von Hunderten Millionen zusätzlicher Verhungernder zu stillen, sondern nur, den Anteil der Fettleibigen im Norden und ihrer Nacheiferer im Süden zu erhöhen! Die Staaten Asiens und Afrikas müssen schlicht und einfach dazu aufgerufen werden, sich aus diesen Verhandlungen zurückzuziehen und sich von Anfang an Entscheidungen zu verweigern, die von den Imperialisten der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union in den berüchtigten »grünen Salons« der WTO getroffen werden.[Anmerkung 10] Es muss gelingen, dieser Stimme Gehör zu verschaffen und die betroffenen Regierungen zu zwingen, ihnen innerhalb der WTO ein entsprechendes Echo zu verschaffen.
  • Die Verhaltensweisen der wichtigen imperialistischen Mächte, die sich im Übrigen innerhalb der WTO bei ihren Angriffen auf die Länder des Südens verbünden (die Vereinigten Staaten und die Europäische Union), können nicht mehr länger hingenommen werden. Man muss wissen, dass sich diese Mächte, die in den Ländern des Südens einseitig die Vorstellungen des Liberalismus durchzusetzen versuchen, herausnehmen, sich in ihrem eigenen Verhalten davon zu befreien, was nicht anders denn als systematische Mogelei bezeichnet werden kann.

Die Farm Bill der Vereinigten Staaten und die Landwirtschaftspolitik der Europäischen Union verletzen dieselben Grundsätze, die die WTO den anderen aufzwingen will. Die von der Europäischen Union vorgeschlagenen »Partnerschaften«, die seit 2008 das Cotonou-Abkommen abgelöst haben, sind wirklich »kriminell«, um den starken Ausdruck von Jacques Berthelot aufzugreifen. Man kann und muss diese Mächte in den dafür eingerichteten Instanzen der WTO selbst anklagen. Das könnte eine Gruppe von Staaten des Südens machen. Sie muss es machen. Die Bauern in Asien und Afrika haben sich in der vorherigen Phase des Befreiungskampfes ihrer Länder engagiert. Sie fanden in mächtigen historischen Bündnissen ihren Platz, die ermöglichten, gegen den damaligen Imperialismus zu siegen.

Diese Blöcke waren manchmal revolutionär (China, Vietnam) und hatten ihre wichtigste ländliche Basis in der Mehrheitsklasse der mittleren, armen und landlosen Bauern. Oder anderenorts, wenn sie von nationalen Bourgeoisien oder Schichten angeführt wurden, die zur Bourgeoisie aufzusteigen hofften, unter den Klassen von reichen und mittleren Bauern, wobei dann mal die Großgrundbesitzer, mal die »gewohnheitsmäßigen« Stammesführer im Dienst der Kolonialherren ausgegrenzt wurden. In der aktuellen Phase wird es nur dann möglich sein, der Herausforderung des neuen Imperialismus der Triade (Vereinigte Staaten, Europa, Japan) gerecht zu werden, wenn sich in Asien und Afrika historische Bündnisse bilden, die sich von ihren Vorläufern unterscheiden müssen. Den Charakter dieser Blöcke, ihre Strategien und unmittelbaren wie längerfristigen Ziele unter den neuen Bedingungen zu definieren, ist die schwierige Aufgabe, vor der die sogenannte globalisierungskritische Bewegung mit den Sozialforen als Grundeinheiten steht. Diese Herausforderung ist wesentlich größer, als es sich viele der in diesen laufenden Kämpfen involvierten Bewegungen vorstellen.

5. Eine komplexe, mehrdimensionale Herausforderung

Ist der Weg zur kapitalistischen Modernisierung so »effizient«, wie es die konventionellen Ökonomen behaupten? Nehmen wir an, damit werde eine Verdoppelung der Produktion (also von 100 auf 200) erreicht und damit einhergehend würden 80% der überschüssigen Landbevölkerung eliminiert (die Zahl der aktiven Landwirte sinkt von 100 auf 20). Der scheinbare Gewinn, gemessen anhand der Produktionssteigerung pro Aktivem, ist beträchtlich: sie steigt um das Zehnfache. Überträgt man dies auf die Gesamtbevölkerung, beträgt sie nur das Doppelte. Folglich müsste diese gesamte zusätzliche Produktion gratis verteilt werden, um allein die eliminierten Bauern, die keine alternative Beschäftigung in der Stadt finden werden, am Leben zu erhalten. Damit bewahrheitet sich genau das, was Marx in Bezug auf die mit der Akkumulation von Kapital einhergehende Verarmung geschrieben hat.

Die Herausforderung (»eine Entwicklung auf die Erneuerung der bäuerlichen Gesellschaft stützen«) ist mehrdimensional. Ich begnüge mich hier damit, die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen des Aufbaus von politischen Bündnissen zu lenken, die nötig und möglich sind, um Lösungen (natürlich im Interesse der bäuerlichen Arbeiter) für all die aufgeworfenen Probleme voranbringen zu können: Zugang zum Boden und Möglichkeiten, ihn angemessen in Wert zu setzen, korrekte Bezahlung der bäuerlichen Arbeit, Verbesserung dieser Bezahlung parallel zu der in dieser Arbeit erzielten Produktivitätssteigerung, angemessene Regulierung der Märkte auf nationaler, regionaler und globaler Ebene. In Asien und Afrika gibt es neue Bauernorganisationen, die momentan sichtbare Kämpfe führen. Wenn die politischen Systeme die Bildung von formalen Organisationen verunmöglichen, nehmen die sozialen Kämpfe auf dem Land oft die Form von »Bewegungen« an, die anscheinend keine Führungen haben. Wo solche Aktionen und Programme auftauchen, müssen sie genauer analysiert werden. Für welche sozialen Kräfte aus der Bauernschaft stehen sie und treten sie ein?

Für die große Mehrheit der Bauern? Oder für die Minderheiten, die darauf hoffen, ihren Platz in der Expansion des vorherrschenden globalisierten Kapitalismus zu finden? Hüten wir uns vor allzu schnellen Antworten auf diese komplexen, schwierigen Fragen. Oder davor, viele Organisationen und Bewegungen unter dem Vorwand zu »verurteilen«, dass es ihnen nicht gelingt, die Mehrheit der Bauern für radikale Programme zu mobilisieren. Damit würde man übergehen, was es braucht, um breite Bündnisse aufzubauen und Etappenstrategien zu formulieren. Hüten wir uns aber auch davor, dem »naiven globalisierungskritischen« Diskurs nachzubeten, der oft den Ton angibt und die Illusion nährt, die Welt sei auf dem guten Weg, allein schon, weil es soziale Bewegungen gibt. Ein Diskurs, den im Übrigen eher zahlreiche NGOs – vielleicht in guter Absicht – im Munde führen als Bauern- und Arbeiterorganisationen. Ich bin nicht so naiv, zu glauben, dass die gesammelten Interessen dieser Bündnisse von allein übereinstimmen. Unter den Bauern gibt es immer Reiche und Arme (und Landlose).

Die Bedingungen des Zugangs zum Boden gehen auf unterschiedliche historische Entwicklungswege zurück, die bei den einen die Hoffnung auf Eigentum und bei den anderen das Recht auf Zugang zum Boden für möglichst viele verankert haben. Wie die Bauernschaft zur Staatsregierung steht, geht insbesondere was die nationalen Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika betri t ebenfalls auf unterschiedliche politische Entwicklungen zurück: Von diesem vielfältigen Erbe zeugen populistische Regimes, bäuerliche Demokratien, aber auch bauernfeindliche staatliche Autokratien. Die Funktionsweise internationaler Märkte begünstigt die einen und benachteiligt die anderen. Diese Interessengegensätze führen manchmal zu einer Vielzahl an Bauernorganisationen oder kommen oft in unterschiedlichen politischen Strategien zum Ausdruck.

Besonderheiten Lateinamerikas

In Lateinamerika und der Karibik zeichnet sich die Landwirtschaftsfrage durch andere Eigenheiten aus als in Asien und Afrika, auf die sich die Überlegungen dieses Textes vor allem beziehen. Diese Eigenheiten hängen mit dem sehr frühen Zeitpunkt der Kolonisierung Amerikas zusammen. Die britischen Eroberer haben hier (wie in Australien) die indigene Bevölkerung schlicht ausgerottet. In Mexiko und den Andenstaaten wurden die indianischen ländlichen Gesellschaften auf ausgesprochen brutale Weise in das von den spanischen Eroberern ausgeklügelte System integriert. Die indianischen Systeme der Regulierung des Zugangs zum Boden sind im Wesentlichen verschwunden; was heute von diesen alten Formen gemeinschaftlicher Organisation übrig ist, ist mehr Schein als Realität, so gewaltig waren die durch die Encomienda[Anmerkung 11] eingeführten Verzerrungen, die wesentlich umfassender waren als in Asien oder Afrika.

Zudem wurden die indianischen Völker dazu verpflichtet, wichtige Arbeitskräftekontingente für den Bergbau zu stellen. Im 19. Jahrhundert verlängerte die Macht, die den Kreolen in den unabhängig gewordenen Ländern vorbehalten war, das Überleben dieser alten Einbindungsformen der Landwirtschaft in den Kapitalismus. Sie wurden erst deutlich später modernisiert: in Mexiko im Zuge der Revolution in den Jahren 1919/20, in den Andenstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute bestehen nebeneinander Formen einer modernisierten kapitalistischen Landwirtschaft, die sich auf das Latifundien-Eigentum stützt, und extrem verarmte bäuerliche Landstriche.

So bildet am südlichen Kap des Kontinents (Südbrasilien, Argentinien, Uruguay und Chile) das modernisierte und mechanisierte »Latifundienwesen«, das von billigen Landarbeitern profitiert, die den Erfordernissen des globalisierten kapitalistischen Systems am besten angepasste Bewirtschaftungsform, die sogar wettbewerbsfähiger ist als die Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Die kommunistischen Parteien Lateinamerikas bezeichneten die entsprechenden Formen der Ausbeutung der Bauernschaft als »feudal«. Andre Gunder Frank[Anmerkung 12] legte eine ganz andere Analyse vor, die ich teile, dass nämlich diese Formen ihrem Wesen nach kapitalistisch sind und zur Entwicklung des Kapitalismus in den sukzessiven Phasen passten. Im Nordosten Brasiliens, in Kuba, in der Karibik und in den britischen Kolonien des südlichen Nordamerika war die Vorgangsweise der Integration in den Weltkapitalismus eine andere. Hier wurde die Arbeitskraft von Sklaven ausgebeutet, gestützt auf den Sklavenhandel, dessen Erzeugnisse (Zucker, Baumwolle) für den Export bestimmt waren.

Auch hier handelt es sich um Formen, die den Bedürfnissen des damaligen Kapitalismus entsprachen. Unter diesen Bedingungen profitierten die aus der späten Abschaffung der Sklaverei frei gewordenen Bauern nicht durch eigene Entwicklungsmöglichkeiten. Sie lieferten die Arbeitskräfte für die nationale kapitalistische Industrie der Vereinigten Staaten und dieser untergeordnet derjenigen Brasiliens. Allgemein gesagt ist die Zerstörung der bäuerlichen Gesellschaften in den Amerikas ausgeprägter als in weiten Teilen Asiens und Afrikas. Das zeigt sich in der Abnahme des Anteils der ländlichen Bevölkerung: 10% in Brasilien. Im vom Erdöl heimgesuchten Venezuela gibt es keine Bauern und keine landwirtschaftliche Produktion mehr. Unter diesen Bedingungen weist die Reaktion auf die landwirtschaftlichen Herausforderungen und der Wiederaufbau der Ernährungssouveränität trotz Projekten, die in den Revolutionsjahren 1910/20 in Mexiko entwickelt wurden, und den Visionen des peruanischen Kommunisten José Mariátegui aus den 1920er-Jahren einen enormen Rückstand auf. Die Antwort auf diese schwierige Aufgabe erfordert heute spezifische mutige Politiken, über die in der brasilianischen Landlosenbewegung (MST), in Bauernbewegungen in Ecuador und Bolivien und in der mexikanischen Zapatisten-Bewegung ernsthaft diskutiert wird.

Teil III: Blockaden für eine soziale Transformation im Zentrum

Der Nord-Süd-Konflikt (oder Zentrum-Peripherie-Konflikt) ist ein Schlüsselfaktor in der ganzen Geschichte der Entfaltung des Kapitalismus. Historisch fällt der Kapitalismus mit der Geschichte der siegreichen Eroberung der Welt durch die Europäer und deren Nachkommen zwischen 1492 und 1914 zusammen. Eines Erfolgs also, der erlaubte, seine Legitimität aus der Überlegenheit des europäischen Systems zu ziehen, die gleichzusetzen ist mit Modernität und Fortschritt, dem Fundament des Eurozentrismus. Eine Eroberung, die die Völker der imperialistischen Zentren von ihrem »Vorzugsrecht« auf die Reichtümer der Erde überzeugt hat.

Diese Seite der Geschichte ist langsam gewendet, seit der Süden aufwacht, was das ganze 20. Jahrhundert lang in den Revolutionen zum Ausdruck gekommen ist, die im Namen des Sozialismus in der Halbperipherie Russland und danach an der Peripherie in China, Vietnam und Kuba durchgeführt wurden, sowie in den nationalen Befreiungen in Asien und Afrika und den Fortschritten in Lateinamerika. Der – unterdessen in der generellen Linie erfolgreiche – Befreiungskampf der Völker des Südens ist verbunden mit der Infragestellung des Kapitalismus. Diese Verbindung ist unvermeidlich. Die Konflikte zwischen Kapitalismus und Sozialismus bzw. zwischen Norden und Süden sind nicht voneinander zu trennen. Sozialismus ist unvorstellbar jenseits eines Universalismus, der Gleichheit der Völker bedeutet. In den Ländern des Südens leiden die meisten Menschen unter dem System, im Norden profitieren sie davon. Die einen wie die anderen sind sich dessen bestens bewusst, auch wenn sie oft resignieren (im Süden) oder sich dafür beglückwünschen (im Norden). Es ist also kein Zufall, wenn im Norden keine radikale Transformation des Systems auf der Tagesordnung steht, während der Süden stets eine »Gewitterzone« ist, ein Gebiet mit wiederholten potenziell revolutionären Aufständen.

Die von den Völkern des Südens ergri enen Initiativen waren daher entscheidend für die Transformation der Welt. Mit dieser Feststellung lassen sich die Kämpfe im Norden richtig einordnen: Es sind Kämpfe um ökonomische Forderungen, die die imperialistische Weltordnung normalerweise nicht infrage stellen. Die Aufstände im Süden stoßen ihrerseits, wenn sie sich radikalisieren, auf unterentwicklungsbedingte Probleme. Ihr »Sozialismus« ist daher immer gekennzeichnet von Widersprüchen zwischen den ursprünglichen Absichten und den tatsächlichen Möglichkeiten. Die mögliche, aber schwierige Verbindung der Kämpfe der Völker des Südens und jener des Nordens ist die einzige Möglichkeit, um die Begrenztheiten der einen wie der anderen überwinden zu können. Der europäische Marxismus der Zweiten Internationale hat diese wesentliche Seite der kapitalistischen Realität, dessen Expansion als homogenisierend angesehen wurde (während sie in Wirklichkeit polarisiert), übersehen und der Kolonisierung folglich eine historisch positive Rolle zugeschrieben. Lenin brach mit dieser vereinfachten Auslegung des Marxismus, was den Weg frei machte für eine sozialistische Revolution in der damaligen Halbperipherie – ihrem »schwachen Glied«.

Lenin dachte jedoch, die Revolution werde sich von ihrem Ausgangsland aus rasch auf die fortgeschrittenen europäischen Zentren ausbreiten. Das ist nicht geschehen; Lenin unterschätzte die verheerenden Auswirkungen des Imperialismus in den betreffenden Gesellschaften. Mao ging mit seiner Vorstellung und seiner Umsetzung einer revolutionären Strategie in einem noch periphereren Land als Russland weiter. Der imperialistische Charakter des historischen Kapitalismus, eine zentrale Realität, bewirkte unvermeidlich eine Wechselbeziehung: Der lange Übergang zum Sozialismus bahnt sich in ungleichen, im Wesentlichen von der Peripherie des Weltsystems ausgehenden Fortschritten den Weg; auf der Tagesordnung steht keine »Weltrevolution«, deren Schwerpunkt sich in den fortschrittlichen Zentren be nden würde. Lenin, Stalin, Mao, Ho Chi Minh und Castro haben das verstanden und waren bereit, die schwierige Aufgabe des »Aufbaus des Sozialismus in einem Land« auf sich zu nehmen. Trotzki hat das nie begriffen.

Die Begrenztheit dessen, was ausgehend vom Erbe des »Spätkapitalismus« der Peripherien unter diesen Bedingungen verwirklichbar war, gibt Auskunft über die weitere Geschichte der großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, ihre Entartungen und ihr Scheitern. In anderen Ländern der Peripherie gingen die ersten siegreichen Kämpfe, die die Transformation der Welt prägten, auf breite antiimperialistische Volksbewegungen zurück, deren Führungskreise dennoch nicht erfassten, dass es notwendig wäre, die Ziele der nationalen Befreiung mit ersten Schritten zu einem Ausstieg aus der Logik des Kapitalismus zu verbinden. Sie hingen dem Mythos von der »nachholenden Entwicklung« auf kapitalistischem Weg im Rahmen des globalisierten Kapitalismus an und verfolgten die Perspektive, nach dem Vorbild der Zentren entwickelte nationale Kapitalismen aufzubauen.

Die Transformationen, die durch Regime verwirklicht werden konnten, die ich »national-populär« genannt habe, waren daher äußerst begrenzt, erschöpften sich rasch und mündeten in Chaos. Die durch die sozialistischen Revolutionen gegebene Herausforderung steht am Ursprung der faschistischen Auswüchse der Konterrevolution in den imperialistischen Zentren. Sie spitzten gleichzeitig die innerimperialistischen Konflikte insbesondere zwischen Nazi-Deutschland und Japan einerseits und deren Hauptgegnern, den Vereinigten Staaten und Großbritannien andererseits zu. Diese Umstände berücksichtigten das situationsbedingte Bündnis zwischen der UdSSR, den Vereinigten Staaten und Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs. Damit wird aber auch verständlich, dass dieses Bündnis auf Betreiben der Westmächte ab 1945 aufgehoben wurde. Auch als sich die Erfahrungen mit sozialistischen und national populären Übergangsversuchen erschöpften, brachte das weder im Osten noch im Süden neue Fortschritte in Gang.

Es wurden keine Lehren daraus gezogen, warum die Fortschritte des 20. Jahrhunderts so begrenzt geblieben sind, selbst nicht seitens der wichtigen politischen Kräfte, die für ihren Erfolge verantwortlich waren, und erst recht nicht von den betroffenen Völkern. Das ist der Grund, warum das daraus folgende Chaos von der laufenden Konterrevolution unter Führung der historischen imperialistischen Mächte USA, Europa und Japan ausgenutzt werden konnte. Unmittelbar nährt dieses Chaos eher Illusionen in Projekte einer sogenannten »aufstrebenden« Entwicklung in manchen Ländern des Südens oder irrationale und damit faschistische Auswüchse in anderen Ländern (wovon die Beispiele des Islam und des reaktionären politischen Hinduismus zeugen). In den imperialistischen Zentren selbst hat die Kapitulation von Projekten für den sozialistischen und national-populistischen Fortschritt nicht zu einer kritischen Hinterfragung des Kapitalismus geführt, sondern im Gegenteil Illusionen über die positiven Seiten des hochentwickelten Kapitalismus geweckt. Der Sieg der Konterrevolution und der Niedergang früherer Errungenschaften (Wohlfahrtsstaat) geben hier ihrerseits dem Wiederaufkommen neofaschistischer Antworten Nahrung. Über die in dieser Einleitung aufgeworfenen Fragen habe ich mich anderenorts geäußert.

Im vorliegenden Kapitel begnüge ich mich damit, die Gründe für die Machtlosigkeit der Arbeiterklasse in den Ländern der zentralen imperialistischen Triade (USA, Europa und Japan) zu analysieren. Der Akzent liegt dabei auf den politischen Kulturen der betroffenen Völker. Die politische Kultur ist ein Ergebnis einer aus längerfristiger Sicht betrachteten Geschichte, die sich natürlich von Land zu Land unterscheidet. Die Lesenden werden meine »Urteile« vielleicht als zu streng emp nden. Streng sind sie auch. Meine Beobachtungen den Süden betreffend sind nicht weniger streng. Im Übrigen sind die politischen Kulturen historisch gesehen keine unveränderlichen Größen. Sie sind im Wandel, manchmal im schlechten, manchmal aber auch im guten Sinn. Ich gehe davon aus, dass dies für einen Aufbau der »Konvergenz in der Divergenz« in sozialistischer Perspektive erforderlich ist.

Die Vereinigten Staaten

Die politische Kultur der Vereinigten Staaten unterscheidet sich von jener, die in Frankreich seit der Aufklärung und insbesondere seit der Revolution entstanden ist und in unterschiedlichem Ausmaß die Geschichte eines guten Teils des europäischen Kontinents geprägt hat. Die Geschichte der Vereinigten Staaten zeichnet sich durch spezifische Besonderheiten aus. Die konkrete Form des in Neuengland angesiedelten Protestantismus wurde zum Mittel, mit dem sich die neue amerikanische Gesellschaft an die Eroberung des Kontinents machte, die mit Begriffen aus der Bibel gerechtfertigt wurde. Der Völkermord an den Indianern fügte sich wie selbstverständlich in die Logik der göttlichen Mission des neuen auserwählten Volkes. Später weiteten die USA ihr Vorhaben, das ihnen von »Gott« aufgetragene Werk zu verwirklichen, auf die ganze Welt aus. Denn das Volk der Vereinigten Staaten versteht sich als »auserwähltes Volk«. Natürlich ist die besagte amerikanische Ideologie nicht die Ursache für die imperialistische Expansion der USA.

Diese gehorcht der Logik der Kapitalakkumulation, deren (vollkommen materiellen) Interessen sie dient. Die Ideologie kommt dieser Logik jedoch wunderbar entgegen. Sie stiftet Verwirrung. Die »amerikanische Revolution« war nichts als ein Unabhängigkeitskrieg ohne soziale Tragweite. In ihrem Aufstand gegen die englische Monarchie wollten die amerikanischen Kolonisatoren die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in keiner Weise verändern, sondern einfach die Früchte daraus nicht mehr länger mit der herrschenden Klasse des Mutterlandes teilen. Ihr Ziel war vor allem die weitere Expansion in den Westen. Auch die Aufrechterhaltung der Sklaverei wurde in diesem Rahmen überhaupt nicht hinterfragt. Die bedeutenden Führer der amerikanischen Revolution waren fast alle evangelikale Grundbesitzer und ihre Vorurteile in dieser Hinsicht unerschütterlich.

Die aufeinander folgenden Immigrationswellen spielten in der Stärkung der amerikanischen Ideologie ebenfalls eine Rolle. Zweifellos sind nicht die Immigranten verantwortlich für das Elend und die Unterdrückung, die sie zur Auswanderung zwangen. Ihre Emigration bewog sie aber dazu, den kollektiven Kampf für die Veränderung der Bedingungen aufzugeben, die sie mit anderen Klassen und Gruppen im eigenen Land teilten, und stattdessen eine Ideologie des individuellen Erfolgs im Aufnahmeland zu übernehmen. Die Übernahme dieser Ideologie verzögert die Bewusstwerdung als Klasse, die, kaum ist sie gereift, mit einer neuen Welle an Immigranten konfrontiert ist, die verhindert, dass sie sich politisch formt. Gleichzeitig wird durch die Migration aber die »Vergemeinschaftung« der amerikanischen Gesellschaft gefördert. Denn der individuelle Erfolg schließt eine starke Einbindung in die Herkunftsgemeinschaft nicht aus. Anderenfalls könnte die persönliche Isolation unerträglich sein. Auch diese Dimension von Identität – die im amerikanischen System vereinnahmt und gehätschelt wird – festigt sich auf Kosten des Klassen- und des staatsbürgerlichen Bewusstseins.

Die Gemeinschaftsideologien konnten das Fehlen einer sozialistischen Ideologie der Arbeiterklasse nicht wettmachen. Auch die radikalste nicht, jene der Black Community. Die der historischen Ausprägung der US-Gesellschaft eigene Mischung aus vorherrschender »biblisch«-religiöser Ideologie und dem Fehlen einer Arbeiterpartei brachte zuallererst eine Regierung einer faktischen Einheitspartei, der Partei des Kapitals, hervor. Beide Segmente, aus denen diese Einheitspartei besteht, teilen grundlegend denselben Liberalismus. Die eine wie die andere richtet sich einzig an die Minderheit, die an dieser Form von verstümmeltem demokratischem Leben »teilnimmt«, das ihr geboten wird. Jede hat ihr eigenes Mittelstandsklientel, da die Arbeiterschichten kaum wählen gehen, und hat ihre Sprache entsprechend angepasst. Beide konzentrieren auf sich eine Mischung aus kapitalistischen Teilinteressen (die »Lobbys«) und der Unterstützung bestimmter »Communities«. Die amerikanische Demokratie bietet heute ein fortgeschrittenes Modell von dem, was ich als »Demokratie niedriger Intensität« bezeichne. Ihr Funktionieren beruht auf der völligen Trennung von der Verwaltung des politischen Lebens, das sich auf die Praxis der Wahldemokratie stützt, und dem wirtschaftlichen Leben, das von den Gesetzen der Kapitalakkumulation gesteuert ist.

Noch dazu wird diese Trennung nicht radikal hinterfragt, sondern gehört eher zu dem, was man als allgemeinen Konsens bezeichnet. Diese Trennung macht aber jegliches schöpferische Potenzial der politischen Demokratie zunichte. Sie kastriert die repräsentativen Institutionen (Parlamente und andere), die angesichts des »Marktes«, dessen Diktat sie übernehmen, machtlos geworden sind. Marx dachte, der Aufbau eines »reinen« Kapitalismus ohne vorkapitalistischen Vorläufer in den Vereinigten Staaten würde dem sozialistischen Kampf nutzen. Ich denke im Gegenteil, dass die von diesem »reinen« Kapitalismus verursachten Schäden das größte nur denkbare Hindernis sind. Das deklarierte Ziel der neuen hegemonialen Strategie der Vereinigten Staaten ist, keine Existenz einer anderen Macht zu tolerieren, die in der Lage wäre, sich den Befehlen Washingtons zu widersetzen, und dafür zu versuchen, alle als »zu groß« eingeschätzten Länder zu zerstören und möglichst viele Rumpfstaaten zu schaffen, die eine leichte Beute für die Errichtung amerikanischer Basen sind, die deren »Schutz« gewährleisten. Ein einziger Staat hat das Recht, »groß« zu sein, die Vereinigten Staaten. Die amerikanische Strategie für die Welt umfasst fünf Ziele:

1) die anderen Partner der Triade (Europa und Japan) zu neutralisieren und zu unterwerfen und die Fähigkeit dieser Staaten, außerhalb des amerikanischen Schoßes zu agieren, auf ein Minimum zu reduzieren;

2) die militärische Kontrolle der NATO zu festigen und die alten Teile der Sowjetwelt zu »lateinamerikanisieren«;

3) den Nahen Osten und Zentralasien mit ihren Erdölreserven ungeteilt zu kontrollieren;

4) China zu zerstören, sich der Unterordnung der anderen großen Staaten (Indien, Brasilien) zu versichern und die Entstehung von regionalen Blöcken zu verhindern, die über die Bedingungen der Globalisierung verhandeln könnten;

5) die Regionen des Südens, die nicht von strategischem Interesse sind, zu marginalisieren. Das Hegemonialdenken der USA beruht also definitiv eher auf der Dimension ihrer Militärmacht als auf den »Vorteilen« ihres Wirtschaftssystems. Sie können also als unbestrittene Führer der Triade auftreten, indem sie gegenüber möglichen Widerspenstigen ihre Militärmacht und die von ihnen dominierte NATO als »sichtbare Faust« erheben, um die neue imperialistische Ordnung durchzusetzen. Hinter dieser Fassade steht aber trotz seiner politischen Schwäche ein Volk. Meine Intuition ist dennoch, dass von dort keine Initiative zur Veränderung ausgehen wird, selbst wenn nicht auszuschließen ist, dass sich der amerikanische Waggon anderen anhängen würde, falls diese eine Bewegung anstoßen würden. Kann Kanada etwas anderes sein als die Außenprovinz der Vereinigten Staaten, ähnlich wie Australien? Es fällt schwer, sich Kanada anders vorzustellen, trotz der politischen Traditionen des englischsprachigen Landesteils und der kulturellen Ablehnung Quebecs, wo die wichtigsten politischen Kräfte, die in der Frage der sprachlichen Dimension ihres Widerstands gespalten sind, keine Ablösung von der Wirtschaft ihres großen Nachbarn ins Auge fassen.

Japan

Japan ist das Land der vorherrschenden kapitalistischen Wirtschaft bei gleichzeitigen nicht-europäischen kulturellen Vorläufern. Welche der beiden Dimensionen wird überwiegen: die Solidarität mit den Partnern der »Triade« (USA und Europa) gegen den Rest der Welt oder der von der »Asienorientierung« unterstützte Wille zur Unabhängigkeit? Die Reflexionen bzw. Elaborate über dieses Thema füllen für sich allein eine ganze Bibliothek. Die Analyse der Geopolitik der heutigen Welt führt mich zum Schluss, dass Japan wie Deutschland aus denselben Gründen im Kielwasser Washingtons bleiben wird. Ich messe hier den strategischen Optionen Washingtons nach dem Zweiten Weltkrieg große Bedeutung bei. Die Vereinigten Staaten hatten damals beschlossen, ihre zwei Gegner – die einzigen, die den unvermeidlichen Aufschwung der Vereinigten Staaten zur potenziellen Hegemonialmacht bedroht hatten – nicht zu zerstören, sondern sie im Gegenteil beim Wiederaufbau zu unterstützen und zu zwei treuen Verbündeten zu machen. Der offenkundige Grund dafür ist, dass es damals eine reale »kommunistische« Bedrohung gab. Doch Beijing ist heute noch immer ein möglicher Gegner, wie nicht nur der Konflikt um die Inseln im Chinesischen Meer zeigt. Gibt es Hinweise auf eine volksnahe nationale japanische Reaktion? Die Fassade des Konformismus ist trotz Ab auen des Wirtschaftswunders und der herrschenden Einheitspartei zweifellos nur geringfügig angeschlagen. Dahinter verbirgt sich aber ein wiederholt au ammender Minderwertigkeitskomplex gegenüber China. Die Annäherung an China, die diese Denkrichtung anregen könnte, ist jedoch unwahrscheinlich. Einerseits, weil das vorherrschende imperialistische Kapital in Japan ist, was es ist. Andrerseits, weil die Chinesen und die Koreaner dies unabhängig von ihrem – berechtigten – Misstrauen gegenüber der Feindmacht von gestern ebenfalls wissen.

Großbritannien und Frankreich

Hätte der Keim einer Veränderung in Europa mehr Chancen als in den Vereinigten Staaten? Intuitiv denke ich das. Der erste Grund für diesen relativen Optimismus hängt damit zusammen, dass die europäischen Nationen eine reiche Geschichte aufweisen, wovon die unglaubliche Fülle an beeindruckenden Überresten aus dem Mittelalter zeugt. Meine Interpretation dieser Geschichte ist gewiss nicht die des vorherrschenden Eurozentrismus, dessen Mythen ich ablehne. Meine These ist im Gegenteil, dass dieselben Widersprüche, die die mittelalterlichen Gesellschaften kennzeichneten und durch die Erfindung der Moderne überwunden wurden, auch anderswo wirkten. Dennoch lehne ich ebenso entschieden die »antieuropäischen« Elaborate gewisser Intellektueller aus der Dritten Welt ab, die sich zweifellos davon überzeugen wollen, dass ihre Gesellschaften fortschrittlicher waren als das »zurückgebliebene« mittelalterliche Europa. Sie übersehen dabei, dass der Mythos vom zurückgebliebenen Mittelalter selbst ein Ergebnis der nachträglichen Einschätzung der europäischen Modernität ist.

Da Europa sowieso als Erstes den Schritt in die Modernität vollzogen hat, hat es sich seither Vorteile verschafft, die zu leugnen unsinnig wäre. Europa ist natürlich trotz einer gewissen Homogenisierung, die gerade stattfindet, und des »Europa« Diskurses vielseitig. Die Impulse für die Modernität wurden in Großbritannien und Frankreich gesetzt. Dieses harte Urteil bedeutet nicht, dass diese Modernität nicht auf ältere Wurzeln zurückgeht, insbesondere auf solche in den italienischen Städten und den Niederlanden. England erlebte in den Anfangszeiten der neuen kapitalistischen (merkantilistischen) Verhältnisse eine sehr stürmische Phase; es verwandelte sich vom mittelalterlichen »Merry England« in das traurige puritanische England, exekutierte im 17. Jahrhundert seinen König und rief die Republik aus.

Danach beruhigte sich alles; England durchlief im 18. Jahrhundert die Phase der Erfindung der modernen, wenn auch auf dem Zensuswahlrecht beruhenden Demokratie und im 19. Jahrhundert jene der durch die Industrielle Revolution eingeleiteten Akkumulation ohne größere Konflikte. Zwar nicht ohne Klassenkämpfe, die im Chartismus des 19. Jahrhunderts gipfelten, aber ohne dass diese Kämpfe sich so sehr politisiert hätten, dass sie das System als Ganzes infrage gestellt hätten. Frankreich durchlebte dieselben Phasen in einer ununterbrochenen Reihe von heftigen politischen Konflikten. Es ist die Französische Revolution, in der die politischen und kulturellen Dimensionen der Modernität erfunden wurden, die im Widerspruch zum Kapitalismus stehen; es ist Frankreich, wo sich die Kämpfe der Unterschichten, obwohl sie wesentlich weniger konzentriert waren als in England, dem damals einzigen Land mit wirklichen Proletariern, ab 1793 und erneut 1848 und 1871 sowie nochmals 1936 rund um sozialistische Ziele im engeren Sinn des Wortes politisieren. In England hat es kein 1968 gegeben. Für diesen unterschiedlichen Verlauf gibt es natürlich mehrere Erklärungsversuche.

Marx war hier sehr sensibel darauf, und es ist kein Zufall, dass er das Augenmerk seiner Analyse stark auf diese zwei Gesellschaften legte, um ausgehend von den Erfahrungen in England eine Kritik der kapitalistischen Wirtschaft und ausgehend von jenen in Frankreich eine Kritik der modernen Politik zu liefern. Die britische Vergangenheit erklärt vielleicht, mit welcher Geduld das britische Volk heute den Niedergang der Gesellschaft erduldet. Diese Passivität erklärt sich vielleicht dadurch, dass der britische Nationalstolz auf die Vereinigten Staaten übergegangen ist. Für die Briten sind die Vereinigten Staaten nicht ein fremdes Land unter anderen; sie sind nach wie vor ihr verlorener Sohn; und bekanntlich hat England seit 1945 darauf gesetzt, sich bedingungslos in das Fahrwasser der Vereinigten Staaten zu begeben. Die außerordentliche Vorherrschaft des Englischen trägt dazu bei, diesen Niedergang zu leben, ohne ihn vielleicht in seiner ganzen Tragweite zu erfassen.

Die Engländer erleben ihren vergangenen Glanz sozusagen stellvertretend durch die USA. Großbritannien bleibt für die Zukunft Europas weiter eine entscheidende Macht. Auch wenn der »Brexit« den unvermeidlichen Zerfall des absurden Aufbauprojekts EU ankündigt, stellen die politischen Strömungen, die seinen Sieg ermöglicht haben, weder die reaktionäre Gesellschaftsordnung des Liberalismus noch die Orientierung an Washington infrage. Zudem bleibt im System des globalisierten Liberalismus die Londoner City als privilegierte Verbündete der Wall Street in der Position der Stärke und keine Finanzmetropole des Kontinents kann auf ihre Dienste verzichten. Die Geschichte ist dennoch weder in Großbritannien noch anderswo an ihrem Endpunkt angelangt. Mein Gefühl sagt mir, dass dieses Land nur und erst dann auf den Zug der Veränderung aufspringen wird können, wenn es die Nabelschnur durchtrennt, die es an die USA bindet. Momentan sind dafür nicht die geringsten Anzeichen zu erkennen.

Deutschland

Deutschland und Japan sind die zwei brillanten Sekundanten der Vereinigten Staaten, mit denen sie die wirkliche Triade – die G3 bilden (eher Vereinigte Staaten, Deutschland und Japan als Nordamerika, Europa und Japan). Weder Deutschland noch Italien noch Russland hätten zur kapitalistischen Modernität aufschließen können, wenn nicht Deutschland und Frankreich Breschen eröffnet hätten. Damit möchte ich nicht sagen, dass die Völker dieser Länder aus irgendwelchen mysteriösen Gründen unfähig zu dieser Entwicklung gewesen und sie dem anglo-französischen Genius vorbehalten wären. Ich will damit sagen, dass hier die Möglichkeiten für eine analoge Entwicklung nicht gleichermaßen gegeben waren wie in anderen Regionen der Welt – beispielsweise in China, Indien oder Japan. Ist der Eintritt in die kapitalistische Modernität einmal geschafft, gestaltet jedes Volk sie auf seine Weise, ob aus der Position eines neuen Zentrums oder jener einer beherrschten Peripherie.

Ich lese die Geschichte Deutschlands im Lichte dieser grundlegenden methodischen Wahl; und erkläre mir so, warum der deutsche Nationalismus, der durch die preußischen Ambitionen eingeleitet wurde, die von Marx beklagte Dürftigkeit der Bourgeoisie kompensiert hat. Das Ergebnis war eine autokratische Führungsform dieses neuen Kapitalismus in ethnizistischer Form, die sich (im Gegensatz zur universalistischen englischen und vor allem französischen und russischen Ideologie) auf den Nationalismus stützte. Es war auch ein Faktor, der die verbrecherischen und verrückten Auswüchse des Nationalsozialismus begünstigte. Es war aber auch im Anschluss an die Katastrophe ein wirkmächtiges Motiv für den von den USA unterstützten Aufbaus dessen, was einige als »Rheinischen Kapitalismus« bezeichnet haben. Eine kapitalistische Form, die sich gewissentlich für eine dem anglo-franko amerikanischen Modell abgeschaute Demokratisierung entschied. Die aber ohne tiefgreifende lokale historische Wurzeln ist, denn die Weimarer Republik (der einzige demokratische Moment in der deutschen Geschichte) war nur kurzlebig und der Sozialismus in der DDR gelinde gesagt zweideutig.

Der »Rheinische Kapitalismus« ist, verglichen mit dem extremistischen angelsächsischen Modell oder dem »jakobinischen« Etatismus in Frankreich, kein »guter Kapitalismus«. Alle unterscheiden sich voneinander, aber alle kranken am selben Übel, dem des Spätkapitalismus, der sich durch eine Vorherrschaft destruktiver Faktoren auszeichnet. Im Übrigen sind die Kapitel »Rheinischer Kapitalismus« und »Staatskapitalismus« inzwischen abgeschlossen; der »angloamerikanische« globalisierte Kapitalismus setzt sein exklusives Modell in ganz Europa und Japan durch. Kurzfristig scheint die Position Deutschlands – in der Globalisierung unter amerikanischer Hegemonie, ebenso wie diejenige von Japan – komfortabel. Und die Wiederaufnahme der Expansion gegen Osten durch eine Art Lateinamerikanisierung der osteuropäischen Länder nährt die Illusion, dass die Entscheidung Berlins von Dauer sein könnte. Diese Option begnügt sich problemlos mit einer Demokratie niedriger Intensität und wirtschaftlicher wie sozialer Mittelmäßigkeit, unterstützt durch die Entscheidungen des europäischen Maastricht-Systems und des Euro.

Doch sollten die politischen Klassen der klassischen christlichen und liberalen Rechten wie der sozialdemokratischen Linken starrköpfig weiter auf diesem ausweglosen Weg beharren, ist nicht auszuschließen, dass erneut ein rechter, faschistoider Populismus aufkommt, auch wenn es kein Remake des Nationalsozialismus ist. Die Wahlerfolge des Front National in Frankreich zeugen vom allgemeinen Vorhandensein einer solchen Gefahr in Europa. Längerfristig dürften sich die Schwierigkeiten Deutschlands verschärfen und nicht abnehmen. Die wirtschaftlichen Stärken des heutigen Deutschland beruhen auf den klassischen industriellen Fertigungen (Mechanik, Chemie), die zu ihrer Erneuerung immer mehr anderenorts erfundene Software integrieren. Genauso wenig ist – wie anderenorts auch – ausgeschlossen, dass das deutsche Volk eine positive Antwort geben könnte und sich bewusst würde, dass es jenseits der ausgetretenen Pfade eine Veränderung einzuleiten gilt. Ich glaube, wenn Frankreich (das dann Deutschland mitziehen würde) und Russland stärker die Initiative ergreifen würden, eine andere Zukunft für Europa möglich wäre. Diese Möglichkeit könnte im gleichen Zug die positiven Bewegungen wiederbeleben, die es ansatzweise in den nordischen und den Mittelmeerländern gab, die aber schnell unterbrochen wurden.

Südeuropa

Italien stand nach dem »langen Jahr 1968« ab den 1970er-Jahren einen Augenblick lang im Zentrum der Reflexion und der kritischen Aktion. Die Bewegung war mächtig genug, um trotz der Abschottung der KPI den damaligen »Mitte-links-Staat« in gewisser Weise zu beein ussen. Dieses schöne Blatt der Geschichte Italiens ist jedoch längst gewendet. Man kann sich daher nur fragen, worin die Schwächen der Gesellschaft liegen, die das zugelassen haben. Ein nicht besonders ausgeprägter staatsbürgerlicher Sinn, der sich vielleicht aus der Tatsache erklärt, dass die Herren des italienischen Staates meist im Ausland waren und die betroffenen Völker in ihnen nur Gegner sahen, die es möglichst zu täuschen galt. Diese Schwäche drückt sich im Wiederaufkommen eines Populismus aus, der sich aus einem Erstarken des faschistischen Bodensatzes nährt. In Italien wie in Frankreich geschah die Befreiung während der Zeit des Zweiten Weltkriegs gleichsam durch einen Bürgerkrieg.

Die Faschisten waren daher gezwungen, sich in den Jahrzehnten nach 1945 zu verstecken, sie sind aber nie wirklich verschwunden. Die Wirtschaft des Landes bleibt trotz der Tatsache, dass die Mehrzahl der Italiener bis zur gegenwärtigen Krise einen relativ hohen Lebensstandard genossen hat, fragil. Doch die uneingeschränkte Orientierung auf Europa, die die gesamte politische Szene Italiens erfasst hat, ist meines Erachtens hauptverantwortlich für die Sackgasse, in die das Land geschlittert ist. Dieselbe unreflektierte Unterstützung des europäischen Projekts hat zum Niedergang des möglichen radikalen Potenzials der Volksbewegungen geführt, die den Faschismus in Spanien, Portugal und Griechenland beendeten. Dieses Potenzial war in Spanien begrenzt, wo der Franquismus schlicht durch den Tod seines Begründers dahinstarb, während der Übergang zur Post-Franco-Ära von derselben Bourgeoisie vorbereitet worden war, die das Rückgrat des spanischen Faschismus gebildet hatte. Die drei Bestandteile der Arbeiter- und Volksbewegung, die Sozialisten, die Kommunisten und die Anarchisten, waren durch eine bis spät in die 1970er-Jahre hinein dauernde blutige Diktatur, die von den Vereinigten Staaten im Austausch gegen ihren Antikommunismus und die Einwilligung zur Errichtung amerikanischer Militärbasen unterstützt worden war, entwurzelt worden. 1980 machte Brüssel den Eintritt in die NATO, also die definitive Formalisierung der Unterwerfung des Landes unter das Hegemoniestreben Washingtons, zur Bedingung für den Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft (EG).

Die Arbeiterbewegung hatte über sogenannte »Arbeiterkommissionen«, die während der 1970er-Jahre im Untergrund gebildet worden waren, dennoch versucht, eine Rolle im Übergang zu spielen. Es wurde jedoch offensichtlich, dass dieser radikale Flügel der Bewegung, dem es nicht gelungen war, die Unterstützung anderer Teile der Volksklassen und der Intellektuellen zu gewinnen, der reaktionären Bourgeoisie die Kontrolle über den Übergang nicht entreißen konnte. Dem Aufstand der Streitkräfte in Portugal, der im April 1974 das Regime Salazar beendete, folgte eine gigantische Explosion im Volk, wobei die Kommunisten der o ziellen KP und die Maoisten das Rückgrat dieser Bewegung bildeten. Die Niederlage dieser Strömung innerhalb der Führungsgruppe selbst zerbrach die kommunistische Führungsrolle, wobei Sozialisten, die Kompromisse mit dem Kapital eingingen, davon profitierten.

Seither ist das Land politisch wieder völlig eingeschlafen. Auch in Griechenland drängte sich der Entscheid zugunsten Europas nach dem Sturz der Generäle nicht unbedingt auf. Während des Zweiten Weltkriegs war es der KP wie in Jugoslawien gelungen, eine antifaschistische Einheitsfront um sich herum aufzubauen. Griechenland und Jugoslawien hatten sich nicht einfach nur den deutschen Angreifern »widersetzt« wie andere auch, sondern nie aufgehört, einen regelrechten Krieg zu führen, der eine entscheidende Rolle im plötzlichen Zusammenbruch der italienischen faschistischen Armeen 1943 spielte und wichtige deutsche Armeeeinheiten in diesem Gebiet band. Der griechische Widerstand, der 1945 in eine Revolution mündete, wurde durch das Eingreifen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens niedergeschlagen.

Die griechische Rechte ist zudem verantwortlich für die Integration des Landes in die NATO, in deren Rahmen sich das europäische Projekt einpasst, wovon ausschließlich die »kosmopolitische« Kompradoren-Bourgeoisie pro tiert. Die Vertiefung der Systemkrise des Monopolkapitalismus endet in den schwächeren Ländern Südeuropas in einer beispiellosen sozialen Katastrophe. Diese tri t auch die Länder Osteuropas hart, die auf den Status von Halbkolonien Westeuropas und insbesondere Deutschlands reduziert sind. So ist verständlich, dass in jüngster Zeit riesige populäre Bewegungen (Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien) entstanden sind und mit ihrer Ablehnung der von Berlin und Brüssel aufgezwungenen Sparpolitik einige glänzende Wahlresultate erzielt haben. Man muss aber festhalten, dass die öffentliche Meinung in den betreffenden Ländern noch nicht zur Vorstellung gelangt ist, dass das EU-europäische System abgebaut werden muss; lieber stecken sie den Kopf in den Sand und reden sich ein, dieses Europa sei reformierbar. Ihre Bewegungen sind daher bislang gelähmt.

Nordeuropa

Aus anderen Gründen sind die nordischen Länder dem europäischen Projekt gegenüber noch lange misstrauisch geblieben. Schweden versuchte in den 1980er-Jahren unter der Führung von Olof Palme, eine globalisierte, internationalistische und neu trale Haltung voranzutreiben. Nachdem das Land auf Europakurs eingeschwenkt war, vollzog es eine abrupte Kehrtwende und die Sozialdemokratie rutschte nach rechts. Diese Kehrtwende macht es gleichwohl nötig, über die Schwächen des außerordentlichen Versuchs Schwedens nachzudenken: die vielleicht zu starke Persönlichkeit Palmes, die Illusionen der Jugend, die lange in einem relativ isolierten Land eingesperrt war und nach 1968 erst spät und mit einer guten Dosis Naivität die Welt entdeckte, aber auch die glanzlose Zeit des Zweiten Weltkriegs, die zu lange verborgen blieb. Die aus Kleinbauern und Fischern bestehende norwegische Gesellschaft kennt im Gegensatz zu Schweden und Dänemark keine aristokratische Klasse und ist aus diesem Grund in Sachen Gleichheit ganz besonders sensibel. Das erklärt zweifellos die relative Macht ihrer extrem linken Partei und die radikale Einstellung ihrer Sozialdemokratie, die bislang auf ihre Art dem Sirenengesang Europas widersteht. Die Grünen sind hier früher aufgekommen als in anderen Ländern.

Im Gegensatz dazu bremsen die Mitgliedschaft in der NATO und der finanzielle Wohlstand, den Norwegen aus den Erdölreserven der Nordsee bezieht (ein auf die Dauer korrumpierender Wohlstand), zweifellos diese positiven Tendenzen. Die Unabhängigkeit, in die Finnland während der Russischen Revolution kampflos entlassen wurde (Lenin hatte sie ohne jedes Zögern akzeptiert), entsprach weniger einem einheitlichen Willen, wie oft behauptet wird. Das Großherzogtum genoss im Russischen Reich bereits seit Langem eine sehr umfassende, von der damaligen Öffentlichkeit als zufriedenstellend beurteilte Autonomie; und die führenden Klassen dienten dem Zar mit derselben Aufrichtigkeit wie die baltischen Staaten. Die Volksklassen waren für das Programm der Russischen Revolution nicht unempfänglich. Deshalb löste die Unabhängigkeit die Probleme des Landes nicht. Das geschah erst durch einen Bürgerkrieg im Inneren, der letztlich knapp von der Reaktion gewonnen wurde (mit Unterstützung des imperialen Deutschlands und seiner Verbündeten), die später in den Faschismus abglitt, mit dem sie während des Zweiten Weltkriegs verbündet war. Was man als »Finnlandisierung« bezeichnet und in der NATO Propaganda als inakzeptabler Status dargestellt wird, war in Wirklichkeit nur eine Neutralität (wenn auch ursprünglich durch den Friedensvertrag erzwungen), die eine der Grundlagen für einen dem atlantischen Projekt überlegenen europäischen Wiederaufbau hätte bilden können.

Wird es den Druckversuchen seitens der EU, die auf Währungsebene erfolgreich waren (da Finnland beim Euro mitmacht), gelingen, an diesem historisch interessanten Erbe zu knabbern? Kann man etwas von Dänemark erwarten, dessen Wirtschaft zu sehr von jener Deutschlands abhängt? Diese Abhängigkeit wird neurotisch ausgelebt, wovon eine Serie von widersprüchlichen und konfusen Abstimmungen zur Frage des Euro zeugt; mir scheint aber nicht, dass sie von der klassischen Sozialdemokratie in diesem Land infrage gestellt werden kann. Das »rot-grüne Bündnis« ist daher ziemlich isoliert. Was die Niederlande betri t, darf nicht vergessen werden, dass dort im 17. Jahrhundert noch vor England und Frankreich eine bürgerliche Revolution stattgefunden hat. Doch die bescheidene Größe der Vereinigten Provinzen hinderte dieses Land an der Umsetzung dessen, was seine konkurrierenden Schüler taten. Obwohl das kulturelle Erbe dieser Geschichte nicht verloren gegangen ist, entwickelte sich das wirtschaftliche und finanzielle System der Niederlande unterdessen im Schoß der deutschen Mark bzw. später des Euro. Ist Europa in der Lage, die Bedeutungslosigkeit seiner politischen Stellung in der Welt abzuschütteln? In den 1970er- und 1980er Jahren hatte ich gedacht, dass in Europa die Schaffung einer »neutralistischen« Nord-Süd-Achse zwischen Schweden, Finnland, Österreich, Jugoslawien und Griechenland denkbar wäre und positive Auswirkungen sowohl auf die westeuropäischen Kernländer als auch auf die Länder Osteuropas hätte haben können.

Sie hätte Ersteren geholfen, über ihre atlantische Ausrichtung nachzudenken, was vielleicht in Frankreich auf positive Resonanz gestoßen wäre. Charles de Gaulle lebte nicht mehr, und die Gaullisten hatten die Vorbehalte des Generals gegenüber der NATO tatsächlich vergessen. Eine solche Achse hätte vielleicht auch dazu beitragen können, in osteuropäischen Ländern die Chancen für einen Wechsel auf Mitte Links-Positionen zu erhöhen und ihren späteren Rechtsrutsch zu verhindern. Dieses Projekt hätte eventuell den Aufbau eines authentischen »anderen Europas« eingeleitet, das wirklich sozial und daher offen für die Erfindung eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts gewesen wäre, der seine konstituierenden Nationen respektiert, unabhängig von den Vereinigten Staaten ist und in den Ländern unter sowjetischem Ein uss eine Reform ermöglicht, die diesen Namen verdient. Dieser Aufbau eines Europas jenseits von Brüssel, das sich damals auf eine Wirtschaftsgemeinschaft von noch begrenztem Umfang beschränkte, war möglich.

Es war mir gelungen, diese Ideen linken Führungskräften der betroffenen Länder zur Kenntnis zu bringen, und ich hatte den Eindruck, dass sie ihnen nicht abgeneigt waren. Doch daraus folgte nichts. Die europäischen Linksparteien haben das Ausmaß der Herausforderung nicht erkannt und die Entfaltung des Brüsseler Projekts unterstützt; eines von Anfang an reaktionären Projekts, das von Jean Monnet konzipiert wurde, dessen deutlich antidemokratische Ansichten bekannt sind, wie in Jean-Pierre Chevènements Buch La faute de M. Monnet dargelegt. Die kommunistischen Parteien hatten das verstanden. Doch damals war die Alternative eines »sowjetischen« Europas nicht mehr glaubwürdig. Ihre anschließende bedingungslose Unterstützung war nicht besser, auch wenn sie als »Eurokommunismus« getarnt war. Heute hat die Europäische Union nicht nur die Völker des Kontinents in eine Sackgasse geführt, die sich im zweifachen Entscheid für »liberal« und »atlantisch« (der NATO) konkretisiert, sondern sie ist auch zum Instrument der Amerikanisierung Europas geworden, indem sie die politische Kultur des Konflikts europäischer Tradition durch die US-amerikanische Kultur des Konsenses ersetzt hat. Die definitive EU-europäische Unterstützung des atlantischen Bündnisses, die auf dem Bewusstsein der Vorteile der Ausbeutung des Planeten zugunsten des Imperialismus der Triade beruht, ist nicht undenkbar, ja sie schreitet voran.

Der »Konflikt« mit den Vereinigten Staaten dreht sich eigentlich nur um die Aufteilung der Beute. Sollte das Projekt jemals gegen alle Widerstände vorangetrieben werden, wären die EU-Institutionen zum Haupthindernis für den Fortschritt der europäischen Völker geworden. Der europäische Wiederaufbau erfordert daher den Rückbau des bestehenden Projekts. Sind die Infragestellung des europäisch atlantischen Projekts in seiner jetzigen Form und die Herausbildung eines alternativen Aufbaus eines sozialen, gegenüber dem Rest der Welt nicht imperialistischen Europas heute noch denkbar? Ich glaube schon, und ich glaube sogar, dass der von irgendeinem Pol ausgehende Beginn dieses Aufbaus bald in ganz Europa auf positive Resonanz stoßen könnte. Eine authentische Linke sollte auf jeden Fall nicht anders denken. Ich vermute, dass ein Wandel nur eingeleitet werden kann, wenn Frankreich einige mutige Initiativen in diese Richtung ergreift. Dann würde es Deutschland und damit das übrige Europa mitziehen.

Dann wäre der Weg frei für eine Annäherung an China und Russland. Europa, dessen Status auf der internationalen politischen Bühne durch seine Unterstützung für Washingtons Plan der Weltherrschaft zur Bedeutungslosigkeit verurteilt ist, könnte dann seine Wirtschaftskraft in den Dienst des Wiederaufbaus einer echten polyzentrischen Welt stellen. Andernfalls würde »der Westen« amerikanisch, Europa deutsch und der Nord-Süd-Konflikt zentral bleiben und Fortschritte nur in den Peripherien des globalen Systems denkbar sein, ein »Remake« des 20. Jahrhunderts. Abschließend möchte ich daran erinnern, dass das System der neoliberalen Globalisierung in seine Endphase eingetreten ist und seine Implosion sichtbar wird, wovon unter anderem der »Brexit«, die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und der Aufstieg von Faschismen zeugt. Das wenig glorreiche Ende dieses Systems erö net eine potenziell revolutionäre Situation in allen Regionen der Welt. Dieses Potenzial wird sich aber nur dann realisieren, wenn die Kräfte der radikalen Linken diese Gelegenheit ergreifen und mutige Offensivstrategien entwerfen und umsetzen werden, die angesichts des Kosmopolitismus des Finanzkapitals der imperialistischen Mächte auf dem Wiederaufbau des Internationalismus der Arbeiter und Völker basieren. Ist dies nicht der Fall, dann trägt auch die betroffene Linke im Westen, im Osten und im Süden die Verantwortung für die Katastrophe.

Werkauswahl von Samir Amin:

L’accumulation à l’échelle mondiale 1970.

L’impérialisme et le développement inégal 1976.

Classe et Nation dans l’histoire et la crise contemporaine 1979.

L’avenir du Maoisme 1981.

La déconnexion 1985.

L’eurocentrisme 1988.

Das Reich des Chaos. Hamburg 1992 (franz. 1991).

Itinineraire intellectuel: regards sur le demi-siècle 1945–1990 1993.

Die Zukunft des Weltsystems. Herausforderungen der Globalisierung. Hamburg 2002.

Für ein nicht-amerikanisches 21. Jahrhundert. Der in die Jahre gekommene Kapitalismus. Hamburg 2003.

Pour un monde multipolaire 2005.

Das globalisierte Wertgesetz. Hamburg 2012 (franz. 1977).

La Souveraineté au Service des Peuples – L’Agriculture Paysanne, la Voie de L’Avenir 2017.

October 1917 Revolution. A Century Later 2017.

Amin Samir/Arrighi Giovanni/Frank Andre Gunder/Wallerstein Immanuel, Dynamik der globalen Krise. Opladen 1986 (engl. 1982).

Amin Samir/Arrighi Giovanni/Frank Andre Gunder/Wallerstein Immanuel, Transforming the Revolution. Social Movements and the World System 1990.

Fußnoten

  1. Alexander Tschajanow (1888–1937) war ein sowjetischer Agrarökonom und Statistiker, der sich gegen die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft aussprach.
  2. Anmerkung des französischen Herausgebers: In Europa (Frankreich, Deutschland, Schweiz u.a.) sagen die meisten Bauern, sie seien völlig erschöpft, bekämen keine Luft und sähen sich gezwungen, ihre Betriebe aufzugeben. Jene Bauern, die wichtige Investitionen getätigt haben, um ihr »Unternehmen« zu entwickeln, und ihre Kulturen und ihre Zucht spezialisiert haben, sind oft sogar am verletzlichsten. Innerhalb von zehn Jahren ist in der Europäischen Union jeder vierte Hof verschwunden. Überall häufen sich Demonstrationen und unter der Landbevölkerung nehmen Suizide zu.
  3. Karl Kautsky (1854–1938) war ein in Prag geborener marxistischer Theoretiker und gehörte dem linken Flügel der sozialdemokratischen Partei in Deutschland an, die sich 1917 von der SPD aus Protest gegen deren Kriegsunterstützung abspaltete und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) gründete.
  4. Pjotr Stolypin (1862–1911) war Premierminister unter Zar Nikolaus II. Mit einer Agrarreform versuchte er eine Kapitalisierung der Landwirtschaft durchzusetzen.
  5. Sozialistische russische Bewegung, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstanden war, besser bekannt unter der Bezeichnung »Land und Freiheit«. Die 1901 gegründete Partei der Sozialrevolutionäre ging aus der Narodniki-Bewegung hervor.
  6. Die Sudanesische Union war die Partei von Modibo Keita, des ersten Präsidenten Malis nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1960.
  7. Fliegende Händler in Westafrika.
  8. Amílcar Cabral (1924–1973) war ein in Portugiesisch-Guinea geborener Theoretiker, Staatsmann und Poet. Siehe in der CETIM-Reihe Pensées d’hier pour demain das ihm gewidmete Buch.
  9. Thomas Sankara (1949–1987) war ein in der französischen Kolonie Obervolta (später: Burkina Faso) geborener sozialistischer Unabhängigkeitskämpfer und Staatsmann.
  10. Anmerkung des französischen Herausgebers: Zu diesem Thema siehe u.a. PubliCetim Nr. 39 (2015), Le commerce, c‹est la guerre, von Yash Tandon.
  11. Die Encomienda war eine von spanischen Eroberern eingesetzte Form der kommunalen Zwangsarbeit.
  12. Andre Gunder Frank (1929–2005) war ein deutsch-amerikanischer Ökonom, der als einer der Gründer der Dependenztheorie und der Theorie des Weltsystems gilt. Im Promedia Verlag sind von ihm u.a. erschienen: »Orientierung im Weltsystem. Von der Neuen Welt zum Reich der Mitte« (2005) sowie »ReOrient. Globalwirtschaft im Asiatischen Zeitalter« (2016).
  1. Benjamin Coriat, Vorwort, in Propriété et communs, Éditions Utopia, Sammlung »Controverses«, Paris, Januar 2017. Ausschnitt unter: http://fr.calameo.com/read/00098618931261873e9db
  2. Zur Geschichte der Einhegungen in England sei auf E. P. Thompsons »The Making of the English Working Class« verwiesen.
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