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Stalin - Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende  (Domenico Losurdo)

Aus ProleWiki


Stalin - Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende
Autor*inDomenico Losurdo
VerlagCarocci editore S. p. A.
Veröffentlicht2008
Rom
ISBNISBN 978-3-89438-496-8

Vorwort: Die Wende in der Geschichte des Stalinbildes

1. Vom Kalten Krieg zu Chruschtschows Geheimrede

Imposante Trauerkundgebungen begleiteten den Tod Stalins: Während seiner Agonie »drängten sich Millionen von Menschen im Zentrum Moskaus, um dem sterbenden Führer die letzte Ehre zu erweisen«; am 5. März 1953 »weinten Millionen Bürger über den Verlust, so als handelte es sich um eine persönliche Trauer«.[1] Dieselbe Reaktion zeigte sich in den entferntesten Gebieten des riesigen Landes, zum Beispiel in einem »kleinen Dorf«, das, gleich nach der Ankündigung des Todes in eine spontane und einhellige Trauer verfiel.[2] »Die allgemeine Bestürzung« verbreitete sich weit über die Grenzen der UdSSR hinaus: »Viele weinten auf den Straßen von Budapest und Prag«.[3]

Tausende Kilometer vom sozialistischen Lager entfernt, waren auch in Israel Trauerbekundungen weit verbreitet: »Alle Mitglieder der Mapam weinten ohne Ausnahme«, und es handelte sich um die Partei, der »alle wichtigsten Führer« und »fast alle Kämpfer« angehörten. Mit dem Schmerz verband sich die Bestürzung: »Die Sonne ist untergegangen« titelte die Zeitung der Kibbuzbewegung ›al Hamishmar‹. Diese Gefühle wurden eine Zeit lang von hochrangigen Exponenten des Staats- und Militärapparats geteilt: »Neunzig Offiziere, die am Krieg von 1948, am großen Unabhängigkeitskrieg der Juden teilgenommen hatten, schlossen sich in einer geheimen, bewaffneten prosowjetischen (sowie pro stalinistischen) und revolutionären Organisation zusammen. Elf von ihnen sind später Generale und einer ist Minister geworden, und heute noch werden sie als Väter des Vaterlands Israel verehrt«.[4] Im Westen huldigten nicht nur die Führer und Aktivisten der mit der Sowjetunion verbundenen kommunistischen Parteien dem Verstorbenen. Ein Historiker (Isaac Deutscher) schrieb, obgleich er ein begeisterter Anhänger Trotzkis war, einen Nachruf voller Anerkennungen:

In drei Jahrzehnten hat sich das Gesicht der Sowjetunion vollkommen verändert. Der Kern der historischen Wirkung des Stalinismus ist dieser: Er hat ein Russland vorgefunden, das den Acker mit dem Holzpflug bearbeitete, und er verlässt es als Besitzer des Atommeilers. Er hat Russland zur zweiten Industriemacht der Welt erhoben, und es hat sich nicht nur um eine Frage bloß materiellen und organisatorischen Fortschritts gehandelt. Ein derartiges Ergebnis hätte man nicht ohne eine breit an gelegte kulturelle Revolution erzielen können, in deren Verlauf man ein ganzes Land in die Schule geschickt hat, um ihm eine breite Bildung zu geben.

Selbst wenn sie vom asiatischen und despotischen Erbe des zaristischen Russlands geprägt und zum Teil verzerrt war, fand in Stalins UdSSR »das sozialistische Ideal seine natürliche und geschlossene Integrität«. In dieser historischen Bilanz gab es keinen Platz mehr für die fürchterlichen Anklagen, die Trotzki seinerzeit gegen den verstorbenen Führer erhoben hatte. Welchen Sinn hatte es, Stalin als Verräter des Ideals der Weltrevolution und als kapitulierenden Theoretiker des ›Sozialismus in einem Land‹ in einer Zeit zu verurteilen, in der sich die neue Sozialordnung in Europa und in Asien ausbreitete und die Revolution »ihre ›nationale Schale‹ sprengte«?[5] Von Trotzki als »kleiner Provinzler« verspottet, »der zum Scherz von der Geschichte auf die Ebene der großen Weltereignisse katapultiert worden ist«,[6] war Stalin 1950 für einen berühmten Philosophen (Alexandre Kojève) zur Verkörperung des Hegelschen Weltgeistes aufgestiegen und deshalb dazu berufen, auch mit energischen Methoden die Menschheit zu vereinigen und anzuführen und dabei Weisheit und Tyrannei zu kombinieren.[7]

Außerhalb der kommunistischen Kreise bzw. der kommunistenfreundlichen Linken regte der Tod Stalins im Westen, trotz des Kalten Krieges und des Andauerns des heißen Krieges in Korea, insgesamt »ausgewogene« Nachrufe »voller Achtung« an: Damals »betrachtete man ihn noch als einen relativ gutmütigen Diktator und sogar als einen Staatsmann und im Volksbewusstsein hielt die liebevolle Erinnerung an den ›Onkel Joe‹ an, den großen Kriegsherrn, der sein Volk zum Sieg über Hitler geführt und dazu beigetragen hatte, Europa von der nazistischen Barbarei zu retten«.[8] Die Ideen, die Eindrücke und die Emotionen der Jahre des Großen Koalition gegen das Dritte Reich und seine Verbündeten waren noch nicht verschwunden, als – daran hatte Deutscher 1948 erinnert – »Staatsmänner und Generale (…) von dem sicheren Griff tief beeindruckt waren, mit dem er alle technischen Details seiner gigantischen Kriegsmaschine erfaßte und meisterte«.[9]

Zu den günstig beeindruckten Persönlichkeiten gehörte auch derjenige, der seinerzeit die militärische Intervention gegen das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Land angeführt hatte, nämlich Winston Churchill, der sich wiederholt so über Stalin ausgedrückt hatte: »Dieser Mann gefällt mir« (I like that man).[10] Anlässlich der Konferenz von Teheran im November 1943 hatte der englische Staatsmann seinen sowjetischen Kollegen als »Stalin den Großen« begrüßt: er sei der würdige Erbe Peters des Großen, er habe sein Land gerettet, indem er es in die Lage versetzte, die Invasoren zu besiegen.[11] In gewisser Hinsicht fasziniert war der US-amerikanische Botschafter in Moskau (von 1943 bis 1946), Averell Harriman, der auf militärischer Ebene immer ein recht schmeichelhaftes Bild des sowjetischen Führers gezeichnet hatte: »Ich fand, er war besser informiert als Roosevelt und realistischer als Churchill, gewissermaßen der effizienteste Kriegsherr«.[12] Emphatisch sogar hatte sich 1944 Alcide de Gasperi ausgedrückt, der »das enorme, historische Verdienst über hundert Jahre hinaus der vom Genie Josef Stalins organisierten Armeen« gewürdigt hatte. Und die Anerkennungen seitens des bedeutenden italienischen Politikers hatten sich nicht auf die bloß militärische Ebene beschränkt:

Wenn ich sehe, wie Hitler und Mussolini die Menschen wegen ihrer Rasse verfolgten und jene erschreckende antijüdische Gesetzgebung erfanden, die wir kennen, und wenn ich gleichzeitig sehe, wie die aus 160 Rassen zusammengesetzten Russen eine Verschmelzung dieser Rassen versuchen, wenn ich diese Bemühung um die Vereinigung der menschlichen Gesellschaft sehe, so lasst mich sagen: das ist christlich, das ist eminent universalistisch im Sinne des Katholizismus.[13]

Nicht weniger stark und nicht weniger verbreitet war das Prestige, das Stalin unter den großen Intellektuellen genossen hatte und noch genoss. Harold J. Laski, ein damals angesehener Exponent der englischen Labour Party, hatte sich in einem Gespräch mit Norberto Bobbio im Herbst 1945 als »Bewunderer der Sowjetunion« und ihres Führers bekannt, der von ihm als »sehr klug« (très sage) bezeichnet wurde.[14] Im gleichen Jahr hatte Hannah Arendt geschrieben, dass das von Stalin angeführte Land sich durch die »vollkommen neue und gelungene Art« ausgezeichnet habe, »die Konflikte der Nationalitäten anzupacken und zu schlichten, unterschiedliche Bevölkerungen auf der Grundlage der nationalen Gleichheit zu organisieren«; es handelte sich um eine Art Vorbild, es war etwas, »dem jede politische und nationale Bewegung ihre Aufmerksamkeit schenken sollte«.[15]

Auch Benedetto Croce hatte, kurz vor und kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schreibend, Stalin das Verdienst zuerkannt, dank seines Beitrags zum Kampf gegen den Nazifaschismus die Freiheit nicht nur auf internationaler Ebene, sondern auch in seinem eigenen Land gefördert zu haben. Ja, geführt werde die UdSSR von »einem politisch genialen Mann«, der eine insgesamt positive historische Rolle spiele: Im Vergleich zum vorrevolutionären Russland »hat der Sowjetismus einen Fortschritt der Freiheit bedeutet«, so wie »im Vergleich mit dem feudalen Regime« auch die absolute Monarchie »ein Fortschritt der Freiheit (war) und ihre weiteren und größeren Fortschritte bewirkte«. Die Zweifel des Philosophen konzentrierten sich auf die Zukunft der Sowjetunion, aber im Kontrast dazu ließen sie die Größe Stalins noch mehr hervortreten: dieser hatte Lenins Platz eingenommen, sodass ein Genie auf das andere gefolgt war. Aber welche Nachfolger wird »die Vorsehung« der UdSSR bescheren?[16]

Jene, die begonnen hatten, Stalins Sowjetunion mit Hitlerdeutschland zu vergleichen, als sich die Krise der Antihitlerkoalition abzuzeichnen begann, sind von Thomas Mann hart zurechtgewiesen worden. Das Dritte Reich habe sich durch den »Rassen-Größenwahn« der so genannten »Herrenrasse« ausgezeichnet, die eine »teuflische Entvölkerungspolitik« und vorher noch die Ausrottung der Kultur in den jeweils eroberten Territorien praktizierte. Hitler habe sich auf diese Weise an das Motto Nietzsches gehalten: »Will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sich Herren erzieht«. Genau entgegengesetzt sei die Orientierung des »russischen Sozialismus« gewesen, der massiv Bildung und Kultur verbreitete und damit gezeigt habe, keine »Sklaven« zu wollen, sondern »denkende Menschen« und der daher, trotz allem, den »Weg zur Freiheit« eingeschlagen habe. Unannehmbar sei daher die Gleichstellung der beiden Regime. Diejenigen, die so argumentierten, könne man sogar der Komplizität mit dem Faschismus verdächtigen, auch wenn sie behaupten, ihn verurteilen zu wollen:

Den russischen Kommunismus mit dem Nazifaschismus auf die gleiche moralische Stufe zu stellen, weil beide totalitär seien, ist bestenfalls Oberflächlichkeit, im schlimmeren Falle ist es – Faschismus. Wer auf dieser Gleichstellung beharrt, mag sich als Demokrat vorkommen, in Wahrheit und im Herzensgrund ist er damit bereits Faschist und wird mit Sicherheit den Faschismus nur unaufrichtig und zum Schein, mit vollem Haß aber allein den Kommunismus bekämpfen.[17]

Gewiss war später der Kalte Krieg ausgebrochen, und mit der Veröffentlichung ihres Buches über den Totalitarismus hatte Arendt 1951 gerade die von Thomas Mann scharf kritisierte Gleichstellung vorgenommen. Doch fast gleichzeitig hatte Kojève Stalin als den Protagonisten einer entschieden progressiven und weltweiten historischen Wendung bezeichnet. Das bedeutet, dass sogar im Westen die neue Wahrheit bzw. der neue Leitgedanke des unparteiischen Kampfes gegen die verschiedenen Erscheinungsformen des Totalitarismus sich nur mühsam durchsetzte. 1948 hatte Laski seine drei Jahre zuvor zum Ausdruck gebrachte Sichtweise gewissermaßen noch verdeutlicht: Zur Definition der Sowjetunion hatte er eine Kategorie wieder aufgenommen, die von einer anderen Vertreterin des englischen Labourismus, Beatrice Webb, benutzt wurde, die schon 1931 sowie während des Zweiten Weltkriegs und kurz vor ihrem Tode von »neuer Zivilisation« gesprochen hatte. Es stimmt – hatte Laski betont –, aus der außergewöhnlichen Förderung des sozialen Aufstiegs von so lange ausgebeuteten und unterdrückten Klassen und aus der Einführung neuer Verhältnisse in den Fabriken und an den Arbeitsplätzen, die nicht mehr auf der souveränen Macht der Eigentümer der Produktionsmittel gründeten, war das von Stalin angeführte Land als der »Bahnbrecher einer neuen Zivilisation« her vorgegangen. Gewiss haben sowohl die eine als auch der andere so gleich präzisiert: Auf der im Entstehen begriffenen »neuen Zivilisation« laste noch das Gewicht des »barbarischen Russland«. Sie drückte sich in despotischen Formen aus, aber – unterstrich besonders Laski – um ein korrektes Urteil über die Sowjetunion formulieren zu können, dürfe man einen wesentlichen Tatbestand nicht aus den Augen verlieren: »Ihre Führer kamen in einem Land an die Macht, das nur an eine blutige Tyrannei gewöhnt war«, und sie seien gezwungen gewesen, in einer Situation zu regieren, die von einem mehr oder weniger permanenten »Belagerungszustand« und von einem »potenziellen oder tatsächlichen Krieg« gekennzeichnet war. In akuten Krisensituationen hätten allerdings auch England und die Vereinigten Staaten mehr oder weniger drastisch die traditionellen Freiheiten eingeschränkt.[18]

Wenn Bobbio von der Bewunderung berichtet, die Laski für Stalin und das von ihm geführte Land geäußert hatte, wird er viele Jahre später schreiben: »Kurz nach einem Sieg über Hitler, zu dem die Sowjetrussen mit der Schlacht von Stalingrad entscheidend beigetragen hatten, hatte mir (diese Erklärung) keinen besonderen Eindruck gemacht«. In Wahrheit ging die der UdSSR und ihrem Führer seitens des englischen Labour-Intellektuellen erwiesene Anerkennung weit über die militärische Ebene hinaus. War übrigens die Haltung des Turiner Philosophen damals viel anders? Im Jahre 1954 veröffentlichte er eine Abhandlung, die der Sowjetunion (und den sozialistischen Staaten) das Verdienst zuschrieb, »eine neue Phase zivilisatorischen Fortschritts in politisch rückständigen Ländern eingeleitet zu haben, indem sie traditionell demokratische Institutionen formeller Demokratie, wie das all gemeine Wahlrecht und die Wählbarkeit der Ämter, und substantieller Demokratie, wie die Kollektivierung der Produktionsmittel einführten«; es handele sich also darum, »einen Tropfen (liberales) Öl in die Maschinen der schon vollendeten Revolution« zu gießen.[19] Wie man sieht, fiel das Urteil, das über das Land formuliert wurde, das noch um Stalin trauerte, keineswegs negativ aus.

Im Jahre 1954 wirkte bei Bobbio noch das Erbe des liberalen Sozialismus nach. Selbst wenn Carlo Rosselli energisch den unverzichtbaren Wert der Freiheit und der Demokratie hervorhob, hatte er in den Jahren des spanischen Bürgerkriegs negativ die liberalen Länder (»das offizielle England ist für Franco, es hungert Bilbao aus«) der Sowjetunion gegenübergestellt, die sich darum bemüht habe, der spanischen Republik, die vom Nazifaschismus angegriffen worden war, zu helfen.[20] Noch handelte es sich nur um die internationale Politik. Einer Welt, die von der »Phase des Faschismus, der imperialistischen Kriege und der kapitalistischen Dekadenz« gekennzeichnet war, hatte Carlo Rosselli das Beispiel eines Landes entgegengestellt, das zwar noch recht weit vom Ziel eines reifen demokratischen Sozialismus entfernt sei, aber immerhin den Kapitalismus hinter sich gelassen habe und für alle, die sich bemühten, eine bessere Gesellschaft aufzubauen, ein »Kapital wertvoller Erfahrungen« darstelle: »Heute haben wir, mit der gigantischen russischen Erfahrung (…) ein unermessliches positives Material zur Verfügung. Wir alle wissen, was sozialistische Revolution und sozialistische Organisation der Produktion bedeutet«.[21]

Zum Schluss: In einer ganzen historischen Epoche konnten das von Stalin geführte Land und Stalin selbst auf wohlwollendes Interesse, auf Achtung und manchmal sogar auf Bewunderung zählen. Natürlich gab es die große Enttäuschung über den Nichtangriffspakt mit Nazideutschland, aber Stalingrad hatte sie später vertrieben. Aus diesem Grund einte 1953 und in den unmittelbar darauffolgenden Jahren die Hommage an den verstorbenen Stalin das sozialistische Lager und schien zeitweise die kommunistische Bewegung, trotz der vorhergehenden Zerrüttungen, erneut zu festigen; schließlich fand diese Huldigung eine Resonanz sogar im liberalen Westen, obwohl dieser in einem Kalten Krieg engagiert war, der von beiden Seiten unerbittlich geführt wurde. Nicht umsonst hatte sich Churchill in seiner Rede in Fulton, die offiziell den Kalten Krieg eröffnete, wie folgt ausgedrückt: »Meine große Bewunderung und Achtung gilt dem tapferen russischen Volk und meinem Mitkämpfer in Kriegszeiten, Marschall Stalin«.[22] Zweifellos sind mit der Verschärfung des Kalten Krieges die Töne nach und nach härter geworden. Und dennoch hatte noch im Jahre 1952 ein berühmter englischer Historiker, der auch für das Foreign Office gearbeitet hatte, nämlich Arnold Toynbee, den sowjetischen Führer mit »einem genialen Menschen: Peter dem Großen« vergleichen können; ja, »die tyrannische Ausrichtung auf technologische Verwestlichung, die Stalin verfolgte, wurde schließlich, wie die Peters, durch die Erprobung auf dem Schlachtfeld gerechtfertigt«. Diese Ausrichtung war, abgesehen von der dem Dritten Reich zugefügten Niederlage, weiterhin gerechtfertigt: nach Hiroshima und Nagasaki ging es für Russland darum, »erneut einen Gewaltmarsch zu machen, um die Stufe einer westlichen Technologie zu erreichen«, die es erneut »blitzschnell hinter sich gelassen« hatte.[23]

2. Für eine allumfassende Komparatistik

Aber es ist vielleicht ein anderes historisches Ereignis, das mehr noch als der Kalte Krieg zu einer radikalen Wende in der Geschichte des Stalin-Bildes führt; Churchills Fultoner Rede vom 5. März 1946 spielte eine weniger wichtige Rolle als eine andere Rede, die zehn Jahre später, genau gesagt am 25. Februar 1956, von Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU gehalten wurde.

Mehr als drei Jahrzehnte lang hat diese Geheimrede, die das Bild eines krankhaft blutgierigen, eitlen und recht mittelmäßigen oder auf intellektueller Ebene sogar lächerlichen Diktators skizziert, fast alle zu friedengestellt. Das erlaubte es der neuen Führungsspitze an der Macht in der UdSSR, sich als den einzigen Depositär der revolutionären Legitimität im eigenen Land, im sozialistischen Lager und in der internationalen kommunistischen Bewegung zu präsentieren, die in Moskau ihr Zentrum erblickte. Bestärkt in seinen alten Überzeugungen und mit neuen Argumenten zur Fortführung des Kalten Krieges ausgerüstet, hatte auch der Westen seine Gründe zur Zufriedenheit oder zur Begeisterung. In den Vereinigten Staaten hatte die Sowjetologie die Tendenz gezeigt, sich um die CIA und andere Militär- und intelligence-Agenturen herum zu entwickeln, nach vorheriger Säuberung von Elementen, die im Verdacht standen, Sympathien für das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Land zu hegen.[24] Ein Militarisierungsprozess einer Schlüsseldisziplin für die Fortführung des Kalten Krieges hatte sich ab gezeichnet; im Jahre 1949 hatte der Präsident der American Historical Association erklärt: »Man kann sich nicht erlauben, nicht orthodox zu sein«, die »Pluralität der Ziele und der Werte« sei nicht mehr zulässig. Man müsse »ausgedehnte Maßnahmen der Reglementierung« akzeptieren, weil der totale Krieg, »sei er nun heiß oder kalt, jeden von uns rekrutiert und jeden von uns aufruft, seine Rolle zu übernehmen. Von dieser Verpflichtung ist der Historiker nicht freier als der Physiker«.[25] Das alles geht 1956 nicht verloren, aber jetzt erhält eine mehr oder weniger militarisierte Sowjetologie eine Ermutigung, die aus dem Innern der kommunistischen Welt herrührt.

Es stimmt zwar, dass Chruschtschows Geheimrede nicht so sehr den Kommunismus als solchen, sondern vielmehr eine einzelne Persönlichkeit unter Anklage stellte, aber in jenen Jahren war es auch aus der Sicht Washingtons und seiner Bündnispartner opportun, das Ziel nicht zu weit zu fassen, sondern die Aufmerksamkeit auf das Land Stalins zu konzentrieren. Mit der Unterzeichnung des mit der Türkei und Griechenland geschlossenen »Balkanpakts« von 1954 wird Jugoslawien zu einer Art äußerem Mitglied der NATO, und ungefähr zwanzig Jahre später schließt auch China ein Bündnis mit den Vereinigten Staaten, das de facto gegen die Sowjetunion gerichtet ist. Vor allem diese Super macht gilt es zu isolieren, und sie wird gedrängt, eine immer radikalere Entstalinisierung vorzunehmen, bis ihr keinerlei Identität und Selbstachtung mehr bleibt, um sich dann mit der Kapitulation und zuletzt mit der Auflösung abzufinden.

Schließlich konnten die berühmten Intellektuellen, dank der »Enthüllungen« aus Moskau, ruhig das Interesse, die Sympathie und so gar die Bewunderung vergessen, mit der sie auf die UdSSR Stalins geblickt hatten. Besonders die Intellektuellen, die sich auf Trotzki beriefen, fanden in jenen »Enthüllungen« eine Ermutigung. Über lange Zeit hinweg hatte gerade Trotzki für die Feinde der Sowjetunion die Schande des Kommunismus verkörpert und wurde vorzugsweise als der »Ausrotter«, besser als der »jüdische Ausrotter« hingestellt (vgl. unten, Kap. 5, § 15); noch 1933, als Trotzki schon seit einigen Jahren im Exil lebte, blieb er für Spengler immer noch der »bolschewistische Massenmörder«.[26] Von der Wende des XX. Parteitags der KPdSU an wurden nur noch Stalin und seine engsten Mitarbeiter ins Schreckenskabinett verbannt. Weil Chruschtschows Geheimrede ihren Einfluss weit über den Kreis der Trotzkisten hinaus ausübte, spielte sie eine trostreiche Rolle in den Kreisen einer gewissen marxistischen Linken, die sich auf diese Weise der mühsamen Pflicht enthoben sah, die Theorie ihres Lehrers und ihre konkret entfaltete Wirkungsgeschichte neu zu überdenken. Statt abzusterben, hatte sich der Staat in den von Kommunisten regierten Ländern sogar über alle Maßen ausgeweitet; weit entfernt zu verschwinden, spielten die nationalen Identitäten eine immer wichtigere Rolle in den Konflikten, die zur Zerrüttung und schließlich zur Auflösung des sozialistischen Lagers führten; keine Zeichen für die Überwindung des Geldes und des Markts waren sichtbar, die mit der ökonomischen Entwicklung höchstens noch wichtiger wurden. Sicher, all das war unbestreitbar, aber schuld daran waren … Stalin und der ›Stalinismus‹! Es gab also keinen Grund, die Hoffnungen bzw. die Gewissheiten infrage zu stellen, die die bolschewistische Revolution begleitet hatten und die auf Marx verwiesen.

Von entgegengesetzten Positionen aus entwickelten diese politisch-ideologischen Sektoren ihr Stalinbild allerdings von kolossal willkürlichen Abstraktionen her. Links eliminierte man virtuell aus der Geschichte des Bolschewismus und mit größerem Recht aus der Geschichte des Marxismus denjenigen, der länger als jeder andere die Macht in dem Land ausgeübt hatte, das aus der Revolution hervor gegangen war, die unter Berufung auf die Ideen von Marx und Engels vorbereitet und durchgeführt worden war. Die Antikommunisten gingen indes zwanglos sowohl über die Geschichte des zaristischen Russland als auch über den Zweiten Dreißigjährigen Krieg hinweg, in dem die widersprüchliche und tragische Entwicklung Sowjetrusslands und der drei Stalinjahrzehnte anzusiedeln ist. So nahm jeder der verschiedenen politisch-ideologischen Sektoren die Rede Chruschtschows zum Anlass, um die eigene Mythologie zu pflegen, ob es nun um die Reinheit des Westens oder um die Reinheit des Marxismus und des Bolschewismus ging. Der Stalinismus war der fürchterliche Bezugspunkt, der es jedem der Antagonisten möglich machte, sich selbst im Gegenzug in seiner unendlichen moralischen und intellektuellen Überlegenheit zu verherrlichen.

Auf sehr unterschiedliche Abstraktionen gegründet, brachten die se Deutungen am Ende dennoch eine gewisse methodologische Konvergenz hervor. Ohne der objektiven Lage große Aufmerksamkeit zu widmen, leiteten sie bei ihrer Untersuchung des Terrors diesen von der Initiative einer einzelnen Persönlichkeit oder einer begrenzten Führungsschicht her, die entschlossen gewesen sei, ihre absolute Macht mit jedem Mittel durchzusetzen. Wenn Stalin unter dieser Voraussetzung mit einer anderen großen politischen Persönlichkeit verglichen wer den konnte, so konnte es nur Hitler sein; folglich war zum Verständnis der UdSSR Stalins einzig der Vergleich mit Nazideutschland möglich. Dieses Motiv taucht Ende der 1930er Jahre schon bei Trotzki auf, der wiederholt die Kategorie »totalitäre Diktatur« gebraucht und innerhalb dieses genus zwischen der »stalinistischen« und der »faschistischen« (und vor allem Hitlerschen) species unterscheidet,[27] mit einem Ansatz also, der später im Kalten Krieg und in der heute herrschenden Ideologie zur allgemeinen Meinung wird.

Ist diese Argumentationsweise überzeugend, oder sollte man lieber eine umfassende Komparatistik heranziehen und dabei weder die gesamte Geschichte Russlands noch die im Zweiten Dreißigjährigen Krieg engagierten westlichen Länder aus den Augen verlieren? Auf diese Weise vergleicht man zwar Länder und Führungsschichten mit ganz unterschiedlichen Merkmalen. Hängt aber diese Verschiedenheit nur von den Ideologien ab oder spielt auch die objektive Lage eine wichtige Rolle, und das heißt die geopolitische Kollokation und die Geschichte im Hintergrund aller Länder, die in den Zweiten Dreißigjährigen Krieg verwickelt sind? Wenn wir von Stalin reden, geht der Gedanke sogleich zur Personalisierung der Macht, zum Konzentrationslager-Universum, zur Deportation ganzer Volksgruppen; verweisen aber diese Phänomene, abgesehen von der UdSSR, nur auf Nazideutschland oder zeigen sie sich, jeweils anders beschaffen, je nach dem mehr oder weniger scharfen und akuten Ausnahmezustand und seines mehr oder weniger langen Andauerns auch in anderen Ländern, die mit der gefestigtsten liberalen Tradition inbegriffen? Sicher darf man die Rolle der Ideologien nicht aus den Augen verlieren; kann aber die Ideologie, auf die sich Stalin berief, wirklich mit derjenigen gleichgesetzt werden, an der sich Hitler inspirierte oder führt auf diesem Gebiet die vorurteilslose Komparatistik am Ende zu ganz unerwarteten Resultaten? Den Theoretikern der ›Reinheit‹ zum Trotz kann eine politische Bewegung, ein politisches Regime nicht beurteilt werden, indem man sich der Vortrefflichkeit der Ideale anvertraut, denen zu folgen, es behauptet: Bei der Bewertung dieser Ideale dürfen wir ihre Wirkungsgeschichte nicht außer Acht lassen; muss aber dieser Ansatz generell oder nur für die Bewegung geltend gemacht werden, die von Lenin oder von Marx ihren Ausgang genommen hat?

Diese Fragen erscheinen all denen überflüssig und sogar irreführend, die das Problem der Wandelbarkeit des Stalinbildes verdrängen und von der Überzeugung ausgehen, dass Chruschtschow endlich die zuvor verborgene Wahrheit ans Licht gebracht hätte. Als methodologisch unfähig erwiese sich allerdings ein Historiker, der 1956 als das Jahr der definitiven und letzten Enthüllung festlegen wollte und damit zwanglos die Konflikte und Interessen überginge, die die Entstalinisierungskampagne und ihr Vorgehen inspirierten und zuvor schon die Sowjetologie des Kalten Krieges inspiriert hatten. Der radikale Kontrast zwischen den verschiedenen Stalinbildern sollte den Historiker dazu bringen, nicht eines davon zu verabsolutieren, sondern vielmehr alle zu problematisieren.

Kapitel 1: Wie man einen Gott in die Hölle stürzt: Chruschtschows Geheimrede

1. Ein »enormes, finsteres, kapriziöses, degeneriertes menschliches Monster«

Wenn wir heute den Text Über den Personenkult und seine Folgen analysieren, den Chruschtschow in einer vertraulichen Sitzung des Parteitags verlesen hat und der später als Geheimrede berühmt geworden ist, fällt etwas sofort auf: wir haben es mit einer Anklagerede zu tun, die Stalin in jeder Hinsicht erledigen möchte. Der für schreckliche Verbrechen Verantwortliche sei ein sowohl auf moralischer als auch auf intellektueller Ebene verachtenswertes Individuum gewesen. Der Diktator sei nicht nur erbarmungslos, sondern auch lächerlich gewesen: Er habe die Lage der Landwirtschaft »nur aus Filmen« gekannt und außerdem aus Filmen, die die Realität bis zur Unkenntlichkeit »beschönigten«.[28] Die von Stalin entfesselte blutige Repression sei nicht von einer politischen bzw. realpolitischen Logik, sondern vielmehr von einer persönlichen Laune und von einer pathologischen libido dominandi diktiert gewesen. Es entstand so das Bild – bemerkte zufrieden im Juni 1956 Deutscher, der von Chruschtschows ›Enthüllungen‹ fasziniert war, uneingedenk des respektvollen und z. T. bewundernden Stalinbildes, das er drei Jahre zuvor skizziert hatte – eines »enormen, finsteren, kapriziösen, degenerierten menschlichen Monsters« (huge, grim, whimsical, morbid, human monster).[29] Der unbarmherzige Despot war so skrupellos, dass er verdächtigt wurde, die Ermordung Kirows, der sein bester Freund war oder zu sein schien, angestiftet zu haben, um einen nach dem anderen, alle wirklichen oder potenziellen, wahren oder imaginären Gegner der Macht, dieses Verbrechens zu bezichtigen und daraufhin zu liquidieren.[30] Auch hatte die unbarmherzige Repression nicht nur Individuen und politische Gruppierungen betroffen. Nein, sie hatte zu »den Massenumsiedlungen ganzer Völker« geführt, die willkürlich en bloc der Komplizenschaft mit dem Feind beschuldigt und verurteilt worden waren. Hatte Stalin aber wenigstens dazu beigetragen, sein Land und die Welt vor dem Grauen des Dritten Reichs zu retten? Weit gefehlt – hakte Chruschtschow nach –, der Große Vaterländische Krieg sei trotz des Wahnsinns des Diktators gewonnen worden: Nur wegen seiner Unvorsichtigkeit, wegen seines Beharrens auf dem blinden Vertrauen zu Hitler sei es den Truppen des Dritten Reichs anfangs gelungen, tief in das sowjetische Territorium vorzudringen und Tod und Zerstörung in größtem Umfang zu verbreiten. Durch Stalins Schuld sei die Sowjetunion unvorbereitet und wehrlos zum tragischen Zusammenstoß gelangt: »Wir sind praktisch erst am Vorabend des Krieges zur Modernisierung der Armeeausrüstung übergegangen (…). Im Moment des Kriegsausbruchs hatten wir nicht einmal eine ausreichende Zahl von Gewehren zur Bewaffnung der Einberufenen«. Obendrein habe sich der für alles Verantwortliche »nach den ersten schweren Mißerfolgen und den ersten an den Fronten erlittenen Niederlagen« der Niedergeschlagenheit und sogar der Apathie überlassen. Vom Gefühl der Niederlage übermannt (»Alles, was Lenin geschaffen hat, haben wir unwiederbringlich verloren«), unfähig zu reagieren, »leitete Stalin über lange Zeit faktisch keine Militäroperationen und befaßte sich überhaupt nicht mit irgendwelchen Angelegenheiten«.[31] Nach einiger Zeit sei er zwar auf Drängen der anderen Mitglieder des Politbüros an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt. Hätte er das nur nie getan! Die Sowjetunion, die in einen tödlichen Kampf verstrickt war, sei – auch auf militärischem Gebiet – monokratisch von einem Diktator angeführt worden, der so inkompetent war, dass er »das Wesen der Führung von Kampfoperationen nicht kannte«. Auf diesem Anklagepunkt besteht die Geheimrede besonders: »Man muß dabei anmerken, dass Stalin die Operationen anhand eines Globus plante. So ist es, Genossen, er nahm den Globus und zeichnete auf ihm die Frontlinien an«.[32] Trotz allem kam der Krieg zu einem glücklichen Abschluss. Aber dennoch habe sich die blutgierige Paranoia des Diktators weiterhin verschlimmert. Jetzt kann man das Bild des »degenerierten menschlichen Monsters«, das nach Deutschers Beobachtung aus der Geheimrede hervorgeht, als vervollständigt betrachten.

Knapp drei Jahre waren seit den vom Tode Stalins ausgelösten Trauerkundgebungen vergangen, und so stark und anhaltend war noch seine Popularität, dass die von Chruschtschow lancierte Kampagne zumindest in der UdSSR anfangs auf »starken Widerstand« stieß:

Am 5. März 1956 gingen die Studenten in Tiflis auf die Straße, um anlässlich des dritten Todestags Blumen am Stalindenkmal niederzulegen, und diese Geste zu Ehren Stalins verwandelte sich in einen Protest gegen die Beschlüsse des XX. Parteitags. Die Demonstrationen und die Versammlungen dauerten fünf Tage lang, bis am Abend des 9. März Panzer in der Stadt einrückten, um die Ordnung wiederherzustellen.[33]

Dies erklärt vielleicht die Merkmale des hier untersuchten Textes. In der UdSSR und im sozialistischen Lager war ein harter Kampf im Gange und das karikaturenhafte Stalinbild diente ausgezeichnet dazu, den »Stalinisten«, die den neuen Führer in den Schatten stellen konnten, ihre Glaubwürdigkeit zu entziehen. Der »Personenkult«, der bisher gewaltet hatte, erlaubte keine nebulösen Urteile: Man musste einen Gott in die Hölle hinabstürzen. Ein paar Jahrzehnte zuvor hatte Trotzki in einem andersgearteten, aber nicht weniger harten politischen Kampf ebenfalls ein Bild Stalins skizziert, das darauf abzielte, ihn nicht nur auf politischer und moralischer Ebene zu verurteilen, sondern auch auf persönlicher Ebene lächerlich zu machen: es handle sich um einen »kleinen Provinzler«, um ein Individuum, das sich von Anfang an durch eine hoffnungslose Mittelmäßigkeit und Unbeholfenheit ausgezeichnet habe, das sich auf politischem, militärischem und ideologischem Ge biet regelmäßig schlecht bewährt habe, dem es nie gelungen sei, die Art des »Bauern« abzulegen. Gewiss habe er 1913 eine Abhandlung von unleugbarem theoretischem Wert veröffentlicht (Der Marxismus und die nationale Frage), aber der wirkliche Autor sei Lenin gewesen, während der Unterzeichner in die Kategorie der »unrechtmäßigen Aneignung« der »intellektuellen Urheberschaft« des großen Revolutionärs einzureihen sei.

Es fehlt nicht an Berührungspunkten zwischen den beiden Bildern. Chruschtschow unterstellt, der wahre Mandant der Ermordung Kirows sei Stalin gewesen, aber von Trotzki war dieser beschuldigt und verdächtigt worden, mit seiner »mongolischen Grausamkeit« den Tod Lenins beschleunigt zu haben.[34] Die Geheimrede wirft Stalin die feige Flucht vor seiner Verantwortung gleich nach der Aggression Hitlers vor; aber schon am 2. September 1939, lange vor Beginn des Unternehmens Barbarossa, hatte Trotzki geschrieben, dass die »neue Aristokratie« an der Macht in Moskau sich unter anderem durch ihre »Unfähigkeit, einen Krieg zu führen«, auszeichne; die in der Sowjetunion »herrschende Kaste« sei dazu bestimmt, die Haltung »aller dem Untergang geweihten Regimes« einzunehmen: »›Nach uns die Sintflut‹«.[35]

Inwieweit halten diese beiden, weitgehend übereinstimmenden Bilder der historischen Untersuchung stand? Man sollte anfangen, die Geheimrede zu analysieren, die sich, von einem Parteitag und von der Führungsspitze der an der Macht befindlichen Partei offiziell bestätigt, sogleich als die Enthüllung einer lange unterdrückten, aber inzwischen unbestreitbaren Wahrheit aufdrängt.

2. Der Große Vaterländische Krieg und die »Erfindungen« Chruschtschows

Nach Stalingrad und der dem Dritten Reich (einer Macht, die unbesiegbar zu sein schien) zugefügten Niederlage hatte Stalin in der ganzen Welt enormes Prestige gewonnen. Und Chruschtschow hält sich nicht umsonst ganz besonders hierbei auf. Als militärisch katastrophal unvorbereitet beschreibt er die Sowjetunion, deren Armee in einigen Fällen sogar die elementarste Ausrüstung gefehlt habe. Genau entgegengesetzt ist das Bild, das aus einer Untersuchung hervorgeht, die aus Bundes wehrkreisen zu stammen scheint und jedenfalls ausgiebig deren militärische Archive heranzieht. Dort spricht man von der »mehrfachen Überlegenheit der Roten Armee an Panzern, Flugzeugen und Artillerierohren«; außerdem habe »die industrielle Kapazität der UdSSR einen Umfang erreicht, um den sowjetischen Streitkräften in kürzester Zeit eine geradezu unvorstellbare Rüstung zu verschaffen«. Diese wachse mit dem Herannahen des Unternehmens Barbarossa immer ungestümer an. Besonders aussagefähig sei eine Tatsache: Hatte die Sowjetunion im Jahre 1940 358 Panzer des neuesten Typs hergestellt, die denen aller anderen Heere weit überlegen waren, so produzierte sie im ersten Halbjahr des darauffolgenden Jahres 1.503 Stück davon.[36] Die aus den russischen Archiven herrührenden Dokumente beweisen ebenfalls, dass zumindest in den zwei Jahren vor der Hitleraggression Stalin von dem Problem der »quantitativen Vergrößerung« und der »qualitativen Verbesserung des gesamten militärischen Apparats« wortwörtlich besessen war. Einige Daten sprechen für sich selbst: Während sich die Ausgaben für die Verteidigung im ersten Fünfjahresplan auf 5,4 Prozent aller Staatsausgaben beliefen, erhöhten sich 1941 die Haushaltsmittel für die Verteidigung auf 43,4 Prozent; »im September 1939 war auf Anordnung Stalins im Politbüro der Beschluß gefaßt worden, bis 1941 neun neue Flugzeugfabriken zu bauen«; zum Zeitpunkt der Hitlerinvasion »hatte die Industrie 2 700 moderne Flugzeuge und 4 300 Panzer produziert«.[37] Diesen Daten zufolge kann alles gesagt werden, nur nicht, dass die UdSSR unvorbereitet zur tragischen Konfrontation mit dem Krieg gelangt ist.

Schon vor zehn Jahren hat übrigens ein US-amerikanischer Historiker dem Mythos von Stalins Zusammenbruch und Flucht vor seiner Verantwortung gleich nach Beginn der Nazi-Invasion, einen schweren Schlag versetzt: »Wenn auch erschüttert, hat Stalin am Tag des Angriffs eine elfstündige Sitzung mit Partei-, Regierungs- und Militärverantwortlichen einberufen und in den darauffolgenden Tagen tat er das Gleiche«.[38] Aber jetzt steht uns das Register der Besucher in Stalins Büro im Kreml zur Verfügung, das Anfang der neunziger Jahre entdeckt worden ist: Daraus ergibt sich, dass der sowjetische Führer gleich in den ersten Stunden nach dem Angriff ein enges Netz von Treffen und Initiativen in die Wege leitete, um den Widerstand zu organisieren. Es sind Tage und Nächte, die von einer »aufreibenden (…) Aktivität«, die aber geordnet verläuft, gekennzeichnet sind. In jedem Fall »ist die (von Chruschtschow erzählte) Episode vollkommen erfunden«, diese »Geschichte ist falsch«.[39] In Wahrheit fällt Stalin seit dem Beginn des Unternehmens Barbarossa nicht nur die wichtigsten Entscheidungen und trifft Vorbereitungen für die Evakuierung der Bevölkerung und der Industrieanlagen aus der Frontregion, sondern er »kontrollierte alles minutiös, von der Größe und Form der Bajonette bis zu den Autoren und Schlagzeilen der Prawda-Artikel«.[40] Keine Spur von Panik oder Hysterie. Lesen wir eine Tagebucheintragung und das Zeugnis Dimitroffs: »Um 7 Uhr morgens wurde ich dringend in den Kreml beordert. – Deutschland hat die UdSSR überfallen. Der Krieg hat begonnen (…) Erstaunlich sind die Ruhe, Festigkeit und Zuversicht Stalins und aller anderen«. Noch stärker verwundert die Klarheit der Ideen. Es geht nicht nur darum, »alle unsere Kräfte zu mobilisieren«. Man muss auch den politischen Kontext definieren. »Nur die Kommunisten können die Faschisten besiegen«, indem sie dem scheinbar unwiderstehlichen Aufstieg des Dritten Reichs ein Ende setzen; man darf aber auch die wirkliche Natur des Konflikts nicht aus den Augen verlieren: »Die (kommunistischen) Parteien vor Ort entfalten eine Bewegung zur Verteidigung der UdSSR. Die Frage der sozialistischen Revolution ist nicht aufzuwerfen. Das sowjetische Volk führt einen vaterländischen Krieg gegen das faschistische Deutschland. Es geht um die Zerschlagung des Faschismus, der eine Reihe von Völkern versklavt hat und danach strebt, auch andere Völker zu versklaven«.[41]

Die politische Strategie des Großen Vaterländischen Krieges zeichnete sich schon präzis ab. Schon einige Monate zuvor hatte Stalin betont, dass auf den Expansionismus des Dritten Reichs »unter dem Banner der Unterwerfung, der Unterdrückung anderer Völker«, diese mit gerechten Kriegen des Widerstands und der nationalen Befreiung antworteten (vgl. unten, Kap. 5, § 3). Denjenigen, die schulmeisterlich Patriotismus und Internationalismus einander entgegenstellten, hatte im Übrigen erneut die Kommunistische Internationale schon vor der Hitleraggression eine Antwort erteilt, wie aus der Tagebucheintragung Dimitroffs vom 12. Mai 1941 hervorgeht:

Man muss die Idee einer Verbindung von gesundem und richtig verstandenem Nationalismus mit dem proletarischen Internationalismus entwickeln. Der proletarische Internationalismus muß sich auf diesen Nationalismus in den einzelnen Staaten stützen, (weil es) zwischen einem richtig verstandenen Nationalismus und dem proletarischen Internationalismus keinen Widerspruch gibt und geben kann. Ein heimatloser Kosmopolitismus, der nationale Gefühle, die Idee der Heimat negiert, hat mit dem proletarischen Internationalismus nichts gemein.[42]

Weit entfernt von einer improvisierten und verzweifelten Reaktion auf die Lage, die mit der Entfesselung des Unternehmens Barbarossa entstanden war, brachte die Strategie des Großen Vaterländischen Krieges eine theoretische Orientierung zum Ausdruck, die schon seit längerer Zeit herangereift und allgemeinen Charakters war: Der Internationalismus und das internationale Anliegen der Emanzipation der Völker schritten konkret auf der Welle der nationalen Befreiungskriege voran, die notwendig wurden, weil Hitler den Anspruch erhob, die koloniale Tradition mit der Unterwerfung und Versklavung in erster Linie der angeblich sklavischen Rassen Osteuropas wieder aufzunehmen und zu radikalisieren. Dies sind die Leitgedanken, die in den Reden und Erklärungen Stalins während des Krieges wieder aufgenommen wurden: sie bildeten »wesentliche Meilensteine in der Klarstellung der sowjetischen militärischen Strategie und ihrer politischen Ziele und spielten eine wichtige Rolle für die Stärkung der Volksmoral«;[43] und sie nahmen auch eine internationale Bedeutung an, wie Goebbels irritiert hinsichtlich des Rundfunkappells vom 3. Juli 1941 anmerkte: »Er findet in England und USA enorme Bewunderung«.[44]

3. Eine Reihe von Desinformations-Kampagnen und das Unternehmen Barbarossa

Sogar für das Gebiet der militärischen Führung im eigentlichen Sinn hat die Geheimrede jede Glaubwürdigkeit eingebüßt. Chruschtschow zu folge stürzte sich Stalin, ungeachtet der »Warnungen«, die ihm über das unmittelbare Bevorstehen der Invasion zukamen, verantwortungslos in die Gefahr. Was soll man zu dieser Anklage sagen? Zunächst können sich auch Informationen aus einem befreundeten Land als falsch er weisen: Am 17. Juni 1942 warnte z. B. Franklin Delano Roosevelt Stalin vor einem bevorstehenden japanischen Angriff, der dann nicht stattgefunden hat.[45] Vor allem am Vorabend des Hitlerüberfalls ist die UdSSR gezwungen, sich mit ungeheuren Desinformations- und Ablenkungsmanövern auseinanderzusetzen. Das Dritte Reich bemühte sich massiv, glauben zu machen, dass die Konzentration von Truppen im Osten nur darauf ziele, den unmittelbar bevorstehenden Sprung über den Ärmelkanal zu tarnen, was nach der Eroberung der Insel Kreta umso glaubhafter erschien. »Der ganz Staats- und Militärapparat wird mobil gemacht«, schrieb Goebbels zufrieden in sein Tagebuch (31. Mai 1941), um die »erste große Tarnungswelle« des Unternehmens Barbarossa zu inszenieren. »Also los! 14 Divisionen werden nach dem Westen transportiert«;[46] außerdem wurde bei den Truppen an der Westfront der Ausnahmezustand ausgerufen.[47] Etwa zwei Wochen später veröffentlichte die Berliner Ausgabe des ›Völkischen Beobachters‹ einen Artikel, in dem die Besetzung Kretas als Vorbild für die geplante Abrechnung mit England hingestellt wurde: Nur wenige Stunden später wurde die Zeitung beschlagnahmt, um den Eindruck zu erwecken, es wäre ungeschickt, ein ungeheuer wichtiges Geheimnis zu verraten. Drei Tage später (14. Juni) schrieb Goebbels in sein Tagebuch: »Die englischen Sender erklären schon, unser Aufmarsch gegen Rußland sei lauter Bluff, hinter dem wir unsere Invasionsvorbereitungen (für England) zu verstecken suchten«.[48] Dieser Desinformationskampagne fügte Deutschland eine weitere hin zu: Es wurden Stimmen in Umlauf gebracht, wonach der militärische Aufmarsch im Osten dazu diene, eventuell auch mit einem Ultimatum, Druck auf die UdSSR auszuüben, damit Stalin akzeptierte, die Klauseln des deutsch-sowjetischen Pakts neu zu definieren, und sich verpflichtete, größere Mengen von Getreide, Erdöl und Kohle zu exportieren, die das Dritte Reich brauchte, das in einen Krieg verwickelt war, der nicht zu einem Ende zu kommen schien. Man wollte also glauben machen, dass die Krise mit neuen Verhandlungen und mit ein paar zusätzlichen Zugeständnissen seitens Moskaus zu lösen war.[49] Zu diesem Schluss gelangten in Großbritannien die Nachrichtendienste des Heeres und die militärische Führung, die noch am 22. Mai dem Kriegskabinett mitteilten: »Hitler hat noch nicht entschieden, ob er seine Ziele (in Richtung UdSSR) mit der Überzeugung oder mit Waffengewalt erreichen will«.[50] Am 14. Juni notierte Goebbels zufrieden in sein Tagebuch: »Im All gemeinen glaubt man noch an einen Bluff oder Erpressungsversuch«.[51]

Man sollte auch nicht die Desinformationskampagne vernachlässigen, die auf der Gegenseite inszeniert wurde und schon zwei Jahre zuvor begonnen hatte: im November 1939 veröffentlichte die französische Presse eine Phantom-Rede (vor dem Politbüro am 19. August des gleichen Jahres), in der Stalin einen Plan erläutert hätte, um Europa zu schwächen: Dort einen Bruderkrieg anzufachen und Europa daraufhin zu sowjetisieren. Es handelte sich zweifellos um eine Fälschung, die darauf abzielte, den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt auffliegen zu lassen und die expansionistische Wut des Dritten Reichs nach Osten zu lenken.[52] Einer verbreiteten historiographischen Legende zufolge, hätte die Londoner Regierung am Vorabend des Hitlerüberfalls wiederholt und uneigennützig Stalin gewarnt, der aber, als echter Diktator, nur seinem Berliner Kollegen vertraut hätte. Informierte Großbritannien einerseits Moskau über das Unternehmen Barbarossa, so verbreitete es andererseits Gerüchte über einen bevorstehenden Angriff der UdSSR gegen Deutschland oder die von ihm besetzten Gebiete.[53] Das Interesse, den deutsch-sowjetischen Konflikt als unvermeidlich hinzustellen und ihn so schnell wie möglich ausbrechen zu lassen, ist offenkundig und zu verstehen.

Später kam es zu dem mysteriösen Flug von Rudolf Heß nach England, eindeutig von der Hoffnung beseelt, die Einheit des Westens im Kampf gegen den Bolschewismus wiederherzustellen, um damit dem in Mein Kampf formulierten Programm des Bündnisses und der Solidarität der germanischen Völker bei ihrer zivilisatorischen Mission Konkretheit zu verleihen. Die sowjetischen Agenten im Ausland informierten den Kreml darüber, dass der Stellvertreter Hitlers seine Initiative in vollem Einverständnis mit dem Führer ergriffen habe.[54] Bis zuletzt haben übrigens nicht unbedeutende Persönlichkeiten des Dritten Reichs die These vertreten, dass Hitler Heß zu seinem Tun ermutigt habe. Dieser verspürte jedenfalls das Bedürfnis, sogleich den Außenminister Joachim von Ribbentrop nach Rom zu schicken, um bei Mussolini jeden Verdacht zu zerstreuen, dass Deutschland einen Separatfrieden mit Großbritannien schließen wolle.[55] Noch größer war natürlich die Sorge, die dieser Coup in Moskau hervorrief und das umso mehr, als die Haltung der britischen Regierung sie noch verstärkte: die nutzte die »Gefangennahme Heß’« nicht dazu aus, um sie »propagandistisch maximal ›auszuschlachten‹, was Hitler und Goebbels erwarteten und zugleich fürchteten«; das Verhör von Heß wurde vielmehr einem Befürworter der Appeasement-Politik anvertraut – wie der Botschafter Iwan Maiski Stalin aus London berichtet. Während die Geheimdienste Ihrer Majestät die Tür für eine anglo-sowjetische Wiederannäherung offen lassen, bemühen sie sich darum, die schon grassierenden Stimmen eines bevorstehenden Separatfriedens zwischen London und Berlin weiter zu verbreiten; all das, um den Druck auf die Sowjetunion zu erhöhen (die vielleicht versuchen würde, der befürchteten Verfestigung des Bündnisses zwischen Großbritannien und dem Dritten Reich mit einem Präventivangriff der Roten Armee gegen die Wehrmacht zuvorzukommen) und jedenfalls die Vertragsfähigkeit Englands zu erhöhen.[56] Die Vorsicht und das Misstrauen des Kremls sind gut zu verstehen: Es lauerte die Gefahr einer Neuauflage des Münchner Abkommens auf breiterer und weitaus tragischerer Ebene. Man kann außerdem annehmen, dass die zweite vom Dritten Reich inszenierte Desinformationskampagne eine Rolle gespielt hat. Zumindest nach der in den Archiven der KPdSU aufgefundenen Abschrift zu schließen, hielt Stalin bei der Verabschiedung der Absolventen der Militärakademie am 5. Mai 1941 die kurzfristige Verwicklung der UdSSR in den Konflikt zwar für abgemacht, unterstrich aber, dass historisch gesehen Deutschland den Sieg davongetragen habe, wenn es nur an einer Front kämpfte, während es geschlagen worden sei, wenn es gezwungen war, gleichzeitig im Osten und im Westen zu kämpfen.[57] Natürlich hätte Stalin den Dünkel unter bewertet haben können, aus dem heraus Hitler bereit war, die UdSSR anzugreifen. Andererseits wusste er nur zu gut, dass eine überstürzte Gesamtmobilmachung dem Dritten Reich den casus belli auf einem Silberteller serviert hätte, wie es beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschehen war. Eines steht allerdings fest: Auch wenn sich der sowjetische Führer mit Vorsicht in einer recht verwickelten Situation bewegt, geht er zu einer »Beschleunigung der Kriegsvorbereitungen« über. In der Tat »werden zwischen Mai und Juni 800.000 Reservisten einberufen, Mitte Mai werden 28 Divisionen in den westlichen Wehrbezirken der Sowjetunion stationiert«, während die Arbeiten an den Befestigungsanlagen der Grenzen und an der Tarnung der empfindlichsten militärischen Ziele rasch voranschreiten. »In der Nacht vom 21. zum 22. Juni wird diese aus gedehnte Streitkraft in Alarmzustand versetzt und dazu aufgerufen, sich auf einen Überraschungsangriff seitens der Deutschen vorzubereiten«.[58]

Um Stalin in schlechten Ruf zu bringen, besteht Chruschtschow auf den spektakulären anfänglichen Siegen des Invasionsheeres, geht aber über die Vorhersagen hinweg, die seinerzeit im Westen formuliert worden waren. Nach der Zerstückelung der Tschechoslowakei und dem Einmarsch der Wehrmacht in Prag, hatte Lord Halifax die Idee einer Wiederannäherung zwischen England und der UdSSR erneut mit folgendem Argument zurückgewiesen: Es habe keinen Sinn, sich mit einem Land zu verbünden, dessen Streitkräfte »bedeutungslos« seien. Am Vorabend des Unternehmens Barbarossa bzw. zum Zeitpunkt seiner Entfesselung hatten die britischen Geheimdienste kalkuliert, dass die Sowjetunion »in 8-10 Wochen liquidiert« würde; die Berater des US Außenministers (Henry L. Stimson) hatten am 23. Juni vorausgesehen, dass alles innerhalb von ein bis drei Monaten abgeschlossen wäre.[59] Das blitzartige tiefe Vordringen der Wehrmacht – bemerkt unserer Tage ein berühmter Militärhistoriker – sei leicht mit der Geographie zu erklären:

Die Ausdehnung der Front – 1.800 Meilen – und die geringen natürlichen Hindernisse boten dem Angreifer riesige Vorteile für Eindringen und Manöver. Trotz der kolossalen Dimensionen der Roten Armee war das Verhältnis zwischen ihren Streitkräften und dem Raum so ungünstig, dass die motorisierten deutschen Einheiten leicht die Gelegenheiten für indirekte Manöver im Rücken ihres Gegners finden konnten. Außerdem boten die weit auseinander liegenden Städte, wo Straßen und Bahnlinien zusammentrafen, dem Angreifer die Möglichkeit, alternative Ziele anzusteuern und den Feind in die schwierige Lage zu bringen, die wirkliche Marschrichtung erraten und ein Dilemma nach dem anderen lösen zu müssen.[60]

4. Das Scheitern des Blitzkriegs zeichnet sich schnell ab

Man darf sich nicht vom Schein trügen lassen: Bei genauerem Hin sehen beginnt der Plan des Dritten Reichs, im Osten den im Westen erzielten triumphalen Blitzkrieg zu wiederholen, sich schon in den ersten Wochen des gigantischen Zusammenstoßes als problematisch zu er weisen.[61] Diesbezüglich sind die Tagebücher von Joseph Goebbels auf schlussreich. Am unmittelbaren Vorabend der Aggression unterstreicht er die Unbesiegbarkeit des bevorstehenden deutschen Angriffs, »wohl der gewaltigste, den die Geschichte je gesehen hat«; niemand könne ernsthaft den »größten Aufmarsch der Weltgeschichte« aufhalten.[62] Das bedeute: »Wir stehen vor einem Siegeszug ohnegleichen (…). Ich schätze die Kampfkraft der Russen sehr niedrig ein, noch niedriger als der Führer. Wenn eine Aktion sicher war und ist, dann diese«.[63] In Wahrheit ist Hitlers Dünkel nicht geringer, denn er hatte sich einige Monate zuvor einem bulgarischen Diplomaten gegenüber hinsichtlich der sowjetischen Armee so ausgedrückt: Sie sei »nicht mehr als ein Witz«.[64] Doch trotz allem erleben die Invasoren, von Anfang an unangenehme Überraschungen: »Am 25. Juni erweist sich, anlässlich der ersten Luftangriffe auf Moskau, die Luftabwehr als so wirksam, dass die Luftwaffe von da an gezwungen ist, sich auf nächtliche und reduzierte Angriffe zu beschränken«.[65] Zehn Tage Krieg genügen und schon beginnen die Gewissheiten des Vorabends ins Wanken zu geraten. Am 2. Juli schreibt Goebbels in sein Tagebuch: »Insgesamt wird sehr hart und erbittert gekämpft. Von einem Spaziergang kann keine Rede sein. Das rote Regime hat das Volk mobilgemacht«.[66] Die Ereignisse über stürzen sich und die Stimmung der Naziführer ändert sich radikal, wie stets aus Goebbels’ Tagebuch hervorgeht:

24. Juli 1941:

Wir dürfen uns keinem Zweifel hingeben über die Tatsache, dass das bolschewistische Regime, das fast ein Vierteljahrhundert besteht, tiefe Spuren in den Völkern der Sowjetunion hinterlassen hat (…). Es wäre also richtig, wenn wir das deutsche Volk ganz eindeutig auf die Härte des im Osten sich abspielenden Kampfes ins Bild setzten. Man muß der Nation sagen, dass diese Operation sehr schwierig ist, dass wir sie aber überstehen können und auch überstehen werden.[67]

1. August 1941:

Im Führerhauptquartier (…) gibt man auch offen zu, dass man sich in der Einschätzung der sowjetischen Kampfkraft etwas geirrt hat. Die Bolschewisten zeigen doch stärkeren Widerstand, als wir vermuteten, und vor allem die materiellen Mittel, die ihnen dabei zur Verfügung stehen, sind größer, als wir angenommen haben.[68]

19. August 1941:

Der Führer ist innerlich über sich sehr ungehalten, dass er sich durch die Berichte aus der Sowjetunion so über das Potential der Bolschewisten hat täuschen lassen. Vor allem seine Unterschätzung der feindlichen Panzer- und Luftwaffe hat uns in unseren militärischen Operationen außerordentlich viel zu schaffen gemacht. Er hat darunter sehr gelitten. Es handelte sich um eine schwere Krise (…). Die bisherigen Feldzüge waren dem gegenüber fast Spaziergänge (…). Um den Westen macht der Führer sich keine Sorgen (…). Wir haben in unserer deutschen Gründlichkeit und Objektivität den Gegner immer überschätzt mit Ausnahme in diesem Falle die Bolschewisten.[69]

16. September 1941:

Wir haben eben das bolschewistische Potential ganz falsch eingeschätzt.[70]

Die Strategieforscher heben die unvorhergesehenen Schwierigkeiten hervor, auf die eine gewaltige, erprobte und vom Mythos der Unbesiegbarkeit umgebene Kriegsmaschine in der Sowjetunion stößt.[71] »Die – bislang in der Forschung weitgehend im ›Schatten‹ an derer Operationen gebliebene – Schlacht von Smolensk in der zweiten Hälfte 1941 (ist) besonders bedeutungsvoll für den Ausgang des Ostkrieges«.[72] Die Beobachtung stammt von einem berühmten deutschen Historiker, der daraufhin die beredten Tagebucheintragungen General Fedor von Bocks zitiert, die dieser am 20. und am 26. Juli geschrieben hatte:

Der Feind will Smolensk um jeden Preis wiedergewinnen und führt hierzu immer neue Kräfte heran. Die hier und da geäußerte Annahme, dass der Feind nicht planmäßig handele, steht mit den Tatsachen nicht in Einklang (…). Es stellt sich heraus, dass der Russe rund um meine weit vorgebaute Front herum einen neuen geschlossenen Aufmarsch fertigbekommen hat. An vielen Stellen versucht er, zum Angriff überzugehen. Erstaunlich für einen Gegner, der so geschlagen ist; unglaubliche Massen von Material muß er besitzen; denn die Truppe klagt auch jetzt noch über die starke Wirkung der feindlichen Artillerie.

Noch besorgter, ja sogar entschieden pessimistisch ist Admiral Wilhelm Canaris, Leiter der Gegenspionage, der in einem Gespräch mit General von Bock am 17. Juli kommentiert: »Ich sehe schwarz zu schwarz«.[73]

Das sowjetische Heer ist in den ersten Tagen und in den ersten Wochen des Angriffs keineswegs versprengt, sondern leistet einen sich »zunehmend verhärtenden Widerstand« und erweist sich als gut geführt, wie unter anderem die »Entschlossenheit Stalins« beweise, »den deutschen Vormarsch an der in seiner Sicht entscheidenden Stelle (…) zum Stehen zu bringen«. Die Resultate dieser umsichtigen militärischen Führung zeigen sich auch auf diplomatischer Ebene: Gerade »unter dem Eindruck des zähen Ringens im Raume von Smolensk«, entscheidet Japan, das dort mit Beobachtern präsent ist, das Ansuchen des Dritten Reichs, am Krieg gegen die Sowjetunion teilzunehmen, zurückzuweisen.[74] Die Analyse des stramm antikommunistischen deutschen Historikers wird voll und ganz von russischen Forschern bestätigt, die sich im Kielwasser von Chruschtschows Geheimrede als Vorkämpfer des Kampfs gegen den »Stalinismus« ausgezeichnet haben: »Die Pläne des (deutschen) Blitzkriegs waren schon Mitte Juli gescheitert«.[75] In diesem Kontext erscheint die Ehrerbietung, die Churchill und F. D. Roosevelt der »herrlichen Verteidigung« des sowjetischen Heeres erweisen, als nicht nur formal.[76] Auch außerhalb der diplomatischen und Regierungskreise zeigen in Großbritannien – so informiert uns eine Tagebucheintragung von Beatrice Webb – gewöhnliche Bürger, sogar solche konservativer Ausrichtung, »lebendiges Interesse für den Mut und die erstaunliche Initiative und für die hervorragende Ausrüstung der Streitkräfte der Roten Armee, für den einzigen souveränen Staat, der in der Lage ist, der fast mythischen Macht Hitlerdeutschlands entgegenzutreten«.[77] Schon drei Wochen nach Beginn des Unternehmens Barbarossa beginnen sich in Deutschland Stimmen zu verbreiten, die die triumphalistische Version des Regimes radikal in Zweifel ziehen. Dies geht aus dem Tagebuch eines bedeutenden deutschen Intellektuellen jüdischer Herkunft hervor: Wie es scheint »hätten wir (im Osten) ungeheure Verluste, hätten die Widerstandskraft der Russen unterschätzt«, die »an Mannschaft und auch an Ausrüstung unerschöpflich seien«.[78]

Lange Zeit als Ausdruck politisch-militärischer Ahnungslosigkeit oder sogar als blindes Vertrauen auf das Dritte Reich interpretiert, er scheint jetzt das extrem vorsichtige Verhalten Stalins in den Wochen, die dem Ausbruch der Feindseligkeiten vorausgehen, in einem ganz anderen Licht: »Die Konzentration der Streitkräfte der Wehrmacht entlang der Grenze mit der UdSSR, die Verletzung des sowjetischen Luftraums und zahlreiche andere Provokationen hatten ein einziges Ziel: Die Hauptmasse der Roten Armee so nah wie möglich an die Grenze zu locken. Hitler wollte den Krieg in einer einzigen gigantischen Schlacht gewinnen«. Von der Falle fühlen sich sogar tüchtige Generale angezogen, die in Voraussicht des Einfalls der Feinde auf eine massive Truppenverlagerung an die Grenze dringen: »Stalin wies diese Forderung kategorisch zurück und bestand auf der Notwendigkeit, breite Reserven in beträchtlicher Distanz von der Frontlinie zu stationieren«. Später, als er die strategischen Pläne der Organisatoren des Unternehmens Barbarossa erkennen konnte, hat Marschall Georgi K. Schukow die Klugheit der Linie Stalins anerkannt: »Hitlers Kommando rechnete auf eine Verlagerung der Hauptmasse unserer Streitkräfte an die Grenze mit dem Vorhaben, sie einzukreisen und zu zerstören«.[79]

Tatsächlich merkte der Führer in den Monaten, die der Invasion der UdSSR vorausgingen, im Gespräch mit seinen Generalen an: »Problem des russischen Raumes: Unendliche Weite des Raumes macht Konzentration auf entscheidende Punkte notwendig«.[80] Später, als das Unternehmen Barbarossa schon begonnen hatte, führte er bei einem Tischgespräch seinen Gedankengang noch weiter: »Es hat in der Weltgeschichte bislang nur drei Vernichtungsschlachten gegeben: Cannae, Sedan und Tannenberg. Wir können stolz darauf sein, dass zwei davon von deutschen Heeren erfochten wurden«. Doch immer mehr entgeht Deutschland die dritte und großartigste entscheidende Einkreisungs- und Vernichtungsschlacht, die Hitler ersehnt hatte. Eine Woche später ist er anzuerkennen gezwungen, dass das Unternehmen Barbarossa den Feind schwer unterschätzt hatte: »Die russische Kriegsvorbereitung muss als phantastisch bezeichnet werden«.[81] Hier scheint der Wunsch des Glücksspielers durch, das Scheitern seiner Vorhersage zu rechtfertigen. Jedoch gelangt der schon zitierte englische Militärstrategien-Spezialist zu ähnlichen Schlussfolgerungen: Der Grund für die Niederlage der Franzosen war »nicht die Quantität oder die Qualität ihres Materials, sondern ihre Militärdoktrin«; außerdem führt die zu weit vorgeschobene Aufstellung des Heeres zum Ruin, weil sie »seine strategische Flexibilität schwer beeinträchtigt«; einen ähnlichen Fehler hatte auch Polen begangen, begünstigt »vom Nationalstolz und vom übertriebenen Vertrauen der Militärs«. Nichts dergleichen geschah in der Sowjetunion.[82]

Wichtiger als die einzelnen Schlachten ist das Gesamtbild: »Dem Stalinschen System ist es gelungen, die übergroße Mehrheit der Bevölkerung und fast die Gesamtheit der Ressourcen zu mobilisieren«; »außergewöhnlich« war vor allem die »Fähigkeit der Sowjetrussen«, in einer so schwierigen Situation wie der der ersten Kriegsmonate »eine beträchtliche Anzahl von Industrien zu evakuieren und dann auf die Rüstungsproduktion umzustellen«. Ja, »zwei Tage nach der deutschen Invasion auf die Beine gestellt, gelang es dem Evakuierungs-Komitee, 1.500 große Industrieanlagen, am Ende logistisch sehr komplexer titanischer Unternehmungen nach Osten zu verlagern«.[83] Dieser Verlagerungsprozess hatte übrigens schon in den Wochen oder Monaten vor der Hitleraggression begonnen (vgl. unten, Kap. 7, § 3), und das zur weiteren Bestätigung des phantasiereichen Charakters der Chruschtschowschen Anklage.

Mehr noch. Die sowjetische Führungsgruppe hatte gewissermaßen die Modalitäten des Krieges, der sich am Horizont abzeichnete, schon zum Zeitpunkt der Industrialisierung des Landes vorausgeahnt: mit einer radikalen Wendung im Vergleich zur vorhergehenden Lage, hatte sie »einen Brennpunkt im asiatischen Russland« ausgemacht, weit entfernt und vor den voraussichtlichen Angreifern geschützt.[84] Darauf hatte Stalin wirklich wiederholt und ausdrücklich bestanden. 31. Januar 1931: Es gehe »um die Schaffung einer neuen, technisch gut ausgerüsteten Industrie im Ural, in Sibirien, in Kasachstan«. Wenige Jahre später hatte der Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag der KPdSU vom 26. Januar 1934 mit Genugtuung auf die gewaltige industrielle Entwicklung aufmerksam gemacht, die inzwischen »in Mittelasien, in Kasachstan, in der Burjat-Mongolei, in Tatarien, in Baschkirien, im Ural, in Ost- und Westsibirien, im Fernen Osten usw.« stattgefunden hat.[85] Die Implikationen von alledem waren Trotzki nicht entgangen, der einige Jahre später die Kriegsgefahren und den Vorbereitungsgrad der Sowjetunion untersuchte und die von der »Planwirtschaft« auf »militärischem« Gebiet erzielten Resultate hervorhob und daraufhin an merkte: »Die Industrialisierung der Randgebiete, besonders Sibiriens, gibt den ausgedehnten Steppen und Wäldern ganz neuen Wert«.[86] Erst jetzt gewannen die großen Räume ihre ganze Bedeutung und ließen den traditionell vom deutschen Generalstab ersehnten und vorbereiteten Blitzkrieg problematischer denn je werden.

Gerade auf dem Gebiet des Industrieapparats, der in Voraussicht des Krieges errichtet wurde, muss das Dritte Reich die bittersten Überraschungen registrieren, wie aus zwei Kommentaren Hitlers erhellt. 29. November 1941: »Wie ist es möglich, dass dieses primitive Volk in so kurzer Zeit solche technischen Leistungen vollbringen kann!«.[87] 26. August 1942: »Dass der allgemeine Lebensstandard sich gehoben hat, daran ist kein Zweifel. Hunger haben die Menschen nicht gelitten (zum Zeitpunkt der Entfesselung des Unternehmens Barbarossa). Alles in allem gesehen, muß man sagen: Die haben Fabriken hier gebaut, wo vor zwei Jahren noch unbekannte Bauerndörfer waren, Fabriken, die die Größe der Hermann-Göring-Werke haben. Sie haben Eisenbahnen, die sind gar nicht eingezeichnet auf der Karte«.[88]

Hier sollte man drei Historikern das Wort erteilen, die sich sehr voneinander unterscheiden: Einer ist Russe, und die beiden anderen kommen aus dem Westen. Der erste, der seinerzeit das Sowjetische Institut für Militärgeschichte geleitet und den militanten Antistalinismus der Jahre Gorbatschows geteilt hat, scheint von der Absicht beseelt zu sein, die Anklage von Chruschtschows Geheimrede wieder aufzunehmen und zu radikalisieren. Er sieht sich jedoch gerade von den Ergebnissen seiner eigenen Forschung gezwungen, ein ziemlich vages Urteil zu formulieren: ohne ein Spezialist und noch weniger das von der offiziellen Propaganda beschriebene Genie zu sein, habe Stalin sich schon in den Jahren vor Ausbruch des Krieges intensiv mit den Problemen der Verteidigung, der Rüstungsindustrie und der Kriegswirtschaft insgesamt beschäftigt. Auf strikt militärischem Gebiet »erlernte Stalin« versuchsweise und auch mit schweren Fehlern »durch die harte Praxis des militärischen Alltags (…) allmählich die Grundsätze der Strategie«.[89] Auf anderen Gebieten sei aber das Denken Stalins »höher entwickelt als das vieler sowjetischer Militärführer« gewesen. Auch dank der langen Praxis der Ausübung der politischen Macht, habe Stalin nie die zentrale Rolle der Kriegswirtschaft aus den Augen verloren und mit der Verlagerung der Rüstungsindustrie ins Innere des Landes dazu beigetragen, den Widerstand der UdSSR zu festigen: »Es ist kaum möglich, die Bedeutung dieser Leistung zu überschätzen«.[90] Große Aufmerksamkeit widmete der sowjetische Führer der politisch-moralischen Dimension des Krieges. Auf diesem Gebiet hatte er »ganz ungewöhnliche Ideen«, wie die »mutige und weitsichtige« Entscheidung beweise – die er trotz der Skepsis seiner Mitarbeiter getroffen hatte –, die Parade zur Feier des Jahrestags der Oktoberrevolution am 7. November 1941 im belagerten und vom Feind bedrängten Moskau abzuhalten. Zusammenfassend könne gesagt werden, dass »Stalin ein universelleres Denken an den Tag legte« als die Berufssoldaten und der Kreis seiner Mitstreiter im Allgemeinen.[91] Ein Denken – kann man hinzufügen –, das nicht einmal die kleinsten Aspekte des Lebens und der Moral der Soldaten vernachlässigte: Als man ihm meldete, dass die Soldaten keine Zigaretten mehr hatten, nahm Stalin sich, auch dank seiner Fähigkeit, »ein enormes Arbeitspensum« zu absolvieren, »auf dem Höhepunkt der Schlacht um Stalingrad die Zeit, Akaki Mgeladse, den Parteichef des Tabakanbaugebiets Abchasien, anzurufen: ›Unsere Soldaten haben nichts mehr zu rauchen! Ohne Zigaretten hält man die Front nicht aus!‹«.[92]

Bei ihrer positiven Bewertung Stalins als militärischem Führer gehen zwei westliche Autoren noch weiter. Besteht Chruschtschow auf den überwältigenden anfänglichen Erfolgen der Wehrmacht, drückt der erste der beiden hier herangezogenen Historiker denselben Tatbestandrecht anders aus: es sei nicht erstaunlich, dass »die größte Invasion der Militärgeschichte« anfängliche Erfolge erzielt habe; die Wiedereroberung der Roten Armee nach den verheerenden Schlägen der deutschen Invasion im Juni 1941 sei »die größte Kriegstat« gewesen, »die die Welt je gesehen hat«.[93] Der zweite Historiker, Professor an einer US-amerikanischen Militärakademie, spricht von Stalin als von einem »großen Strategen«, ja vom »ersten wahren Strategen des 20. Jahrhundert«, wenn man an das Verständnis für den Konflikt in der Langzeit perspektive und an die Aufmerksamkeit denke, die dieser sowohl der Etappe als auch der Front, sowohl der ökonomischen und politischen Dimension als auch der eigentlich militärischen Dimension des Krieges gewidmet hat.[94] Mit diesem Gesamturteil stimmt vollkommen auch der andere hier zitierte westliche Historiker überein, dessen Grundthese, die auf der Umschlagklappe zusammengefasst wird, in Stalin »den größten militärischen Führer des 20. Jahrhunderts« erblickt. Natürlich kann man über diese so schmeichelhaften Urteile diskutieren bzw. sie abschwächen; es bleibt aber die Tatsache, dass das von Chruschtschow skizzierte Bild, zumindest was den Krieg betrifft, jede Glaubwürdigkeit verloren hat.

Dies umso mehr, als die UdSSR sich im entscheidenden Moment auch unter einem anderen wesentlichen Gesichtspunkt als recht gut vorbereitet erweist. Erteilen wir erneut Goebbels das Wort, der die unvorhergesehenen Schwierigkeiten des Unternehmens Barbarossa nicht nur mit dem Kriegspotenzial des Gegners erklärt, sondern auch auf einen anderen Faktor hinweist:

Es war ja auch unseren Vertrauensmännern und Spionen kaum möglich, in das Innere der Sowjetunion vorzudringen. Sie konnten ja kein genaues Bild gewinnen. Die Bolschewisten sind direkt darauf ausgegangen, uns zu täuschen. Wir haben von einer ganzen Anzahl ihrer Waffen, vor allem ihrer schweren Waffen, überhaupt keine Vorstellung besessen. Ganz im Gegensatz zu Frankreich, wo wir so ziemlich alles gewußt haben und des halb auch in keiner Weise überrascht werden konnten.[95]

5. Das Fehlen von »gesundem Menschenverstand« und die »Massenumsiedlung ganzer Völker«

Stalins Buch von 1913, das ihn als Theoretiker der nationalen Frage auswies, seine Ernennung zum Volkskommissar für die Nationalitätenpolitik gleich nach der Oktoberrevolution wegen seiner diesbezüglich guten Arbeit, das hatte ihm die Anerkennung seitens so verschiedener Persönlichkeiten wie Arendt und De Gasperi eingebracht. Die Erwägungen über die nationale Frage führten zuletzt zu einer Abhandlung über die Sprachwissenschaft, die sich darum bemühte zu beweisen, dass die Sprache einer Nation, weit entfernt, in der Folge des Umsturzes der politischen Macht einer bestimmten Gesellschaftsklasse zu verschwinden, eine beachtliche Stabilität aufweist, so wie auch die Nation, die sich in dieser Sprache ausdrückt, eine beachtliche Stabilität genieße. Auch diese Abhandlung hatte dazu beigetragen, den Ruhm Stalins als Theoretiker der nationalen Frage zu festigen. Noch im Jahre 1965 wird Louis Althusser, wenn auch im Kontext einer scharfen Verurteilung, Stalin das Verdienst zuschreiben, sich dem »Wahnwitz« widersetzt zu haben, der »aus der Sprache um jeden Preis einen (ideologischen) Überbau« machen wollte: dank dieser »einfachen Seiten« – folgert der französische Philosoph – »erahnten wir, dass der Gebrauch des Klassenkriteriums auch Grenzen hatte«.[96] Die Entmythisierung-Liquidierung, um die Chruschtschow sich 1956 bemühte, konnte nicht umhin, den Theoretiker und den Politiker ins Visier zu nehmen, der der nationalen Frage eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Wenn sie »die Massenumsiedlung ganzer Völker« anprangert, urteilt die Geheimrede spitz:

Nicht nur für Marxisten-Leninisten, sondern für jeden vernünftig denken den Menschen ist es unverständlich, wie man die Verantwortung einzelner Personen oder Gruppen für feindliche Handlungen auf ganze Völker übertragen konnte, Frauen, Kinder, Alte, Kommunisten und Komsomolzen nicht ausgenommen, wie man ihnen gegenüber Massenrepressalien anwenden und sie Entbehrungen und Leiden aussetzen konnte.[97]

Zweifellos flößt die kollektive Bestrafung, der Deportation von Bevölkerungen, die geringer patriotischer Loyalität verdächtigt wer den, Schrecken ein. Weit entfernt, auf den Wahnsinn eines einzigen Individuums zu verweisen, charakterisierte diese Praxis leider zutiefst den Zweiten Dreißigjährigen Krieg: Angefangen hatte das zaristische Russland, das, obwohl mit dem liberalen Westen verbündet, im Ersten Weltkrieg »eine Welle von Deportationen« von »in Europa unbekannten Ausmaßen« erlebte. Diese Deportationen betrafen zirka eine Million Personen (vor allem jüdischer und deutscher Herkunft).[98] Von geringerem Ausmaß, aber umso bedeutsamer ist die Maßnahme, die im Zweiten Weltkrieg die Amerikaner japanischer Herkunft traf, die deportiert und in Konzentrationslager gesperrt wurden (vgl. unten, Kap. 4, § 7).

Die Vertreibung und Deportation ganzer Völker kann nicht nur zum Zweck der Beseitigung einer potenziellen fünften Kolonne, sondern auch in Funktion der Erneuerung bzw. der Neudefinition der politischen Geographie vorgenommen werden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitete sich diese Praxis weltweit, vom Nahen Osten, wo die der »Endlösung« gerade entkommenen Juden Araber und Palästinenser zur Flucht zwangen, bis nach Asien, wo die Aufteilung des Juwels des britischen Empires in Indien und Pakistan zu der »auf Weltebene größten erzwungenen Migration des Jahrhunderts« wurde.[99] Um weiterhin auf dem asiatischen Kontinent zu verbleiben, lohnt es sich, einen Blick auf eine Region zu werfen, die von einer Persönlichkeit bzw. im Namen einer Persönlichkeit (dem 14. Dalai Lama) verwaltet wird, die später den Friedensnobelpreis erhalten und zum Synonym für Gewaltlosigkeit werden soll: »Im Juli 1949 wurden alle Han, die (seit mehreren Generationen) in Lhasa ansässig waren, aus Tibet ausgewiesen«, um sowohl »der Möglichkeit der Aktivität einer ›fünften Kolonne‹ entgegenzuwirken« als auch um die demographische Zusammensetzung homogener werden zu lassen.[100]

Wir haben es mit einem Vorgehen zu tun, das nicht nur in den verschiedensten geographischen und politisch-kulturellen Gebieten praktiziert wurde, sondern das damals von sehr bedeutenden Persönlichkeiten ausdrücklich theoretisch begründet worden ist. Im Jahre 1938 erklärte David Ben Gurion, der Vater des Vaterlands in Israel: »Ich bin für die Zwangsumsiedlung (der palästinensischen Araber); ich sehe darin nichts Unmoralisches«.[101] Tatsächlich wird er sich zehn Jahre später konsequent an dieses Programm halten.

Hier sollte man aber die Aufmerksamkeit vor allem auf Mittel-Osteuropa konzentrieren, wo sich eine außerhalb Deutschlands verdrängte Tragödie ereignete, die zu den größten des 20. Jahrhunderts zählt. Insgesamt waren etwa sechzehneinhalb Millionen Deutsche gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, und zweieinhalb Millionen überlebten diese gigantische ethnische Säuberung oder besser Gegensäuberung nicht.[102] In diesem Fall ist es möglich, einen direkten Vergleich zwischen Stalin und den westlichen oder pro-westlichen Staatsmännern vorzunehmen. Welche Haltung nahmen Letztere bei dieser Gelegenheit ein? Wir untersuchen dies immer von einer Historiographie aus, die nicht im Verdacht stehen kann, der Sowjetunion gegenüber Nachsicht zu üben:

Es war die britische Regierung, die seit 1942 auf einen umfassenden Bevölkerungstransfer aus den deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland drängte (…). Am weitesten ging Unterstaatssekretär Sargent, der eine Untersuchung darüber forderte, »ob Großbritannien nicht den Transfer der Deutschen aus Ostpreußen und Oberschlesien nach Sibirien ermutigen sollte«.[103]

In seiner Rede vor dem Unterhaus am 15. Dezember 1944 erklärte Churchill seine Meinung zu der geplanten »Umsiedlung von mehreren Millionen« Deutscher wie folgt:

Soweit wir verstehen konnten, ist die Ausweisung die zufriedenstellendste und dauerhafteste Methode. Es wird keine Vermischung der Bevölkerungen mehr geben, die eine Verwirrung ohne Ende hervorruft, wie es im Fall von Elsass und Lothringen geschehen ist. Ein glatter Schnitt ist vor gesehen. Ich bin nicht beunruhigt über die Perspektive der Trennung der Bevölkerungen, so wie ich auch nicht beunruhigt bin über die ausgedehnten Umsiedlungen, die unter den modernen Bedingungen viel müheloser sind, als sie es je in der Vergangenheit waren.[104]

In die Deportationspläne willigte im Juni 1943 auch F. D. Roosevelt ein. »Etwa zur gleichen Zeit stimmte auch Stalin dem Drängen Beneschs auf Vertreibung der Sudetendeutschen aus der zu restaurierenden Tschechoslowakei zu«.[105] Ein US-amerikanischer Historiker glaubt daraus diesen Schluss ziehen zu können:

Am Ende gab es in der Frage der Ausweisung der Deutschen in der Tschechoslowakei oder im Nachkriegs-Polen praktisch keinen Unterschied zwischen kommunistischen und nicht-kommunistischen Politikern: zu diesem Thema sprachen Benesch und Gottwald, Mikolajczyk und Bierut, Stalin und Churchill alle die gleiche Sprache.[106]

Schon diese Schlussfolgerung würde genügen, die Schwarz-Weiß- Malerei der Geheimrede Chruschtschows zu widerlegen. Zumindest was die Deutschen Osteuropas anbetraf, hat in Wahrheit nicht Stalin die Initiative zur »Massenumsiedlung ganzer Völker« ergriffen; die Verantwortung dafür war nicht gleich verteilt. Das anerkennt schließlich auch der zuvor zitierte US-amerikanische Historiker. In der Tschechoslowakei gab Jan Masaryk der Überzeugung Ausdruck, dass »der Deutsche seelenlos ist und dass die Worte, die er am besten versteht, die Maschinengewehrgarbe ist«. Es handelte sich keineswegs um eine isolierte Einstellung: »Sogar die katholische Kirche ließ ihre Stimme vernehmen. Monsignore Bohumil Stašek, Domherr von Vyšehrad, erklärte: ›Nach tausend Jahren ist der Augenblick gekommen, um mit den Deutschen abzurechnen, die bösartig sind und für die das Gebot Liebe Deinen Nächsten nicht gilt‹«.[107] Unter diesen Umständen erinnert ein deutscher Zeuge: »Oft mussten wir die Russen um Hilfe gegen die Tschechen bitten, und sie halfen oft, vorausgesetzt, es handelte sich nicht darum, Hand an eine Frau zu legen«.[108] Aber es gibt noch mehr. Erteilen wir weiterhin dem US-amerikanischen Historiker das Wort: »Im ehemaligen Nazilager Theresienstadt fragten sich die Deutschen, was mit ihnen passiert wäre, wenn der lokale russische Kommandant sie nicht vor den Tschechen geschützt hätte«. Ein geheimer sowjetischer Bericht, der nach Moskau an das Zentralkomitee der KPdSU gesandt worden war, berichtete von den an die sowjetischen Truppen gerichteten flehentlichen Bitten, dazubleiben: »›Wenn die Rote Armee abzieht, sind wir verloren‹. Die Hassbezeigungen gegen die Deutschen sind offenkundig. (Die Tschechen) töten sie nicht, aber sie quälen sie, als wären sie Bestien. Sie betrachten sie als Tiere«. Tatsächlich führte – schreibt der Historiker weiter, dem ich hier folge – »die fürchterliche Behandlung durch die Tschechen zur Verzweiflung. Allein im Jahre 1946 haben nach tschechischen Statistiken 5.558 Deutsche Selbstmord begangen«.[109] Etwas Ähnliches geschah in Polen. Abschließend kann gesagt werden:

Die Deutschen fanden, dass das russische Militärpersonal viel menschlicher und verantwortungsbewusster war als die lokalen Tschechen bzw. Polen. Gelegentlich gaben die Russen den hungernden Kindern etwas zum Essen, während die Tschechen sie Hungers sterben ließen. Manch mal nahmen die russischen Truppen die erschöpften Deutschen auf den langen Märschen, um das Land zu verlassen, in ihren Fahrzeugen mit, während die Tschechen sie nur mit Verachtung oder Gleichgültigkeit betrachteten.[110]

Der US-amerikanische Historiker redet von »Tschechen« oder von »Polen« im Allgemeinen, was aber nicht ganz korrekt ist, wie aus seinem eigenen Bericht hervorgeht:

Die Frage der Vertreibung der Deutschen brachte die tschechischen Kommunisten – und die Kommunisten anderer Länder – in ernste Schwierigkeiten. Während des Krieges hatte Georgi Dimitroff in Moskau die Position der Kommunisten folgendermaßen formuliert: Die Deutschen, die für den Krieg und seine Verbrechen verantwortlich waren, mussten vor Gericht gestellt und verurteilt werden, während die deutschen Arbeiter und Bauern umerzogen werden sollten.[111]

In der Tat »haben in der Tschechoslowakei die Kommunisten, als sie im Februar 1948 an die Macht kamen, den Verfolgungen der wenigen noch verbliebenen ethnischen Minderheiten ein Ende gesetzt«.[112] Entgegen den Unterstellungen Chruschtschows waren zumindest in diesem Fall Stalin und die von ihm angeführte kommunistische Bewegung mit mehr »gesundem Menschenverstand« ausgestattet als die bürgerliche Führung West- und Osteuropas. Dies geschieht nicht von ungefähr. Erklärte F. D. Roosevelt gegen Ende des Krieges, wegen der von diesen begangenen Gräueltaten »blutdürstiger denn je gegen die Deutschen«, zu sein, und wenn er eine Zeit lang sogar mit der Idee der »Kastration« eines so perversen Volkes liebäugelte, so verhält Stalin sich ganz anders. Schon gleich nach der Entfesselung des Unternehmens Barbarossa erklärt er: Der sowjetische Widerstand könne auf die Unterstützung »aller wertvollen Menschen Deutschlands« und sogar auf das »deutsche Volk, das von den faschistischen Machthabern versklavt ist«, zählen.[113] Besonders feierlich ist die Stellungnahme vom Februar 1942:

Es wäre aber lächerlich, die Hitlerclique mit dem deutschen Volk, mit dem deutschen Staat gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, dass die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt. Die Stärke der Roten Armee besteht endlich darin, dass sie keinen Rassenhass gegen andere Völker, auch nicht gegen das deutsche Volk, hegt und hegen kann, dass sie im Geiste der Gleichberechtigung aller Völker und Rassen, im Geiste der Achtung der Rechte anderer Völker erzogen ist.[114]

Sogar ein unbeugsamer Antikommunist wie Ernst Nolte ist gezwungen zuzugeben, dass die von der Sowjetunion dem deutschen Volk gegen über eingenommene Haltung nicht jene rassistischen Töne aufweist, die manchmal bei den Westmächten feststellbar sind.[115] Um diesen Punkt abzuschließen: Der Mangel an »gesundem Menschenverstand« war unter den Führern des 20. Jahrhunderts, wenn nicht gleichmäßig verteilt, so doch recht verbreitet.

Bis jetzt habe ich mich mit den Deportationen beschäftigt, die vom Krieg und von der Kriegsgefahr bzw. von der Umgestaltung und der Neufestlegung der politischen Geographie ausgelöst worden sind. In den Vereinigten Staaten greifen indes, zumindest bis in die 1940er Jahre, die Deportationen aus den Städten um sich, die, wie die Schilder an deren Einfahrt warnen, für whites only sein wollen. Abgesehen von den Afroamerikanern sind auch die Mexikaner betroffen, die auf Grund einer Volkszählung von 1930 als Nicht-Weiße neu klassifiziert wurden: nach Mexiko deportiert wurden daher »Tausende von Arbeitern mit ihren Familien, viele Amerikaner mexikanischer Abkunft«. Die Maß nahmen der Vertreibung und Deportation aus den Städten, die »nur für Weiße« bzw. »nur für Kaukasier« sein wollen, verschonen nicht einmal die Juden.[116]

Die Geheimrede beschreibt Stalin als einen Tyrannen, dem jeder Sinn für die Realität fehle, sodass er mit seinen kollektiven Maßnahmen gegen bestimmte ethnische Gruppen ohne Zögern die Unschuldigen und sogar seine Parteigenossen treffe. Man denkt hier sogleich an die deutschen Exilanten (hauptsächlich erklärte Gegner Hitlers), die sofort nach Ausbruch des Krieges mit Deutschland allesamt in die französischen Konzentrationslager gesperrt wurden (vgl. unten, Kap. 4, § 7). Es ist aber vergebliche Mühe, im Bericht Chruschtschows den Versuch einer komparativen Analyse suchen zu wollen.

Er zielt darauf ab, zwei Motive in ihr Gegenteil zu verwandeln, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht nur in der offiziellen Propaganda, sondern auch in der internationalen Publizistik und öffentlichen Meinung verbreitet waren: der große Feldherr, der entscheidend zur Vernichtung des Dritten Reichs beigetragen hatte, verwandelt sich so in einen verheerenden Dilettanten, der sich nur mit Mühe auf dem Globus zurechtfinden kann; der hervorragende Theoretiker der nationalen Frage habe gerade auf diesem Gebiet nicht einmal den einfachsten »gesunden Menschenverstand« angewandt. Die Stalin bis dahin erwiesenen Ehren werden ausnahmslos dem Personenkult zugeschrieben, den es jetzt ein für alle Mal zu liquidieren gelte.

6. Der Personenkult in Russland von Kerenski bis Stalin

Die Brandmarkung des Personenkults ist Chruschtschows Glanznummer. In seiner Rede fehlt jedoch eine Frage, die eigentlich obligat sein sollte: Haben wir es mit der Eitelkeit und dem Narzissmus eines einzelnen politischen Führers zu tun oder mit einem Phänomen allgemeineren Charakters, das in einem bestimmten objektiven Kontext wurzelt? Es kann von Interesse sein, Bucharins Beobachtungen zu lesen, während in den USA die Vorbereitungen zur Intervention in den Ersten Weltkrieg eifrig im Gange waren:

Damit die Staatsmaschine besser für die militärischen Aufgaben vorbereitet ist, verwandelt sie sich selber in eine militärische Organisation, die ein Diktator befehligt. Dieser Diktator ist Präsident Wilson, Man hat ihm Ausnahmebefugnisse bewilligt. Er hat eine fast absolute Macht. Und man versucht, dem Volk unterwürfige Gefühle für den »großen Präsidenten« einzuimpfen, wie im alten Byzanz, wo sie ihren Monarchen vergöttlicht haben.[117]

In akuten Krisensituationen tendiert die Personalisierung der Macht dazu, sich mit der Verklärung des Führers zu verbinden, der sie inne hat. Als der siegreiche US-Präsident im Dezember 1918 in Frankreich eintraf, wurde er als Retter umjubelt, und seine 14 Punkte wurden mit der Bergpredigt verglichen.[118]

Zu denken geben vor allem die politischen Prozesse, die sich in den Vereinigten Staaten in der Zeit zwischen der großen Krise und dem Zweiten Weltkrieg abspielen. Mit dem Versprechen zur Präsidentschaft gelangt, für eine recht besorgniserregende wirtschaftlich-soziale Lage Abhilfe zu schaffen, wird F. D. Roosevelt viermal wiedergewählt (auch wenn er zu Beginn des vierten Mandats stirbt): Ein einzigartiger Fall in der Geschichte seines Landes. Abgesehen von der Dauer dieser Präsidentschaft waren auch die Erwartungen und die Hoffnungen, die sie umgaben, außergewöhnlich. Namhafte Persönlichkeiten forderten einen »nationalen Diktator« und riefen den neuen Präsidenten dazu auf, seine ganze Energie einzusetzen: »Werde ein Tyrann, ein Despot, ein wahrer Monarch. Während des Weltkriegs nahmen wir unsere Verfassung und haben sie beiseite gelegt, bis der Krieg zu Ende war«. Das Andauern des Ausnahmezustands erforderte es, sich nicht von übertriebenen gesetzlichen Skrupeln behindern zu lassen. Der neue Führer der Nation sollte eine »von der Vorsehung bestimmte Person« sein und wurde schon als solche beschrieben, und nach den Worten Kardinal O’Connells war er »ein von Gott gesandter Mensch«. Der Mann von der Straße schrieb und wandte sich an F. D. Roosevelt noch emphatischer und erklärte, auf ihn zu blicken, »fast wie man auf einen Gott blickt«, und zu hoffen, ihn einstmals »im Pantheon der Unsterblichen, neben Jesus« aufstellen zu können.[119] Dazu aufgefordert, sich als Diktator und Mann der Vorsehung zu gebärden, machte der neue Präsident schon am ersten Tag bzw. in den ersten Stunden seines Mandats ausgiebigen Gebrauch von seiner Exekutivgewalt. In seiner Antrittsbotschaft fordert er »eine ausgedehnte Macht für die Exekutive (…), so groß wie die, die mir zugestanden würde, wenn wir tatsächlich von einem fremden Feind überfallen würden«.[120] Mit dem Ausbruch der Feindseligkeiten in Europa beginnt F. D. Roosevelt, noch vor Pearl Harbour, sein Land von sich aus an der Seite Englands in den Krieg hineinzuziehen; später verfügt er mit einem souverän erlassenen Exekutivbefehl die Einsperrung aller US-amerikanischen Staatsbürger japanischer Herkunft, Frauen und Kinder inbegriffen, in Konzentrationslagern. Es ist eine Präsidentschaft, die zum einen eine verbreitete Volksverehrung genießt, zum anderen jedoch die Warnung vor der »totalitären« (totalitarian) Gefahr auslöst: dies geschieht anlässlich der fortdauernden großen Krise (als besonders der ehemalige Präsident Hoover diese Anklage vorbringt[121]) und vor allem in den Monaten vor der Intervention in den Zweiten Weltkrieg (als der Senator Burton K. Wheeler Franklin D. Roosevelt beschuldigte, eine »diktatoriale Macht« auszuüben und eine »totalitäre Regierungsform« zu fördern).[122] Zumindest nach der Sichtweise der Gegner des Präsidenten hatten Totalitarismus und Personenkult schon den Atlantik überquert.

Sicher zeigt sich das hier untersuchte Phänomen (die Personalisierung der Macht und der damit verbundene Personenkult) in der nordamerikanischen Republik, die durch den Ozean vor jedem Invasionsversuch geschützt ist und eine ganz andere politische Tradition als Russland hinter sich hat, nur in einem Anfangsstadium. Auf dieses Land gilt es, die Aufmerksamkeit zu lenken. Was geschieht zwischen dem Februar und dem Oktober 1917, d. h. vor der Machtübernahme durch die Bolschewiki? Kerenski, der sicherlich von persönlicher Eitelkeit, aber auch von dem Wunsch getrieben war, die Lage zu stabilisieren, »übernimmt die Posen Napoleons«: Er musterte die Truppen »mit dem Arm, vorne in den Uniformrock gesteckt«; im Übrigen »thronte auf dem Schreibtisch seines Büros im Kriegsministerium eine Büste des Kaisers der Franzosen«. Die Ergebnisse dieser Inszenierung lassen nicht auf sich warten: es florierten die Gedichte, die Kerenski als dem neuen Napoleon huldigten.[123] Am Vorabend der Sommeroffensive, die das russische Heer endgültig wieder aufrichten sollte, erreichte der Kerenski-Kult (in gewissen eng umschriebenen Kreisen) seinen Höhepunkt:

Überall wurde er als Held gefeiert, die Soldaten hoben ihn auf ihre Schultern, sie überschütteten ihn mit Blumen, sie warfen sich vor seine Füße. Eine englische Krankenschwester hatte Gelegenheit, der Szene von Mit gliedern der Truppe beizuwohnen, die »ihn, sein Auto und den Boden, wo er seinen Fuß aufsetzte, küssten. Viele waren auf die Knie gefallen und beteten, andere weinten.[124]

Wie man sieht, hat es keinen Sinn, mit dem Narzissmus Stalins, wie es Chruschtschow tut, die exaltierte Form zu erklären, die, von einem bestimmten Zeitpunkt an, der Personenkult in der UdSSR angenommen hatte. Als Kaganowitsch Stalin vorschlägt, die Wendung Marxismus-Leninismus durch Marxismus-Leninismus-Stalinismus zu ersetzen, antwortete der Führer, dem diese Huldigung galt, in Wahrheit: »Du möchtest den Schwanz mit dem Feuerwehrturm vergleichen«.[125] Zumindest wenn man ihn Kerenski gegenüberstellt, scheint Stalin bescheidener zu sein. Das bestätigt die von ihm eingenommene Haltung am Ende eines Krieges, der wirklich und nicht nur in der Einbildung gewonnen worden war, wie im Fall des menschewistischen Führers, der die napoleonischen Posen liebte. Gleich nach der Siegesparade wandte sich eine Gruppe von Marschällen an Molotow und Malenkow: sie schlugen vor, den Triumph im Großen Vaterländischen Krieg mit der Auszeichnung Stalins als »Held der Sowjetunion« zu feiern, aber Stalin lehnte das Angebot ab.[126] Auch anlässlich der Potsdamer Konferenz vermied der sowjetische Führer jede rhetorische Emphase: »Sowohl Churchill als auch Truman nahmen sich die Zeit, zwischen den Ruinen Berlins spazieren zu gehen; Stalin zeigte nicht dieses Interesse. Ohne Aufsehen zu erregen, kam er mit dem Zug an und befahl sogar Schukow, jeden eventuellen Plan, ihn mit einer Militärkapelle und einer Ehrenwache willkommen zu heißen, abzusagen«.[127] Vier Jahre später fand am Vorabend seines siebzigsten Geburtstags ein Gespräch statt, das es lohnt, zu zitieren:

Er (Stalin) ließ Malenkow zu sich kommen und warnte ihn: »Lassen Sie sich nur nicht in den Kopf kommen, mich dort wieder mit einem ›Stern‹ zu beglücken!« »Aber Genosse Stalin, solch ein Jubiläum. Das Volk wird nicht verstehen«. »Berufen Sie sich nicht auf das Volk. Ich habe nicht die Absicht zu streiten. Keinerlei Eigeninitiativen. Haben Sie mich verstanden?« »Selbstverständlich, Genosse Stalin, aber die Politbüromitglieder sind der Meinung…«. Stalin unterbrach Malenkow und erklärte ihm, dass das Thema beendet sei.

Natürlich kann man sagen, dass bei den hier wiedergegebenen Gelegenheiten das politische Kalkül eine mehr oder weniger große Rolle spielte (und es wäre merkwürdig, wenn es keine spielte); Tatsache ist je doch, dass die Eitelkeit nicht die Oberhand gewinnt. Noch weniger gewinnt sie die Oberhand, wenn es um vitale Entscheidungen politischen oder militärischen Charakters geht: Während des Zweiten Weltkriegs forderte Stalin seine Gesprächspartner auf, sich ohne Umschreibungen auszudrücken, er diskutierte lebhaft und stritt sogar mit Molotow, der, auch wenn er sich davor hütete, die Hierarchie infrage zu stellen, an seiner Meinung festhielt. Nach dem Zeugnis Admiral Nikolaj Kusnezows ist es so, dass der oberste Führer »jene Genossen besonders mochte, die ihren eigenen Kopf hatten und sich nicht scheuten, ihren Standpunkt unnachgiebig zu vertreten«.[128]

Daran interessiert, mit Stalin den einzigen Verantwortlichen für alle Katastrophen zu benennen, die über die UdSSR hereingebrochen waren, liquidierte Chruschtschow keineswegs den Personenkult, sondern beschränkte sich darauf, ihn in einen negativen Kult zu verwandeln. Es bleibt bei der Vorstellung: in principio erat Stalin! Auch wenn die Geheimrede das tragischste Kapitel der Geschichte der Sowjetunion (den Terror und die blutigen Säuberungen, die in großem Umfang wüteten und keineswegs die Kommunistische Partei aussparten) anspricht, hegt sie keine Zweifel: Es handle sich um einen Horror, der praktisch aus schließlich einem machtdurstigen und von einer blutgierigen Paranoia besessenen Individuum zuzuschreiben ist.

Kapitel 2: Die Bolschewiki vom ideologischen Konflikt zum Bürgerkrieg

1. Die russische Revolution und die Dialektik Saturns

Chruschtschow zufolge hat Stalin furchtbare Verbrechen an seinen eigenen Parteigenossen begangen, ist damit von der richtigen Linie des Leninismus und des Bolschewismus abgewichen und hat die Ideale des Sozialismus verraten. Doch ist es gerade der wechselseitige Vorwurf des Verrats, der die Zerrüttungen innerhalb der Führungsgruppe, der Protagonisten der Oktoberrevolution, hervorruft und vertieft und damit ganz wesentlich zu den Tragödien beiträgt, die Sowjetrussland heimsuchen. Wie lassen sich diese Zerrüttungen erklären? Die Dialektik, nach der ›Saturn seine Kinder verschlingt‹, ist sicher keine ausschließliche Charakteristik der Oktoberrevolution: Die kompakte Einheit beim Umsturz eines alten Regimes, das inzwischen der Mehrheit der Bevölkerung verhasst ist, geht in die Brüche und löst sich auf, wenn es darum geht, über die neu aufzubauende Ordnung zu entscheiden. Dies gilt auch für die englische und die amerikanische Revolution.[129] Nur hat diese Dialektik sich in Russland als besonders gewaltsam und lang andauernd erwiesen. Schon beim Zusammenbruch der zaristischen Autokratie, als die Versuche der monarchischen Restauration oder der Errichtung einer Militärdiktatur aufeinander folgten, standen im Lager derjenigen, die entschieden waren, die Rückkehr zur Vergangenheit zu vermeiden, in jedem Fall sehr schmerzliche Entscheidungen an: Sollte man sich in erster Linie für den Frieden einsetzen oder, wie die Menschewiki meinten, die Kriegsanstrengungen fortsetzen und sogar verstärken, indem man jetzt auch in Russland die Parolen des demokratischen Interventionismus lancierte?

Auch wenn sich der Sieg der Bolschewiki abzeichnete, setzte das der Dialektik Saturns sicher kein Ende, sie verschärfte sich vielmehr noch. Lenins Aufruf zur Eroberung der Macht und zur Umwandlung der Revolution im sozialistischen Sinn stellt für Kamenew und Sinowjew eine unerträgliche Abweichung vom Marxismus dar; sie informieren die Menschewiki über die Situation und ziehen sich so ihrerseits seitens der Mehrheit der Bolschewiki den Vorwurf des Verrats zu. Diese Debatte überschreitet die Grenze Russlands und sogar der kommunistischen Bewegung: vor allem die Sozialdemokraten sind entrüstet über das Auf geben der Orthodoxie, die die sozialistische Revolution in einem Land ausschloss, das noch nicht die volle kapitalistische Entwicklung durch gemacht hatte, während zum einen Karl Kautsky und zum anderen Rosa Luxemburg die Übernahme der Losung ›das Land den Bauern‹ durch Lenin als ein Verlassen des Weges des Sozialismus verurteilten.

Aber hier ist es besser, sich auf die Zerrüttungen zu konzentrieren, die innerhalb der bolschewistischen Führungsgruppe im engeren Sinne auftreten. Die von einer Verknüpfung von objektiven und subjektiven Umständen ausgelösten messianischen Erwartungen erklären die besonders verheerende Heftigkeit, die die Dialektik Saturns annimmt. Die allgemeine Bestürzung und Empörung über das entsetzliche Gemetzel, bei dem die verschiedenen im Kampf befindlichen Staaten die Gestalt blutgieriger Moloche annehmen, die entschlossen sind, Abermillionen Menschen auf dem Altar der Verteidigung des Vaterlands – in Wirklichkeit des imperialistischen Wettstreits um die Welthegemonie – zu opfern, all das befördert die Forderung nach einer völlig neuen politischen und sozialen Ordnung: Es ging darum, ein für alle Mal die Wurzeln des Horrors auszureißen, der mit 1914 angefangen hatte. Immer noch von einer Weltanschauung (die mit Marx und Engels eine Zukunft ohne nationale Grenzen, merkantile Verhältnisse, Staatsapparat und sogar ohne rechtliche Zwangsmaßnahmen zu fordern scheint) und von einem fast religiösen Verhältnis zu den Texten der Gründungsväter der kommunistischen Bewegung genährt, kann diese Forderung unbedingt nur enttäuscht werden, als der Aufbau der neuen Ordnung langsam Gestalt anzunehmen beginnt.

Das Motiv der verratenen Revolution, das schon beim Zusammenbruch der zaristischen Autokratie aufgetaucht war, begleitete, schon lange bevor es in den Mittelpunkt der Überlegungen und der Anprangerung Trotzkis gelangte, wie ein Schatten die Geschichte, die mit der Übernahme der Macht durch die Bolschewiki begonnen hatte. Die Anschuldigung oder der Verdacht des Verrats taucht bei jeder Wendung dieser besonders komplexen Revolution auf, die von den Notwendigkeiten der Regierungsgeschäfte dazu geführt wird, gewisse ursprüngliche utopistische Motive zu überdenken, und die jedenfalls gezwungen ist, ihre großen Ambitionen an der extremen Schwierigkeit der objektiven Lage zu messen.

Die erste große Herausforderung für die neue Macht war die Auflösung des Staatsapparats und die Verbreitung eines unbeugsamen Anarchismus unter den Bauern (noch diesseits jeder staatlichen und nationalen Vorstellung und damit im Wesentlichen gleichgültig gegenüber dem Drama der Städte ohne Lebensmittel), die dazu neigten, kurzlebige »Bauernrepubliken« zu gründen, und unter den Deserteuren, die inzwischen jede Disziplin ablehnten (was das Auftauchen einer »freien Republik der Deserteure« in einem Distrikt in Bessarabien bestätigte). In diesem Fall wird Trotzki als Verräter denunziert, weil er als Führer der Armee in der vordersten Reihe stand, um die zentrale Macht und sogar das Prinzip des Staates wiederherzustellen: So sehen wir die Bauern, die Deserteure (unter denen sich auch Deserteure der Roten Armee befinden), die Evakuierten den ›wahren‹ Sozialismus und die ›wahren‹ Sowjets fordern, Lenin nachtrauern (der die Revolte gegen die Staatsmacht angespornt und begünstigt hatte) und in Trotzki und in den Juden vulgäre Usurpatoren erblicken.[130] In den gleichen Kontext kann der Kronstadter Aufstand der Matrosen im Jahre 1921 eingereiht werden. Es sieht so aus, als habe sich Stalin bei dieser Angelegenheit für ein vorsichtigeres Vorgehen ausgesprochen, d. h. abzuwarten, bis die Lebensmittel und der Brennstoff in der belagerten Festung ausgingen; aber in einer Lage, in der die Gefahren des Bürgerkriegs im Inneren und der Intervention der konterrevolutionären Mächte noch nicht verschwunden waren, drängte sich schließlich die sofortige militärische Lösung auf. Und erneut wird als »Verfechter der bürokratischen Organisation«, als »Diktator« und letztendlich als Verräter des ursprünglichen revolutionären Geistes der »Gendarm«, vielmehr der »Marschall« Trotzki angeprangert. Dieser verdächtigt allerdings Sinowjew, wochenlang die später in die Revolte mündende Agitation geschürt zu haben, indem er demagogisch die Parole von der »Arbeiterdemokratie (…) wie im Jahre 1917« ausgegeben habe.[131] Wie man sieht, kennzeichnet die erste Anklage des ›Verrats‹ den Übergang, der in jeder Revolution unvermeidlich, aber in einer Revolution, die auch im Namen des Absterbens des Staates ausgebrochen war, besonders schmerzhaft ist: Vom Umsturz des alten Regimes zum Aufbau der neuen Ordnung, von der ›libertären‹ zur ›autoritären‹ Phase. Und natürlich verknüpft sich der Vorwurf oder der Verdacht des ›Verrats‹ mit persönlichen Ambitionen und dem Kampf um die Macht.

2. Das Außenministerium »schließt den Laden«

Die übertrieben patriotische Rhetorik und die zum Teil ›spontanen‹ und zum Teil geschickt angefachten nationalen Hassgefühle hatten zum Gemetzel des imperialistischen Krieges geführt. Zwingend trat das Bedürfnis auf, alledem ein Ende zu bereiten. So taucht in bestimmten Sektoren der kommunistischen Bewegung ein völlig unrealistischer Internationalismus auf, der dazu neigt, die verschiedenen nationalen Identitäten als bloßes Vorurteil abzutun. Sehen wir uns an, wie Anfang des Jahres 1918 Bucharin sich nicht nur dem Frieden von Brest-Litowsk, sondern jedem Versuch seitens der Sowjetmacht widersetzt, die Widersprüche zwischen den verschiedenen imperialistischen Mächten auszunutzen, um Abkommen bzw. Kompromisse mit der einen oder anderen dieser Mächte zu schließen: »Was machen wir hier? Wir verwandeln die Partei in einen Misthaufen (…) Wir haben immer gesagt (…) dass die russische Revolution früher oder später mit dem internationalen Kapital zusammenstoßen würde. Dieser Moment ist jetzt gekommen«.[132]

Die Enttäuschung und das Unbehagen Bucharins sind nur allzu verständlich, hatte er doch, ungefähr zwei Jahre zuvor, dem Krieg der kapitalistischen Großmächte und der verschiedenen Nationalstaaten auf Leben und Tod (bis zum letzten Blutstropfen) und der chauvinistischen Wendung der Sozialdemokratie die Perspektive einer Menschheit entgegengehalten, die, dank der »sozialen Revolution des internationalen Proletariats, das, mit der Waffe in der Hand, die Diktatur des Finanzkapitals bezwingt«, endlich vereint und verbrüdert wäre. Sind zusammen mit der Bourgeoisie auch »die sozialistischen Epigonen des Marxismus« besiegt (die die »bekannte These des Kommunistischen Manifests«, wo nach »die Proletarier keine Heimat haben«, vergessen oder verdrängt hatten), »versiegt die letzte Form der Beschränktheit der Weltanschauung des Proletariats: Seine national-staatliche Beschränktheit, sein Patriotismus«; »es kommt die Parole der Abschaffung der Staatsgrenzen und des Zusammenfließens der Völker in einer einzigen sozialistischen Familie auf«.[133]

Es handelt sich nicht um die Illusion nur einer einzelnen Persönlichkeit. Als Trotzki das Amt des Volkskommissars des Äußeren über nahm, hatte er erklärt: »Ich werde ein paar revolutionäre Appelle an die Völker der Welt richten und dann den Laden schließen«.[134] Mit dem Anbruch einer auf Weltebene auf den Ruinen des Krieges und im Kielwasser einer Weltrevolution vereinigten Menschheit, wäre das erste Ministerium, das überflüssig würde, gerade das, das normalerweise die Beziehungen zwischen den verschiedenen Staaten regelt. Wie mittelmäßig und degeneriert erschienen im Vergleich zu dieser so aufregenden Perspektive die Wirklichkeit und das politische Projekt, die die Verhandlungen von Brest-Litowsk mit dem Wiederauftauchen der staatlichen und nationalen Grenzen und sogar mit dem Wiederaufkommen der Staatsräson in den Vordergrund rückten! Nicht wenige Aktivisten und bolschewistische Führer erlebten dieses Geschehen als den Zusammenbruch, ja sogar als feiges und verräterisches Aufgeben einer ganzen Welt von Idealen und Hoffnungen. Es war sicher nicht leicht, dem Heer Wilhelm II. Widerstand zu leisten, aber vor dem deutschen Imperialismus zurückzuweichen, nur weil die russischen Bauern, die kleinlich an ihren Interessen festhielten und nichts von den Auf gaben wussten, die die Weltrevolution mit sich brachte, sich weigerten, weiter zu kämpfen: war das nicht der Beweis für die beginnende »bäuerliche Degeneration unserer Partei und der Sowjetmacht«? Ende 1924 beschrieb Bucharin das zur Zeit von Brest-Litowsk unter den »›Vollblut‹-Linkskommunisten« und in den »für den Genossen Trotzki sympathisierenden Kreisen« vorherrschende geistige Klima. Besonders habe sich der »Genosse Rjasanow« ausgezeichnet, »der damals aus der Partei austrat, weil wir, seiner Meinung nach, die revolutionäre Reinheit verloren hatten«.[135] Abgesehen von einzelnen Persönlichkeiten waren es wichtige Parteiorganisationen, die erklärten: »Im Interesse der internationalen Revolution halten wir es für zweckmäßig, es auf die Möglichkeit ankommen zu lassen, der Sowjetmacht, die jetzt rein formal wird, verlustig zugehen«. Dies sind »befremdliche und ungeheuerliche« Worte für Lenin,[136] der zu einem gewissen Zeitpunkt, des Verrats angeklagt bzw. verdächtigt, zur Zielscheibe eines wenn auch nebulösen Staatsstreichs wurde, mit dem Bucharin liebäugelte.[137]

Das ganze Prestige und die ganze Energie des großen revolutionären Führers sind zur Überwindung der Krise vonnöten. Sie wieder holt sich allerdings nach einigen Jahren. Mit der Niederlage der Mittelmächte und dem Ausbruch der Revolution in Deutschland, Österreich, Ungarn und heftiger revolutionärer Bewegungen in anderen Ländern scheint die Perspektive, von der sich die Bolschewiki in Brest-Litowsk verabschieden mussten, neue Vitalität und Aktualität zu gewinnen. In seiner Schlussrede auf dem I. Weltkongress der Kommunistischen Internationale erklärt sogar Lenin: »Der Sieg der proletarischen Revolution in der ganzen Welt ist sicher. Die Gründung der internationalen Räterepublik wird kommen«.[138] Auf die bevorstehende Niederlage des Kapitalismus auf Weltebene würde schnell der Zusammenschluss der verschiedenen Nationen und Staaten zu einem einzigen Organismus folgen: erneut war das Außenministerium dabei, überflüssig zu werden!

Der Untergang dieser Illusionen fällt mit der Krankheit und dem Tod Lenins zusammen. Die neue Krise ist besonders schwerwiegend, weil jetzt innerhalb der bolschewistischen Partei eine unbestrittene Autorität fehlt. Vom Standpunkt Trotzkis und seiner Verbündeten und Anhänger aus kann es keine Zweifel mehr geben: die Entscheidung für den »Sozialismus in einem Land« und der daraus folgende Verzicht auf die Idee der Weltrevolution waren nicht von politischem Realismus und der Einschätzung der Kräfteverhältnisse diktiert, sondern nur von bürokratischer Routine, von Opportunismus, Feigheit, letztendlich von Verrat.

Diese Anschuldigung traf vor allem Stalin, der von Anfang an der nationalen Frage besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, um den Sieg der Revolution gewiss auf internationaler Ebene, aber zuvor noch in Russland zu erreichen. Von Februar bis Oktober 1917 hatte er die von ihm angestrebte proletarische Revolution als das notwendige Instrument nicht nur zur Errichtung einer neuen Sozialordnung, sondern bereits zur Wiederherstellung der nationalen Unabhängigkeit Russlands präsentiert. Die Entente versuchte, das Land mit allen Mitteln zu zwingen, weiter zu kämpfen und sich auszubluten, und zielte gewissermaßen auf die »Verwandlung Russlands in eine Kolonie Englands, Amerikas und Frankreichs« ab; schlimmer noch, sie führte sich in Russland auf, als wäre sie in »Zentralafrika«;[139] Komplizen dieser Operation seien die Menschewiki gewesen, die sich mit ihrem Bestehen auf der Weiterführung des Krieges dem imperialistischen Diktat beugten, zum »allmählichen Ausverkauf Russlands an ausländische Kapitalisten« neigten, das Land in den »Untergang« führten und sich daher als die wahren »Verräter« der Nation erwiesen. Im Gegensatz dazu förderte die durchzuführende Revolution nicht nur die Emanzipation der Volksklassen, sondern »machte die Bahn frei für die wirkliche Befreiung Russlands«.[140]

Nach dem Oktober war die Konterrevolution, die die von der Entente unterstützten und angestachelten Weißen entfesselten, auch besiegt worden dank des Appells der Bolschewiki an das russische Volk, die Invasion der imperialistischen Mächte abzuwehren, die entschlossen waren, Russland in eine Kolonie oder Halbkolonie des Westens zu verwandeln: Auf dieser Grundlage hatten auch Offiziere adeliger Herkunft die neue Sowjetmacht unterstützt.[141] Und erneut war es besonders Stalin, der für diese Linie eintrat. Er hat wie folgt beschrieben, was im Bürgerkrieg auf dem Spiel stand:

Ein Sieg Denikins und Koltschaks würde den Verlust der Selbständigkeit Russlands, die Verwandlung Russlands in eine Melkkuh der englischen und französischen Geldsäcke bedeuten. In diesem Sinne ist die Regierung Denikin-Koltschak die volksfeindlichste, die antinationalste Regierung. In diesem Sinne ist die Sowjetregierung die einzige Volksregierung und die einzige nationale Regierung im besten Sinne des Wortes, denn sie bringt nicht nur die Befreiung der Werktätigen vom Kapital, sondern auch die Befreiung ganz Russlands vom Joch des Weltimperialismus, die Verwandlung Russlands aus einer Kolonie in ein selbständiges freies Land.[142]

Auf den Schlachtfeldern standen auf der einen Seite »der käufliche Teil des russischen Offizierkorps, der Russland vergessen, seine Ehre verloren hat und bereit ist, zu den Feinden des Russlands der Arbeiter und Bauern überzulaufen«; auf der anderen Seite der Rotarmist, der weiß, »dass er nicht für die Profite der Kapitalisten, sondern für die Befreiung Russlands kämpft«.[143] In dieser Perspektive verbanden sich sozialer und nationaler Kampf: Indem das neue Sowjetrussland die »imperialistische Einheit« (d. h. die auf die nationale Unterdrückung gegründete Einheit) durch eine solche ersetzte, die sich auf die Anerkennung des Grundsatzes der Gleichheit der Nationen gründete, würde es dem »Zerfall« des alten, zaristischen Russland ein Ende setzen; andererseits würde das neue Sowjetrussland, mit dem Anwachsen seiner »Kraft« und seines »Gewichts« zur Schwächung des Imperialismus und zur Sache des Sieges der Revolution in der Welt beitragen.[144]

Und doch hatte sich, als der Bürgerkrieg und der Kampf gegen die ausländische Intervention eine glückliche Wendung nahmen, die Illusion einer raschen Ausbreitung des Sozialismus verbreitet, und zwar im Gefolge der Siege der Roten Armee und ihres Vormarschs weit über die in Brest-Litowsk festgelegten Grenzen hinaus. Dank seines Realismus und vor allem seiner großen Sensibilität für die nationale Frage hatte Stalin auf die Gefahren hingewiesen, die sich aus dem tiefen Eindringen in polnisches Territorium ergaben:

Das Hinterland der polnischen Truppen unterscheidet sich (…) zum Vorteil Polens, bedeutend vom Hinterland Koltschaks und Denikins. Zum Unter schied vom Hinterland Koltschaks und Denikins ist das Hinterland der polnischen Truppen gleichartig und in nationaler Hinsicht geschlossen. Daher seine Einheit und Festigkeit. Die in ihm vorherrschende Stimmung, das »Heimatgefühl«, übermittelt sich durch zahlreiche Kanäle der polnischen Front und schafft in den Truppen nationale Geschlossenheit und Festigkeit.

Eine Angelegenheit ist es also, in Russland einen auch auf dem nationalen Gebiet verrufenen Feind zu besiegen, etwas anderes ist es, außer halb Russlands einem national motivierten Feind gegenüberzutreten. Daher waren die Appelle an einen »Marsch nach Warschau« und die Erklärungen, wonach man sich »nur mit einem ›roten sowjetischen Warschau‹ zufrieden geben« könne, Ausdruck leerer »Überheblichkeit und unserer Sache schädlichen Selbstzufriedenheit«.[145] Das Scheitern des Versuchs, den Sozialismus nach Polen zu exportieren, das doch bis vor kurzer Zeit Teil des Zarenreichs gewesen war, hatte Stalin in seinen Überzeugungen bestärkt. Im Jahre 1929 ruft er dazu auf, von einem, von den Vorkämpfern der Oktoberrevolution weitgehend unvermuteten Phänomen Kenntnis zu nehmen: »Kolossal groß ist die Stabilität der Nationen«.[146] Sie schienen dazu ausersehen, über eine lange historische Zeit eine lebendige Kraft zu sein. Das bedeutet, dass die Menschheit über eine lange historische Epoche hinweg weiterhin nicht nur in verschiedene Gesellschaftssysteme, sondern auch in verschiedene sprachliche, kulturelle, nationale Identitäten aufgeteilt bleibt. Welches Verhältnis würde sich zwischen ihnen entwickeln? Im Jahre 1936 erklärt Stalin in einem Interview mit Roy Howard (von der ›Times‹):

Export der Revolution – das ist Unsinn. Jedes Land führt selbst seine Revolution durch, wenn es will, wenn es aber nicht will, so wird es keine Revolution geben. Unser Land zum Beispiel wollte die Revolution durch führen und hat sie durchgeführt.

Entrüstet kommentiert Trotzki:

Wohlgemerkt, wir zitieren wörtlich. Von der Theorie des Sozialismus in einem Lande führt ein ganz natürlicher Übergang zur Theorie der Revolution in einem Lande (…). Wir proklamierten mehr als einmal die Pflicht des Proletariats im Lande der siegreichen Revolution, den unter drückten und aufständischen Klassen zu Hilfe zu eilen, und zwar nicht nur mit Ideen, sondern wenn möglich auch mit der Waffe. Wir begnügten uns nicht mit Erklärungen. Wir halfen seinerzeit mit Waffengewalt den Arbeitern Finnlands, Lettlands, Estlands und Georgiens. Wir machten den Versuch, einem Aufstand des polnischen Proletariats durch den Marsch der Roten Armee auf Warschau beizustehen.[147]

Nach dem Dahinschwinden der Perspektive einer baldigen Errichtung der »internationalen Räterepublik« mit der entsprechenden Auflösung der staatlichen und nationalen Grenzen brachte Stalin das Prinzip der friedlichen Koexistenz zwischen Ländern mit unterschiedlicher Sozialordnung zur Geltung. Doch dieses neue Prinzip, das gerade das Ergebnis eines Lernprozesses war und jedenfalls der Sowjetunion das Recht auf Unabhängigkeit in einer feindseligen und militärisch stärkeren Welt gewährleistete, erschien Trotzki als Verrat des proletarischen Internationalismus, als Abfall von der Pflicht der gegenseitigen aktiven Solidarität unter den Unterdrückten und Ausgebeuteten der ganzen Welt. Unermüdlich polemisierte er gegen die Umwandlung der ursprünglichen »internationalistisch-revolutionären« in eine »national-konservative« Politik, gegen die »national-pazifistische Außenpolitik der sowjetischen Regierung«, gegen das Vergessen des Prinzips, demzufolge der einzelne Arbeiterstaat nur als »Brückenkopf der Weltrevolution« fungieren dürfe.[148] Wie der friedliche Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus nicht denkbar ist, »so kann auch ein sozialistischer Staat nicht friedlich in das kapitalistische Weltsystem hineinwachsen«. Dieser Überzeugung verleiht Trotzki noch im Jahre 1940 Ausdruck: Es wäre besser gewesen, den Krieg gegen Finnland nicht zu beginnen, aber wenn er schon begonnen wurde, »dann hätte er bis zu Ende, d. h. bis zur Sowjetisierung Finnlands geführt werden müssen«.[149]

3. Der Untergang der »Geldwirtschaft« und der »Kaufmannsmoral«

Die Dialektik Saturns zeigt sich auf zahlreichen anderen Gebieten des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Wie musste im Inneren die Gleichheit verstanden werden, die das aus der Oktoberrevolution her vorgegangene Regime realisieren sollte? Der Krieg und die Not hatten zu einem ›Kommunismus‹ geführt, der auf der mehr oder weniger egalitären Verteilung recht armseliger Lebensmittelrationen gründete. Im Vergleich zu dieser Praxis und zur Ideologie, die sich auf dieser Grundlage entwickelt hatte, war der von der Neuen Ökonomischen Politik, der NEP, hervorgerufene Schock überwältigend, denn mit ihr tauchten neue, krasse Ungleichheiten auf, die von der Duldung bestimmter Sektoren kapitalistischer Wirtschaft ermöglicht wurden. Das Gefühl des ›Verrats‹ wurde zu einem Massenphänomen, das die bolschewistische Partei besonders hart traf: »In den Jahren 1921/22 zerrissen Zehntausende von Arbeitern wortwörtlich ihr Parteibuch, weil sie von der NEP angewidert waren: sie hatten sie in Neue Erpressung des Proletariats umgetauft«.[150] Auch außerhalb Sowjetrusslands, in Frankreich, sehen wir einen Kommunisten, der sich zwar mit der Wendung abfindet, aber gleichzeitig in der ›l’Humanité‹ schreibt: »Die NEP bringt etwas von der kapitalistischen Fäulnis mit sich, die zu Zeiten des Kriegskommunismus völlig verschwunden war«.[151]

Manchmal hat man den Eindruck, dass nicht bestimmte Aspekte der ökonomischen Realität, sondern diese Realität in ihrer Gesamtheit misstrauisch bzw. mit Entrüstung betrachtet werden. Man darf die messianische Erwartung nicht aus den Augen verlieren, die jene Revolutionen kennzeichnet, die die tiefsten Schichten der Bevölkerung miteinbeziehen und nach einer lang andauernden Krise ausbrechen. Schon vor dem Sturm auf die Bastille, schon von der Einberufung der Generalstände und der Agitation des Dritten Standes an, erwacht im Frankreich des Jahres 1789 »in der Volksseele der alte Millenarismus, die ungeduldige Erwartung der Revanche der Armen und des Glücks der Gedemütigten«. In Russland war der Messianismus, begünstigt durch die zaristische Unterdrückung und vor allem vom Gräuel des Ersten Weltkriegs, schon anlässlich der Februarrevolution deutlich auf getreten: Christliche Kreise und bedeutende Sektoren der russischen Gesellschaft begrüßten sie als Osterfest und hatten von ihr eine totale Regeneration mit dem Entstehen einer eng verbundenen Gemeinschaft und mit dem Verschwinden der Trennung in Arme und Reiche und so gar des Diebstahls, der Lüge, des Glücksspiels, des Fluchens, der Trunk sucht erwartet.[152] Enttäuscht von der menschewistischen Politik und der Fortsetzung des Krieges und Gemetzels, hatte diese messianische Erwartung später nicht Wenige inspiriert, der bolschewistischen Revolution zuzustimmen. Dies ist zum Beispiel der Fall bei Pierre Pascal, einem französischen Katholiken, der später zwar vom Übergang zur NEP tief enttäuscht war, aber anfangs die Wende vom Oktober 1917 so begrüßt hatte:

Es verwirklichen sich der vierte Psalm der Sonntagsandacht und das Magnificat: Die Mächtigen vom Thron gestürzt und der Arme vom Elend er löst (…). Es gibt keine Reichen mehr: Nur Arme und sehr Arme. Das Wissen verleiht weder Privileg noch Achtung. Der ehemalige Arbeiter wird zum Direktor befördert und gibt den Ingenieuren Befehle. Höhere und niedrige Löhne gleichen sich an. Das Eigentumsrecht ist auf die persönlichen Habseligkeiten beschränkt. Der Richter ist nicht mehr verpflichtet, das Gesetz anzuwenden, wenn sein Sinn für proletarische Gerechtigkeit diesem widerspricht.[153]

Wenn man diese Passage liest, kommt einem die Behauptung von Marx in den Sinn, wonach »nichts leichter (ist), als dem christlichen Asketismus einen sozialistischen Anstrich zu geben«. Man sollte nicht glauben, dass diese Auffassung nur in erklärtermaßen religiösen Kreisen zirkuliert. Das Manifest der Kommunistischen Partei weist auch dar auf hin, dass die »ersten Bewegungen des Proletariats« oft von Forderungen unter dem Vorzeichen »eines allgemeinen Asketismus und einer rohen Gleichmacherei« gekennzeichnet sind.[154] Und gerade das geschieht im Russland, das auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs folgt. In den 1940er Jahren beschrieb ein Bolschewik wirkungsvoll das herrschende geistige Klima in der Zeit gleich nach der Oktoberrevolution, das Klima, das aus der Abscheu hervorgegangen war, die der Krieg erweckt hatte, der vom imperialistischen Streit um die Ausplünderung der Kolonien, um die Eroberung von Märkten und Rohstoffen, von der kapitalistischen Jagd nach Profit und Superprofit ausgelöst worden war:

Wir jungen Kommunisten waren alle in der Überzeugung aufgewachsen, dass das Geld ein für alle Mal aus dem Weg geschafft worden wäre (…). Wenn das Geld wieder auftauchte, wären dann nicht auch die Reichen wieder aufgetaucht? Befanden wir uns nicht auf einer schiefen Bahn, die uns zum Kapitalismus zurückbrachte.[155]

Ein geistiges Klima, das auch im Werk bedeutender westlicher Philosophen seinen Ausdruck fand. 1918 rief der junge Ernst Bloch die Sowjets dazu auf, nicht nur jeder »Privatwirtschaft«, sondern auch der »Geldwirtschaft« und damit der »alles Böseste im Menschen preiskrönenden Kaufmannsmoral« ein Ende zu setzen. Nur wenn man diese Fäulnis voll kommen abschaffte, würde es möglich sein, ein für alle Mal mit dem katastrophal zum Krieg führenden Streit um den Reichtum und die Vorherrschaft, um die Eroberung der Kolonien und der Hegemonie Schluss zu machen. Als Bloch 1923 die zweite Auflage seines Buches Geist der Utopie veröffentlichte, hielt er es für opportun, jene zuvor zitierten Passagen entschieden messianischen Gepräges wegzustreichen. Und dennoch verschwanden weder in der Sowjetunion noch anderswo der Gemütszustand und die Anschauung, die diese Gedanken inspiriert hatten.[156]

Die Vernarbung der vom Ersten Weltkrieg und von zwei Bürger kriegen (gegen die Weißen und gegen die Kulaken) aufgerissenen Wunden und der ökonomische Aufschwung schwächen zum einen die moralische Krise ab, zum anderen verschärfen sie diese wieder. Vor allem nach dem Abschluss der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Konsolidierung des neuen Regimes ist es nicht mehr möglich, auf die kapitalistischen Überreste und auf die unmittelbare Gefahr des Zusammenbruchs zu verweisen, um das Phänomen des Weiterbestehens der Unterschiede in der Bezahlung zu erklären: waren sie duldbar und wie weit durften sie gehen?

In der Phänomenologie des Geistes hebt Hegel die in der Idee der materiellen Gleichheit enthaltene Aporie hervor, die der Forderung nach »Gütergemeinschaft« zugrunde liegt: Wenn man eine Befriedigung der unterschiedlichen Bedürfnisse der Einzelnen vornimmt, so ergibt sich eindeutig eine Ungleichheit im Verhältnis zum »Anteil«, d. h. zur Verteilung der Güter; wenn man aber die Güter »gleich austeilt«, so ist es klar, dass bei den Einzelnen die Befriedigung der (jeweils unterschiedlichen) »Bedürfnisse« ungleich ausfällt. Der »Gütergemeinschaft« gelingt es jedenfalls nicht, das Versprechen der materiellen Gleichheit zu halten. Marx, der die Phänomenologie des Geistes sehr gut kannte, löst das schwierige Problem, indem er (in der Kritik des Gothaer Programms) den zwei verschiedenen Arten, die »Gleichheit« (die immer partiell und begrenzt bleibt) zu deklinieren, zwei unterschiedliche Entwicklungsstadien der postkapitalistischen Gesellschaft entsprechen lässt: Im sozialistischen Stadium bringt die Verteilung nach einem »gleichen Recht«, d. h. wo die von jedem einzelnen Individuum geleistete und jeweils unterschiedliche Arbeit unter Anwendung des gleichen Maßstabs entlohnt wird, eine offensichtliche Ungleichheit in der Verteilung und im Einkommen hervor; in diesem Sinne ist das »gleiche Recht« nichts anderes als das »Recht der Ungleichheit«. Im kommunistischen Stadium führt die gleiche Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse ebenfalls zu einer Ungleichheit in der Verteilung der Ressourcen, nur dass die enorme Entwicklung der Produktivkräfte, die die Bedürfnisse aller vollständig befriedigt, diese Ungleichheit bedeutungslos werden lässt.[157] Das heißt: Im Sozialismus ist die materielle Gleichheit nicht möglich, im Kommunismus hat sie keinen Sinn mehr. Unter Beibehaltung der Ungleichheit bei der Verteilung der Ressourcen setzt der Übergang von der ungleichen zur gleichen Befriedigung der Bedürfnisse – abgesehen von der Überwindung des Kapitalismus – die außerordentliche Entwicklung der Produktivkräfte voraus und diese kann im sozialistischen Stadium nur dank der Durchsetzung des Prinzips der Entlohnung eines jeden Individuums auf der Grundlage der von ihm geleisteten unterschiedlichen Arbeit erreicht werden. Von daher besteht Marx darauf, dass das Proletariat, wenn es einmal die Macht erobert hat, dazu aufgerufen ist, sich nicht nur für die Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch für die Entwicklung der Produktivkräfte einzusetzen.[158] Wenn Marx aber andererseits das Paris der Arbeiter rühmt, indem er es demjenigen der französischen Bourgeoisie entgegenstellt, die im Luxus schwelgt, während sie gleichzeitig eine blutige Unterdrückung organisiert, betrachtet er eine Maßnahme der Kommune als Vorbild: »Der öffentliche Dienst (musste) für Arbeiterlohn besorgt werden«.[159] In diesem Fall zeichnet sich die materielle Gleichheit und die in der Entlohnung als ein Ziel der sozialistischen Gesellschaft ab.

Es ist nicht leicht, diese beiden Perspektiven in Einklang zu bringen, und ihre Divergenz wird eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der hoffnungslosen Zerrüttung der Führungsgruppe und der bolschewistischen Partei spielen. Während sich die Sowjetmacht festigt, schenkt sie dem Problem des wirtschaftlichen Aufbaus immer mehr Aufmerksamkeit, um sowohl die soziale Basis des Konsenses zu festigen und in den Augen des russischen Volks nationale Legitimität zu erreichen, als auch »das Land des Sozialismus« gegen die Gefahren zu verteidigen, die sich am Horizont abzeichnen. Indem Stalin auf die schon bekannte Polemik des Manifests der Kommunistischen Partei gegen den »allgemeinen Asketismus« und die »rohe Gleichmacherei« verweist, besteht er darauf: »Es ist Zeit, sich darüber klarzuwerden, dass der Marxismus ein Feind der Gleichmacherei ist«. Die vom Sozialismus hervorgebrachte Gleichheit besteht in der Abschaffung der Klassenausbeutung und sicher nicht in der Forderung nach Gleichförmigkeit und Nivellierung, die ein Ideal des religiösen Primitivismus sei:

Die Gleichmacherei auf dem Gebiet der Bedürfnisse und der persönlichen Lebensweise ist ein reaktionärer Unsinn, der irgendeiner primitiven Sekte von Asketen, aber keiner marxistisch organisierten sozialistischen Gesellschaft würdig ist, denn man kann nicht verlangen, dass alle Menschen die gleichen Bedürfnisse und den gleichen Geschmack haben, dass alle Menschen in ihrer persönlichen Lebensweise sich nach ein und demselben Muster richten (…). Unter Gleichheit versteht der Marxismus nicht Gleichmacherei auf dem Gebiet der persönlichen Bedürfnisse und der Lebensweise, sondern die Aufhebung der Klassen.[160]

Der religiöse Primitivismus kann sich in dem Streben nach einem Gemeinschaftsleben ausdrücken, in dem alle individuellen Unterschiede verschwinden sollen, was aber der Entwicklung der Produktivkräfte einen schweren Schaden zufüge:

Die Idealisierung der landwirtschaftlichen Kommunen (ging) eine Zeit lang so weit, dass sie sogar in den Industriewerken und Fabriken Kommunen zu schaffen versuchten, wo die qualifizierten und unqualifizierten Arbeiter, jeder in seinem Beruf arbeitend, den Arbeitslohn zusammenlegen und dann untereinander gleichmäßig aufteilen sollten. Es ist bekannt, welchen Schaden diese kindischen gleichmacherischen Übungen der »linken« Toren unserer Industrie zugefügt haben.[161]

Das langfristige Ziel Stalins ist sowohl auf sozialem als auch auf nationalem Gebiet recht ehrgeizig: »Unsere Sowjetgesellschaft zur wohlhabendsten Gesellschaft zu machen« und »unser Land zum wohlhabendsten Lande zu machen«; um aber dieses Resultat zu erzielen, »brauchen wir in unserem Lande eine Arbeitsproduktivität, die die Arbeitsproduktivität der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder übertrifft«,[162] was wiederum nicht nur zum Rekurs auf moralische, sondern auch auf materielle Anreize und damit zur Überwindung der Gleichmacherei führt, die der sowjetische Führer für roh und mechanisch hält.

Erneut, ja mehr denn je lässt sich der religiöse Primitivismus verspüren, der nicht nur gegenüber den Entlohnungsunterschieden, sondern vor allem gegenüber dem Reichtum als solchem misstrauisch ist: »Wenn alle wohlhabend werden (…) und es keine Armen mehr gibt, auf wen werden wir Bolschewiki uns in unserer Arbeit stützen«? So argumentieren, Stalin zufolge, die »ultralinken Toren, die die Armut als ewige Stütze des Bolschewismus (…) idealisieren«.[163] Hier denkt man so gleich an die kritischen Beobachtungen, die Hegel bezüglich des evangelischen Gebots anstellt, das dazu auffordert, den Armen zu helfen: wenn die Christen aus den Augen verlören, dass es sich um ein »bedingtes« Gebot handelt und es verabsolutierten, verabsolutierten sie am Ende auch die Armut, die allein der Norm Sinn verleihen könne, die die Armenhilfe fordert. Die Ernsthaftigkeit der Armenhilfe messe man indes am Beitrag, den man zur Überwindung der Armut schlechthin leiste.[164] Im Klima des Entsetzens über das vom Kapitalismus und vom auri sacra fames, dem verfluchten Hunger nach Gold, hervorgerufene Gemetzel reproduziert sich das religiöse Misstrauen gegen das Gold, gegen den Reichtum schlechthin und die Idealisierung des Elends oder zumindest des Mangels, die als Ausdruck geistiger Fülle und revolutionärer Strenge verstanden und erlebt werden. Und Stalin sieht sich gezwungen, einen zentralen Punkt hervorzuheben: »Es wäre eine Dummheit, anzunehmen, dass der Sozialismus auf der Basis des Elends und der Entbehrungen, auf der Basis der Einschränkung der persönlichen Bedürfnisse und der Senkung der Lebenshaltung der Menschen auf die Lebenshaltung von Armen errichtet werden könnte«. Im Gegenteil: »Der Sozialismus kann nur auf der Basis eines stürmischen Wachstums der Produktivkräfte der Gesellschaft« und »auf der Basis eines Lebens der Werktätigen in Wohlstand«, sogar »eines wohlhabenden und kulturvollen Lebens für alle Mitglieder der Gesellschaft« errichtet werden.[165] Wie das christliche Gebot der Armenhilfe ist auch das revolutionäre Gebot, das die Kommunisten dazu aufruft, sich in erster Linie mit den Aus gebeuteten und Armen zu verbinden, »bedingt« und wird nur dann wirklich ernst genommen, wenn es in seiner Bedingtheit verstanden wird.

Stalin hielt es also für notwendig, mit einem »neuen Aufschwung« des »sozialistischen Wettbewerbs« die Anstrengungen zu verstärken, um den gesellschaftlichen Reichtum entschieden zu vergrößern. Der Rekurs sowohl auf die materiellen Anreize (unter Anwendung des sozialistischen Grundsatzes der Bezahlung nach Leistung) als auch auf die moralischen Anreize (z. B. mit der Verleihung der »höchsten Auszeichnung« an die hervorragendsten Stachanowisten) sei vonnöten.[166] Anders und entgegengesetzt ist Trotzkis Orientierung: Wenn die Bürokratie sich dafür entscheidet, »Titel und Orden wiedereinzuführen«, und damit die »sozialistische Gleichheit« aufhebt, bereite sie Veränderungen auch in den »Eigentumsverhältnissen« den Weg.[167] Verwies Stalin ausdrücklich auf die Polemik des Manifests gegen einen als synonym mit »allgemeinem Asketismus« und »roher Gleichmacherei« verstandenen Sozialismus, so machte die linke Opposition bewusst oder unbewusst die im Bürgerkrieg in Frankreich enthaltene These geltend, derzufolge auch auf höchster Ebene die Führer mit »Arbeiterlöhnen« bezahlt werden soll ten. Zu Unrecht – hakte Trotzki nach – beriefen die Bürokratie und Stalin sich auf die Kritik des Gothaer Programms, um ihre Vorrechte zu rechtfertigen: »Marx wollte natürlich nicht die Schaffung einer neuen Ungleichheit rechtfertigen, sondern dachte an eine progressive eher als eine plötzliche Ausmerzung der alten Ungleichheit in den Löhnen«.[168]

Mit dieser politischen Linie (Nivellierung der Bezahlung sowohl in den Fabriken als auch im Staatsapparat) war es recht schwierig, die Entwicklung der Produktivkräfte zu fördern, und Stalin hob hervor, dass die Entlohnungsunterschiede nicht die Wiederherstellung des Kapitalismus bedeuteten: man dürfe die sozialen Unterschiede, die im neuen Regime vorhanden sind, nicht mit dem alten Antagonismus zwischen Ausbeuterklassen und ausgebeuteten Klassen verwechseln. Für Trotzki handelte es sich jedoch um einen ungeschickten Bagatellisierungsversuch: »In den Städten springt der Kontrast von Luxus und Elend allzu sehr in die Augen«. Schließlich:

Ob vom Standpunkt der stalinistischen Soziologie der Unterschied zwischen Arbeiteraristokratie und proletarischer Masse ein »grundverschiedener« oder nur ein »gewisser« ist, bleibt gleichgültig; doch gerade aus diesem Unterschied erwuchs seinerzeit die Notwendigkeit, mit der Sozialdemokratie zu brechen und die III. Internationale zu gründen.[169]

Der Marxschen Angabe zufolge sollte der Sozialismus auch den Gegensatz zwischen geistiger und Handarbeit überwinden. Und erneut stellte sich das Problem: Wie kann ein so ehrgeiziges Ziel erreicht werden? Und erneut war die bolschewistische Führung in ihrem Innern dramatisch zersplittert. Auch in diesem Fall zeichnet sich die von Stalin in den 1930er Jahren ausgearbeitete Perspektive durch ihre Umsicht aus:

Manche glauben, die Aufhebung des Gegensatzes zwischen geistiger und körperlicher Arbeit könne erreicht werden durch eine gewisse kulturelle und technische Gleichstellung der Hand- und Kopfarbeiter auf der Grundlage einer Senkung des kulturellen und technischen Niveaus der Ingenieure und Techniker, der Kopfarbeiter, auf das Niveaus der Arbeiter mittlerer Qualifikation. Das ist völlig unrichtig.[170]

Es ging indes darum, den Zugang bisher ausgeschlossener Gesellschaftsschichten zur Bildung auf allen Ebenen zu fördern. Auf der Gegenseite anerkannte Trotzki, dass es einen Prozess der »Erweiterung des wissenschaftlichen Kaders durch Neuzugänge aus den Unterschichten« gegeben habe, aber dennoch behauptete er: »Die soziale Spanne zwischen körperlicher und geistiger Arbeit ist in den letzten Jahren größer und nicht kleiner geworden«.[171] Weiterbestehen der Arbeitsteilung und Weiterbestehen der ökonomischen und sozialen Unterschiede waren die zwei Seiten derselben Medaille, d. h. der Rückkehr der kapitalistischen Ausbeutung und damit des vollen Verrats der sozialistischen Ideale:

Wenn die neue Verfassung verkündet, in der UdSSR sei »die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« erreicht, so spricht sie die Unwahrheit. Die neue soziale Schichtenbildung hat die Voraussetzungen für das Wiedererstehen der barbarischsten aller Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geschaffen, für seinen Ankauf als Sklave zur persönlichen Bedienung. Im Register der neuen Volkszählung ist die private Dienstmagd überhaupt nicht erwähnt; vermutlich soll sie in der Rubrik »Arbeiter« verschwinden. Es fehlen andererseits Fragen wie: Hat der sozialistische Bürger Dienstboten und, wenn ja, wie viele (Stubenmädchen, Köchin, Amme, Kindermädchen, Chauffeur)? Verfügt er über ein Auto zur persönlichen Benutzung? Wie groß ist seine Wohnung? U. a. m. Nichts, überhaupt nichts über die Höhe des Verdienstes! Würde man das Gesetz wieder einführen, wonach die Ausbeutung fremder Arbeitskraft den Verlust der politischen Rechte zur Folge hat, so würde sich plötzlich herausstellen, dass die Elite der herrschenden Schicht sich außerhalb der Sowjetverfassung gestellt hätte! Zum Glück ist die volle Rechtsgleichheit eingeführt… für die Dienstboten sowohl wie für die Herrschaften.[172]

Schon das Vorhandensein der sozialen Figur der »Dienstmagd« und des Dienstboten überhaupt sei nicht nur mit Ausbeutung, sondern mit der »barbarischsten aller Formen der Ausbeutung« gleichbedeutend: wie ist das Weiterbestehen oder besser das Wiederauftreten dieser Verhältnisse in der UdSSR zu erklären, wenn nicht mit dem Aufgeben einer wirklich sozialistischen Perspektive, d. h. mit Verrat?

Die lange Welle des Messianismus, schon in den utopischsten Aspekten des Marxschen Denkens enthalten, aber besorgniserregend angewachsen als Reaktion auf den Schrecken des Ersten Weltkriegs, lässt sich weiterhin verspüren. In seinem Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag der KPdSU (26. Januar 1934) verspürt Stalin das Bedürfnis, vor dem »ultralinken Geschwätz« zu warnen, »das unter eine Teil unserer Funktionäre in Umlauf ist, dass nämlich der Sowjethandel ein überholtes Stadium sei (…) dass das Geld bald abgeschafft wer den würde«. Die Leute, die so argumentierten, »verstehen (…) nicht, dass sie mit ihrem hochmütigen Verhalten zum Sowjethandel keine bolschewistischen Ansichten, sondern Ansichten von heruntergekommenen Adligen zum Ausdruck bringen, die große Ambition, aber keinerlei Munition haben«.[173] Trotzki verliert indes nicht die Gelegenheit, um das Stalin vorgeworfene frühere »ökonomische Abenteurertum« zu verurteilen, und er spottet noch dazu über die »Rehabilitierung des Rubels« und die Rückkehr zu »bürgerlichen Verteilungsmethoden«.[174] Auf jeden Fall bekräftigt er weiterhin, dass im Kommunismus mit dem Staat auch das »Geld« und jede Art von Markt zum Verschwinden bestimmt sind.[175]

4. »Nicht mehr zwischen Mein und Dein unterscheiden«: Die Auflösung der Familie

Die Oktoberrevolution war dazu aufgerufen, dem Imperialismus und dem Kapitalismus, aber auch der Unterdrückung der Frau ein Ende zu setzen. Um ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen und sozialen Leben zu ermöglichen, war es notwendig, die Frau, dank einer weitest möglich ausgedehnten Entwicklung der gesellschaftlichen Dienstleistungen vom häuslichen Eingeschlossensein und von einer Arbeitsteilung zu befreien, die sie demütigte und abstumpfte; die Kritik der traditionellen und doppelten Moral hätte dann dazu geführt, auch der Frau die sexuelle Emanzipation zuzusichern, die bis jetzt, wenn auch nur teilweise und verzerrt, dem Mann vorbehalten war. Hätte die Institution Familie nach diesen großen Umwandlungen noch einen Sinn gehabt oder war sie dazu bestimmt, zu verschwinden? Alexandra Kollontai hegt keine Zweifel: »Die Familie wird nicht mehr gebraucht«. Die komplette Freiheit, Spontaneität, »Unbeständigkeit«, die jetzt die sexuellen Beziehungen kennzeichnen sollten, habe sie inzwischen in die Krise gestürzt. Die Familie erweise sich nicht nur als hinderlich, sondern auch als überflüssig: »Die Erziehung der Kinder geht nach und nach in die Hände der Gesellschaft über«. Im Übrigen habe es keinen Sinn, sich dem Bedauern hinzugeben: Die Familie war die Hochburg der Kultivierung des Egoismus, die mit der Hingabe an das Privateigentum zusammenfiel. Schließlich: »Die sozial bewusste berufstätige Frau wird so weit gehen, nicht mehr zwischen Mein und Dein zu unterscheiden, und daher daran erinnern, dass es nur unsere Kinder, die Kinder des kommunistischen Russlands der Werktätigen gibt«. Es handelt sich um Ideen, die von der bolschewistischen Führungsspitze insgesamt scharf kritisiert werden. Besonders Trotzki weist im Jahre 1923 kluger weise darauf hin, dass eine solche Auffassung »die Verantwortlichkeit des Vaters und der Mutter für das Kind« ignoriere, auf diese Weise das Verlassen der Kinder fördere und damit eine im Moskau jener Jahre schon ziemlich verbreitete Plage noch verschlimmere.[176] Doch in der einen oder anderen Form blieben diese Ideen »in den Parteizirkeln recht populär«.[177] Noch Anfang der 1930er Jahre musste sich Kaganowitsch, ein enger Mitstreiter Stalins, mit diesen Ideen auseinandersetzen. Erteilen wir seinem Biographen das Wort:

Selbst wenn er dem Grundsatz der Frauenbefreiung vollkommen zu stimmte, zog Kaganowitsch vehement gegen die extremistischen Positionen los, die die Abschaffung der individuellen Küchen anregten und das forcierte Zusammenleben in Kommunen anstrebten. Sabsowitsch, einer der linken Planer, hatte sogar vorgeschlagen, jeden Raum des Zusammenlebens zwischen Ehemann und Ehefrau, abgesehen von einem kleinen Schlafzimmer für die Nacht, abzuschaffen. Er hatte die Idee von großen Mietskasernen für 2.000 Personen mit Gemeinschaftsbadezimmern und Toiletten lanciert, um den »Gemeinschaftsgeist« zu fördern und die Institution der bürgerlichen Familie abzuschaffen.[178]

Doch die Haltung Kaganowitschs (und Stalins) erweckte die scharfe Kritik Trotzkis, der inzwischen zum Oppositionsführer geworden war: »Vom Himmel ist der neuerstandene Familienkult nicht gefallen. Die Privilegien sind nur halb soviel wert, wenn man sie nicht den Kindern vermachen kann. Doch das Erbrecht ist vom Eigentumsrecht nicht zu trennen«.[179] Die Rettung der Familie (mit der Ablehnung einer Kommune, die sie absorbieren und auflösen sollte) verwies also auf die Verteidigung des Erb- und des Eigentumsrechts und nahm deshalb eine eindeutig konterrevolutionäre Bedeutung an. Und »welch ein Wunder der Vorsehung«, ironisiert Trotzki: Die »feierliche Rehabilitierung der Familie« finde genau zu einem Zeitpunkt statt, als auch das Geld wieder zu Ehren kommt: »Die Wiedergeburt der Familie geht Hand in Hand mit einer Aufwertung der erzieherischen Rolle des Rubels«.[180] Die Heiligung der ehelichen Treue geht mit der Heiligung des Privateigentums einher: Um es religiös auszudrücken: »Neben dem siebenten Gebot ist auch das fünfte Gebot wieder vollständig rehabilitiert, allerdings noch ohne die Berufung auf Gott«.[181]

Bei genauerem Hinsehen zeichnet sich diese Berufung allerdings schon am Horizont ab. Wenn Stalin über den Entwurf der Verfassung der UdSSR von 1936 spricht, polemisiert er gegen diejenigen, die möchten, dass »die Ausübung religiöser Kulthandlungen verboten werde« und dass den »Geistlichen (…) das Wahlrecht zu entziehen« wäre.[182] Und erneut greift Trotzki ein und verurteilt diesen unzulässigen Rückzieher gegenüber den anfänglichen Plänen endgültiger Befreiung der Gesellschaft von den Fesseln des Aberglaubens: »Heute ist es mit der Himmelstürmerei (…) vorbei. Die Bürokratie, besorgt um ihren guten Ruf, wies die jungen Gottlosen an, die Rüstung abzulegen und sich die Bücher vorzunehmen. In Bezug auf die Religion greift allmählich ein Regime ironischer Neutralität Platz. Doch das ist nur eine erste Etappe«.[183] Mit der Familie und dem Erb- und Eigentumsrecht musste unbedingt auch das Opium fürs Volk, Marxschen Angedenkens, zu rückkehren.

Auch diesem neuen Kapitel der Anklage des ›Verrats‹-Anklage liegt die Dialektik zugrunde, die wir schon kennen. Der bürgerlichen Familie mit ihren kleinlichen Interessen, ihren eingefleischten Vorurteilen und ihren moralischen Regeln ein Ende bereitend, hätte die Revolution einen Raum freigelegt, der sich ausschließlich durch Liebe, Freiheit und Spontaneität auszeichnete. Indes…

Es ist interessant festzustellen, dass schon die Idee einer rechtlichen Reglementierung der Familienverhältnisse den Protest und die Entrüstung Trotzkis hervorruft:

Die wirklich sozialistische Familie, der die Gesellschaft die Last der unerträglichen und erniedrigenden Alltagssorgen abnimmt, wird keiner Reglementierung bedürfen, und schon die Vorstellung von Abtreibungs- oder Scheidungsgesetzen wird als genauso bedrückend empfunden werden wie die Erinnerung an Freudenhäuser oder Menschenopfer.[184]

5. Die Verurteilung der »Führerpolitik« oder der »Umbruch der Macht zur Liebe«

Ganz abgesehen von der Institution Familie (und vom Erb- und Eigentumsrecht) und der Heiligung der Macht des Familienoberhaupts und des Eigentümers betrifft Trotzkis Polemik das Problem der rechtlichen Organisation der Gesellschaft insgesamt, das Problem des Staates. Es handelt sich um die zentrale Frage, in die alle zuvor untersuchten Einzelfragen einmünden: Wann und auf welche Weise beginnt der Prozess des von Marx nach der Überwindung des Kapitalismus vorgesehenen Absterbens des Staates? Das siegreiche Proletariat – behauptet Staat und Revolution am Vorabend der Oktoberrevolution – »braucht nur einen absterbenden Staat«; weil aber die neue Macht eine gigantische Welle von Verstaatlichungen in Gang bringt, kurbelt sie eine beispiellose Ausdehnung des Staatsapparats an. Indem er die Errichtung der neuen Gesellschaft vorantreibt, ist Lenin, ob er sich nun dessen bewusst ist oder nicht, dazu gezwungen, sich immer mehr vom Anarchismus (und von den von ihm selber ursprünglich vertretenen Positionen) zu distanzieren. Um das festzustellen, genügt ein Blick auf einen wichtigen Beitrag, Besser weniger, aber besser, der am 4. März 1923 in der › Prawda‹ veröffentlicht worden ist. Sogleich fällt die Neuartigkeit der Parolen auf: »Verbesserung unseres Staatsapparats«, sich ernsthaft für den »Staatsaufbau« einsetzen, »Aufbau eines wirklich neuen Apparats (…) der wirklich den Namen eines sozialistischen, eines sowjetischen usw. verdient«, die »Verwaltungsarbeit« verbessern und das alles tun, ohne Bedenken zu haben, von den »besten westeuropäischen Vorbildern« zu lernen.[185]

Wenn man aber den Staatsapparat massiv ausweitet und energisch das Problem seiner Verbesserung auf die Tagesordnung setzt: Heißt das nicht, de facto auf das Ideal des Absterbens des Staates zu verzichten? Natürlich kann die Verwirklichung dieses Ideals auf eine ferne Zukunft verschoben werden, aber wie soll in der Zwischenzeit das öffentliche Eigentum verwaltet werden, das jetzt eine enorme Ausweitung erfahren hat, und welche Formen soll die Macht in Sowjetrussland insgesamt an nehmen? Sogar in Staat und Revolution, in einem Text, der geschrieben wurde, als die Verurteilung der für das Massaker mitverantwortlichen Regime mit Repräsentativsystemen besonders scharf war und nicht anders sein konnte, können wir lesen, dass auch die hochentwickelte Demokratie nicht ohne »Vertretungskörperschaften« auskommen könne.[186] Dennoch nährt die Erwartung des Absterbens des Staates weiter hin das Misstrauen gegenüber der Vertretungsidee, und zwar gerade zu einem Zeitpunkt, als die Führer Sowjetrusslands die repräsentativen Organismen (die die Sowjets zweifellos sind) vervielfältigten und dabei nicht einmal vor einer Repräsentanz zweiten oder dritten Grades zu rückschreckten: Die niedrigeren Sowjets wählen ihre Delegierten in die höheren Sowjets. Die Polemik lässt nicht lange auf sich warten.

Das Problem der Wiederherstellung der Ordnung und der Wiederbelebung des Produktionsapparats, mit der damit verbundenen Anerkennung des Prinzips der Kompetenz, stellt sich auch in den Fabriken: So kommt es dazu, dass gleich mit dem Beginn des neuen Regimes gesellschaftliche und politische Kreise, die sich der Wendung widersetzen, die Machtübernahme der »bürgerlichen Spezialisten« bzw. einer »neuen Bourgeoisie« beklagen, und erneut nehmen sie in erster Linie Trotzki ins Visier, der damals eine eminente Rolle in der Leitung des staatlich-militärischen Apparats bekleidete.[187] Auch außerhalb Russlands verbreitete sich diese Polemik. Bezeichnend ist die Kritik, die an Gramsci geübt wird, der den neuen, sich im Land der Oktoberrevolution herausbildenden Staat, rühmt und den Bolschewiki als »einer Aristokratie von Staatsmännern« und Lenin als dem »größten Staatsmann des heutigen Europa« huldigt: es sei ihnen gelungen, dem »tiefen Abgrund des Elends, der Barbarei, der Anarchie, der Auflösung«, den »ein langer und verheerender Krieg« aufgetan hatte, ein Ende zu machen. Aber – entgegnet ein Anarchist – »diese lyrische Apologie« des Staates und der »Staatsvergötterung«, des »staatlichen, autoritären, gesetzlich parlamentarischen Sozialismus« stehe im Gegensatz zur sowjetischen Verfassung, die sich dafür einsetze, ein Regime zu errichten, in dem es »weder Aufteilung in Klassen, noch Staatsmacht mehr geben wird«.[188]

Nicht nur Milieus und Autoren erklärtermaßen anarchistischer Orientierung nehmen eine kritische Haltung ein. Auch Vertreter der internationalen kommunistischen Bewegung bringen Unzufriedenheit, Enttäuschung und klaren Dissens zum Ausdruck. Erteilen wir einem von ihnen, nämlich Pannekoek, das Wort, der sich nicht mehr mit dem politischen Handeln der Bolschewiki identifizieren kann: »Die technischen und Verwaltungsbeamten in Fabrik und Staatswesen üben eine größere Macht aus, als zum entwickelten Kommunismus paßt (…). So mußte aus den neuen Führern und Beamten eine neue Bürokratie entstehen«.[189] »Die Bürokratie«, setzt ein Jahr später die Plattform der Arbeiteropposition in Russland hinzu, »ist eine direkte Negierung der Massenaktion«; es handle sich leider um ein »Übel«, das »inzwischen in die innersten Fasern unserer Partei und der sowjetischen Institutionen eingedrungen ist«.[190]

Abgesehen von Russland betreffen diese Kritiken auch und vor allem den Westen: Sie rufen dazu auf, »dem bürgerlichen Vertretungssystem, dem Parlamentarismus« ein Ende zu setzen.[191] Mehr als die bolschewistische Diktatur ist das Prinzip der Vertretung Gegenstand der Verurteilung: Ja, »ein anderer entscheidet über euer Schicksal, das ist das Wesen der Bürokratie«.[192] Die Degeneration Sowjetrusslands beste he darin, dass eine einzelne Person eine bestimmte Stelle einnimmt: In den Fabriken folge, wie auf allen Ebenen, auf die »kollektive Führung« die »individuelle Führung«, die »ein Produkt der individualistischen Auffassung der bürgerlichen Klasse ist« und »im Wesentlichen einen unbegrenzten, isolierten freien Willen eines von der Kollektivität los gelösten Menschen« ausdrückt.[193] Inzwischen »führt die Dritte Internationale Führerpolitik« statt »Massenpolitik«.[194]

Wie man sieht, ist, was Verrat der ursprünglichen Ideen rufen lässt, nicht so sehr der Missbrauch der Macht, sondern der Rekurs auf die gewohnten Organe der Macht, die alle auf der Unterscheidung/Entgegensetzung von Regierenden und Regierten, von Führern und Massen, von Leitenden und Geleiteten und also alle auf dem Ausschluss der direkten Aktion bzw. der Massenpolitik gründen. Zwar werden auch die Sowjets nicht vom Misstrauen ausgespart, aber die dem Parlament, den Gewerkschaften, den Parteien vorbehaltene Verachtung ist explizit; gelegentlich wird die Kommunistische Partei mit eingeschlossen, die ebenfalls vom Prinzip der Vertretung und damit von der Geißel der Bürokratie befallen sei. Bei genauerem Hinsehen wird letztendlich die Macht als solche mehr noch als die Machtorgane ins Visier genommen. »Es ist der Fluch der Arbeiterbewegung, dass sie, sobald sie eine gewisse ›Macht‹ bekommen hat, diese Macht mit prinzipienlosen Mitteln zu vergrößern sucht«. Auf diese Weise höre sie auf, »rein« zu sein. So sei es mit der deutschen Sozialdemokratie geschehen, und so geschehe es jetzt mit der Dritten Internationale.[195]

In diesen Kontext kann man den jungen Ernst Bloch einreihen, der sich von der Revolution und den Sowjets nicht nur die Überwindung der Ökonomie, des Handelsgeists und sogar des Geldes, sondern auch den »Umbruch der Macht zur Liebe« erwartet.[196] Wenn auch der deutsche Philosoph diese Passagen und diese zu emphatischen Erwartungen in der zweiten Auflage seines Buches Geist der Utopie streicht und sich damit von den eindeutig messianischen Aspekten seines Denkens distanziert, so fehlt es in Sowjetrussland und auch außerhalb nicht an Kommunisten, die letzten Endes wegen des nicht stattgefundenen Wunders des »Umbruchs der Macht zur Liebe« in Entrüstung ausbrechen.

In den ersten Jahren Sowjetrusslands betraf die anti-»bürokratische« Polemik nicht so sehr Stalin, sondern vor allem Lenin und auch Trotzki, die zu den hervorragendsten »Verteidigern und Kavalieren der Bürokratie« gezählt wurden.[197] In den darauffolgenden Jahren ändert sich das Bild gründlich. Abgesehen von den Inhalten stellt die Verabschiedung der Verfassung von 1936 schon deshalb eine Wende dar, weil sie mit den Anarchovorstellungen bricht, die hartnäckig am Ideal vom Absterben des Staates festhalten und für die »das Recht Opium fürs Volk« und »die Idee der Verfassung eine bürgerliche Idee ist«.[198] Wichtig ist, mit Stalin gesagt, dass die Verfassung von 1936 »sich nicht auf die Fixierung der formalen Rechte der Staatsbürger beschränkt, sondern den Schwer punkt auf die Frage der Garantien dieser Rechte, auf die Frage der Mittel zur Verwirklichung dieser Rechte verlegt«.[199] Die »formale« Garantie scheint hier nicht irrelevant zu sein, selbst wenn sie unzureichend und nicht einmal der wesentliche Punkt ist. Zustimmend betont Stalin, dass die neue Verfassung »die Durchführung des allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrechts bei geheimer Abstimmung der Bürger« gesichert habe.[200] Aber gerade das wird von Trotzki kritisiert: In der bürgerlichen Gesellschaft diene die geheime Wahl dazu, »die Ausgebeuteten vor dem Terror der Ausbeuter zu schützen«; das Wiederauftauchen dieser Einrichtung in der Sowjetgesellschaft sei der erneute Beweis dafür, dass auch in der UdSSR das Volk sich gegen den Terror, wenn nicht einer wirklichen Ausbeuterklasse, aber in jedem Fall der Bürokratie verteidigen müsse.[201]

Diejenigen, die forderten, dass man beginnen müsse, das Problem des Absterbens des Staates in Angriff zu nehmen, ermahnte Stalin 1938, die Lehre von Marx und Engels nicht in ein Dogma und in eine leere Schulweisheit zu verwandeln; die Verspätung bei der Realisierung des Ideals sei mit der andauernden kapitalistischen Einkreisung zu erklären. Doch während Stalin die Funktionen des sozialistischen Staates aufzählte, lenkte er die Aufmerksamkeit nicht nur auf die traditionellen Aufgaben der Verteidigung gegen den Klassenfeind auf innerer und internationaler Ebene, sondern auch auf eine »dritte Funktion, und zwar die wirtschaftlich-organisatorische und kulturell-erzieherische Arbeit der Organe unseres Staates« mit dem Ziel der »Entwicklung der Keime der neuen, der sozialistischen Wirtschaft und der Umerziehung der Menschen im Geiste des Sozialismus«. Auf diesem Punkt bestand der Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag der KPdSU entschieden: »Jetzt besteht die Hauptaufgabe unseres Staates im Innern des Landes in der friedlichen wirtschaftlich-organisatorischen und kulturell erzieherischen Arbeit«. Diese »dritte Funktion« theoretisch begründet zu haben, war schon an sich eine wesentliche Neuheit. Aber Stalin ging noch weiter und erklärte: »Anstelle der Funktion der Unterdrückung erhielt der Staat die Funktion, das sozialistische Eigentum vor Dieben und Plünderern des Volksguts zu schützen«.[202]

Gewiss handelte es sich um eine ziemlich problematische, ja sogar verfälschende Erklärung: Sicher spiegelte sie nicht korrekt die Lage der UdSSR im Jahre 1939 wider, wo der Terror wütete und der Gulag sich ungeheuerlich ausbreitete. Aber hier beschäftigen wir uns mit einem an deren Punkt: Inwieweit ist die These vom Absterben des Staates gültig? »Wird bei uns der Staat auch in der Periode des Kommunismus erhalten bleiben? Ja, er wird erhalten bleiben, wenn die kapitalistische Umkreisung nicht beseitigt, wenn die Gefahr kriegerischer Überfälle von außen nicht überwunden wird«.[203] Die Verwirklichung des Kommunismus in der Sowjetunion oder in einer Reihe von Ländern hätte also zur Beendigung der ersten Funktion des sozialistischen Staates (Rettung vor der Gefahr der Konterrevolution im Innern), aber nicht der zweiten (Schutz gegen die äußere Bedrohung) geführt, die, angesichts mächtiger kapitalistischer Staaten, sogar »in der Periode des Kommunismus« weiterhin wichtig bleiben würde. Aber warum hätte auf den Zusammenbruch der kapitalistischen Einkreisung und auf das Ende der zweiten Funktion das Verschwinden auch der »dritten Funktion« folgen sollen, und das heißt der »wirtschaftlich-organisatorischen und kulturell-erzieherischen Arbeit« und des Schutzes des »sozialistischen Eigentums vor Dieben und Plünderern«? Zweifellos verrät Stalin hier Unsicherheit und Widersprüche, wahrscheinlich auch von der politischen Notwendigkeit bestimmt, sich vorsichtig auf einem gefährlichen Terrain zu bewegen, wo ihn jede kleine Abweichung von der klassischen These des Absterbens des Staates der Anklage des Verrats aussetzte.

6. Der Mord an Kirow: Verschwörung der Machthaber oder Terrorismus?

Die im Oktober 1917 an die Macht gekommene Führungsgruppe er scheint von Anfang an als zutiefst uneinig über die bedeutendsten Fragen der Innen- und der internationalen Politik. Zu Lebzeiten Lenins mit Mühe gebändigt, wird diese Zerrüttung unbeherrschbar, sobald der charismatische Führer gestorben war. Bleibt der Zusammenstoß auf den politisch-ideologischen Bereich beschränkt?

Vorbei sind die Zeiten, als man in Bezug auf den Fall Sergej M. Kirow, Führer ersten Ranges der KPdSU, der am 1. Dezember 1934 vor der Tür seines Büros in Leningrad von einem jungen Kommunisten (Leonid Nikolajew) erschossen worden ist, schreiben konnte, dass es »keine Zweifel daran gibt, dass die Ermordung von Stalin organisiert und von seinen Polizeiagenten durchgeführt worden ist«.[204] Die in der Geheimrede Chruschtschows enthaltene Version und Unterstellung hatte schon Mitte der neunziger Jahre starke Verblüffung hervorgerufen.[205] Aber jetzt stehen uns die Nachforschungen einer russischen Historikerin zur Verfügung, die auch auf Französisch in einer Reihe veröffentlicht worden sind, die von Stéphane Courtois und Nicolas Werth, d. h. von der Herausgebern des Schwarzbuchs des Kommunismus, betreut wird. Wir haben es also mit einer Arbeit zu tun, die sich mit den solidesten antistalinistischen Empfehlungen präsentiert; auch wenn sie bestreitet, dass hinter der Ermordung eine ausgedehnte Verschwörung stand, verreißt sie dennoch die in der Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU enthaltene bzw. nahegelegte Version. Chruschtschows Bericht erweise sich schon in einer Reihe von Details als recht »inexakt«; sein Autor »wusste, dass er schwergewichtige Argumente brauchte, um bei den Anhängern des ›kleinen Vaters der Völker‹ einen psychologischen Schock auszulösen«: nun gut, die »These vom Komplott Stalins gegen Kirow entsprach in bewundernswerter Weise diesem Bedürfnis«.[206]

Die wirklichen Beziehungen, was Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen dem Führer und seinem Mitstreiter betrifft, erhellt in des deutlich das Bild, das die russische Historikerin von Kirow zeichnet:

Dieser offene Mensch mochte weder die Intrige, noch die Lüge, noch den Betrug. Stalin musste diese Charakterzüge geschätzt haben, die die Grundlage ihrer Beziehungen bildeten. Dem Zeugnis seiner Zeitgenossen zufolge war Kirow wirklich in der Lage, Einwände gegen Stalin zu erheben und dessen misstrauischen Geist und seine Grobheit zu mildern. Stalin begeisterte ihn ehrlich, und er hatte Vertrauen zu ihm. Als leidenschaftlicher Fischer und Jäger, schickte er oft frischen Fisch und Wild nach Moskau. Stalin vertraute Kirow dermaßen, dass er ihn mehrmals dazu einlud, mit ihm zu saunen, eine »Ehre«, die er nur einem anderen Sterblichen, dem Chef seiner Leibwache, General Wlasik, gewährte.[207]

Bis zum Schluss kann nichts diese Beziehung stören, wie von den Nachforschungen eines weiteren russischen Historikers bestätigt wird: Aus den Dokumenten geht kein Hinweis hervor, der auf eine politische Unstimmigkeit oder eine Rivalität zwischen den beiden hinweist. Und diese These ist umso lächerlicher, weil Kirow nur ganz selten »an der Tätigkeit des höchsten Machtorgans der Partei«, am Politbüro teilnahm, um sich vielmehr auf die Verwaltung Leningrads zu konzentrieren.[208] Wenn »die Idee einer Rivalität zwischen Kirow und Stalin sich auf nichts gründet«,[209] gibt allerdings die Reaktion Trotzkis zu denken:

Die Rechtswendung in der Außen- und Innenpolitik mußte die klassenbewußtesten Elemente des Proletariats alarmieren (…). Auch die Jugend ist von einer tiefen Unruhe erfaßt, besonders jener Teil, der der Bürokratie nahesteht und ihre Willkür, ihre Privilegien und ihren Machtmißbrauch beobachtet. In dieser stickigen Atmosphäre knallte Nikolajews Schuß (…). Höchstwahrscheinlich wollte er gegen das Parteiregime, gegen die Unkontrollierbarkeit der Bürokratie oder den Rechtskurs protestieren.[210]

Ganz offen zeigt sich hier Sympathie bzw. Verständnis für den Attentäter, und eindeutig zeigen sich der Kirow vorbehaltene Hass und Verachtung. Weit entfernt, ihm als einem Opfer des Kremldiktators nachzutrauern, bezeichnet Trotzki ihn als den »geschickten und skrupellosen Diktator Leningrads«, als einen »typischen Vertreter seiner Zunft«.[211] Und noch härter: »Kirow, ein roher Satrap, erweckt keinerlei Sympathie«.[212] Man habe ein Individuum eliminiert, das den Revolutionären schon lange verhasst war:

Der neue Terror wird weder von den alten herrschenden Klassen noch vom Kulaken getragen. Die Terroristen der letzten Jahre rekrutieren sich ausschließlich aus der Sowjetjugend, aus den Reihen des Kommunistischen Jugendverbandes und der Partei.[213]

Zumindest damals – zwischen 1935 und 1936 – wird hier vom Attentat auf Kirow keineswegs als von einer Inszenierung gesprochen. Es wird zwar behauptet, dass alles von der »Bürokratie als ganze« instrumentalisiert werden könne, aber gleichzeitig wurde, nicht ohne Genugtuung unterstrichen, dass »jeder einzelne Bürokrat sich vor dem Terror fürchtet«, der von unten ausgeht.[214] Auch wenn sie nicht »über Klassen kampf- und Revolutionserfahrungen verfügen«, wählen diese Jugendlichen den »Weg in die Illegalität, d. h. sie lernen, sich zu stählen und für die Zukunft zu kämpfen«, und bilden daher einen Grund zur Hoffnung.[215] An die sowjetische Jugend, die unter den Mitgliedern der herrschenden Kaste schon Angst zu verbreiten beginnt, appelliert Trotzki ganz offen für die neue Revolution, die sich für ihn aufdrängt. Das bürokratische Regime habe den »Kampf gegen die Jugend« entfesselt, wie die Verratene Revolution schon im Titel eines zentralen Abschnitts dieses Textes beklagt. Jetzt werden die Unterdrückten die Unterdrücker stürzen:

Jede revolutionäre Partei findet ihre Stütze vor allem in der jungen Generation der aufsteigenden Klasse. Politische Altersschwäche äußert sich im Verlust der Fähigkeit, die Jugend um das eigene Banner zu scharen (…). Die Menschewiki stützten sich auf die gediegenen Facharbeiter, die Oberschicht des Proletariats. Herablassend prahlten sie damit gegenüber den Bolschewiki, bis die späteren Ereignisse ihnen unbarmherzig ihren Fehler aufzeigten, denn im entscheidenden Augenblick riß die Jugend die reiferen Schichten und sogar die Alten mit.[216]

Diese Dialektik ist dazu bestimmt, sich zu wiederholen. So unreif die Formen sein mögen, die sie anfänglich angenommen hat, so habe die Revolte gegen die Unterdrückung doch immer eine positive Bedeutung. Trotzki bekräftigt seine Verachtung und seinen Hass auf Kirow und fügt dann hinzu:

Unsere Beziehung zum Mörder bleibt nur deshalb neutral, weil wir die Motive, die ihn leiteten, nicht kennen. Wenn bekannt werden würde, dass Nikolajew bewußt für die von Kirow begangene Schändung der Arbeiter rechte Vergeltung übte, wären unsere Sympathien völlig auf Seiten des Mörders.

Auch die »russischen« Terroristen verdienen wie die »irischen« oder die anderer Länder unseren Respekt.[217]

Anfangs nahmen sich die Untersuchungen der Behörden die »Weißgardisten« vor. Tatsächlich waren diese Kreise in Paris gut organisiert: es war ihnen gelungen, »eine Reihe von Attentaten auf sowjetischem Gebiet« zu verüben. In Belgrad wirkten ähnliche Zirkel: Die von ihnen herausgegebene Monatsschrift präzisierte in der Novembernummer von 1934, dass es nützlich sei, »die Waffe des Terroranschlags zu benutzen«, um »die Führer des Landes der Sowjets zu stürzen«. Zu den zu eliminierenden Führern gehörte gerade auch Kirow. Diese Untersuchungen führten jedoch zu keinen Ergebnissen; daher begannen die sowjetischen Behörden, die linke Opposition ins Visier zu nehmen.[218]

Wie wir gesehen haben, wird die neue Spur von Trotzki bestätigt, der sich nicht darauf beschränkt, die revolutionäre Unruhe der Sowjetjugend hervorzuheben, sondern auch erklärt, dass es nicht die endgültig besiegten und also inzwischen aufgebenden Klassen sind und sein könnten, die auf Gewalt zurückgreifen:

An der Geschichte des individuellen Terrors in der UdSSR können wir deutlich die Etappen der allgemeinen Entwicklung des Landes ablesen. In der Frühzeit der Sowjetmacht, in der Atmosphäre des noch nicht beendeten Bürgerkrieges, wurden terroristische Attentate von Weißen oder Sozialrevolutionären verübt. Als die ehemals herrschenden Klassen die Hoffnung auf eine Restauration verloren hatten, verschwand auch der Terrorismus. Der Kulakenterror, dessen Nachwehen noch in der jüngeren Vergangenheit spürbar waren, war stets lokaler Natur und ergänzte den Partisanenkrieg gegen das Sowjetregime. Was den Terrorismus der jüngsten Zeit betrifft, so stützt er sich weder auf die alten herrschenden Klassen noch auf die Kulaken. Die Terroristen des letzten Aufgebots rekrutieren sich ausschließlich aus der Sowjetjugend, aus den Reihen des Konsomol und der Partei, oft sogar aus den Sprößlingen der herrschen den Schicht.[219]

Hätten die alten, zunächst von der Oktoberrevolution und später von der Kollektivierung der Landwirtschaft hinweggefegten Klassen resigniert, so gelte das sicher nicht für das Proletariat, für die Vorkämpfer der Revolution, die momentan von der Stalinschen Bürokratie blockiert und unterdrückt würden. Letztere müsse bangen: das Attentat auf Kirow und die Ausbreitung des Terrorismus unter der Sowjetjugend seien das Symptom für die Isolierung und die »Feindseligkeit«, die die Usurpatoren der Sowjetmacht umgeben und bedrängen.[220]

Zwar beeilt sich Trotzki klarzustellen, dass der individuelle Terrorismus sich nicht wirklich auszahlt. Aber es handelt sich um eine nicht ganz überzeugende und vielleicht nicht ganz überzeugte Klarstellung. Zunächst handle es sich in der Lage, in der sich die UdSSR befindet, um ein unvermeidliches Phänomen: »Der Terrorismus ist die tragische Ergänzung des Bonapartismus«.[221] Aber selbst wenn er nicht imstande ist, das Problem zu lösen, »ist der individuelle Terrorismus doch von überaus symptomatischer Bedeutung und bezeichnend für die Schärfe des Gegensatzes zwischen der Bürokratie und den breiten Volksmassen, insbesondere der Jugend«. Jedenfalls braue sich die Mischung für eine »Explosion« bzw. für eine »politische Erschütterung« zusammen, die dazu bestimmt sei, »Stalins Regime« ein ähnliches Schicksal zu bescheren, wie es das Regime erlitten hat, »an dessen Spitze Nikolaus II. stand«.[222]

7. Terrorismus, Staatsstreich und Bürgerkrieg

Dem Sturz der Romanow-Dynastie war eine lange Serie von Attentaten vorausgegangen, die von Organisationen inszeniert waren, denen es trotz des harten Zuschlagens der Repression immer gelungen war, sich neu zu bilden. Für Trotzki entwickelt sich ein analoger Prozess in der UdSSR als Antwort auf den von der Bürokratie begangenen ›Verrat‹. Bei genauerem Hinsehen werde sie nicht eigentlich von individuellen Terrorakten, sondern von den Vorboten einer neuen, großen Revolution bedroht:

Alles deutet darauf hin, dass es im weiteren Verlauf der Entwicklung unvermeidlich zum Zusammenstoß der durch die Entwicklung der Kultur gestärkten Kräfte des Volkes mit der bürokratischen Oligarchie kommen muß. Einen friedlichen Ausweg aus der Krise gibt es nicht (…); die Entwicklung führt eindeutig auf den Weg der Revolution.[223]

Ein entscheidender Bürgerkrieg zeichnet sich am Horizont ab und »unter den Bedingungen des Bürgerkriegs hört (…) die Ermordung in dividueller Unterdrücker auf, ein Akt individuellen Terrors zu sein«; jedenfalls »führt die Vierte Internationale gegen Stalin einen Kampf auf Leben und Tod«, einen Kampf, der »eine Clique« hinwegfegen soll, »die von der Geschichte bereits verurteilt ist«.[224] Wie man sieht, beschwört das Attentat auf Kirow das Schreckbild des Bürgerkriegs innerhalb der Kräfte herauf, die das Ancien Régime gestürzt hatten. In Wahrheit begleitet dieses Schreckbild die Geschichte Sowjetrusslands von Anfang an. Um den Frieden von Brest-Litowsk zu verhindern, den er als eine Kapitulation vor dem deutschen Imperialismus und als Verrat des proletarischen Internationalismus erlebte, spielte Bucharin einen Augenblick lang mit der Idee einer Art Staatsstreich mit dem Ziel, zumindest für einige Zeit denjenigen von der Macht ab zusetzen, der bis dahin der unbestrittene Führer der Bolschewiki gewesen war (vgl. oben, Kap. 2, § 2). Wenn schon zu Lebzeiten Lenins, trotz des enormen Prestiges, das seine Person umgab, das Schreckbild der Zerrüttung der bolschewistischen Führungsspitze und des Bürgerkriegs innerhalb des revolutionären Lagers umgeht, so materialisiert es sich entschieden in den darauffolgenden Jahren. Dies geht unmissverständlich aus den wichtigen Zeugnissen hervor, die aus der antistalinistischen Opposition und von Abtrünnigen der kommunistischen Bewegung stammen, bei denen sich der alte Glaube in einen unversöhnlichen Hass verwandelt hat. Folgendermaßen beschreibt Boris Souvarine die Lage, die in der KPdSU etwa zehn Jahre nach der Oktoberrevolution entstanden war:

Die Opposition vervollständigt innerhalb der Einheitspartei ihre Organisation als Untergrundpartei mit ihrer Miniaturhierarchie, mit ihrem Politbüro, ihrem Zentralkomitee, ihren regionalen und lokalen Agenten, ihren Basisgruppen, ihren Mitgliedsbeiträgen, ihren Rundschreiben, ihrem Korrespondenz-Code.[225]

Die Perspektive ist ein nicht nur politischer, sondern auch militärischer Zusammenstoß. In ihren in den Vereinigten Staaten gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichten Memoiren, berichtet Ruth Fischer, eine Figur ersten Ranges des deutschen Kommunismus und Präsidiumsmitglied der Komintern von 1922-1924, wie sie sich seinerzeit in der UdSSR an der Organisation des »Widerstands« gegen das in Moskau herrschende »totalitäre Regime« beteiligt habe. Wir schreiben das Jahr 1926. Sinowjew und Kamenew haben sich wieder Trotzki an genähert, nachdem sie im Vorjahr mit Stalin gebrochen hatten: der »Block« organisierte sich zur Machtübernahme. So entwickelte sich ein engmaschiges geheimes Netz, das sich »bis nach Wladiwostok« und in den Fernen Osten ausdehnte: Kuriere verbreiteten vertrauliche Staats- und Parteidokumente oder übertrugen verschlüsselte Botschaften; bewaffnete Leibwachen beschützten die geheimen Treffen. »Die Führer des Blocks (machten sich) daran, die endgültigen Schritte festzulegen«; auf Grund der Voraussetzung, dass der Zusammenstoß mit Stalin nur mit »Gewalt« gelöst werden konnte, trafen sie sich in einem Wald in der Nähe von Moskau, um »die militärische Seite ihres Programms zu besprechen«, angefangen bei der »Rolle jener Armee Einheiten«, die bereit waren, den »Staatsstreich« zu unterstützen. Fischer fährt fort:

Dies war eine größtenteils technische Angelegenheit, die zwischen den beiden militärischen Führern Trotzki und Laschewitsch (militärpolitischer Funktionär, der vor den Säuberungen starb) ausgemacht werden mußte. Da Laschewitsch als zweiter Kommandierender der Roten Armee immer noch in einer besseren legalen Position war, wurde er beauftragt, die Pläne für die militärische Aktion gegen Stalin auszuarbeiten.[226]

In diesen Kontext sind die Straßendemonstrationen einzureihen, die im Jahr darauf für den zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution organisiert wurden: von Moskau und Leningrad aus hätten sie auf »andere Industriezentren überspringen« sollen, um damit die »Parteihierarchie zum Nachgeben zu zwingen«.[227]

In jenen Jahren war in Europa die Härte des in Sowjetrussland statt finden Zusammenstoßes für alle ein offenes Geheimnis: »Die Geschichte des Kampfes zwischen Stalin und Trotzki ist die Geschichte des Versuchs Trotzkis, die Macht an sich zu reißen (…), es ist die Geschichte eines missglückten Staatsstreichs«. Der geniale Organisator der Roten Armee, der noch eine »außerordentliche Popularität« genoss, hatte sich gewiss nicht mit der Niederlage abgefunden: »Seine gewaltige Polemik und sein zynischer und kühner Stolz machen aus ihm eine Art roten Bonaparte, unterstützt vom Heer, von den Arbeitermassen und vom aufrührerischen Geist der jungen Kommunisten gegen die alte Garde des Leninismus und den hohen Klerus der Partei«. Ja, »die Flut des Aufstands wälzt sich auf den Kreml zu«.[228] Dieses Bild wird in einem Buch, Technique du coup d’Etat, skizziert, das in Paris 1931 erscheint und sogleich großen Erfolg erlebt. Der Autor, Curzio Malaparte, der in Moskau gewesen ist und dort mit hochrangigen Persönlichkeiten gesprochen hat, liefert von der Kraftprobe von 1927 eine Interpretation, die wir schon von Ruth Fischer, d. h. von einer maß geblichen Vertreterin der Opposition gegen Stalin, bestätigt gesehen haben:

Am Vorabend der Feierlichkeiten für den zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution hätte die Verhaftung Trotzkis einen ungünstigen Eindruck hinterlassen. Die von Trotzki gewählte Gelegenheit, um den Staat an sich zu reißen, könnte nicht besser sein. Als guter Taktiker, der er ist, hat er sich bedeckt gehalten. Um nicht wie ein Tyrann auszusehen, wagt es Stalin nicht, ihn zu verhaften. Wenn er es dann wagen kann, denkt Trotzki, wird es zu spät sein: Die Festbeleuchtung für den zehnten Jahrestag der Revolution wird vorbei und Stalin nicht mehr an der Macht sein.[229]

Bekannterweise scheiterten diese Pläne, und Trotzki ist nach dem Ausschluss aus der Partei gezwungen, zunächst nach Alma Ata und später in die Türkei zu gehen. Dort bezahlen ihm die »sowjetischen Konsulatsbehörden« »1.500 Dollar als ›Urheberrechte‹«.[230] Das ist zwar »eine lächerliche Summe«, wie ein Historiker, Anhänger und Biograph Trotzkis behauptet,[231] aber die Geste kann als ein Versuch angesehen wer den, den Gegensatz nicht noch weiter zu verschärfen.

8. Verschwörung, Unterwanderung des Staatsapparats und »Äsopsche Sprache«

Der Revolutionär gibt im Exil seine Pläne nicht auf. Wie versucht er, sie zu verwirklichen? Malaparte schreibt:

Jeden Tag nehmen die Sabotageakte bei der Eisenbahn, in den Kraftwerken, bei Telefon- und Fernschreibeanlagen zu. Trotzkis Agenten schleichen sich überall ein. Indem sie in das Getriebe der technischen Organisation des Staates eingreifen, provozieren sie bisweilen die Lähmung der delikatesten Organismen. Es sind die den Aufstand vorbereitenden Scharmützel.[232]

Handelt es sich nur um Phantasien oder um den Widerhall der Propaganda des Regimes? Das hier zitierte Buch zirkulierte seinerzeit ausgiebig in Europa, und die darin vertretenen Thesen schienen weder ironisches Lächeln noch Entrüstung hervorzurufen. Wie für den »Terrorismus« sollte man auch für die »Sabotage« die besondere Geschichte Russlands nicht aus den Augen verlieren. Im Jahre 1908 hatten sowohl die Erdölindustriellen als auch Stalin, natürlich mit unterschiedlichen Motivationen, die Tendenz gewisser Sektoren der Arbeiterklasse verurteilt, ihre Forderungen mit Rekurs auf den »ökonomischen Terror« voranzubringen. Selbst wenn der bolschewistische Führer hervorhob, dass der letzte Grund für dieses Phänomen die kapitalistische Ausbeutung war, begrüßte er »die letzte Resolution der Mirsojew-Streikenden, die gegen Brandstiftungen und ›ökonomischen‹ Totschlag«, gegen die »alten terroristischen« und anarchistischen »Aufruhrtendenzen« gerichtet ist.[233] Ist diese Tradition anfangs der 1930er Jahre vollkommen verschwunden oder zeigt sie sich weiterhin in neuen Formen? In jedem Fall wissen wir, dass die Weißgardisten sie sich zunutze gemacht haben. Und die linke Opposition?

Zumindest die »Aufstands«-pläne, die Malaparte andeutet, finden eine wichtige Bestätigung. So berichtet der Biograph Trotzkis über die Haltung, die sein Held vom Exil aus einnimmt: »Die Ratschläge sind einfach: Die Oppositionellen müssen ernsthaft und bewusst in der Partei und nach ihrem Ausschluss in den proletarischen und sowjetischen Organisationen ganz allgemein eine solide militärische Ausbildung erlangen und sich dabei immer auf die Internationale berufen«.[234] Hier richtet sich jene konspirative Tradition gegen die Sowjetmacht, die stark zu deren Sieg beigetragen hatte. In Was tun? hatte Lenin energisch hervor gehoben: Wir Revolutionäre »müssen unbedingt der Propaganda und Agitation unter den Soldaten und Offizieren, der Gründung von ›Militärorganisationen‹, die unserer Partei angehören, die größte Aufmerksamkeit schenken«.[235] Sich diese Lektion zunutze machend, organisierte die Opposition ein geheimes Netz, das dem Militärapparat im weiteren Sinne besondere Aufmerksamkeit widmete. Dessen komplexer Formierungsprozess erleichterte die Unterwanderung. Emblematisch ist, was zum Zeitpunkt der Gründung der Tscheka, der ersten politischen Polizei Sowjetrusslands, geschieht. Am 6. Juli 1918 kostet ein Attentat den deutschen Botschafter in Moskau das Leben: Verantwortlich dafür ist Jakob G. Bljumkin, ein Sozialrevolutionär, der damit gegen den Vertrag von Brest-Litowsk protestieren und ihn zur Diskussion stellen möchte. Als sich der Leiter der Tscheka, Felix E. Dzierzinsky, in die deutsche Botschaft in Moskau begibt, um die Entschuldigung der Sowjetregierung zu überbringen, teilt man ihm mit, dass die Attentäter sich mit Beglaubigungsschreiben der Tscheka präsentiert hätten. Um die Wahrheit festzustellen, begibt er sich in das Hauptquartier dieser Institution, wo er je doch von »tschekistischen Dissidenten« verhaftet wird, die der Partei der Sozialrevolutionäre angehören oder ihr nahestehen. Daraufhin von Rotgardisten befreit, organisiert Dzierzinsky die Säuberung der politischen Polizei und die Exekution der Verantwortlichen für die Verschwörung und die Meuterei. Die Opfer der ersten »Säuberung« sind also – wenn auch oppositionelle – »Tschekisten«.[236]

Dem Attentäter gelingt die Flucht, aber er verschwindet deshalb nicht von der Szene: »Trotzki hat Ende 1929 öffentlich zugegeben, dass Bljumkin, weiterhin Agent der Informationsdienste der Roten Armee, ihn besucht hat«. Leo Sedow, Sohn und Mitstreiter Trotzkis, hat versucht, glauben zu machen, es habe sich um einen Zufall gehandelt; aber ein in Stanford aufbewahrtes Dokument »beweist, dass die Kontakte zwischen Trotzki und Bljumkin nicht durch eine absichtslose Begegnung entstanden sind, sondern durch eine organisierte Verbindung mit der UdSSR«; in diesem Zusammenhang »spielte der Geheimagent offensichtlich eine wichtige Rolle«. Es war wohl diese Verbindung, die Stalin dazu führte, »Bljumkin erschießen zu lassen«.[237]

»Die Agenten« der Opposition »schleichen sich überall ein«, wie man sieht.[238] Sogar »in der GPU« nistet sich eine Zeit lang eine »kleine Zelle von Trotzki-Anhängern ein«.[239] Einem zeitgenössischen US-amerikanischen Historiker zufolge hätte vielleicht sogar Genrich G. Jagoda, der die erste Phase des großen Terrors leitete, bevor er selbst davon überrollt wurde, ein falsches Spiel getrieben.[240] Aus dem Zeugnis antistalinistischer Aktivisten geht hervor, dass »einige Flugblätter (der Opposition) in der GPU-Druckerei selbst hergestellt« wurden; genau betrachtet, habe es »ständige Spannungen im (sowjet-)russischen Terrorapparat« gegeben.[241]

Die Unterwanderung wird durch die zaghaften Öffnungen des Regimes erleichtert. Wenn Trotzki zum Kampf gegen die »bürokratische Diktatur« aufruft, so unterstreicht er: »Dadurch, dass die neue Verfassung den Bonapartismus bloßlegt, schafft sie gleichzeitig eine halblegale Deckung für den Kampf gegen ihn«.[242] Man bekämpfe ihn noch besser, wenn man sich tarnt und die Absicht verbirgt, die Macht unterminieren und stürzen zu wollen. Über diesen Punkt lässt der Oppositionsführer keinen Zweifel bestehen: »Der Kampf erfordert konspirative Maßnahmen«; »im Kampf« sind »die Regeln der Konspiration zu beachten«. Und weiter noch:

Ein Kampf auf Leben und Tod ist undenkbar ohne militärische List, d. h. ohne Lüge und Betrug. Dürfen denn die deutschen Arbeiter nicht Hitlers Polizei betrügen? Oder ist vielleicht die Haltung der russischen Bolschewiken »unmoralisch«, wenn sie die GPU täuschen?[243]

Und erneut wendet sich die bolschewistische konspirative Tradition gegen das aus der bolschewistischen Revolution hervorgegangene Regime. Im Jahre 1920 hatte Lenin die Revolutionäre darauf hingewiesen, »dass man unbedingt die legalen mit den illegalen Kampfformen kombinieren muss, und dass man sich unbedingt an dem erzreaktionären Parlament und an einer Reihe anderer von reaktionären Gesetzen eingeschnürten Institutionen beteiligen muss«. Und das ist noch nicht alles: Der Revolutionär »muß zu jedwedem Opfer entschlossen sein, und sogar – wenn es sein muß – alle möglichen Schliche, Listen und illegalen Methoden anwenden, die Wahrheit verschweigen und verheimlichen, nur um in die Gewerkschaften hineinzukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten«.[244] Genau so geht die Opposition gegen die Institutionen und die politischen und sozialen Organisationen des verhassten »thermidorianischen« Regimes vor. Die Konspirateure halten sich an eine präzise Verhaltensregel:

Sie üben Selbstkritik, geben ihre »Fehler« zu und werden meistens versetzt. Diejenigen, die die stalinistische Presse inzwischen »die Menschen mit zwei Gesichtern« oder auch »die links-rechts Fraktion« nennt, suchen von diesem Moment an Kontakte, die es ihnen erlauben würden, die Front des Widerstands gegen die Politik Stalins auszuweiten. Auf diesem Weg treffen sie andere Gruppen …[245]

Von daher versteht man die Fixierung auf die »Doppelzünglerei«, eine Besessenheit, die Chruschtschow Stalin vorwirft.[246]

Inzwischen war es mit dem Aufgeben der NEP zum Bruch mit Bucharin gekommen. Hinsichtlich der von Letzterem eingenommenen Haltung ist das Zeugnis von Humbert-Droz interessant, einem Führer der Komintern, der wegen seiner Meinungsverschiedenheiten mit Stalin 1942 aus der Schweizer Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde. Vor seiner Abreise zur 1. Konferenz der revolutionären Gewerkschaften Lateinamerikas im Frühjahr 1929 verabschiedet er sich von Bucharin und führt ein Gespräch mit ihm, das er so wiedergibt: »Er berichtete mir von den Kontakten, die seine Gruppe mit der Sinowjew Kamenew-Fraktion aufgenommen hatte, um den Kampf gegen die Macht Stalins zu koordinieren«, ein Kampf, der auch den Rekurs auf den »individuellen Terrorismus« vorsah und dessen Ziel es war, »Stalin zu eliminieren« und, um es klarzustellen, »ihn physisch zu eliminieren«.[247] Drei Jahre später verfasst ein anderer Vertreter der ›Rechten‹ und zwar Martemjan N. Rjutin ein Dokument, das von Hand zu Hand gereicht wird und das Stalin als »Provokateur« abstempelt, von dem man sich, auch mit Rekurs auf den Tyrannenmord, befreien müsse.[248] Auf Bucharins Pläne, die dieser ihm erklärt, entgegnet Humbert-Droz, dass »die Einführung des individuellen Terrorismus in die aus der russischen Revolution hervorgegangenen politischen Kämpfe große Ge fahr lief, sich gegen diejenigen zu wenden, die ihn anwandten«, aber Bucharin ließ sich nicht beeindrucken.[249] Im Übrigen konnte die soeben berichtete Entgegnung einen Mann nur schwerlich beeindrucken, der inzwischen – wie er im Jahre 1936 vertraulich mitteilte – Stalin gegen über einen tiefen »Hass«, ja sogar den »absoluten« Hass empfand.[250]

Während er sich privat so ausdrückt, leitet Bucharin die ›Iswestija‹, das Presseorgan der sowjetischen Regierung. Handelt es sich um eine verblüffende Inkonsequenz? Keineswegs nach der Sichtweise des bolschewistischen Führers, der weiterhin legale mit illegaler Arbeit kombiniert, um ein ihm inzwischen verhasstes Regime zu stürzen, und der sich eine andere Anweisung Lenins zunutze zu machen scheint. Mit Bezug auf das zaristische Russland können wir in Was tun? lesen:

In einem absolutistischen Land, wo die Presse völlig versklavt ist, in der Epoche einer wüsten politischen Reaktion, die die geringsten Anzeichen von politischer Unzufriedenheit oder Protest verfolgt, bricht sich plötzlich in der unter Zensur stehenden Literatur die Theorie des revolutionären Marxismus Bahn, dargelegt in einer Äsopschen, aber für alle »Interessierten« verständlichen Sprache.[251]

Genauso benutzt Bucharin die Tribüne der sowjetischen Regierung. Die Verurteilung des »allmächtigen totalen Staates«, der auf die »blinde Disziplin«, auf den »jesuitischen Gehorsam«, auf die »Verherrlichung des ›Führers‹« gegründet ist, nimmt angeblich nur auf Hitlerdeutschland Bezug, aber in Wirklichkeit zielt sie auch auf die UdSSR ab. Die von Lenin empfohlene »Äsopsche Sprache« wird unmittelbar transparent, wenn die Verurteilung den »grausamen, ungebildeten Provinzialismus« betrifft.[252] Dies ist eindeutig das Bild, das die Opposition von Stalin zeichnet. Wir wissen, dass Trotzki von ihm als von einem »kleinen Provinzler« redet (vgl. oben, Vorwort), und in seinen Privatgesprächen drückt Bucharin seine Geringschätzung für einen Führer aus, der Nachfolger Lenins wurde, obwohl er überhaupt keine Fremdsprachen kannte.[253] Was tun? hält sich bei der Wirksamkeit auf, die die in »Äsopscher Sprache« vorgetragene revolutionäre Botschaft im zaristischen Russland entfaltete und fährt fort:

Bis die Regierung dahinterkam, bis die schwerfällige Armee der Zensoren und Gendarmen den neuen Feind ausfindig machte und über ihn herfiel, verging (…) recht viel Zeit. In dieser Zeit aber erschien ein marxistisches Buch nach dem anderen, marxistische Zeitschriften und Zeitungen wurden gegründet, jeder wurde Marxist, den Marxisten wurde geschmeichelt, der Hof gemacht, die Verleger waren über den außergewöhnlich guten Absatz marxistischer Bücher entzückt.[254]

Bucharin und die Opposition hofften, dass ein ähnliches Phänomen ein günstiges Klima für den Sturz Stalins schaffen würde. Aber dieser hatte ebenfalls Was tun? gelesen und kannte die bolschewistischen Regeln der Verschwörung sehr gut. Im Endeffekt haben wir es mit einem verlängerten Bürgerkrieg zu tun. Die Untergrundbewegung reorganisiert sich bzw. versucht sich zu reorganisieren, trotz der aufeinander folgenden Wellen einer Repression, die immer unerbittlicher wird. Um es mit den Worten einer Aktivistin des Kampfs gegen Stalin zu sagen: »Obgleich die Opposition zerstampft war, vernichtet, lebte sie fort und wuchs; in der Armee, in der Verwaltung, in der Partei, in den Städten und auf dem Lande rief jede Terrorwelle (des Stalinregimes) ein Echo des Widerstands hervor«.[255] Die bolschewistische Führungsspitze wird nunmehr von einer Kraftprobe zerrissen, bei der alles möglich ist und die zumindest in den Erwartungen und Hoffnungen der Feinde Stalins von heute auf morgen offen und generell das ganze Land miteinbeziehen konnte. Während die Opposition sich auf Lenin und auf die konspirative Tradition des Bolschewismus berufen kann, um im Schatten ihre Ränke zu schmieden, ruft diese ›Doppelzünglerei‹ die Entrüstung der Sowjetmacht hervor, die in den falschen Freunden den unfassbarsten und hinterhältigsten Feind erblickt: die Tragödie nähert sich ihrem Epilog.

9. Unterwanderung, Desinformation und Aufruf zum Aufstand

Führen die von Trotzki theoretisch gefassten »Regeln der Konspiration« nur zur Verschleierung der eigenen politischen Identität oder können sie auch falsche Anklagen miteinschließen, um im feindlichen Lager Verwirrung und Chaos zu stiften und die Aufdeckung des Untergrundnetzes im Kampf für den Sturz des Stalinregimes noch schwieriger werden zu lassen? Führen, anders ausgedrückt, die »Regeln der Konspiration« nur zum rigorosen Schutz der vertraulichen Informationen oder auch zu freier Bahn für Desinformationen? Einen Verdacht in dieser Richtung hegt nicht nur die US-amerikanische Journalistin Anne Louise Strong, die dem Regime wohlgesonnen war.[256] Sogar die Geheimrede spricht von erlogenen Anklagen und von »Provokationen« so wohl seitens »echter Trotzkisten«, die sich so »rächten«, als auch seitens »gewissenloser Karrieristen«, die dazu tendierten, auch mit den nieder trächtigsten Mitteln voranzukommen.[257] Bezeichnend ist eine Episode, die sich zum Zeitpunkt der Ankündigung der Ermordung Kirows ereignet. Die vorwiegenden Gefühle – berichtete Andrew Smith, der damals in der Fabrik Elektrozawod in Kuzncow arbeitete – sind Schock und Angst vor der Zukunft; manche drückten allerdings auch ihr Bedauern darüber aus, dass es nicht Stalin war, der erschossen wurde. Später fand eine Versammlung statt, in deren Verlauf die Arbeiter dazu aufgerufen wurden, Feinde bzw. mögliche Feinde der Sowjetmacht zu denunzieren.

Smith erinnerte sich erstaunt, wie in der Debatte die Gruppe der Dissidenten, mit denen er selber in Kontakt stand, sich besonders eifrig einsetzte, wenn es darum ging, die Opposition und die Abweichler anzugreifen und strengere Maßnahmen gegen sie zu fordern.[258]

Symptomatisch ist auch eine Episode, die sich außerhalb der UdSSR ereignete, die aber dazu dienen kann, zu verstehen, was in diesem Land vor sich ging. Als der ehemalige Mitarbeiter ersten Ranges des NKWD General Alexander M. Orlow, der sich 1938 in die USA abgesetzt hatte, vom Journalisten Louis Fischer beschuldigt wurde, während des spanischen Bürgerkriegs an der Liquidierung antistalinistischer kommunistischer Funktionäre teilgenommen zu haben, antwortete er mit der erlogenen Enthüllung, sein Ankläger sei in Wirklichkeit ein Spion im Dienste Moskaus.[259]

In der Sowjetunion der 1930er Jahre ist die Opposition, wie wir schon gesehen haben, in den Repressionsapparat auf höchster Ebene eingedrungen: Es wäre recht merkwürdig, wenn sie sich mit diesem Resultat darauf beschränkt hätte, die Befehle Stalins auszuführen! Desinformation, die den doppelten Vorteil hat, die Repressionsmaschine in Schwierigkeiten zu bringen und sich gerade mit ihrer Hilfe einiger besonders verhasster Feinde zu entledigen, ist integraler Bestandteil des Krieges. Und um Krieg handelt es sich, zumindest einem Gespräch Trotzkis vom Juli 1933 zufolge: »Schon längst im Gange« ist für ihn der von der »Stalin Bürokratie« entfesselte konterrevolutionäre Bürgerkrieg, der in die »infame Verfolgung der Bolschewiki-Leninisten« gemündet sei. Man müsse also die neue Lage zur Kenntnis nehmen. »Die Losung der Reform der KPdSU« habe keinen Sinn mehr. Ein frontaler Kampf dränge sich auf: Die von Stalin geleitete Partei und Internationale seien inzwischen am Ende und könnten »dem internationalen Proletariat« »nur noch Unheil bringen«; auf der Gegenseite dürften sich die echten Revolutionäre bei ihren Aktionen aber sicher nicht von den »kleinbürgerlichen Pazifisten« inspirieren lassen.[260] Das steht außer Zweifel: »Nur mit Gewalt kann die Bürokratie gezwungen werden, die Macht wieder in die Hände der proletarischen Avantgarde zu geben«.[261] Die Machtübernahme Hitlers bedeutet für Trotzki nicht, die Einheit anzustreben, die notwendig ist, um der enormen Gefahr entgegenzutreten, die von Deutschland ausgeht, sondern vielmehr, dass man nicht auf halbem Wege in einem Kampf gegen Stalins Macht stehen bleiben dürfe, die zur Niederlage des deutschen und internationalen Proletariats geführt habe.

Wie man sieht, redet auch der Oppositionsführer von »Bürgerkrieg« in einer Partei, die vereint die Oktoberrevolution und das Sowjetrussland der ersten Jahre geleitet hatte. Wir haben es mit einer Kategorie zu tun, die den Leitfaden der Untersuchung eines überzeugt trotzkistischen russischen Historikers bildet, Autor eines monumentalen mehr bändigen Werkes, das gerade der Rekonstruktion dieses Bürgerkriegs gewidmet ist. Dort wird in Bezug auf Sowjetrussland von einem von Stalin entfesselten »präventiven Bürgerkrieg« gegen diejenigen gesprochen, die sich organisieren, um ihn zu stürzen. Auch außerhalb der Sowjetunion manifestiert sich dieser Bürgerkrieg und ab und zu entflammt er innerhalb der Front, die gegen Franco kämpft; tatsächlich ist in Bezug auf Spanien in den Jahren 1936-39 nicht von einem, sondern von »zwei Bürgerkriegen« die Rede.[262] Mit großer intellektueller Ehrlichkeit und unter Ausnutzung des neuen reichen Materials an Dokumenten, das dank der Öffnung der russischen Archive zugänglich geworden ist, kommt der hier zitierte Autor zu dem Schluss: »In Wirklichkeit waren die Moskauer Prozesse kein grundloses kaltblütiges Verbrechen, sondern der Gegenschlag in einem zugespitzten politischen Kampf«.[263] In Polemik gegen Alexander Solschenizyn, der die Opfer der Säuberungen als eine Gesamtheit von »Kaninchen« hinstellt, druckt der trotzkistische russische Historiker ein Flugblatt ab, das in den 1930er Jahren dazu aufforderte, »den faschistischen Diktator und seine Clique« aus dem Kreml zu verjagen. Daraufhin kommentiert er: »Sogar nach der heute geltenden russischen Gesetzgebung muss dieses Flugblatt als Aufruf zum gewaltsamen Sturz der Machthaber (genauer gesagt der regierenden Oberschicht) gewertet werden«.[264] Zum Schluss: Weit entfernt, Ausdruck eines »Anfalls sinnloser irrationaler Gewalt« zu sein, ist der von Stalin entfesselte blutige Terror in Wahrheit die einzige Art und Weise, mit der es ihm gelingt, den »Widerstand der wahren kommunistischen Kräfte« zu brechen. Getroffen werde »die Partei der Hingerichteten«, so benannt »in Analogie zu dem Ausdruck (…) mit dem man die Kommunistische Partei Frankreichs bezeichnete, die zur Hauptkraft des antifaschistischen Widerstands und zum Hauptobjekt des Hitlerterrors in diesem Land geworden war«.[265] Stalin wird so mit Hitler verglichen; bleibt die Tatsache, dass französische Kommunisten und Partisanen sich nicht darauf beschränkten, Letzterem einen passiven bzw. gewaltlosen Widerstand entgegenzusetzen.

10. Bürgerkrieg und internationale Intrigen

Es verwundert nicht, dass die eine oder andere Großmacht jeweils versucht hat, aus dem latenten Bürgerkrieg in Sowjetrussland Gewinn zu ziehen. Eine Intervention des Auslands wird gelegentlich von der besiegten Gruppe vorgeschlagen oder provoziert, die glaubt, keine andere Möglichkeit des Erfolgs zu haben. Diese Dialektik entwickelt sich schon in den ersten Monaten der Existenz Sowjetrusslands. Kehren wir zum Attentat vom 6. Juli 1918 zurück. Es ist integraler Bestandteil eines sehr ehrgeizigen Planes. Einerseits organisieren die linken Sozial revolutionäre »in mehreren Zentren konterrevolutionäre Erhebungen gegen die sowjetische Regierung« bzw. »einen Aufstand in Moskau in der Hoffnung, die kommunistische Regierung zu stürzen«; andererseits nehmen sie sich vor, »viele deutsche Exponenten zu ermorden«, um eine militärische Reaktion Deutschlands und die darauf folgende Wiederaufnahme des Krieges zu provozieren. Dieser würde mit der levée en masse des russischen Volkes begegnet werden, die sowohl der Regierung der Verräter als auch dem Invasoren eine Niederlage bei bringen würde.[266] Der Attentäter gegen den deutschen Botschafter war ein echter Revolutionär: Schon lange bevor er Kontakte mit dem trotzkistischen Milieu aufnahm, wollte er den Jakobinern, den Protagonisten der radikalsten Phase der französischen Revolution und des heldenhaften Massenwiderstands gegen die Invasion der konterrevolutionären Mächte, nacheifern. Für die sowjetische Führung konnte Bljumkin jedoch nichts anderes als ein Provokateur sein: Der Erfolg seines Planes hätte zu einem neuen Vormarsch des Heeres Wilhelm II. und vielleicht zum Zusammenbruch der aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Macht geführt.

Bei jeder historischen Wende wiederholt sich die Verknüpfung von Innen- und Außenpolitik. Die Machtübernahme Hitlers mit der Vernichtung oder Dezimierung der stärksten Sektion der Kommunistischen Internationale ist ein harter Schlag für die Sowjetunion: Welche Konsequenzen wird sie auf die inneren politischen Gleichgewichte haben? Am 30. März 1933 schreibt Trotzki, der die Niederlage der Kommunisten in Deutschland der Bürokratie an der Macht in der UdSSR anlastet, dass »die Liquidierung des Stalin-Regimes absolut unvermeidlich und (…) nicht weit entfernt« sei.[267] Im Sommer des gleichen Jahres gewährt in Frankreich die Regierung Daladier Trotzki das Einreisevisum: Nur wenige Monate liegt die Verweigerung des Visums seitens Herriots zu rück, und daher fragt man sich nach dem Grund dieser Änderung. Ruth Fischer glaubt, dass die französische Regierung von der Voraussetzung der »Schwäche der Position Stalins«, von der »Vereinigung der Oppositionen gegen ihn« und von der bevorstehenden Rückkehr Trotzkis nach Moskau in einer Führungsrolle ersten Ranges ausging.[268]

Eine neue dramatische Wende fand mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs statt. Im Frühjahr 1940 befand sich die Sowjetunion noch außerhalb des gigantischen Zusammenstoßes, sie war vielmehr weiter durch den Nichtangriffspakt an Deutschland gebunden. Dies ist eine unerträgliche Lage für die schon von der Hitlerschen Aggression über rollten Länder, die, auch unter dem Vorwand des russisch-finnischen Krieges, den Plan erwägen, die Erdölfelder Bakus zu bombardieren. Es gilt nicht nur, die Energieversorgung des Dritten Reichs zu stören, sondern es geht auch darum, »dass britisch-französische Kriegspläne im Winter 1939/40 darauf abzielten, die Sowjetunion durch militärische Schläge gegen ihre Erdölindustrie im Kaukasusraum aus der (…) Militärallianz mit Deutschland herauszubrechen und ein Nach-Stalin Regime in Rußland zur Kriegsteilnahme gegen Deutschland veranlassen zu können«.[269]

Kehren wir einen Augenblick zum Attentat auf den deutschen Botschafter Mirbach zurück. Der dafür Verantwortliche hatte gewiss die Entfesselung des Angriffs Deutschlands im Blick, aber nicht weil er dessen Sieg herbeiwünschte: Er hoffte vielmehr, dass ein Peitschen hieb Russland wiedererwecken und zu einer entscheidenden Erhebung führen würde. Wir wissen, dass Bljumkin später an der von Trotzki geleiteten Konspiration teilgenommen hat. Um seine Position besser zu klären, vergleicht Trotzki sich 1927 mit dem französischen Premierminister Clemenceau, der im Ersten Weltkrieg die Führung des Landes übernahm, nachdem er die geringe kriegerische Energie seiner Vorgänger gebrandmarkt hatte und sich selber als den einzigen Staatsmann vorstellte, der in der Lage sei, Frankreich zum Sieg über Deutschland zu führen.[270] Aus der Menge der späteren Interpretationen und Neuinterpretationen dieser Analogie ging nur ein Anhaltspunkt hervor: Nicht einmal die Invasion der Sowjetunion hätte den Versuchen der Opposition, die Macht zu erobern, ein Ende bereitet. Noch beunruhigender ist der Vergleich Stalins mit Nikolaus II., den wir schon kennen: Im Ersten Weltkrieg, der als imperialistischer Krieg gedeutet und verurteilt wurde, hatten die Bolschewiki die Parole des revolutionären Defätismus aus gegeben und in der zaristischen Autokratie und im inneren Feind den Hauptfeind ermittelt, den man in erster Linie bekämpfen und besiegen musste.

In den darauf folgenden Jahren geht Trotzki weit über die Beschwörung des Geistes Clemenceaus hinaus: am 22. April 1939 spricht er sich für »die Befreiung der sogenannten Sowjetukraine vom stalinistischen Joch« aus.[271] Erst einmal unabhängig, würde sie sich mit der Polen zu entreißenden Westukraine und mit der Karpatho Ukraine vereinigen, die wenige Jahre zuvor von Ungarn annektiert worden war. Denken wir über den Zeitpunkt dieser Stellungnahme nach: Das Dritte Reich hat gerade die Zerstückelung der Tschechoslowakei abgeschlossen, und die Stimmen werden immer lauter, die mit der Sowjetunion (und besonders mit der Ukraine) das nächste Ziel Deutschlands angeben. In dieser Lage bezieht im Juli 1939 sogar Kerenski Stellung gegen den wunderlichen Plan Trotzkis, der – so merkt der menschewistische Führer an – nur die Politik Hitlers begünstige. »Die gleiche Meinung vertritt auch der Kreml«, erwidert sogleich Trotzki, der übrigens schon im Artikel vom 22. April geschrieben hatte: mit der Unabhängigkeit der Ukraine »wird die bonapartistische Clique (Moskaus) das ernten, was sie gesät hat«; es ist gut, dass »die jetzige bonapartistische Kaste unterminiert, erschüttert, zerschlagen und hinweggefegt wird«; nur so werde der Weg für eine wirkliche »Verteidigung der Sowjetrepublik« und ihre »sozialistischen Zukunft« bereitet.[272] Gleich nach der Invasion Polens geht Trotzki noch weiter. Seiner Vorhersage des schließlichen Zusammenbruchs des Dritten Reichs fügt er noch hinzu: »Doch bevor er zum Hades fährt, könnte Hitler der UdSSR eine solche Niederlage zufügen, dass es der Kreml Oligarchie den Kopf kostet«.[273] Diese Vorhersage (bzw. dieses Herbei wünschen) einer (auch physischen) Liquidierung der »Clique« oder der »bonapartistischen Kaste« durch eine Revolution von unten oder auch durch eine militärische Invasion muss in den Augen Stalins unbedingt als die Bestätigung seines Verdachts der zumindest »objektiven« Konvergenz zwischen Naziführung und trotzkistischer Opposition erscheinen: Beide hatten Interesse daran, den Zusammenbruch der inneren Front in der UdSSR zu provozieren, auch wenn die Nazis in diesem Zusammenbruch die Voraussetzung für die Versklavung des slawischen Landes und Trotzki diejenige für die Entfesselung einer neuen Revolution erblickten.

Es handelte sich noch nicht einmal um einen besonders ehrenrührigen Verdacht. Trotzki, der sich als zweiter Lenin gebärdete, strebte danach, zu seinem Vorteil die Dialektik auszunutzen, die damals zur Niederlage des russischen Heeres, zum Zusammenbruch der zaristischen Autokratie und zum Sieg der Oktoberrevolution geführt hatte. Erneut wendet sich die Geschichte, die der Bolschewismus im Rücken hat, gegen die Sowjetmacht. Kerenski, der im Jahre 1917 den Verrat der Bolschewiki denunziert hatte, warnt jetzt vor dem Verrat derer, die sich selbst »Bolschewiki-Leninisten« nennen. Aus Stalins Sichtweise ist im Vergleich zum Ersten Weltkrieg eine radikale Änderung eingetreten: Jetzt geht es darum, einer politischen Partei oder einer Fraktion entgegenzutreten die, zumindest in der Anfangsphase des Konflikts den Zusammenbruch des aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Landes und den militärischen Triumph eines Deutschlands in Kauf nimmt, das noch nicht von drei Jahren Krieg entkräftet ist, wie damals das Wilhelminische, sondern sich in vollem Besitz seiner Macht befindet und ausdrücklich darum bemüht ist, sein Kolonialreich im Osten aufzubauen. Angesichts dieser Voraussetzungen ist es sicher nicht erstaunlich, dass der Vorwurf des Verrats auftaucht. Kehren wir zu Trotzkis Artikel vom 22. April 1939 zurück. Dort gibt es eine einzige Behauptung, mit der auch Stalin hätte übereinstimmen können: »Der näherrückende Krieg wird für alle möglichen Abenteurer, Wünschelrutengänger und solche, die das goldene Vlies suchen, ein günstiges Klima schaffen«.[274]

Während die Flammen des Zweiten Weltkriegs immer weiter um sich greifen und sich bald, auch nach Trotzkis Voraussicht, auf die Sowjetunion ausdehnen werden, gibt dieser weiterhin alles andere als beruhigende Erklärungen und Behauptungen ab. Sehen wir uns ein paar davon an: »Sowjetpatriotismus kann nicht vom unversöhnlichen Kampf gegen die Stalinsche Clique getrennt werden« (18. Juni 1940); »Die Vierte Internationale hat schon längst die Notwendigkeit erkannt, die (in Russland herrschende) Bürokratie durch einen revolutionären Aufstand der Werktätigen zu stürzen« (25. September 1939); ich glaube, dass »Stalin und die von ihm geführte Oligarchie die Hauptgefahr für die Sowjetunion darstellen« (13. April 1940).[275] Es ist gut verständlich, dass die als »Hauptgefahr« hingestellte herrschen de »Bürokratie« bzw. »Oligarchie« die Überzeugung gewinnt, dass eine solche Opposition, selbst wenn sie nicht direkt im Dienste des Feindes steht, so doch in einer ersten Phase bereit ist, dessen Aktionen zu unterstützen.

Jede Regierung hätte in derart eingestellten Organisationen eine Bedrohung für die nationale Sicherheit erblickt. Die Befürchtungen und der Verdacht Stalins werden noch von Trotzkis Vorhersage einer »in der Sowjetunion bevorstehenden Revolution« verstärkt (25. September 1939): Es würden »wenige Jahre oder gar nur Monate vor dem ruhmlosen Sturz« der Stalinschen Bürokratie fehlen.[276] Woher kommt diese Sicherheit? Ist es eine Voraussicht, die nur unter Berücksichtigung der inneren Entwicklungen des Landes formuliert wird?

Die Entschlüsselung der Verknüpfung zwischen politischen Konflikten innerhalb Sowjetrusslands und internationalen Spannungen erweist sich als besonders schwierig, weil die Verdächtigungen und die Anklagen durch die reichhaltige Realität der fünften Kolonne sowie der Desinformationskampagnen, die die Geheimdienste Hitlerdeutschlands auf die Beine stellten, noch genährt werden. Im April 1938 notiert Goebbels in sein Tagebuch: »Unser Geheimsender von Ostpreußen nach Russland erregt großes Aufsehen. Er arbeitet im Namen Trotzkis und macht Stalin zu schaffen«.[277] Gleich nach der Entfesselung des Unternehmens Barbarossa ist der Propagandachef des Dritten Reichs noch zufriedener: »Wir arbeiten nun mit 3 Geheimsendern nach Rußland. Tendenzen: Erster trotzkistisch, zweiter separatistisch und dritter nationalrussisch. Alle scharf gegen das Stalinregime«. Es ist ein Instrument, dem die Aggressoren große Bedeutung beimessen: »Wir arbeiten mit allen Mitteln. Vor allem auf 3 G. Sender nach Rußland«; sie »leisten Mustergültiges an List und Raffinesse«.[278] Über die Rolle der »trotzkistischen« Propaganda ist eine Tagebucheintragung vom 14. Juli besonders bedeutsam: Sie berichtet von dem Vertrag, der zwischen der Sowjetunion und Großbritannien unterzeichnet worden ist, und von der gemeinsamen Erklärung der beiden Länder und fährt dann fort: »Das ist für uns eine willkommene Gelegenheit zum Beweis für die Verbrüderung zwischen Kapitalismus und Bolschewismus (hier synonym mit offizieller Sowjetmacht). Diese Erklärung wird in den Kreisen der Leninisten in Russland nur wenig Anklang finden«; man beachte, dass die Trotzkisten sich gerne als die »Bolschewiki-Leninisten« bezeichnen, in Entgegensetzung zu den »Stalinisten«, die als Verräter des Leninismus betrachtet werden.[279]

Natürlich erscheint heute die Behauptung Stalins und seiner Mitstreiter als grotesk, die Opposition sei en bloc als ein Nest von Agenten des Feindes zu verdammen, aber man darf den hier summarisch skizzierten historischen Zusammenhang nicht aus den Augen verlieren. Vor allem muss man sich vergegenwärtigen, dass ähnliche Verdächtigungen und Anklagen unter entgegengesetztem Vorzeichen gegen die Stalinsche Führung formuliert wurden. Nachdem sie Stalin als einen »faschistischen Diktator« abgestempelt hatten, fügten die Flugblätter, die das trotzkistische Netz in der Sowjetunion zirkulieren ließ, hinzu: »Die Führer des Politbüros sind entweder psychisch Kranke oder Söldlinge des Faschismus«.[280] Auch in offiziellen Dokumenten der Opposition wurde unterstellt, Stalin könne der Protagonist einer »ungeheuren bewussten Provokation« sein.[281] Statt die mühsame Analyse der objektiven Widersprüche und der entgegengesetzten Optionen und der politischen Konflikte vorzunehmen, die sich auf dieser Grundlage entwickeln, zieht man es sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite vor, oberflächlich die Kategorie Verrat einzuführen. In ihrer extremen Form wird der Verräter dann zum bewussten und gedungenen Agenten des Feindes. Unermüdlich denunziert Trotzki »die Verschwörung der Kremlbürokratie gegen die Arbeiterklasse«, und die Verschwörung sei umso niederträchtiger, als die »stalinistische Bürokratie« nichts anderes als ein »Übertragungsmechanismus des Imperialismus« sei.[282] Es muss hinzugefügt werden, dass Trotzki großzügig mit gleicher Münze heim gezahlt wird. Er beklagt sich darüber, dass er als »Agent einer ausländischen Macht« gebrandmarkt wird, nennt aber seinerseits Stalin einen »Agent provocateur im Dienste Hitlers«.[283]

Auf der einen wie auf der anderen Seite tauscht man die schändlichsten Anklagen aus; bei genauerem Hinsehen sind die von der Opposition stammenden phantasievoller. Der widersprüchliche und gequälte Gemütszustand ihres Führers ist von einem russischen Historiker, der nicht im Verdacht steht, mit Stalin zu sympathisieren, scharf sinnig analysiert worden:

Trotzki wollte nicht die Niederlage der Sowjetunion, sondern den Unter gang Stalins. In seinen Prophezeiungen über den kommenden Krieg spürt man Unsicherheit: Wußte doch der Vertriebene, dass nur eine Niederlage seiner Heimat Stalins Macht beenden konnte (…). Er wünschte unbewußt den Krieg, weil er in diesem Krieg die einzige Möglichkeit sah, Stalin zu stürzen. Das jedoch wollte Trotzki sich nicht einmal selbst eingestehen.[284]

11. Zwischen »bonapartistischem Umsturz«, »Staatsstreichen« und Desinformation: Der Fall Tuchatschewski

In diesen Kontext des (latenten oder offenen) Bürgerkriegs innerhalb der aus dem Zusammenbruch des Ancien Régime hervorgegangenen neuen Führungsgruppe, der gegenseitigen Anschuldigungen des Verrats und des Einvernehmens mit dem imperialistischen Feind und der realen Aktivität der Geheimdienste, die sich bemühten, sowohl Agenten zu rekrutieren als auch Verwirrung zu stiften, ist das Geschehen einzureihen, das im Jahre 1937 zur Anklage und zur Hinrichtung Marschall Tuchatschewskis und zahlreicher anderer Exponenten ersten Ranges der Roten Armee geführt hat.

Eine lange Vorgeschichte steht hinter diesen Ereignissen. Schon Lenin sah eine bonapartistische Gefahr auf Sowjetrussland zukommen und teilte seine diesbezüglichen Befürchtungen auch Trotzki mit: Wird die militärische wirklich der zivilen Macht gehorchen? Im Jahre 1920 scheint Tuchatschewski souverän den siegreichen Marsch auf Warschau, von dem er träumt, entscheiden zu wollen. Es zeichnet sich jedenfalls deutlich die Tendenz des brillanten Generals ab – beobachten heute bedeutende Historiker –, »der Bonaparte der bolschewistischen Revolution zu werden«.[285] Zehn Jahre später wird Stalin von der GPU vor den Intrigen gewarnt, die in den militärischen Kreisen gegen ihn gesponnen würden. Handelt es sich nur um eine Übertreibung?[286] Im April des darauf folgenden Jahres formuliert Trotzki starke Zweifel an Tuchatschewski und analysiert die Lage, die in der UdSSR nach der politischen Niederlage Bucharins und der mit ihm verbunden ›Rechten‹ entstanden ist: Die Hauptgefahr für den Sozialismus sei jetzt nicht der »thermidorianische Umsturz«, der formell den sowjetischen Charakter des Landes und den kommunistischen der herrschenden Partei bewahre, sondern der »bonapartistische Umsturz«, der »die offenere, ›reifere‹ Form der Konterrevolution« annehme, »die sich gegen das Sowjetsystem und die Bolschewistische Partei insgesamt richtet, und zwar mit dem blanken Säbel, im Namen des bürgerlichen Eigentums«. In diesem Fall könnten »die abenteuerlich-prätorianischen Elemente vom Typus Tuchatschewski« eine sehr bedeutende Rolle spielen. »Mit der Waffe in der Hand« würden ihnen die »revolutionären Elemente« der Partei, des Staates und – wohlgemerkt – »der Armee« entgegentreten, die sich um die Arbeiterklasse und die »Fraktion der Bolschewiki- Leninisten« (d. h. der Trotzkisten) scharten.[287]

Diese Stellungnahme bildet eine Neuheit im Konflikt unter den Bolschewiki: selbst wenn Stalin »die Rote Armee zweifellos unter seiner genauen Kontrolle« hielt, »war er immer darauf bedacht gewesen, sie nicht zu sehr in die Auseinandersetzungen zu verwickeln, die Partei und Staat erschütterten«;[288] jetzt versucht die Opposition eindeutig in der Armee Fuß zu fassen bzw. dort ihre Präsenz zu konsolidieren, und zwar im Namen des Kampfes gegen die bonapartistische Gefahr, die nur sie angemessen bekämpfen könne. Und doch erhebt Stalin, ohne sich von der so beschworenen bonapartistischen Gefahr beeindrucken zu lassen, 1936 Tuchatschewski und weitere vier Militärführer zur Marschallwürde. Es handelt sich um eine Beförderung im Rahmen einer Reform, bei der die Armee, die bisher »in der Hauptsache eine Territorialarmee gewesen« ist, zu einem »stehenden Heer« wurde und die »alte Manneszucht aus der vorrevolutionären Zeit« wieder einführte.[289] Am 21. Dezember des gleichen Jahres feiert der neue Marschall, zusammen mit den anderen Mitgliedern der sowjetischen politischen und militärischen Führung bei Stalin zu Hause dessen Geburtstag »bis 5.30 Uhr morgens!«, wie Dimitroff unterstreicht.[290]

Gerade diese Reform rief die Entrüstung Trotzkis hervor, der zum einen die alte Anklage wieder aufnimmt: Die Rote Armee »blieb je doch von den Degenerationsprozessen des Sowjetregimes nicht verschont; im Gegenteil, diese kamen in ihr am vollendetsten zum Ausdruck«. Zum anderen schlägt Trotzki neue Töne an, indem er auf die »Bildung einer Art oppositionelle Fraktion innerhalb der Armee« an spielt, die von links her Unbehagen an der Preisgabe der »Perspektive der Weltrevolution« verspüre. Der hier zitierte Text unterstellt gewisser maßen, dass von dieser Opposition sogar Tuchatschewski angezogen werden könnte: Er, der sich im Jahre 1921 sogar mit »ausnehmendem Ungestüm« für die Bildung des »internationalen Generalstabs« eingesetzt hatte, könnte sich nur schwerlich mit dem Verzicht auf den Internationalismus, ja sogar mit der »Vergötterung des Status quo« abfinden, die inzwischen in der UdSSR die Oberhand gewonnen hatten. Was soll man zu diesem neuen Text sagen? Die Agitation in Richtung der Armee geht weiter und scheint sich noch zu verstärken: Nur, dass jetzt der sich am Horizont abzeichnende Kampf nicht mehr von der »Fraktion der Bolschewiki-Leninisten« gegen die bonapartistischen Generale, sondern von einem konsistenten Teil der Armee und ihrer Führungsspitze gegen die thermidorianischen Führer und Verräter des Kreml geführt wird. Der Widerstand der Roten Armee bzw. ihre Rebellion gegen die Zentralmacht sei umso gerechtfertigter als der neue Kurs sich in Wahrheit als ein »zweifacher Staatsstreich« entpuppe, der mit dem bolschewistischen Oktober breche und willkürlich zur »Zertrümmerung der Miliz« und zur »Wiederherstellung der Offizierskaste achtzehn Jahre nach ihrer revolutionären Abschaffung« übergehe.[291] Wenn die Rote Armee sich eventuell gegen Stalin erhöbe, würde sie in Wahrheit die von ihm angezettelten Staatsstreiche abwenden und die revolutionäre Legalität wieder herstellen. Als ob all das noch nicht ausreichte, beschwor das trotzkistische ›Bulletin der Opposition‹ die bevorstehende Revolte der Armee.[292] Dieser eventuellen Gefahr entgegenzutreten, bezweckt vielleicht eine Maßnahme, die in Moskau ein paar Monate vor den Prozessen getroffen worden war: »Am 29. März 1937 beschloss das Politbüro, alle Kommandeure und Führer aus der Roten Armee zu entlassen, die aus politischen Gründen aus der Partei ausgeschlossen worden sind, und verfügt, sie in die ökonomischen Ministerien zu versetzen«.[293]

Das Klima des Verdachts und der Befürchtungen wird durch die Stimmen noch genährt, die von Kreisen der Weißrussen in Paris in Um lauf gebracht werden und von einem in Vorbereitung befindlichen militärischen Staatsstreich in Moskau berichten.[294] Und schließlich: In der zweiten Januarhälfte des Jahres 1937 erreichen den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Eduard Benesch Informationen über geheime »Verhandlungen« zwischen dem Dritten Reich und »der antistalinistischen Clique Marschall Tuchatschewskis, Rykows und anderer«:[295] Hatte die Anschuldigung irgendeine Grundlage oder war das ganze eine Inszenierung der deutschen Geheimdienste? Anfang 1937 weist Hitler in einem Gespräch mit dem Außenminister Konstantin von Neurath die Idee einer Verbesserung der Beziehungen zur UdSSR zurück, fügt jedoch hinzu: »Etwas anderes wäre es, wenn sich die Dinge in Rußland in der Richtung einer absoluten Despotie, gestützt auf das Militär, weiterentwickeln sollten. In diesem Falle dürften wir allerdings den Zeit punkt nicht verpassen, um uns in Rußland wieder einzuschalten«.[296] Benesch informiert über die »Verhandlungen« auch die französische Führung, »deren Vertrauen auf den französisch-sowjetischen Vertrag bedeutend geschwächt wurde«.[297] Es war also nicht nur Stalin, der den Stimmen oder Informationen Glauben schenkte, die vom tschechoslowakischen Staatspräsidenten verbreitet wurden. Noch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schien übrigens Churchill die Version Moskaus zu bestätigen, als er, wie wir noch sehen werden (vgl. unten, Kap. 7 § 2), hervorhob, dass die Säuberung die »deutschfreundlichen« Elemente getroffen habe, und hinzufügte: »Stalin empfand eine große Dankes schuld gegenüber Präsident Benesch«.[298]

Die Frage bleibt jedoch offen, und zur Formulierung einer schlüssigen Antwort hilft auch ein Tischgespräch Hitlers vom Sommer 1942 recht wenig: Ohne auf eine ganz bestimmte militärische Verschwörung Bezug zu nehmen, bemerkte er, dass Stalin ernsthafte Gründe gehabt habe zu fürchten, vom Kreis um Tuchatschewski umgebracht zu wer den.[299] Wenn alles eine unter der direkten Aufsicht oder mit der Zustimmung Hitlers veranstaltete Inszenierung gewesen wäre,[300] hätte dieser vielleicht damit zu einem Zeitpunkt geprahlt, als der Eindruck der ersten überwältigenden Erfolge der Wehrmacht noch frisch war.

Nach dem schon erfolgten ›Prozess‹ und der Hinrichtung stellt Trotzki sich die Schlüsselfrage (»gab es wirklich eine militärische Verschwörung?«) und formuliert darauf eine Antwort, die zu denken gibt: »Alles hängt davon ab, was man als Verschwörung bezeichnet. Jede Unzufriedenheit, jede Annäherung der Unzufriedenen untereinander, jede Kritik und alle Überlegungen, was zu tun sei, wie der unheilvollen Politik der Regierung Einhalt geboten werden könne, ist aus der Sicht Stalins eine Verschwörung. Und in einem totalitären Regime ist ohne Zweifel jede Opposition die Keimzelle einer Verschwörung«; in diesem Sinne war das Bestreben der Generale, die Armee vor den »demoralisierenden Intrigen der GPU« zu schützen, »eine Keimzelle«. Ist das die Widerlegung der These von der Verschwörung oder ihre Anerkennung in der von den Umständen aufgezwungenen »Äsopschen Sprache«? Auf diese zweideutige Erklärung macht der trotzkibegeisterte russische Historiker (Rogowin) aufmerksam, der damit schließlich die These von der »antistalinistischen Verschwörung« Tuchatschewskis wieder aufnimmt und sie in ein ›bolschewistisches‹ statt bürgerliches politisches Bild einfügt.[301]

Zum Schluss: Die Zweifel bleiben, aber nur schwerlich kann man das Ganze mit dem üblichen deus ex machina erklären, dem macht- und blutdürstigen Diktator, der darauf brennt, sich nur mit Marionetten zu umgeben, die zum blinden und unbedingten Gehorsam bereit sind. Diese Erklärung ist umso hinfälliger, als Stalin sich 1932 zusammen mit Molotow problemlos anschickte, die Vorlesungen des Leiters der Militärakademie, Boris M. Schaposchnikow, aufmerksam zu verfolgen; und aus diesen Vorlesungen, die von einem sehr angesehenen Strategen gehalten wurden, der aber nicht Parteimitglied war, scheint Stalin großen Gewinn gezogen zu haben.[302] Im Übrigen war »die Kriegskunst eine der wenigen politisch wichtigen Tätigkeiten, in denen Stalin selbständiges und überlegtes Denken (…) duldete«, sodass »das Offizierskorps« eine wesentlich »eigene Denkweise« bewahren konnte.[303] Der Posten Tuchatschewskis und seiner Mitarbeiter wurde von Generalen eingenommen, die keineswegs passive Vollstrecker waren, sondern unbefangen ihre Meinungen äußerten und mit einem selbstständigen Urteil argumentierten, ohne zu zögern, dem obersten Führer zu widersprechen,[304] der außerdem diese Haltung ermutigte und gelegentlich sogar auszeichnete (vgl. oben, Kap. 1, § 6).

12. Drei Bürgerkriege

Will man nicht bei dem karikierenden Bild stehen bleiben, das Trotzki und Chruschtschow in zwei verschiedenen, aber ebenso harten politischen Kämpfen umrissen haben, darf man nicht aus den Au gen verlieren, dass das im Oktober 1917 begonnene Geschehen von drei Bürgerkriegen gekennzeichnet ist. Im ersten prallt die Revolution mit der buntscheckigen Front ihrer Feinde zusammen, die von den kapitalistischen Mächten unterstützt werden, denen es da rum geht, mit allen Mitteln die bolschewistische Ansteckung einzudämmen. Der zweite entwickelt sich von der Revolution von oben und von außen her, denn darin besteht praktisch, trotz einiger Anstöße von unten aus dem ländlichen Milieu, der Substanz nach die Kollektivierung der Landwirtschaft. Der dritte ist der, der die bolschewistische Führungsschicht erschüttert.

Letzterer ist besonders komplex, weil er von großer Mobilität und sogar von eklatanten Frontwechseln gekennzeichnet ist. Wie wir wissen, spielt Bucharin anlässlich des Vertrags von Brest-Litowsk einen Augenblick lang mit der Idee eines Staatsstreichs gegen Lenin, dem er vorwirft, »die Partei in einen Misthaufen« verwandeln zu wollen. Während aber Bucharin damals Positionen einnimmt, die denen Trotzkis nahestehen, so wird zehn Jahre später derselbe Bucharin in den Augen Trotzkis zur bevorzugten Inkarnation des Thermidors und des bürokratischen Verrats: »Mit Stalin gegen Bucharin? Ja. Mit Bucharin gegen Stalin? Niemals«.[305] Zu diesem Zeitpunkt scheint Trotzki Stalin vor Bucharin zu warnen: Dieser würde bald »Stalin als Trotzkisten niederschlagen, genauso wie Stalin Sinowjew niedergeschlagen hatte«. Wir sind im Jahre 1928 und schon zeichnet sich der Bruch zwischen Stalin und Bucharin ab, der in der Tat, wegen des Aufgebens der NEP, »privat Stalin als den Vertreter des Neotrotzkismus zu beschreiben« und ihn als »einen prinzipienlosen Intriganten, letztendlich als den schlimmsten und gefährlichsten Feind innerhalb der Partei« zu bezeichnen beginnt.[306] Der ehemalige Duumvir begibt sich so auf den Weg, der ihn dazu führen wird, einen Block mit Trotzki zu bilden. Am Ende werden sich die verschiedenen Oppositionen gegen den Sieger verbünden; Tatsache ist, dass die Fronten des tödlichen Konflikts unter den Bolschewiki bis zuletzt recht veränderlich sind.

Durchgekämpft in einem Land, das keine liberale Tradition kannte und einerseits durch das lange Andauern des Ausnahmezustands, andererseits durch das Fortbestehen einer Ideologie gekennzeichnet war, die dazu tendierte, die Normen der rule of law als bloß »formell« abzutun, nahm der dritte Bürgerkrieg die Grausamkeit eines Religionskrieges an. Für Trotzki, der »sich allein für den geeigneten Führer der Revolution hielt«, war »kein Mittel zu schlecht, den ›falschen Messias‹ von seinem durch kleine Lügen erschlichenen Sitz zu stürzen«.[307] Ein »furioser Glaube« inspiriert auch das entgegengesetzte Lager (vgl. unten, Kap. 4, § 4). Je entschiedener Stalin ist, jede, auch die fernliegendste, Gefahr einer Verschwörung, zu liquidieren, desto stärker ballen sich die Wolken eines Krieges zusammen, der die Existenz Russlands und des Landes des Sozialismus bedroht, und der daher sowohl für die nationale als auch für die soziale Sache, die Stalin beide zu verkörpern glaubt, eine tödliche Gefahr darstellt.

Die drei Bürgerkriege sind nicht immer leicht voneinander zu unter scheiden (die Terror- oder Sabotageakte können der Ausdruck eines Projekts der Konterrevolution oder einer neuen Revolution sein), und auch noch mit der Intervention der einen oder anderen Großmacht verknüpft. Das verwickelte und tragische Ganze dieser Konflikte zerrinnt in dem Bild, das, jeweils anders, zuerst von Trotzki und später von Chruschtschow umrissen worden ist. Der zuletzt Genannte erzählt die einfache und erbauliche Fabel des Monsters, das durch seine bloße Berührung Gold in Blut und Schmutz verwandelt.

Kapitel 3: Zwischen 20. Jahrhundert und Langzeitperspektive, zwischen Geschichte des Marxismus und Geschichte Russlands: Die Ursprünge des »Stalinismus«

1. Eine angekündigte Katastrophe

Bisher haben wir uns auf die Verknüpfung von ideologischen, politischen und militärischen Widersprüchen des revolutionären Prozesses einerseits und internationalen Konflikten andererseits konzentriert. Das Bild wäre aber nicht vollständig, wenn man nicht auch die Dimension der Langzeitperspektive in der russischen Geschichte berücksichtigen würde. Das Näherkommen der Katastrophe war von Beobachtern verschiedenster Orientierung lange vor 1917 und sogar lange vor der Entstehung der bolschewistischen Partei wahrgenommen worden. Aus Petersburg, das noch durch den von Pugatschow (einem Analphabeten, aber von großen politischen Fähigkeiten) angeführten Bauernaufstand erschüttert war, der einige Jahrzehnte zuvor nur mit Mühe unterdrückt werden konnte, bringt Joseph de Maistre im Jahre 1811 seine Sorge zum Ausdruck, es könnte eine neue Revolution »europäischen« Typs aus brechen. Sie würde diesmal von einer aus den Volksmassen stammen den und deren Gefühle teilenden intellektuellen Schicht, von einem »Pugatschow der Universität«, angeführt. Im Vergleich dazu würden die Umwälzungen in Frankreich wie ein Kinderspiel erscheinen: »Es gibt keinen Ausdruck, um euch zu sagen, was man da alles befürchten könnte«.[308]

Überspringen wir etwa ein halbes Jahrhundert. Eine noch treffendere, ja sogar wegen ihrer Klarsichtigkeit unzweifelhaft erstaunliche Prophezeiung kann man in einem Artikel über Russland lesen, den Marx in einer US-amerikanischen Zeitung (›New York Daily Tribune‹) veröffentlicht hat: Sollte sich der Adel weiterhin der Befreiung der Bauern widersetzen, werde eine große Revolution ausbrechen: »Die Schreckensherrschaft dieser halbasiatischen Leibeigenen wird etwas in der Geschichte noch nie Dagewesenes sein«.[309]

Gleich nach der Revolution von 1905 unterstrich sogar der Ministerpräsident Sergej Witte die Unhaltbarkeit der Lage in Russland und warnte den Zaren vor der Gefahr, die der bunt, der Bauernaufstand, darstellte:

Man kann den Fortschritt der im Vormarsch befindlichen Menschheit nicht aufhalten. Wenn nicht dank der Reform, wird die Idee der menschlichen Freiheit mit der Revolution triumphieren. Aber in diesem Fall wird sie aus der Asche von tausend Jahren von Verwüstungen entstehen. Der blinde und unerbittliche russische bunt wird auf seinem Vorbeimarsch alles hinwegfegen, alles in Staub verwandeln (…). Die Schrecken des russischen bunt werden alles übertreffen, was die Geschichte je gesehen hat.[310]

Im Übrigen beteiligte sich auch Witte an der furchtbaren Repression, mit der die Revolution von 1905 und die oft wilden Jacquerien, die sie begleiteten, niedergeschlagen wurden: Der Innenminister P. N. Dournovo befiehlt »den Gouverneuren, die Aufständischen ›sofort hinzurichten‹, die Dörfer, von denen die Tumulte ausgegangen sind, niederzubrennen und dem Erdboden gleichzumachen«; es wüteten die »Militärgerichte«, die »kollektiven Repressalien«, die Todeskommandos, die Pogrome, die die Juden ins Visier nehmen, die beschuldigt werden, die Subversion zu schüren. Diese Situation zog sich bis zum Ausbruch des Krieges hin. Gerade der Innenminister warnt: »Die Revolution in ihrer extremsten Form und eine irreversible Anarchie werden die einzigen voraussehbaren Resultate eines unheilvollen Krieges gegen den Kaiser sein«.[311]

Genau das bewahrheitet sich. Wie sieht es in Russland am Vorabend der Machtübernahme durch die Bolschewiki aus: Der Mythos von einem Land, das nach dem Zusammenbruch der Autokratie glücklich den Weg des Liberalismus und der Demokratie eingeschlagen hat, ist inzwischen in die Krise geraten. Diesen Mythos hatte damals Churchill gepflegt, der zur Rechtfertigung seiner Interventionspolitik die Bolschewiki beschuldigte, vom »deutschen Gold« gefördert, die »russische Republik« und das »russische Parlament« mit Gewalt gestürzt zu haben.[312] Es wäre ein Leichtes, den englischen Staatsmann der Heuchelei zu bezichtigen: Er wusste sehr wohl, dass London zwischen dem Februar und dem Oktober regulär die Staatsstreichversuche unterstützt hatte, die darauf abzielten, die zaristische Autokratie wieder herzustellen bzw. die Militärdiktatur zu erzwingen. Sogar Kerenski hebt hervor, dass »die Regierungen Frankreichs und Englands jede Gelegenheit wahr(nahmen), die Provisorische Regierung zu sabotieren«.[313] Aber dennoch pflegt der menschewistische Führer bis zuletzt aus seinem US-amerikanischen Exil den fraglichen Mythos und beschuldigt die Bolschewiki des doppelten Verrats am Vaterland und an der »neugeborenen russischen Demokratie«.[314]

Erweist sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit dem Auftreten der UdSSR als Supermacht die Anklage des nationalen Verrats als überholt – Kerenski ist einer der wenigen besiegten menschewistischen Führer, der noch darauf besteht –, so ist das Motiv des bolschewistischen Verrats an der russischen Demokratie, Verrat, der im Stalinschen Terror gipfelte, noch heute ein Gemeinplatz. Aber dieser Gemeinplatz hält der historischen Analyse nicht stand. Es geht nicht nur um die Hartnäckigkeit, mit der die aus den Februartagen hervor gegangenen menschewistischen Führer, und in erster Linie gerade Kerenski, auf der Fortführung eines Gemetzels bestehen, dem die übergroße Mehrheit der Bevölkerung entschieden ein Ende bereiten will: Eine politische Linie, die an der Front und in der Etappe nur mit eiserner Faust verfochten werden kann. Und das Wichtigste sind nicht einmal die wiederholten Versuche der Errichtung einer Militärdiktatur (Ver suche, an denen Churchill keineswegs unbeteiligt war). Da gibt es noch viel mehr: »Die Meinung, dass der Februar eine ›unblutige Revolution‹ gewesen sei und dass die Gewalttätigkeit der Massen erst mit dem Oktober ausgebrochen sei, ist ein liberaler Mythos«: Es handelt sich um »einen der hartnäckigsten Mythen über 1917«, der aber inzwischen jede Glaubwürdigkeit verloren hat.[315] Betrachten wir den wirklichen Verlauf der Dinge: »Die Aufständischen nahmen eine fürchterliche Rache an den Funktionären des Ancien Régime. Man verfolgte die Polizisten, um sie zu lynchen und erbarmungslos umzubringen«.[316] In Petersburg »gab es in wenigen Tagen zirka 1.500 Tote«, und die verhasstesten Vertreter des Ancien Régime wurden oft grausam gelyncht; »die schlimmsten Gewalttaten vollbrachten allerdings die Matrosen von Kronstadt, die Hunderte von Offizieren verstümmelten und ermordeten«.[317] Ganz junge Rekruten waren es, die meuterten: Für sie »galt nicht die normale Militärdisziplin« und die Offiziere nutzten dies aus, um sie »mit einer noch sadistischeren Brutalität zu behandeln als üblich«; daher entfesselte sich die Rache mit einer »unerhörten Grausamkeit«.[318]

Noch schlimmer wurde die Lage im September, nach dem Putsch versuch General Lawr Kornilows: Exekutionen seitens der Volksmassen breiteten sich aus, und die Morde waren von einer »unglaublichen Gewalttätigkeit« begleitet. »Die Offiziere wurden gefoltert und verstümmelt, bevor sie getötet wurden (Augen und Zunge ausgerissen, Ohren abgeschnitten, Nägel anstelle der Schulterklappen eingeschlagen), mit dem Kopf nach unten gehängt, gepfählt. General Brusilow zufolge hat eine große Anzahl junger Offiziere Selbstmord begangen, um einem fürchterlichen Tod zu entfliehen«.[319] Auch waren »die Methoden, die Vorgesetzten umzubringen, so brutal (die Untergebenen gingen so weit, die Gliedmaßen und die Genitalien des Opfers abzuschneiden oder es bei lebendigem Leibe zu häuten), dass man den Selbstmord wirklich nicht missbilligen konnte«.[320] Schon vor dem Oktober zeigte sich die Rage schon in der Auffassung, die »in den Beschlüssen der Sowjets, die damals weitgehend von den Sozialrevolutionären beherrscht waren, ›die blutdürstigen Kapitalisten, die Bourgeois, die das Blut des Volkes saugen, als Feinde des werktätigen Volkes‹ brandmarkte«.[321]

Außerdem schuf »die schon lange vor der Eroberung der Macht durch die Bolschewiki bestehende Krise des Handelsaustauschs Stadt Land« einen neuen akuten Anlass zur Gewalt. In der tragischen Situation, die nach der Katastrophe des Krieges, des Rückgangs der landwirtschaftlichen Produktion und des Hamsterns der wenigen verfügbaren Lebensmittel entstanden war, wurde das Überleben der Stadtbevölkerung durch recht drastische Maßnahmen gesichert: Erneut spricht sich schon vor der Oktoberrevolution ein Minister, der immerhin »ein an erkannter liberaler Ökonomist« war, im Falle des Scheiterns der Markt anreize für die Beschlagnahme mit »Waffengewalt« aus; »die Praxis der Beschlagnahme« ist in der Tat »allen im Konflikt befindlichen Parteien« gemein.[322]

Die Verknüpfung dieser vielfältigen Widersprüche führt zu einer blutigen Anarchie mit dem »Zusammenbruch jeder Autorität und jeder institutionellen Ordnung«, mit dem Ausbruch einer wilden Gewalt von unten (deren Protagonisten vor allem Millionen von Deserteuren und versprengten Soldaten sind) und mit »einer allgemeinen Militarisierung und Brutalisierung der sozialen Verhaltensweisen und der politischen Praxis«.[323] »Eine Brutalisierung, die keine Vergleichsmöglichkeiten mit der in westlichen Gesellschaften bekannten bietet«.[324]

Um diese Tragödie zu verstehen, muss man den »Prozess der Ausbreitung der sozialen Gewalttaten von den Zonen der militärischen Gewalt her«, die »Kontamination des Hinterlandes durch die von den Soldaten-Bauern-Deserteuren außerhalb des Heeres vollbrachten Gewalttaten«, die Gewalttätigkeit von »Millionen von Deserteuren des in Auflösung befindlichen russischen Heeres«, die immer schwankender werdenden »Grenzen zwischen Front und Etappe, zwischen ziviler und militärischer Sphäre« berücksichtigen. Das heißt, »die Gewalt der militärischen Zonen breitet sich überall aus«, und die Gesellschaft insgesamt stürzt nicht nur ins Chaos und in die Anarchie, sondern verfällt in eine »unerhörte Brutalisierung«.[325]

Man muss also vom Ersten Weltkrieg und von der Krise und der Zersetzung des russischen Heeres ausgehen. Vielleicht sollte man sogar noch weiter zurückgehen. Das außergewöhnliche Gewaltpotenzial das sich im 20. Jahrhundert über Russland entlädt, erklärt sich durch die Verknüpfung zweier Prozesse: »Die große Jacquerie vom Herbst 1917«, die seit Jahrhunderten schwelte und gerade deshalb eine blinde und wahllose Gewalt gegen den Besitz, den Wohnsitz und sogar das Leben der Eigentümer und außerdem eine starkes Ressentiment gegen die Stadt schlechthin entfesselt. Der zweite Prozess ist »die Zersetzung des zaristischen Heeres, des größten Heeres der Geschichte, das zu 95% aus Bauern bestand«.[326]

Die Unterdrückung, die Ausbeutung und die Demütigung einer unermesslichen Masse von Bauern durch eine kleine aristokratische Elite, der ihr eigenes Volk fremd war, das zu einer anderen und niedrigeren Rasse degradiert wurde, waren Vorboten einer Katastrophe nie dagewesener Ausmaße. Zumal der soziale Konflikt durch den Ersten Welt krieg noch weiter verschärft wird, indem die adligen Offiziere praktisch tagtäglich die Macht über Leben und Tod ihrer Knechte-Soldaten aus üben: nicht umsonst versucht man bei den ersten Krisenanzeichen die Disziplin an der Front und in der Etappe auch mit dem Einsatz der Artillerie aufrechtzuerhalten.[327] Der Zusammenbruch des Ancien Régime ist die Gelegenheit zu der jahrhundertelang herbeigesehnten Revanche und Rache. Selbstkritisch anerkennt das Fürst Georgi Lwow: »Die Rache der Leibeigenen« war die Abrechnung mit denen, die sich jahrhundertelang geweigert hatten, »die Bauern wie Menschen und nicht wie Hunde zu behandeln«.[328] Gerade weil es sich um Rache handelte, nahm diese leider nicht nur unmenschliche, sondern auch rein zerstörerische Formen an: »Betrunkene Arbeiter und Soldaten zogen zu Tausenden durch die Städte und plünderten Lagerhäuser und Geschäfte, brachen in die Häuser ein, schlugen und beraubten die Passanten«. Noch Schlimmeres geschah auf dem Land: »Ganze Truppenteile von Deserteuren zerstreuten sich hinter der Front und gaben sich dem Banditentum hin«. Die vereinte Erregung von versprengten Soldaten und Bauern entzündete einen für Russland verheerenden Brand, und zwar nicht nur unter dem Vorzeichen der Jacquerie (die Herrenhäuser werden angezündet und ihre Besitzer oft ermordet), sondern auch des Luddismus (die Landwirtschaftsmaschinen, die in den vergangenen Jahren den Einsatz der Lohnarbeiter reduziert hatten, werden zertrümmert) und des Vandalismus (»alles was zu sehr nach Reichtum aussah: Gemälde, Bücher und Skulpturen« wurde zerstört und besudelt). Ja, »die Bauern verwüsteten Herrenhäuser, Kirchen, Schulen. Sie steckten Bibliotheken in Brand und demolierten unschätzbare Kunstwerke«.[329]

2. Der russische Staat wird von den Verfechtern des »Absterbens des Staates« gerettet

Insgesamt können wir die Lage, die nach der Februarrevolution und nach dem Zusammenbruch des Ancien Régime entsteht, wie folgt beschreiben:

Russland machte also einen Balkanisierungsprozess durch (…). Was das Jahr 1917 bewies, ist, dass die russische Gesellschaft weder stark noch gefestigt genug war, um eine demokratische Revolution auszutragen. Nahm man den Staat weg, so gab es nichts, was Russland zusammenhielt.[330]

Ironie der Geschichte: Der Staat wurde von einer Partei wieder eingeführt, die das schließliche Absterben des Staates vorhersagte! Eine unerbittliche Energie ist vonnöten, um die Ordnung in einer Welt wieder herzustellen, die, von Jahrhunderten der Isolierung und der Unterdrückung verroht, einen weiteren Prozess der Verwilderung infolge des Krieges, der Auflösung des Ancien Régime und des Umsichgreifens der Anarchie und des Chaos durchmacht. Es wäre jedoch banal ideologisch, den Rückgriff auf die terroristische Gewalt nur auf der einen Seite zu sehen. Wie wird nämlich die neue aufsteigende Macht bekämpft:

Es handelte sich um einen erschütternden Rachefeldzug gegen das kommunistische Regime. Tausende von Bolschewiki wurden brutal ermordet. Viele wurden Opfer furchtbarer (und symbolischer) Torturen. Ohren, Zunge und Augen ausgerissen, Gliedmaßen, Kopf und Genitalien abgeschnitten; der Magen durchgestoßen und mit Hafer gefüllt, Kreuze auf der Stirn und auf dem Oberleib eingebrannt; lebendige Personen an Bäume genagelt, lebendig verbrannt, in eiskaltem Wasser ertränkt, bis zum Hals eingegraben und unter dem jubelnden Blick einer Menge von Bauern, Hunden und Ratten zum Fraß überlassen. Polizeiwachen und Gerichte dem Erdboden gleichgemacht. Schulen und Propagandazentren zerstört (…). Auch das ganz normale Banditentum mischte mit. Fast alle Banden überfielen die Züge. Im Donbass wurde gesagt, dass diese Überfälle im Frühjahr 1921 »fast täglich« stattfanden. Eine andere übliche Versorgungsquelle waren die Überfälle auf Ortschaften und manchmal auch auf isolierte Bauernhöfe.[331]

Was ist der Auslöser dieser grausamen Gewalt? Die Politik der Bolschewiki? Nur zum Teil: In den Jahren 1921/22 wütete »eine furchtbare Hungersnot (…) die unmittelbar auf ein Jahr der Dürre und starken Frosts zurückzuführen war«.[332] Der Bauernaufstand war auch der Protest gegen »einen Staat, der die Söhne und die Pferde fürs Heer wegholte, der die Verwüstungen des Bürgerkriegs verlängerte, der die Bauern zwangsweise für die Arbeitsstaffeln rekrutierte, der sie der Nahrungsmittel beraubte«;[333] es war also der Protest gegen eine Katastrophe, die im Jahre 1914 begonnen hatte. Auch was die bolschewistische Politik betrifft, muss man die Maß nahmen, die die Bauern auf unsinnige Weise trafen, von denen unter scheiden können, die vollkommen anders geartet waren. Man denke an die kollektiven Bauernwirtschaften, die schon 1920 entstanden waren und oft von kommunistischen Aktivisten aus der Stadt gegründet wurden, die nicht nur von ihren Idealen, sondern auch vom furchtbaren Hunger in den Städten angespornt waren: »Man aß und arbeitete kollektiv. Die Frauen arbeiteten neben den Männern hart auf den Feldern, und in gewissen Fällen wurde ein Kindergarten eingerichtet, um auf den Nachwuchs aufzupassen. Es gab im Übrigen keinerlei religiösen Brauch«. Auch in diesem Fall war die Feindseligkeit der Bauern unerbittlich, denn »sie waren überzeugt davon, dass nicht nur der Boden und die Ackergeräte, sondern auch die Ehefrauen und Kinder Gemein besitz waren und dass alle zusammen unter einer einzigen riesigen Decke schliefen«.[334] Noch bitterer war übrigens die Erfahrung, die Ende des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts die Populisten durchgemacht hatten, die entschieden »zum Volk gingen«, um ihm mit der Einrichtung von landwirtschaftlichen Genossenschaften zu helfen, die aber ganz schnell dazu gezwungen waren, das idealisierte Bild zu revidieren, das sie vom russischen Bauern hatten. Hier das Schicksal, das einem von ihnen, Michail Romas, zuteil wurde:

Von Anfang an zeigten sich die Dorfbewohner seiner Genossenschaft gegenüber misstrauisch, da sie nicht verstehen konnten, warum die Prei se des neuen Unternehmens so viel niedriger waren als die der anderen Kleinhändler. Die wohlhabenderen Landwirte, die in engerer Verbindung mit den Händlern der Gegend standen, begannen Romas und sei ne Mitarbeiter mit einer Reihe von Einschüchterungen zu verfolgen: Sie bestreuten deren Kaminholz mit Schießpulver, sie bedrohten die armen Landwirte, die ein gewisses Interesse für die Genossenschaft zeigten und töteten sogar einen armen Bauern des Dorfes, zerteilten seinen Körper schrecklich und verstreuten dann die Stücke dem Flussufer entlang. Zuletzt sprengten sie die Genossenschaft (und einen Teil des Dorfes) in die Luft, indem sie das Kerosin-Depot in Brand steckten.

Nur mit Mühe gelang es den Populisten, sich durch Flucht zu retten.[335] Erneut kommt der Langzeitprozess hinter den Gewalttätigkeiten ans Licht, die sich im krisengeschüttelten Russland entfesseln. Dies gilt auch für die fürchterlichen Pogrome, die Juden und Bolschewiki und besonders die Ersten ins Visier nehmen, die verdächtigt werden, die Drahtzieher der Zweiten zu sein. Erteilen wir erneut dem hier wieder holt zitierten englischen Historiker das Wort:

In einigen Ortschaften, zum Beispiel in Tschernobyl, wurden die Juden in der Synagoge zusammengetrieben, die daraufhin in Brand gesteckt wurde. In anderen Städten, wie etwa in Tscherkassy wurden hunderte, noch nicht zehn Jahre alte Mädchen vergewaltigt und viele von ihnen wurden später mit fürchterlichen Bajonett- und Säbelwunden in der zarten Vagina aufgefunden (…). Tereks Kosaken folterten und verstümmelten Hunderte von Juden, großenteils Frauen und Kinder. Hunderte von Leichen wurden im Schnee, dem Fraß von Hunden und Schweinen ausgeliefert. In dieser makabren Atmosphäre feierten die Kosakenoffiziere einen surrealen Tanzabend in den Räumen des Postamts, natürlich mit Abendanzug und Orchester, mit der Teilnahme des örtlichen Richters und einer Gruppe von Prostituierten, die aus Tscherson herangeschafft wurden. Und während die Truppe weiterhin aus reiner Lust Juden massakrierte, verbrachten die Offiziere und ihre Mädchen die Nacht mit Tanz und Champagner.

Diesbezüglich spricht »der Abschlussbericht einer 1920 von der jüdischen Organisation Sowjetrusslands durchgeführten Untersuchung von ›mehr als hundertfünfzigtausend bekannt gewordenen Toten‹ und von wahrscheinlich dreihunderttausend Opfern, Tote und Verletzte inbegriffen«.[336]

3. Stalin und der Abschluss der Zweiten Periode der Unruhen

Die russische Revolution erscheint jetzt in einer neuen Perspektive: »Zweifellos beruhte der Erfolg der Bolschewiki im Bürgerkrieg letztlich auf ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit, ›den Staat aufzubauen‹, eine Fähigkeit, die ihren Gegnern dagegen fehlte«.[337] Noch vor dem Historiker unserer Tage, der immerhin das Schwarzbuch des Kommunismus mit verfasst hat, haben schon 1918 in Russland einige erklärte Feinde der Bolschewiki auf diesen Punkt aufmerksam gemacht. Den Bolschewiki schreibt Pawel Miljukow das Verdienst zu, »den Staat wiederhergestellt« zu haben. Noch weiter geht Wassili Maklakow: »Die neue Regierung hat begonnen, den Staatsapparat zu restaurieren, die Ordnung wiederherzustellen, gegen das Chaos zu kämpfen. Auf diesem Gebiet legen die Bolschewiki Energie, ja mehr noch, ein unleugbares Talent an den Tag«.[338] Drei Jahre später konnte man sogar in einer ultrakonservativen US-amerikanischen Zeitung lesen: »Lenin ist der einzige Mensch in Russland, der die Kraft hat, alles zusammenzuhalten. Würde er gestürzt, herrschte nur das Chaos«.[339]

Die aus der Oktoberrevolution hervorgegangene revolutionäre Diktatur erfüllt auch eine nationale Funktion. Das hat Gramsci gut begriffen, als er im Juni 1919 die Bolschewiki gewiss als Protagonisten einer großen Revolution, aber auch deshalb pries, weil sie ihre revolutionäre Größe mit der Bildung einer Führungsgruppe unter Beweis gestellt hätten, die sich aus ausgezeichneten »Staatsmännern« zusammensetzte, die in der Lage gewesen seien, die ganze Nation vor der Katastrophe zu retten, in die sie vom Ancien Régime und von der alten herrschenden Klasse gestürzt worden war (vgl. oben, Kap. 2, § 5). Ein Jahr später nimmt Lenin darauf indirekt Bezug, wenn er gegen den Linksradikalismus polemisiert und hervorhebt »Die Revolution ist unmöglich, ohne eine gesamtnationale (Ausgebeutete wie Ausbeuter erfassende) Krise«; die politische Kraft, die in der Lage ist, gerade diese Krise zu meistern, werde die Hegemonie erobern und den Sieg davontragen.[340] Auf dieser Grundlage schließt sich Alexej Brusilow Sowjetrussland an; er ist der brillante General adliger Herkunft, der, wie wir wissen, vergeblich versucht hatte, seine Offiziere zu retten, die von der grausamen Gewalt der Bauern-Soldaten zum Selbstmord getrieben wurden: »Mein Pflichtgefühl der Nation gegenüber hat mich oft dazu gezwungen, nicht meinen natürlichen gesellschaftlichen Neigungen zu folgen«.[341] Wenige Jahre später, im Jahre 1927 skizzierte Walter Benjamin ein Bild von Moskau und hob dabei scharfsinnig das »starke Nationalgefühl« hervor, das »der Bolschewismus allen Russen ohne Unterschied geschenkt hatte«.[342] Der Sowjetmacht war es gelungen, einer nicht nur furchtbar heimgesuchten, sondern gewissermaßen auch verwirrten und steuerlosen Nation ohne feste Bezugspunkte eine neue Identität und ein neues Selbstbewusstsein zu geben.

Und dennoch war die »gesamtnationale Krise« nicht wirklich beendet. Mit voller Gewalt 1914 ausgebrochen, aber schon mit einer langen Inkubationszeit im Hintergrund, ist diese Krise gelegentlich als die Zweite Periode der Unruhen bezeichnet worden, und zwar in Ana logie zu der, die im 17. Jahrhundert in Russland gewütet hatte.[343] Der Kampf zwischen den Thronanwärtern, der sich in Verbindung mit der Wirtschaftskrise und dem Bauernaufstand und mit der Intervention der ausländischen Mächte entwickelte, verschärft sich im 20. Jahrhundert mit dem erschwerenden Umstand des Konflikts zwischen den verschiedenen Legitimationsprinzipien der Macht. Um der klassischen Dreiteilung Webers zu folgen, war die traditionelle Macht zusammen mit der Zarenfamilie im Grab versunken, auch wenn der eine oder andere General verzweifelt versuchte, sie wieder auszugraben; die charismatische Macht Lenins, die schon infolge des scharfen Konflikts anlässlich des Friedens von Brest-Litowsk einen Riss bekommen hatte, überlebt seinen Tod nicht; schließlich stößt die rechtmäßige Gewalt auf außer gewöhnliche Durchsetzungsschwierigkeiten nach einer Revolution, die mit einer Ideologie triumphiert, die ganz von der emphatischen Utopie des Absterbens des Staates durchdrungen ist, und das in einem Land, wo der Hass des Bauern auf seine Herrschaften traditionell in scharf staatsfeindlichen Tönen zum Ausdruck kommt.

Soweit eine charismatische Macht noch möglich war, tendierte sie dazu, in Trotzki Gestalt anzunehmen: Der geniale Organisator der Roten Armee und der brillante Redner und Schriftsteller erhob den Anspruch, die Hoffnungen auf den Triumph der Weltrevolution zu verkörpern, und leitete von daher die Legitimität seines Bestrebens her, die Partei und den Staat zu regieren. Stalin war dagegen die Verkörperung der legal-traditionellen Macht, die mühsam Form anzunehmen versuchte: Im Gegensatz zu Trotzki, der spät zum Bolschewismus gelangt war, stellte er die historische Kontinuität der Partei der Revolution und damit Gründer der neuen Legalität dar; wenn Stalin außerdem die Realisierbarkeit des Sozialismus in einem (großen) Land verfocht, verlieh er der russischen Nation eine neue Würde und Identität. So überwand sie nicht nur die erschreckende ideelle, sondern auch materielle Krise, die sie nach der Niederlage und dem Chaos des Ersten Weltkriegs durchgemacht hatte, um so ihre historische Kontinuität wiederzufinden. Aber gerade deshalb sprachen seine Gegner von ›Verrat‹, während für Stalin und seine Anhänger diejenigen Verräter waren, die mit ihrer abenteuerlichen Politik die Intervention der ausländischen Mächte begünstigten und letztlich das Überleben der russischen Nation in Gefahr brachten, die zugleich die Vorhut der revolutionären Sache war. Der Zusammenstoß zwischen Stalin und Trotzki ist der Konflikt nicht nur zwischen zwei politischen Programmen, sondern auch zwischen zwei verschiedenen Legitimationsprinzipien.

Aus all diesen Gründen schließt die Zweite Periode der Unruhen nicht etwa mit der Niederlage der von der Intervention der konterrevolutionären Mächte unterstützten Anhänger des Ancien Régime ab, wie man üblicherweise annimmt, sondern mit dem Ende des dritten Bürgerkriegs (der die bolschewistische Führungsgruppe selbst erschütterte) und ferner mit dem Ende des Konflikts zwischen entgegengesetzten Legitimationsprinzipien: Also nicht schon 1921, sondern 1937. Selbst wenn Russland im 17. Jahrhundert schon mit dem Beginn der Romanow-Dynastie die Periode der Unruhen im eigentlichen Sinn überwindet, erlebt es eine endgültige Konsolidierung mit der Thronbesteigung Peters des Großen. Nachdem sie ihre akuteste Phase in den Jahren vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Abschluss der Intervention der Entente durchgemacht hatte, endete die Zweite Periode der Unruhen mit der Festigung der Macht Stalins und der Industrialisierung und ›Verwestlichung‹, die er in Vorhersehung des Krieges gefördert hat.

4. Exaltierte Utopie und Verlängerung des Ausnahmezustands

Natürlich ist der Langzeitprozess der Zweiten Periode der Unruhen nicht nur eine objektive Tatsache. Welche Rolle spielen bei ihrer Ausdehnung die intellektuellen und politischen Schichten und die Ideologie, die sie inspiriert? Eine Denkrichtung, die in Arendt ihren bevorzugten Bezugspunkt findet, bemüht sich vor allem um die Suche nach dem ideologischen Sündenfall, der für die Revolutionen mit besonders mühevollem Verlauf typisch sei. Fruchtbarer erscheint mir ein anderer Ansatz, der von einer vergleichenden Soziologie der intellektuellen und politischen Schichten ausgeht. In den Bewegungen, die in die Revolution in Frankreich und in Russland mündeten, sehen wir die »Bettler der Schreibfeder«, die Gueux plumées, nach Burkes bzw. die »Pugatschows der Universität« nach Maistres Definition am Werk. Es handelt sich also um Intellektuelle ohne Eigentum, die von ihren Gegnern als ›abstrakt‹ verspottet werden. Zweifellos haben die Eigentümer-Intellektuellen schon eine wirkliche politische Erfahrung und sogar Erfahrung politischer Machtausübung hinter sich, als sie den Zusammenbruch des Ancien Régime vor sich haben. Die Sklavenhalter in den USA, aus deren Reihen die bedeutendsten Intellektuellen und Staatsmänner stammen (in zweiunddreißig der ersten sechsunddreißig Jahre der Existenz der nordamerikanischen Republik waren die jeweiligen Präsidenten Sklavenhalter), beschränken sich nicht dar auf, diesen Besitz als eine ›besondere‹ Art des Privateigentums neben allem anderen zu genießen: Über ihre Sklaven üben sie gleichzeitig eine exekutive, legislative und richterliche Gewalt aus. Ähnliche Betrachtungen könnte man in Bezug auf das England der Glorious Revolution anstellen: Der Grundbesitz (aus dem oft die Intellektuellen und die liberalen Führer stammen) ist im Oberhaus und im Unterhaus gut vertreten oder stellt mit der gentry direkt die Friedensrichter und ist damit im Besitz der richterlichen Gewalt. Viel unvorbereiteter auf die Begegnung mit der Macht sind indes die Intellektuellen ohne Eigentum. Ihre Abstraktheit trägt dazu bei, den Prozess der Stabilisierung der Revolution viel problematischer und mühevoller werden zu lassen. Es gibt aber auch die Kehrseite der Medaille: Gerade diese »Abstraktheit« und diese Loslösung vom Eigentum ermöglichen den »Bettlern der Schreibfeder« die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien und den »Pugatschows der Universität« den starken Antrieb, den sie dem Entkolonisierungsprozess gegeben haben, der sich später auf Weltebene entwickelt.


Im Langzeitprozess der Zweiten Periode der Unruhen spielt zweifellos auch die Ideologie eine Rolle. Man muss allerdings gleich hinzu fügen, dass es sich nicht nur um die Ideologie der Bolschewiki handelt. Wir sprachen schon von den messianischen Erwartungen, die den Zusammenbruch der zaristischen Autokratie begleiteten, und wir wissen auch, dass das Motiv der verratenen Revolution die Grenzen Russlands und der kommunistischen Bewegung überschreitet. Nur wenige Monate oder wenige Wochen nach dem Oktober 1917 unterstreicht Kautsky, ohne weiter Zeit zu verlieren, wie die Bolschewiki keines der Versprechen, die sie zum Zeitpunkt der Machtübernahme gegeben haben, er füllt hätten bzw. erfüllen könnten:

Jetzt schon hat sich die Sowjetregierung zu verschiedenen Kompromissen dem Kapital gegenüber gedrängt gesehen (…). Aber mehr als vor dem russischen Kapital mußte die Sowjetrepublik vor dem deutschen zurückweichen und seine Ansprüche anerkennen. Wie weit das Kapital der Entente sich in Rußland wieder durchsetzen wird, ist noch fraglich. Alles sieht da nach aus, als hätte die »Diktatur des Proletariats« das russische Kapital bloß vernichtet, um Platz für das deutsche und amerikanische zu schaffen.[344]

Die Bolschewiki waren mit dem Versprechen an die Macht gelangt, »auch die Proletarier der anderen kapitalistischen Länder zur Nachahmung zu reizen und zur Revolution zu entflammen«. Aber was ist mit diesem »Gedankengang von grandioser Kühnheit« geschehen? An seine Stelle ist ein Programm »sofortigen Friedens, um welchen Preis immer« getreten.[345] Wir sind im Jahre 1918 und paradoxerweise unter scheidet sich Kautskys Kritik an Brest-Litowsk nicht sehr von der, die wir besonders bei Bucharin vorgefunden haben. Abgesehen von den internationalen Beziehungen fällt für Kautsky die Bilanz der Oktoberrevolution im Inneren noch weitaus katastrophaler aus:

Sie hat durch Hinwegfegung der Reste des Feudalismus das Privateigentum am Boden reiner und stärker zum Ausdruck gebracht, als es vorher gewesen. Sie hat den Bauern, der bisher am Umsturz des Grundeigentums, das heißt des großen, interessiert war, nun zum energischsten Verteidiger des neu geschaffenen Grundeigentums gemacht, das private Eigentum an den Produktionsmitteln sowie die Warenproduktion neu befestigt.[346]

Erneut kommen uns diejenigen in den Sinn, die auch in der bolschewistischen Partei das Fortbestehen des Grundeigentums und die NEP als ein sträfliches Verlassen des sozialistischen Weges kritisierten.

Mit der späteren Kollektivierung der Landwirtschaft hört der Vorwurf des Verrats nicht auf, er findet vielmehr, wie wir schon wissen, gerade Mitte der 1930er Jahre seine organische Formulierung in dem Buch, das Trotzki der »verratenen Revolution« gewidmet hat. Es ist interessant festzustellen, dass die diesbezüglichen Anklagepunkte gewissermaßen schon in Kautskys Schrift von 1918 aufzufinden sind. Folgendermaßen argumentiert der bedeutende sozialdemokratische Theoretiker: Selbst wenn das individuelle Privateigentum durch das genossenschaftliche Eigentum ersetzt wird, dürfe man nicht vergessen, dass Letzteres nur eine »neue Form des Kapitalismus« ist. Im Übrigen sei »Staatswirtschaft noch nicht Sozialismus« und nicht nur deshalb, weil weiterhin der Markt und die Warenproduktion bestehen.[347] Mehr noch. Die Abschaffung einer bestimmten Form von Kapitalismus bedeutet keineswegs die Abschaffung des Kapitalismus schlechthin: Die neue Macht »kann sicherlich viel kapitalistisches Eigentum vernichten«, aber »das ist nicht gleichbedeutend mit Herstellung einer sozialistischen Produktion«. In Wahrheit entstehe in der Sowjetunion eine neue Ausbeuterklasse: »An Stelle der bisherigen Kapitalisten, die zu Proletariern wurden, treten Proletarier oder Intellektuelle, die zu Kapitalisten werden«.[348] Selbst wenn Trotzki im Gegensatz zu einigen seiner radikaleren Anhänger lieber von »Bürokratie« als von Kapitalistenklasse redet, bleiben die Ähnlichkeiten der hier miteinander verglichenen Ausführungen bestehen, zumal auch in der Analyse des russischen Revolutionärs die »Sowjetbürokratie« darauf abzielt, »die Bourgeoisie des Westens zu überholen«.[349]

Natürlich fehlt es nicht an Unterschieden. Für Kautsky hat die bolschewistische Führungsgruppe als solche die vortrefflichen Ideale des Sozialismus aufgegeben und gewissermaßen verraten; aber mehr als eine Entscheidung und ein subjektives und bewusstes Abschwören sei dieses Aufgeben Ausdruck der »Bedingtheit unseres Wollen und Könnens durch die materiellen Verhältnisse, zeigt die Ohnmacht des stärksten Willens, der sich über sie erheben will«.[350] Im Vergleich zu Trotzki ist Kautskys Diskurs überzeugender. Er begeht nicht den naiven Fehler, gigantische objektive gesellschaftliche Prozesse (die über Russland hinaus später eine ganze Reihe anderer Länder betreffen) mit dem Ver rat einer beschränkten politischen Schicht oder sogar einer einzelnen Persönlichkeit zu erklären, die auf diese Weise zur Rolle eines deus ex machina emporsteigt! Dennoch gibt es einen Zeitpunkt, zu dem auch der deutsche sozialdemokratische Führer die Kategorie subjektiver und bewusster Verrat ins Spiel bringt. Die Bolschewiki hätten ihn begangen, als sie sich, absichtlich die Unausgereiftheit der objektiven Lage übersehend, dem »Kultus der bloßen Gewalt« hingaben, den der Marxismus schwer verurteile.[351] Schon die anfängliche Entscheidung, die Oktoberrevolution zu entfesseln, sei gleichbedeutend mit dem Abschwören der edlen Ideale Marx’ und des Sozialismus; aber in diesem Fall trifft der Vorwurf des Verrats Trotzki nicht weniger als Lenin und Stalin. Offen bleibt allerdings, ob Kautskys Verurteilung des »Kultus der Gewalt« der Bolschewiki kompatibel mit dem gegen sie gerichteten Vorwurf ist, in Brest-Litowsk einen »sofortigen Frieden, um welchen Preis immer«, gewollt zu haben.

Wichtiger als die Unterschiede sind die Ähnlichkeiten, die zwischen den beiden hier miteinander verglichenen Theoretikern des Marxismus bestehen. In beiden Argumentationen reißt die messianische Vision der künftigen Gesellschaft einen Abgrund auf zwischen der Schönheit des echten Sozialismus und Kommunismus einerseits und der hoffnungslosen Mittelmäßigkeit der Gegenwart und der Wirklichkeit: Im Fall Trotzkis wird versucht, diesen Abgrund mit dem Rekurs auf die Kategorie Verrat, und im Fall Kautskys mit dem Rekurs auf die Kategorie der objektiven Unausgereiftheit Russlands zu überwinden, welche unvermeidlich auf die Verunstaltung und den Verrat der ursprünglichen Ideale hinauslaufe. Für den deutschen sozialdemokratischen Führer ist angesichts der »ökonomischen Rückständigkeit« eines Landes, das »nicht zu diesen führenden Industriestaaten« gehört, das Scheitern des sozialistischen Projekts unvermeidlich. »Was sich dort jetzt abspielt, ist tatsächlich die letzte der bürgerlichen, nicht die erste der sozialistischen Revolutionen. Das zeigt sich immer deutlicher. Nur dann hätte seine jetzige Revolution sozialistischen Charakter annehmen können, wenn sie mit einer westeuropäischen sozialistischen Revolution zusammenfiel«.[352] Und erneut sind wir auf die Erwartungen und auf die Perspektiven Trotzkis verwiesen.

Die messianische Vision der neuen Gesellschaft, die es aufzubauen galt, eine Vision, die schon mit der Februarrevolution aufgetaucht war, wird schließlich auf unterschiedliche und entgegengesetzte Art und Weise von breiten Kreisen übernommen. Diese Dialektik zeigt sich besonders deutlich anlässlich der Einführung der NEP. In Entrüstung brechen nicht nur bedeutende Sektoren der bolschewistischen Partei aus, und diese Entrüstung wird nicht immer von der Sorge um das Festhalten an der marxistischen Orthodoxie bestimmt. Beklagt sich der Christ Pascal über das Aufkommen einer neuen »Aristokratie« und die Entwicklung eines »konterrevolutionären« Prozesses, so spricht der große Schriftsteller Joseph Roth enttäuscht von einer »Amerikanisierung«, mit der Sowjetrussland nicht nur des Sozialismus, sondern auch seiner Seele verlustig gehe, um so in eine »geistige Leere« zu fallen.[353] Der Entrüstung über die enttäuschten und verratenen messianischen Erwartungen entspricht im bürgerlichen Lager das Triumphgeschrei darüber, dass mit der Einführung der NEP selbst Lenin – so wird argumentiert – dazu gezwungen sei, Marx und dem Sozialismus den Rücken zu kehren.[354] Erneut stoßen wir auf die Kategorie Verrat, wenn auch diesmal mit einem positiven Werturteil. Paradoxerweise werden die Bolschewiki von einem äußerst breiten und heterogenen politischen Lager gewissermaßen in Richtung einer neuen Revolution gedrängt. Der Schrecken des Krieges hatte Pascal schon im August 1917 dazu geführt, in apokalyptischen Tönen »eine allgemeine soziale Revolution« von einer beispiellosen Radikalität herbeizuwünschen.[355] Auf der Gegenseite hielten sich jedes Mal, wenn sich in Sowjetrussland der Versuch abzeichnete, von der Phase der messianischen Erwartung zu der weniger emphatischen aber realistischeren Phase des Aufbaus einer neuen Gesellschaft überzugehen, die Gegner und Feinde der Oktoberrevolution bereit, deren Scheitern zu feiern. All das musste die schon in der bolschewistischen Partei vorhandene Tendenz, die utopischen Motive des Marxschen Denkens zu radikalisieren, unbedingt verstärken; natürlich trug dazu auch das geistige Klima bei, das der Krieg hat entstehen lassen. In diesem Sinne ist die Ideologie, die zur Verlängerung der Zweiten Periode der Unruhen ihren Beitrag leistet, selbst in einer konkreten objektiven Situation verwurzelt.

5. Vom abstrakten Universalismus zum Vorwurf des Verrats

Verschaffen wir uns jetzt einen Überblick darüber, wie der Vorwurf des »Verrats« im Einzelnen artikuliert wird. Wollten wir das Problem philosophisch formulieren, könnten wir sagen, dass diese Anklagepunkte, selbst wenn sie sich merklich voneinander unterscheiden und von recht vielfältigen ideologischen und politischen Positionen aus formuliert werden, eine Auffassung von Universalismus gemeinsam haben, die man untersuchen sollte. Von dem Bedürfnis getrieben, den häuslichen Egoismus der bürgerlichen Familie, die den Blick ausschließlich auf ihren engen Kreis konzentriert und damit die Tragödien verdrängt, die sich außerhalb abspielen, zu bekämpfen und zu überwinden, ruft Kollontai die Kommunisten auf, ein Gefühl allgemeiner Verantwortlichkeit zu entwickeln: Sie sollten die Unterscheidung, auch hinsichtlich des Nachwuchses, zwischen »Dein« und »Mein« überwinden und zusammen mit allen anderen für das kämpfen, was allen gemeinsam ist, für das, was »Unser« ist. Wir haben schon gesehen, dass Trotzki mit Recht auf die katastrophalen Folgen aufmerksam gemacht hat, die ein treten, wenn die Eltern die besondere Verantwortung nicht beachten, die sie für ihre Kinder haben. Wenn also das Moment der Fürsorgepflicht für den Kreis der engsten Angehörigen übersprungen wird und die all gemeine Verantwortlichkeit nicht in erster Linie an eine besondere und unausweichliche Pflicht geknüpft ist, so erweist sie sich als leer und wird sogar zum Instrument der Ausflucht. In diesem Sinne war nach Lenin Kollontais Theorie »antisozial«.[356]

Während die bolschewistischen Führer die Einheit von Allgemeinem und Besonderem in Bezug auf das Problem der Familie geltend machen, neigen sie jedoch dazu, diese Einheit zu vergessen, wenn sie die nationale Frage anpacken. Bei ihrer Gründung geht die III. Internationale von der Voraussetzung einer internationalen Partei des Proletariats aus, die aufgefordert ist, die allgemeine Emanzipation der Menschheit zu realisieren, ohne sich von den »sogenannten nationalen Interessen« ablenken zu lassen;[357] ähnlich hat bekanntlich Kollontai eine Art allgemeine Familie theoretisch gefasst, in der »Mein« und »Dein« sich restlos in »Unser« auflösen. Später macht die III. Internationale einen mühsamen Lernprozess durch, der sie mit dem Bericht Dimitroffs auf dem VII. Weltkongress im Jahre 1935 dazu führen wird, jede Form des »nationalen Nihilismus« als verderblich zurückzuweisen.[358] Ist aber die Wiederentdeckung der Nation nicht ein Verrat am Internationalismus? Ist für Kollontai die Beibehaltung der Institution Familie und die besondere Aufmerksamkeit für die eigenen Kinder gleichbedeutend mit egoistischer Engherzigkeit und Desinteresse am Schicksal aller Kinder der Welt, so meint Trotzki: »Wenn man die Perspektive der sozialen Revolution im nationalen Rahmen betrachten würde«, bedeutete das, sich dem »Sozialpatriotismus« und dem Sozialchauvinismus, die für das Gemetzel des Ersten Weltkriegs mitverantwortlich gewesen sind, hin- oder ihnen nachzugeben. »Wenn man von der Idee der sozialistischen Entwicklung ausgeht, die in einem einzelnen Land stattfinden und sogar abschließen kann«, so ist dies »seinem Wesen nach ein national-reformistischer und nicht international-revolutionärer Stand punkt«.[359] Dies sind Erklärungen aus dem Jahr 1928: Zehn Jahre später wird die IV. Internationale gegründet, die den abstrakten Universalismus der Anfänge wieder aufnimmt (und noch radikalisiert) und sich deshalb selbst »Weltpartei der sozialistischen Revolution« nennt.

Es wäre ein Leichtes, an Trotzki die Kritik zu üben, die er in der Polemik gegen Kollontai geltend gemacht hat. Ebenso wie es keine wirkliche Überwindung des Familienegoismus bedeutet, wenn man der besonderen Verantwortung, die man den eigenen Kindern und den engsten Verwandten gegenüber hat, ausweicht und ihr nicht Folge leistet, so ist es auch keineswegs gleichbedeutend mit Internationalismus, wenn man die Tatsache aus den Augen verliert, dass die Möglichkeiten und die konkreten Aufgaben der revolutionären Umwandlung in erster Linie auf einem bestimmten nationalen Territorium angesiedelt sind. Distanz und Gleichgültigkeit gegenüber dem Land, in dem man lebt, können sehr wohl eine alles andere als progressive Bedeutung annehmen: Im zaristischen Russland wies Herzen, ein von Lenin geschätzter Autor, darauf hin, dass die Aristokratie »kosmopolitischer als die Revolution« sei; weit entfernt, eine nationale Basis zu haben, beruhe deren Herrschaft gerade auf der Negation der Möglichkeit einer nationalen Basis, auf der »tiefen Trennung (…) zwischen den zivilisierten Klassen und den Bauern«, zwischen einer sehr begrenzten Elite und der über wiegenden Mehrheit der Bevölkerung.[360] Wenn man die Rassisierung der subalternen Klassen nicht abschafft und wenn man die Idee der Nation und der nationalen Verantwortung nicht durchsetzt, ist man kein Revolutionär.

Dies berücksichtigt Stalin eindeutig, was besonders seine Rede vom 4. Februar 1931 deutlich macht. Er präsentiert sich bei dieser Gelegenheit als ein revolutionärer und internationalistischer Führer, der gleich zeitig ein nationaler russischer Staatsmann und Führer und darum bemüht ist, die Probleme zu lösen, die die Nation schon lange mit sich herumschleppt: »Wir Bolschewiki, die wir drei Revolutionen hinter uns haben, die wir siegreich aus einem schweren Bürgerkrieg hervorgegangen sind«, müssen auch das Problem auf uns nehmen, die traditionelle industrielle Rückständigkeit und die militärische Schwäche Russlands zu überwinden. »In der Vergangenheit hatten wir kein Vaterland und konnten keins haben«;[361] mit dem Sturz des Ancien Régime und dem Aufbau der Sowjetmacht wird der nationale Nihilismus mehr denn je unsinnig, denn die Sache der Revolution ist gleichzeitig die Sache der Nation. Der Akzent scheint sich jetzt vom Klassenkampf (mit seiner internationalistischen Dimension) auf den nationalen wirtschaftlichen Aufbau zu verschieben. Genauer gesagt, gestaltet sich der Klassenkampf in der konkreten politischen Lage, die entstanden ist, aber als Einsatz da für, das Land des Sozialismus auf ökonomischem und technologischem Gebiet zu entwickeln, um es in die Lage zu versetzen, die fürchterlichen Herausforderungen am Horizont in Angriff zu nehmen und um einen realen Beitrag zur internationalistischen Sache der Emanzipation zu liefern. Der Klassenkampf nimmt nicht nur eine nationale Dimension an, sondern scheint in Sowjetrussland eine banale und prosaische Aufgabe zu sein: »Die Technik entscheidet in der Rekonstruktionsperiode alles«; deshalb müsse man »die Technik erlernen« und »die Wissenschaft meistern«. In Wahrheit sei diese neue Aufgabe nicht weniger aufregend als die Erstürmung des Winterpalais: »Die Bolschewiki müssen die Technik meistern« und selbst zu »Spezialisten« werden; dies sei gewiss ein keineswegs leicht zu erreichendes Ziel, aber »es gibt keine Festungen, die die Bolschewiki nicht nehmen könnten«.[362] Die Politik, die später den Großen Vaterländischen Krieg leitet, findet ihre erste Formulierung in den Jahren, in denen Sowjetrussland einen riesigen Kraftakt der Industrialisierung und des Ausbaus der nationalen Verteidigung unternimmt. Schon am Vorabend der Hitleraggression hat Stalin bekanntlich die Notwendigkeit hervorgehoben, das »nationale Gefühl« mit der »Idee der Heimat«, den »gesunden und richtig verstandenen Nationalismus mit dem proletarischen Internationalismus« zu verbinden (vgl. oben, Kap. 1, § 2). In der konkreten Lage, die infolge der expansionistischen Offensive des Dritten Reichs entstanden war, manifestierte sich die Gesamtbewegung mittels konkreter und spezieller Kämpfe der Völker, die entschlossen waren, sich nicht zu Sklaven im Dienst des Hitlerschen Herrenvolkes machen zu lassen. Der Widerstand der am meisten von den Versklavungsplänen des nazistischen Imperialismus bedrohten Nationen hat in Wahrheit den Internationalismus gefördert. Zur Bestätigung dessen, dass wir es mit einem Lernprozess zu tun haben, der von der konkreten Notwendigkeit begünstigt und aufgezwungen wurde, nationale Widerstandskämpfe gegen den Imperialismus zu entwickeln, hatte Mao Zedong schon drei Jahre zuvor erklärt: »Den internationalistischen Inhalt von der nationalen Form loslösen können nur Leute, die nichts vom Internationalismus verstehen; wir jedoch müssen das eine mit dem anderen eng verbinden. In dieser Form gibt es in unseren Reihen ernste Fehler, die wir gewissenhaft überwinden müssen«.[363] Ähnlich unterscheidet Gramsci »Kosmopolitismus« und »Internationalismus«, welcher gleichzeitig »zutiefst national« sein kann und sein können müsse (vgl. unten, Kap. 5, § 13).

Abgesehen von der Ablehnung der Kleinfamilie und der theoretischen Begründung einer Art kollektiver Vaterschaft und Mutterschaft (»unsere« Kinder), lässt sich der abstrakte Universalismus auf allgemeiner politischer Ebene deutlich in der Theorie einer »kollektiven Führung« verspüren, die erneut als das Verschwinden der individuellen Verantwortlichkeit und der individuell übernommenen Aufträge betrachtet wird. Nicht umsonst gehörte Kollontai eine Zeit lang der Arbeiteropposition an, deren Losungen im Bereich der Fabrik und des Arbeitsplatzes, der Partei und der Gewerkschaft, der Verwaltung und des Staates so lauteten: »Macht eines kollektiven Organs«, »kollektiver Wille«, »gemeinsames Denken«, »kollektive Verwaltung«.[364] In diesen Kontext ist die messianische Erwartung des vollkommenen Verschwindens der Unterscheidung zwischen »Mein« und »Dein« auch auf ökonomischem Gebiet einzureihen; die Folge ist die Verurteilung nicht eines ganz bestimmten Systems der Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, sondern vielmehr der »Geldwirtschaft« und des Marktes schlechthin, des Privateigentums schlechthin, so begrenzt und gering es auch sein mag. In allen diesen Fällen ist die ersehnte Allgemeinheit die, die dasjenige, das sich unmittelbar in ihrer unberührten Reinheit präsentiert, ohne die Vermittlung durch und die Verknüpfung mit der Besonderheit durchzumachen. Und gerade dieser Kult der abstrakten Allgemeinheit spricht jedes Mal von (ruft nach) Verrat, wenn der Besonderheit ihre Rechte und ihre Stärke zuerkannt werden.

6. Die Dialektik der Revolution und die Entstehung des abstrakten Universalismus

Wie kann man aber das Auftauchen einer Anschauung und eines Purismus erklären, die auf den ersten Blick so naiv und so wirklichkeitsfremd sind? Nicht weniger naiv und nicht weniger unrealistisch wäre es, dies alles der einen oder anderen einzelnen Persönlichkeit zur Last zu legen. In Wahrheit wirkt hier eine objektive Dialektik. Auf der Woge des Kampfs gegen die Ungleichheiten, die Privilegien, die Diskriminierungen, die Ungerechtigkeiten, die Unterdrückung des Ancien Régime und gegen die Partikularismen, den Exklusivismus, die Kleinlichkeit und den Egoismus, die der alten herrschenden Klasse vorgeworfen werden, neigen die radikalsten Revolutionen dazu, eine starke, verherrlichende und sogar emphatische und hochtönende Anschauung der Grundsätze der Gleichheit und der Allgemeinheit zum Ausdruck zu bringen. Der Elan und die Begeisterung, die diese Auffassung mit sich bringt, erleichtern zwar den Umsturz der alten gesellschaftlichen Verhältnisse und der alten politischen Institutionen, lassen aber andererseits die Errichtung der neuen Ordnung komplexer und problematischer werden. Inwieweit wird diese auf der Höhe der Versprechungen, der Ambitionen und der Erwartungen sein, die ihre Entstehung begleitet haben? Läuft sie nicht Gefahr, in neuer Form die so leidenschaftlich am Ancien Régime kritisierten Missstände selbst zu reproduzieren? Dieser Übergang ist besonders delikat, weil die radikalsten Revolutionen zum einen ehrgeizige Pläne politisch-sozialer Umwandlung hervorbringen und weil zum an deren Führungsschichten an die Macht kommen, die der bestehenden Ordnung fremd und fern gegenüberstehen und deshalb ohne solide politische Erfahrung sind; sie müssen außerdem eine nicht nur politische, sondern auch soziale neue Ordnung zunächst erfinden und später errichten. Unter diesen Umständen ist die Grenze zwischen ehrgeizigem politischen Plan und hochtönender und leerer Phrase, zwischen konkreter Utopie (ein gewiss ferner Horizont, der aber dennoch den wirklichen Umwandlungsprozess orientiert und anregt) und abstrakter und irreführender Utopie (letztlich gleichbedeutend mit Ausflucht aus der Wirklichkeit) tendenziell recht labil.

Damit eine Revolution nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig siegreich sein kann, muss sie in der Lage sein, den Ideen der Gleichheit und der Allgemeinheit, in deren Kielwasser sie an die Macht gekommen ist, einen konkreten und bleibenden Inhalt zu verleihen. Während sie das tut, muss die neue Führungsgruppe jene Ideen von der naiven Form reinigen, die sie leicht in den Augenblicken der Begeisterung annehmen, und sie muss diese Reinigung nicht in einem leeren und keimfreien, sondern in einem historisch angefüllten Raum vornehmen, in dem die ökonomischen und politischen Kompatibilitäten, Kräfteverhältnisse, Widersprüche und unvermeidlich entstehenden Konflikte präsent sind und ihr Gewicht verspüren lassen. Im Verlauf dieses schwierigen Übergangs beginnt die revolutionäre Front, die sich bis dato zumindest dem Schein nach durch Einstimmigkeit ausgezeichnet hatte, die ersten Risse und die ersten Zerrüttungen aufzuweisen, und kommen die Enttäuschungen, die Entzauberung, der Vorwurf des Verrats auf.

Dies sind ein Prozess und eine Dialektik, die Hegel äußerst klar sichtig und tiefgründig in Bezug auf die französische Revolution unter sucht.[365] Sie hatte in ihrem Verlauf »allgemeines Subjekt«, »allgemeiner Wille«, »allgemeines Selbstbewußtsein« auf ihre Fahnen geschrieben. In dieser Phase, zur Stunde der Zerstörung des Ancien Régime, wohnt man der »Aufhebung der unterschiedenen geistigen Masse, und des beschränkten Lebens der Individuen« bei; es »sind also alle Stände, welche die geistigen Wesen sind, worein sich das Ganze gliedert, getilgt«. Es ist als hätte sich die Gesellschaft, nach Auflösung aller mittlerer sozialer Körperschaften, völlig in eine Myriade von Einzelnen zerlegt, die alle traditionellen Obrigkeiten, die inzwischen keine Legitimität mehr haben, ablehnen und die nicht nur Freiheit und Gleichheit, sondern auch Teilnahme am öffentlichen Leben und an jeder Phase des Entscheidungsprozesses fordern. Auf der Woge dieser Begeisterung und dieses Überschwangs und in einer Lage, in der es so aussieht, als schwebten die Obrigkeiten und die Macht schlechthin im Nichts, taucht ein Anarchomessianismus auf, der die »absolute Freiheit« fordert und bereit ist, jede Verunreinigung und jede wirkliche oder angebliche Einschränkung der Allgemeinheit als Verrat zu brandmarken.

Eine neue Ordnung setzt eine Umverteilung der Individuen in »geistige Massen«, in soziale Organismen, in, wenn auch auf andere und neue Weise gebildete und organisierte mittlere Körperschaften voraus, die die Grundsätze der Revolution respektieren. Doch die neue Gliederung der Gesellschaft wird, wie auch immer sie sei, dem Anarchomessianismus als Negation der Allgemeinheit erscheinen. »Das Tun und Sein der Persönlichkeit fände sich aber dadurch auf einen Zweig des Ganzen, auf eine Art des Tuns und Seins beschränkt«. Und da her: »In das Element des Seins gesetzt, erhielte sie die Bedeutung einer bestimmten (Persönlichkeit); sie hörte auf, in Wahrheit allgemeines Selbstbewußtsein zu sein«. Dies ist eine klare Analyse der Dialektik, die sich in der französischen Revolution, aber deutlicher noch in der Oktoberrevolution entwickelt, als sich das Pathos der Allgemeinheit noch stärker verspüren ließ, und zwar sowohl in seinen naiveren als auch in seinen reiferen Formen. Angesichts des exaltierten Universalismus, der die Niederschlagung des Ancien Régime leitet, wird jede, wie auch immer artikulierte Arbeitsteilung gleichbedeutend mit Exklusivismus, mit Beschlagnahme des »allgemeinen Selbstbewußtseins« und des »absoluten Willens« durch eine bürokratische und privilegierte Minderheit.


Was für die sozialen Beziehungen gilt, gilt auch für die politischen Institutionen. Keine Ordnung kann den Anspruch der direkten, unvermittelten Verwirklichung der Allgemeinheit erfüllen, der vom Anarchomessianismus vorgebracht wird. Wie Letzterer sich gebärdet, geht erneut klar aus den denkwürdigen Stellen der Phänomenologie des Geistes hervor:

Dieses (Selbstbewußtsein) läßt sich dabei nicht durch die Vorstellung des Gehorsams unter selbstgegebenen Gesetzen, die ihm einen Teil zuwiesen, noch durch eine Repräsentation beim Gesetzgeben und allgemeinen Tun um die Wirklichkeit betrügen, – nicht um die Wirklichkeit, selbst das Ge setz zu geben und nicht ein einzelnes Werk, sondern das Allgemeine selbst zu vollbringen; denn wobei das Selbst nur repräsentiert und vorgestellt ist, da ist es nicht wirklich; wo es vertreten ist, ist es nicht.

Die Definition der Bürokratie, die in Sowjetrussland die Arbeiteropposition gibt, kommt uns hier in den Sinn: »Jemand anderes entscheidet euer Schicksal«. Gegen diese unzulässige Enteignung wird eine »Führung« gefordert, die in jeder einzelnen Phase des Entscheidungsprozesses »kollektiv« sein müsse, mit der daraus folgenden Ablehnung eines jeden repräsentativen Organs. Bei genauerem Hinsehen wird oft gerade jedes Projekt einer Verfassungsordnung und sogar einer Rechtsordnung ins Visier genommen, die a priori als Versuch der Fesselung bzw. Zerstückelung der Allgemeinheit, also letztendlich als Ausdruck eines zählebigen Ancien Régime hingestellt wird.

Um zur »Tat« zu kommen, um Wirklichkeit, Wirksamkeit zu er langen und »wirklicher Wille« zu werden – fährt Hegel fort – müsse die Allgemeinheit in konkreten »Einzelnen« Ausdruck finden, müsse sie »ein einzelnes Selbstbewußtsein an die Spitze stellen«. Hier aber brechen der Anarchismus und der Messianismus in Entrüstung aus: »Dadurch aber sind alle anderen Einzelnen von dem Ganzen dieser Tat ausgeschlossen und haben nur einen beschränkten Anteil an ihr, so dass die Tat nicht Tat des wirklichen allgemeinen Selbstbewußtseins sein würde«. Die Tragödie der französischen Revolution (aber in größerem Umfang auch der Oktoberrevolution) besteht darin: Wenn das Pathos der Allgemeinheit nicht zu einer leeren Phrase werden will, müsse es sich einen konkreten und bestimmten Inhalt geben, doch gerade dieser konkrete und bestimmte Inhalt wird als Verrat empfunden. Bei genauerem Hinsehen ist es die Besonderheit als solche, die als ein Element der Kontamination und Negation der Allgemeinheit abgestempelt wird. Solange diese Anschauung weiter vorherrscht, folgt auf die Liquidierung des Ancien Régime nicht die Errichtung einer neuen konkreten Ordnung: »Kein positives Werk noch Tat kann also die all gemeine Freiheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Tun; sie ist nur die Furie des Verschwindens«.

7. Abstrakte Allgemeinheit und Terror in Sowjetrussland

In dem Maß, wie der Terror ein Resultat nicht der objektiven Lage, sondern einer Ideologie ist, ist er – in Hegels Analyse – in erster Linie dem Anarchomessianismus, dem abstrakten Universalismus anzulasten, der sich bei seiner Flucht vor jedem besonderen und bestimmten Element nur in der »Furie des Verschwindens« ausdrücken kann. Was die bolschewistische Revolution betrifft, darf man nicht den permanenten Ausnahmezustand vergessen, der von der imperialistischen Intervention und Einkreisung hervorgerufen wurde. Die eigentlich ideologische Komponente des Terrors verweist dagegen auf den Kult der abstrakten Allgemeinheit und Utopie, der die Handlungsfähigkeit der neuen Führungsgruppe behindert und schließlich deren Zerrüttung provoziert. Interessant ist, wie Trotzki Mitte der 1930er Jahre, die klugen Kritiken an Kollontai hinter sich lassend, über die Stalinsche Rehabilitation der Familie spottet:

Als die Hoffnung noch lebendig war, die Erziehung der jungen Generation dem Staat in die Hand zu geben, kümmerte er sich nicht nur nicht um die Aufrechterhaltung der Autorität der »Alten«, insbesondere von Vater und Mutter, sondern trachtete im Gegenteil danach, die Kinder soweit wie möglich von der Familie zu trennen, um sie so vor dem Einfluß der Traditionen der althergebrachten Lebensart zu bewahren. Noch vor kurzem, während des ersten Fünfjahresplanes, bedienten sich Schule und Komsomol weitgehend der Kinder, um den trunksüchtigen Vater oder die religiöse Mutter bloßzustellen, zu beschämen, überhaupt »umzuerziehen«; mit welchem Erfolg, sei dahingestellt. Jedenfalls lief diese Methode darauf hinaus, die elterliche Autorität in ihren Grundfesten zu erschüttern.[366]

Da die Familie zur Verbreitung der »althergebrachten Lebensart« und damit der Ideologie und des Partikularismus des Ancien Régime beiträgt, wird sie als ein Hindernis erkannt, das der Vormarsch der Allgemeinheit aus dem Weg schaffen soll. Die »elterliche Autorität« zu kritisieren, führt keineswegs zu einer Verringerung, sondern zu einem Mehr an Ge walt. Das gleiche Resultat bringt die Verurteilung der Verfassung und des Rechts schlechthin als Instrumente der bürgerlichen Herrschaft hervor. Unter diesen Voraussetzungen ist es unmöglich, einen sozialistischen Rechtsstaat zu realisieren und auch nur zu denken. Natürlich gibt es einen Widerspruch zwischen der Huldigung gegenüber dem Ideal des Absterbens des Staates und dem Appell an den Staat, auch in die Familienverhältnisse einzugreifen, aber es handelt sich um den Widerspruch, der unausweichlich zwischen der libertären Rhetorik des abstrakten Universalismus und der Praxis der Gewalt auftritt, die dieser schließlich anfacht.

Hier sind wir gezwungen, eine weitere Betrachtung anzustellen. Die Tendenz, im Besonderen als solchem ein Störungselement für die Allgemeinheit zu erblicken, zeigt sich auch außerhalb der bolschewistischen Führungsgruppe. Man denke an den Argwohn bzw. die Feindseligkeit mit der Rosa Luxemburg gewöhnlich auf die nationalen Bewegungen blickt, denen sie vorwirft, die internationale Sache des Proletariats zu vergessen. Nach der Oktoberrevolution kritisierte die große Revolutionärin die Bolschewiki zum einen wegen der Nichtanerkennung oder der Beseitigung der Demokratie, zum anderen rief sie sie dazu auf, »die separatistischen Bestrebungen mit eiserner Hand im Keime zu ersticken«, die von »geschichtslosen Völkern« herrührten, von »vermoderten Leichen (…), die aus jahrhundertjährigen Gräbern steigen«.[367]

Sehen wir jetzt, wie Stalin die Auswirkungen der »sozialistischen Revolution« auf die nationale Frage beschreibt:

Dadurch, dass sie die tiefsten Tiefen der Menschheit aufrüttelt und auf die politische Arena bringt, erweckt sie eine ganze Reihe neuer, früher gar nicht oder wenig bekannter Nationalitäten zu neuem Leben. Wer hätte gedacht, dass das alte zaristische Rußland nicht weniger als 50 Nationen und nationale Gruppen umfaßte? Die Oktoberrevolution hat je doch dadurch, dass sie die alten Ketten gesprengt und eine ganze Reihe vergessener Völker und Völkerschaften auf den Plan gerufen hat, diese zu neuem Leben erweckt und ihnen neue Entwicklungsmöglichkeiten gegeben.[368]

Zumindest in der Sichtweise der üblichen historischen Bilanzen und der heute vorherrschenden Stereotype kommen wir hier zu einem paradoxen Resultat. Gegenüber den Völkern, »die aus jahrhundertjährigen Gräbern steigen«, wie Rosa Luxemburg sagt, oder den »vergessenen Völkern«, wie Stalin sagt, nimmt erstere eine drohendere und repressivere Haltung ein. Was das Urteil über denjenigen betrifft, der wirklich die Macht ausgeübt hat, geht es natürlich darum, ob und wie weit die Praxis mit der Theorie übereinstimmte. Tatsache ist, dass der abstrakte Universalismus Luxemburgs sich als potenziell gewalttätiger erweist: Sie hat zeit ihres Lebens dazu geneigt, die nationalen Forderungen als eine Abweichung vom Hauptweg des Internationalismus und des Universalismus zu deuten.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen wir, wenn wir, immer mit Bezug auf die nationale Frage, Stalin mit Kautsky vergleichen. Der vom sozialdemokratischen Führer formulierten Theorie, wonach mit dem Sieg des Sozialismus in einem Land oder in Gruppen von Ländern, ja sogar schon mit der Entwicklung der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft die nationalen Unterschiede und Besonderheiten praktisch verschwinden würden, hält Stalin entgegen: Eine solche Anschauung, die oberflächlich die »Stabilität der Nationen« ignoriere, laufe schließlich darauf hinaus, dem Krieg gegen die »nationale Kultur« der nationalen Minderheiten oder der unterdrückten Völker, der »Kolonisierungs«- und »Assimilierungspolitik«, der Politik, die zum Beispiel den »Germanisatoren« und »Russifikatoren« Polens gefiel, Tür und Tor zu öffnen.[369] Auch in diesem Fall fördert die Allgemeinheit, die unfähig ist, das Besondere einzuschließen, die Gewalt und die Unterdrückung, und – um weiterhin bei der Gegenüberstellung der verschiedenen theoretischen Aussagen zu bleiben – Kautsky ist von diesem abstrakten Universalismus viel mehr als Stalin befallen.

Ähnlich wie der deutsche sozialdemokratische Führer kritisiert auch Luxemburg scharf die Bolschewiki wegen ihrer »kleinbürgerlichen« Agrarreform, die den Bauern den Boden zubilligt. Dieser Anschauung kann man diejenige Bucharins entgegenstellen, demzufolge unter den Bedingungen des damaligen Russlands mit dem politischen Machtmonopol fest in den Händen der Bolschewiki gerade die »Privatinteressen« und der Drang nach Bereicherung der Bauern und an derer Gesellschaftsschichten zur Entwicklung der Produktivkräfte und letztendlich zur Sache des Sozialismus und des Kommunismus hätten beitragen können.[370] Eine bezeichnende Veränderung hat bei Bucharin stattgefunden: Hatte er anlässlich Brest-Litowsks den abstrakten Universalismus vertreten, was die nationale Frage betrifft, so soll jetzt, in Bezug auf die NEP und die Agrarfrage, der Prozess der Konstruktion der Allgemeinheit auch durch opportune Ausnutzung besonderer Interessen vorankommen. Wir haben es mit einem Lernprozess und mit einer selbstkritischen Betrachtung von außerordentlichem Interesse zu tun, die uns zu verstehen helfen, was in unseren Tagen in Ländern wie China und Vietnam geschehen ist. So fährt Bucharin fort:

Folgendermaßen stellten wir uns die Angelegenheit vor: Wir übernehmen die Macht, wir nehmen fast alles in unsere Hand, wir bringen sofort eine Planwirtschaft in Gang, es macht nichts, wenn Schwierigkeiten auftauchen, zum Teil beseitigen wir sie, zum Teil überwinden wir sie, und die Sache kommt glücklich zum Abschluss. Heute sehen wir eindeutig, dass die Frage so nicht gelöst wird.

Der Anspruch, »die Produktion durch Befehle, mit Zwang zu organisieren«, führt zur Katastrophe. Indem sie diese »Sozialismuskarikatur« überwinden, sind die Kommunisten aus Erfahrung dazu gezwungen, die »enorme Bedeutung des individuellen privaten Anreizes« zu berücksichtigen, um die Entwicklung der Produktivkräfte und, so versteht es sich, »eine Entwicklung der Produktivkräfte, die uns zum Sozialismus und nicht zur vollen Restauration des so genannten ›gesunden‹ Kapitalismus führt«, zu erreichen.[371] Sich wie Trotzki und die Opposition wegen des Weiterbestehens der Privatwirtschaft auf dem Land und der »Klassenzusammenarbeit« mit den Bauern (und mit den von der NEP geduldeten bürgerlichen Schichten) über die »Degeneration« Sowjetrusslands zu entrüsten, hätte zum Ende des »inneren Friedens« und zu einer gigantischen »Bartholomäusnacht« geführt.[372]

Hat nur die Notwendigkeit, die Industrialisierung des Landes in Vorhersehung des Krieges auf die Spitze zu treiben, die Niederlage Bucharins determiniert, oder hat auch die feindselige Ablehnung jeder Form von Privateigentum und Geldwirtschaft dazu beigetragen? Mit diesem Problem werden wir uns später beschäftigen. Eines kann man aber schon festhalten: Das Konzentrationslager-Universum erreicht seinen Höhepunkt auf der Woge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der eisernen Faust gegen die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Tendenzen der Bauern, meistens Angehörige der »geschichtslosen Völker«, um den unglücklichen Ausdruck zu verwenden, den Luxemburg von Engels übernimmt. Abgesehen von den Fehlern bzw. der Brutalität des einen oder anderen politischen Führers gibt es keine Zweifel an der verhängnisvollen Rolle, die ein Universalismus gespielt hat, der nicht in der Lage war, das Besondere zu subsumieren und zu respektieren.

Die Stellen aus Hegel (dem Autor, bei dem Lenin »Ansätze des historischen Materialismus« entdeckt),[373] die wir herangezogen haben, sind praktisch die vorweggenommene Widerlegung der Darstellung des »Stalinismus« in der so genannten Geheimrede von 1956, die beim XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gehalten wurde. Es wäre natürlich unredlich, von Chruschtschow zu verlangen, Hegel ebenbürtig zu sein, es ist aber seltsam, dass die Tragödie und der Schrecken Sowjetrusslands weiterhin einer einzelnen Persönlichkeit, besser einem einzigen Sündenbock angelastet werden, als hätte es die außerordentliche Analyse nie gegeben, die die Phänomenologie des Geistes der »absoluten Freiheit« und dem »Schrecken« widmet.

8. Was bedeutet regieren: Ein komplizierter Lernprozess

Kehren wir zur Hegelschen Analyse der Dialektik der französischen Revolution (und der großen Revolutionen im Allgemeinen) zurück. Von der konkreten Erfahrung der verheerenden Folgen her, zu denen die »Furie des Verschwindens« führt, verstehen die ›Einzelnen‹, dass es not wendig ist, der Allgemeinheit einen konkreten und besonderen Inhalt zu geben, um der unsinnigen Ersehnung der Allgemeinheit in ihrer Unmittelbarkeit und Reinheit ein Ende zu setzen. Die Einzelnen »lassen sich die Negation und die Unterschiede wieder gefallen«, oder es »bildet sich also wieder die Organisation der geistigen Massen aus, denen die Menge der individuellen Bewußtsein(e) zugeteilt wird«, wenn sie auf den absoluten Egalitarismus verzichten. Diese ›Bewußt seine‹ »kehren zu einem geteilten und beschränkten Werke, aber dadurch zu ihrer substantiellen Wirklichkeit zurück«. Das heißt, man begreift inzwischen die fruchtlose und verderbliche Natur des Mythos von einem »allgemeinen Willen« oder, um diesmal nicht die Sprache Hegels, sondern die nicht weniger russischer Revolutionäre zu benutzen, von einer direkten Demokratie, einer »kollektiven Führung«, die sich ohne Vermittlungen und bürokratische Hindernisse direkt und unmittelbar in den Fabriken, an den Arbeitsplätzen, in den politischen Organismen äußert.

Wie man sieht, wird von Hegel der Anarchomessianismus und -radikalismus mehr als der Jakobinismus ins Visier genommen. Dies wird von den Betrachtungen bestätigt, die er in Bezug auf eine andere große Revolution, und zwar die puritanische, anstellt, die in England um die Mitte des 17. Jahrhunderts ausbrach. Indem Cromwell einer Periode fruchtloser religiöser und pseudo-revolutionärer Überspanntheit ein Ende bereitete und einer langjährigen Qual einen positiven politischen Ausgang verschaffte, bewies er, dass er »wußte, was Regieren ist«: »Er hat (…) mit starker Hand die Zügel der Regierung ergriffen, jenes betende Parlament auseinandergejagt und als Protektor den Thron mit großem Glanze behauptet«.[374] Regieren können bedeutet hier, in der Lage sein, den Idealen der Allgemeinheit, die die Revolution geleitet hatten, einen konkreten Inhalt zu verleihen; dabei musste man sich, was die erste englische Revolution betrifft, von den Anhängern zum Beispiel der »fünften Monarchie« distanzieren, von der leeren Utopie einer Gesellschaft, die keine Rechtsnormen hatte und brauchte, weil die Individuen erleuchtet waren und sich von der göttlichen Gnade führen ließen. In dem Maße, wie es ihm gelungen war, sich von der abstrakten und unnützen Utopie zu distanzieren, bewies auch Robespierre, die Kunst des Regierens gewissermaßen zu kennen bzw. erlernen zu wollen.

Nach einer großen Revolution, vor allem wenn ihre Protagonisten ideologische und politische Schichten ohne Eigentum sind und keine mit dem Genuss des Eigentums verbundene politische Erfahrung haben, heißt regieren lernen, zu lernen, der Allgemeinheit einen konkreten Inhalt zu geben. Aber es handelt sich eben um einen Lernprozess. Was die sozialistische Revolution betrifft, so beginnt und endet er nicht mit Stalin. Der größte Fehler dieses Staatsmannes (aber jeweils anders auch der anderen Staatsmänner, die sich noch heutzutage auf den Sozialismus berufen) ist es vielmehr, diesen Lernprozess unvollendet, ja sogar stark unvollendet gelassen zu haben.

Denken wir an die nationale Frage. Bei Lenin können wir die The se finden, wonach die »unvermeidliche Verschmelzung der Nationen« und der »nationalen Unterschiede«, die sprachlichen inbegriffen, die »Übergangsperiode« der vollen und freien Entfaltung der Nationen und ihrer verschiedenen Sprachen, Kulturen und Identitäten durchläuft. Zumindest was die »Übergangsperiode« betrifft, ist Lenin sich deutlich bewusst, dass das Allgemeine das Besondere einschließen können muss. Ein bedeutender Lernprozess hat schon begonnen: Wir befinden uns schon jenseits des abstrakten Universalismus, der zum Beispiel bei Luxemburg zu beobachten ist, für die die nationalen Besonderheiten schon an und für sich eine Negation des Internationalismus sind.

Doch Lenin scheint bezüglich der nationalen Frage die Einheit von Allgemeinem und Besonderem nur in Bezug auf die »Übergangsperiode« zu begreifen. Stalin ist manchmal radikaler:

Man redet davon (wie das zum Beispiel Kautsky tut), dass in der Periode des Sozialismus eine allgemeinmenschliche Einheitssprache geschaffen werden wird und alle anderen Sprachen absterben werden. Ich glaube nicht so recht an diese Theorie einer allumfassenden Einheitssprache. Die Erfahrung jedenfalls spricht nicht für, sondern gegen diese Theorie.[375]

Dieser Stelle nach zu urteilen, wäre nicht einmal der Kommunismus von einer »allgemeinmenschlichen Einheitssprache« gekennzeichnet. Aber es ist, als hätte Stalin Angst vor seinem Mut. Meistens zieht er es vor, »die Verschmelzung der Nationen und der nationalen Sprachen« auf den Zeitpunkt des Triumphs des Sozialismus auf Weltebene zu verschieben.[376] Vielleicht nur in seinen letzten Lebensjahren, als er inzwischen eine unbestrittene Autorität innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung ist, zeigt Stalin sich kühner. Er beschränkt sich nicht darauf, energisch zu bekräftigen, dass »die Geschichte eine große Stabilität und kolossale Widerstandsfähigkeit der Sprache gegen gewaltsame Assimilation« zeige.[377] Jetzt geht die theoretische Ausarbeitung weiter: »Die Sprache unterscheidet sich in dieser Hinsicht grundlegend vom Überbau«; sie »ist nicht von irgendeiner Klasse allein geschaffen worden, sondern von der ganzen Gesellschaft, von allen Klassen der Gesellschaft, durch die Bemühungen Hunderter von Generationen«; es sei daher absurd, von einem »›Klassencharakter‹ der Sprache« zu reden.[378] Warum sollten also die Nationalsprachen verschwinden? Und warum sollten denn die Nationen als solche verschwinden, wenn es stimmt, dass »die Gemeinschaft der Sprache eines der wichtigsten Merkmale der Nation ist«?[379]

Und dennoch wird, trotz allem, zum Schluss die Orthodoxie die Oberhand gewinnen: Der Kommunismus wird weiterhin als der Triumph der »gemeinsamen internationalen Sprache« und letztendlich der einzigen Nationalität gedacht.[380] Zumindest was dieses mythische Endstadium betrifft, kann das Allgemeine erneut in seiner Reinheit, ohne die Verunreinigung durch das Besondere der nationalen Sprachen und Identitäten gedacht werden. Es handelt sich nicht um ein abstrakt theoretisches Problem: Das Festhalten an der Orthodoxie hat sicher nicht zum Verständnis der permanenten Widersprüche unter den Nationen beigetragen, die sich auf den Sozialismus berufen und glauben, der Errichtung des Kommunismus verpflichtet zu sein. Es sind diese Widersprüche, die eine Rolle ersten Ranges im Prozess der Krise und der Auflösung des ›sozialistischen Lagers‹ gespielt haben.

Auch auf anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens nimmt Stalin einen schwierigen Kampf gegen die abstrakte Utopie auf, bleibt dann aber auf halbem Wege stehen, um die traditionelle Orthodoxie nicht zu kompromittieren. Noch im Jahre 1952, also am Vorabend seines Todes, fühlt er sich gezwungen, diejenigen zu kritisieren, die die »Geldwirtschaft« als solche liquidieren wollten. In Polemik dagegen merkt Stalin vernünftigerweise an:

Man sagt, dass die Warenproduktion dennoch unter allen Umständen zum Kapitalismus führen müsse und unbedingt dazu führe. Das stimmt nicht. Nicht immer und nicht unter allen Umständen! Man darf die Warenproduktion nicht mit der kapitalistischen Produktion gleichsetzen. Das sind zwei verschiedene Dinge.

Es könne ohne weiteres »eine Warenproduktion ohne Kapitalisten« geben. Und dennoch erweist sich auch in diesem Fall die Orthodoxie als eine unüberwindliche Barriere: Das Verschwinden der Geldwirtschaft wird auf die Zeit verschoben, in der wirklich »sämtliche Produktionsmittel« vergesellschaftet werden, d. h. mit der Überwindung sogar des Genossenschaftseigentums.[381]

Zum Schluss das vielleicht entscheidende Problem. Abgesehen von der Repression und dem inneren und internationalen Klassenkampf hat Stalin bekanntlich eine »dritte Funktion« theoretisch gefasst. Mit Recht hat ein bedeutender Jurist hervorgehoben, dass uns der Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag der KPdSU »eine radikale Änderung der von Marx und Engels entwickelten Doktrin« vorführt.[382] Zu dieser Änderung gelangte Stalin auch durch seine Regierungserfahrung, durch einen konkreten Lernprozess, der schon im Denken und in der politischen Aktion des späten Lenin Spuren hinterlassen hatte, ein Prozess, der aber jetzt einen Schritt weiter ging. Ganz anders argumentierte Trotzki, der folgendermaßen die Lehre von Marx, Engels und Lenin zusammenzufassen glaubte: »Die Generation, die die Macht eroberte, die ›alte Garde‹, beginnt mit der Liquidierung des Staates, an der kommenden Generation liegt es, das Werk zu vollenden«.[383] Wer ist schuld daran, wenn dieses Wunder nicht stattfand? Natürlich die Stalinsche Verräter-Bürokratie.

Es mag irreführend erscheinen, philosophische Kategorien zur Erklärung der Geschichte Sowjetrusslands einzuführen, aber es ist gerade Lenin, der diesen Ansatz rechtfertigt: Er zitiert und billigt die »ausgezeichnete Formulierung« der Hegelschen Logik, derzufolge das Allgemeine so beschaffen sein muss, dass es den »Reichtum des Besonderen« einschließt.[384] Wenn er sich so ausdrückt, denkt er vor allem an die revolutionäre Situation, die immer eine bestimmte ist und die am schwächsten Glied der Kette in einem besonderen Land reißt. Die »ausgezeichnete Formulierung« ist indes von Lenin und von der bolschewistischen Führungsgruppe nicht für die auf die Machtergreifung folgende Phase gedacht worden. Als man sich mit dem Problem des Aufbaus einer neuen Gesellschaft auseinandersetzte, sind die Versuche, den »Reichtum des Besonderen« in das Allgemeine einzuschließen, mit dem Vorwurf des Verrats zusammengeprallt. Und es ist gut zu verstehen, dass diese Anklage besonders Stalin getroffen hat: Länger als alle anderen Führer hat er das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Land regiert und gerade von der Regierungserfahrung aus ist er sich der Leere der messianischen Erwartung des Absterbens des Staates, der Nationen, der Religion, des Marktes, des Geldes bewusst geworden; außerdem hat er direkt die lähmende Wirkung erfahren, die eine Anschauung des Allgemeinen ausübt, die dazu neigt, die Aufmerksamkeit, die den besonderen Bedürfnissen und Interessen eines Staates, einer Nation, einer Familie, eines bestimmten Individuums gewidmet wird, als eine Verunreinigung hinzustellen.

Wenn es stimmt, dass die Ideologie eine bedeutende Rolle für die Verlängerung der Zweiten Periode der Unruhen spielte, muss jedoch klargestellt werden, dass die Ideologie besonders die Antagonisten Stalins auf den Plan ruft. Stalin hat sich, auch dank seiner konkreten Regierungserfahrung, ernsthaft in dem Lernprozess engagiert, den – Hegels Lehre zufolge – jede Führungsgruppe einer großen Revolution durchmachen muss.

Kapitel 4: Der komplexe und widersprüchliche Verlauf der Ära Stalin

1. Von der Wiederbelebung der »Sowjetdemokratie« zur »Bartholomäusnacht«

Es muss auf jeden Fall betont werden – wie widersprüchlicherweise einer der Autoren des Schwarzbuchs des Kommunismus zugibt – dass es notwendig ist, »zunächst die bolschewistische und später die Stalinsche politische Gewalt in die ›longue durée‹ der russischen Geschichte ein zuordnen«: Man dürfe nicht »die ›Matrize‹ des Stalinismus« aus den Augen verlieren, »die alles zusammen genommen, die Periode des Ersten Weltkriegs, der Revolutionen von 1917 und der Bürgerkriege gewesen ist«.[385] Ideell schon entstanden, als noch niemand die Machtergreifung Stalins voraussehen konnte, und noch vor der Revolution der Bolschewiki, ist also der »Stalinismus« weder in erster Linie das Resultat des Machthungers eines Individuums, noch einer Ideologie, sondern des permanenten Ausnahmezustands, in dem Russland seit 1914 lebt. Schon am Anfang des 19. Jahrhunderts waren bekanntlich sehr verschieden artige Persönlichkeiten die warnenden Vorzeichen des unerhörten Sturms nicht entgangen, der sich über dem zwischen Europa und Asien liegenden Land zusammenzog und der begann, sich mit seiner ganzen Gewalt mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu entladen. Hiervon und von dem langen, sehr langen Andauern der Zweiten Periode der Unruhen muss man ausgehen. Nicht umsonst handelt es sich um ein Phänomen, das keineswegs einlinig verläuft: Wir werden sehen, das es sich in Augenblicken relativer Normalisierung abschwächt und in seiner ganzen Härte auftritt, wenn der Ausnahmezustand seinen Gipfel erreicht.

Stellen wir uns nun eine einleitende Frage: Von welchem Zeitpunkt an kann man für Sowjetrussland von der Diktatur einer einzelnen Person reden? Bedeutende Historiker scheinen in einem wesentlichen Punkt übereinzustimmen: »Anfang der 1930er Jahre war Stalin noch kein Autokrat. Er musste sich noch mit der Kritik, mit dem Dissens und mit der wirklichen Opposition innerhalb der kommunistischen Partei messen«. Die Macht auf einsamer Höhe eines vom Personenkult umgebenen Führers ist noch nicht Wirklichkeit geworden. Die Leninsche Tradition der »Parteidiktatur« und der oligarchischen Macht besteht noch fort.[386] Die hier zitierten Historiker benutzen die beiden Kategorien unterschiedslos; doch die zweite Kategorie passt nicht zu einem Regime, das nachdrücklich einen starken sozialen Aufstieg der subalternen Klassen fördert und bisher völlig ausgegrenzte Gesellschaftsschichten und Volksgruppen energisch in das politische und kulturelle Leben des Landes einführt. Bleibt jedenfalls die Tatsache, dass ab 1937 und nach der Entfesselung des Großen Terrors die Parteidiktatur der Autokratie weicht.

Sollen wir also innerhalb des ›Stalinismus‹ zwei Phasen unterscheiden? Selbst wenn diese Periodisierung das Verdienst hat, die übliche ›monolithische‹ Auffassung infrage zu stellen, führt sie keinen Schritt weiter für das Verständnis jener Jahre: Auf jeden Fall blieben der Über gang von der ersten zur zweiten Phase und die konkrete Konfiguration beider zu erklären.

Um das Problem richtig zu erfassen, registrieren wir, was um die Mitte der 1920er Jahre geschah, als die von der ausländischen Intervention und vom Bürgerkrieg ausgelöste akute Krise überwunden war und die NEP schon bedeutende Ergebnisse erzielt hatte: Es gibt nicht nur keine Autokratie, sondern die Machtausübung tendiert dazu, unter Beibehaltung der Diktatur der kommunistischen Partei, ›liberaler‹ zu werden. Bucharin scheint so weit gehen zu wollen, eine Art rule of law, Herrschaft des Gesetzes zu fordern: »Der Bauer muss die sowjetische Ordnung, das sowjetische Recht, das sowjetische Gesetz vor Augen haben und nicht die sowjetische Willkür, die von einem ›Beschwerdebüro‹ eingeschränkt wird, dessen Standort unbekannt ist«. »Feste Rechtsnormen«, die auch für die Kommunisten verbindlich sind, seien vonnöten. Der Staat müsse sich nunmehr für die »friedliche Organisationsarbeit« einsetzen und die Partei müsse, in ihren Beziehungen zu den Massen »die Überzeugung und nur die Überzeugung anwenden«. Der Terror habe keinen Sinn mehr: »Er gehört inzwischen der Vergangenheit an«.[387] Es gehe vielmehr darum, der »Masseninitiative« Platz zu machen: In diesem Kontext solle man das Aufblühen von »Volksbünden« und »freiwilligen Organisationen« willkommen heißen.[388]

Wir haben es nicht mit bloß persönlichen Meinungen zu tun. Dies sind die Jahre des »Duumvirats«.[389] Bucharin übt die Macht zusammen mit Stalin aus, der im Jahre 1925 ebenfalls wiederholt an die »Beseitigung der Überreste des Kriegskommunismus auf dem Lande« appelliert und die »Abweichung« verurteilt, die wegen der imaginären »Restauration des Kapitalismus« Alarm schlage und »zur Schürung des Klassenkampfs im Dorf« und zur »Proklamierung des Bürgerkriegs in unserem Land« führe.[390] Man müsse sich vielmehr klar darüber werden, dass wir »in die Periode des wirtschaftlichen Aufbaus eingetreten« sind.[391]

Die Verschiebung des Akzents vom Klassenkampf zum wirtschaftlichen Aufbau bringt auch auf politischer Ebene erhebliche Folgen mit sich: Die erste Aufgabe der kommunistischen Studenten sei es, »die Wissenschaft zu meistern«.[392] Nur so könnten sie eine Führungsrolle anstreben: was zählt, ist die »Sachkenntnis«; »jetzt ist eine konkrete, praktische Führung notwendig«. Deshalb: »Um wirklich führen zu können, muss man Sachkenntnisse haben, muss man sich gewissenhaft, geduldig, beharrlich Sachkenntnisse aneignen«.[393] Die zentrale Bedeutung des wirtschaftlichen Aufbaus und damit der Sachkenntnis lässt das Monopol der Partei weniger starr werden: »Dazu ist notwendig, dass der Kommunist sich zum Parteilosen verhält wie ein Gleicher zum Gleichen«, zumal es zu recht positiven Resultaten führen könne, wenn »die Parteimitglieder durch Parteilose kontrolliert« werden.[394]

Insgesamt drängt sich, nach Stalin zu schließen, eine radikale politische Veränderung auf: »Die Führung darf man jetzt nicht mehr nach militärischer Art ausüben«; »wir brauchen jetzt nicht maximalen Druck, sondern maximale Elastizität sowohl in der Politik als auch in der Organisation, maximale Elastizität sowohl in der politischen als auch in der organisatorischen Führung«. Man müsse sich darum bemühen, »die Bedürfnisse und Nöte der Arbeiter und Bauern« zu verstehen, und zwar mitfühlend zu verstehen. Auch was die Bauern betrifft, die oft rück ständiger als die Arbeiter sind, sei es Aufgabe der Kommunisten und der Funktionäre zu »lernen, die Bauern zu überzeugen, und (man) darf dafür weder Zeit noch Mühe scheuen«.[395]

Es gehe nicht nur darum, sich eine raffiniertere politische Pädagogik anzueignen. Es sei notwendig, mit rein formellen und von oben gesteuerten Wahlen und mit einer Unsitte Schluss zu machen, die zum »Fehlen von Kontrolle, Eigenmächtigkeit und Willkür der Dorfobrigkeit« führe. Eine Wende sei nötig, weil »die alte Wahlpraxis in einer ganzen Reihe von Bezirken ein Überbleibsel des Kriegskommunismus ist« und weil »mit ihr aufgeräumt werden muss, als einer Praxis, die schädlich und durch und durch morsch ist«.[396] Es gehe jetzt darum, »die Sowjets zu beleben, die Sowjets in wirklich gewählte Organe zu verwandeln, die Grundsätze der Sowjetdemokratie auf dem Lande einzubürgern«.[397]

Schon vor dem Oktober hatten die Sowjets begonnen, sich in »bürokratische Strukturen« zu verwandeln, wobei »die Häufigkeit und die Konsistenz der Versammlungen« abnahm;[398] aber jetzt, da ihre Originalfunktion wiederhergestellt worden ist, sind die Sowjets zur »Heranziehung der Werktätigen, die Heranziehung der armen Bevölkerung zur täglichen Arbeit an der Verwaltung des Staates« aufgerufen.[399] Wie erfolgt sie?

Sie erfolgt über die Organisationen, die auf Initiative der Massen entstehen, über alle möglichen Kommissionen und Komitees, Beratungen und Delegiertenversammlungen, die sich um die Sowjets, die Wirtschaftsorgane, die Betriebskomitees, die kulturellen Institutionen, die Parteiorganisationen, die Organisationen des Jugendverbands, um allerlei genossenschaftliche Vereinigungen usw. usf. gruppieren. Unsere Genossen bemerken bisweilen nicht, dass rings um unsere unteren Partei-, Sowjet-, Kultur-, Gewerkschafts- und Bildungsorganisationen, um die Organisationen des Kommunistischen Jugendverbands, um die Armee-, Frauen- und alle möglichen anderen Organisationen ganze Schwärme auf eigene Initiative entstandener Organisationen, Kommissionen und Beratungen emsig an der Arbeit sind, die Millionenmassen parteiloser Arbeiter und Bauern zu erfassen und die durch ihre tagtägliche, unscheinbare, müh same, geräuschlose Arbeit die Grundlagen der Sowjets ausbauen, den Sowjets Leben verleihen und die Kraftquellen des Sowjetstaates bilden.[400]

Aus all diesen Gründen sei es falsch, »die Partei mit dem Staat zu identifizieren«: Wenn man so vorgeht, »ist das eine Entstellung des Leninschen Gedankens«. Wenn erst einmal die Stellung des neuen Staates auf der inneren und internationalen Ebene konsolidiert ist, müsse man zur »Ausdehnung der Verfassung auf die gesamte Bevölkerung, darunter auch auf die Bourgeoisie« übergehen.[401]

Zu diesem Zeitpunkt nimmt Stalin einige Formulierungen wieder auf, die Marx anlässlich seines Lobes auf die Pariser Kommune benutzt hatte, und er blickt voller Interesse auf das Ideal der Vereinfachung und sogar des Absterbens des Staatsapparats. Die erneute Belebung der Sowjets und der politischen Beteiligung will ein Schritt in diese Richtung sein. Es gehe darum, »unseren Staatsapparat umzugestalten, ihn mit den Volksmassen zu verbinden, ihn zu einem gesunden und ehrlichen, einfachen und billigen Staatsapparat zu machen«;[402] außerdem sollten die Vereinigungen, die aus der Zivilgesellschaft hervorgehen, gefördert werden, weil sie »die Sowjets mit den ›untersten‹ Schichten verbinden, die den Staatsapparat mit den Millionenmassen verschmelzen und Schritt um Schritt alles wegräumen, was einer Barriere zwischen dem Staatsapparat und der Bevölkerung auch nur ähnlich sieht«.[403] Zum Schluss: »Die Diktatur des Proletariats ist nicht Selbstzweck. Die Diktatur ist ein Mittel, ist der Weg zum Sozialismus. Und was ist Sozialismus? Der Sozialismus ist der Übergang von der Gesellschaft der Diktatur des Proletariats zur staatenlosen Gesellschaft«.[404] Sicher nicht das Ende, aber doch eine spürbare Auflockerung der »Diktatur des Proletariats« scheint auf der Tagesordnung zu stehen.

Auf diese Bucharin und Stalin gemeinsame Tendenz zur Öffnung, die aber von den Anhängern Sinowjews als »mittelbäuerlicher Bolschewismus« abgestempelt wird,[405] folgt die Krise, die auf die Liquidierung der NEP, auf die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und auf die forcierte Industrialisierung hinausläuft, die die radikale Ausdehnung des Konzentrationslager-Universums zur Folge haben. Die Wen de wird nicht, wie oft behauptet wird, vom ideologischen Ungestüm der Führungsgruppe ausgelöst, und das heißt von der Wut, jede Form von Privateigentum und Markt abzuschaffen. Zunächst darf der Druck von unten nicht unterbewertet werden; in nicht zu vernachlässigenden Sektoren der Gesellschaft wirkt weiterhin die Nostalgie nach dem Egalitarismus vor der Einführung der NEP. Dazu kommt noch ein anderes Element.

Fast als ob er auf die heute vorherrschende Interpretationsweise eine Antwort geben wollte, erklärte Stalin am 19. November 1928, dass die Sowjetunion von »nüchternen und ruhigen Leuten« angeführt wer de, die aber das Problem quäle, wie die »Unabhängigkeit« eines Landes zu verteidigen sei, das entschieden rückständiger ist als die potenziellen Feinde, die es umgeben.[406] Es herrscht also Sorge um eine internationale Lage, die als immer bedrohlicher wahrgenommen wird. Ende Oktober des Jahres 1925 war der Locarno-Pakt unterzeichnet worden. Da er Frankreich und Deutschland einander wieder annäherte, hatte er der Zerrissenheit der Westmächte, die sich im Ersten Weltkrieg bekämpft hatten, ein Ende bereitet und auf diese Weise die Isolierung der UdSSR sanktioniert: Es fehlte nicht an Stimmen, die »einen europäischen Kreuzzug gegen den Kommunismus« forderten.[407] Und schon unter streichen in Moskau Persönlichkeiten ersten Ranges wie Sinowjew, Kamenew und Radek dramatisch die Gefahr einer bevorstehenden Aggression.[408]

Ein paar Monate später kommt es in Polen zum Staatsstreich, mit dem Pilsudski, ein erklärter Feind der Sowjetunion, die Macht über nimmt: In seinem Arbeitszimmer thront der von David gemalte Napoleon bei der Alpenüberquerung, aber in Wahrheit bewunderte Pilsudski ihn auch wegen seiner Invasion Russlands. An dem letztgenannten Unternehmen hatten sich auch die Polen beteiligt: Stolz unterstreicht dies der neue starke Mann in Warschau, der danach strebt, Russland die Ukraine zu entreißen, um sie zu einem treuen und subalternen Bündnispartner zu machen.[409] Am 26. August 1926 weist Pilsudski den Vorschlag eines Nichtangriffspakts seitens Moskaus zurück, und später verurteilt der sowjetische Außenminister die Pläne Polens, die darauf abzielten, »ein Protektorat über das Baltikum zu er werben«. Im darauffolgenden Jahr wird das internationale Bild noch düsterer: Großbritannien bricht die diplomatischen und Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion ab, und Marschall Ferdinand Foch fordert Frankreich dazu auf, dasselbe zu tun: In Peking erleidet die sowjetische Botschaft den Überfall der Truppen Tschiang Kai-scheks, die (zumindest dem Verdacht Moskaus zufolge) vielleicht von London aufgehetzt sind, während in Warschau der sowjetische Botschafter von einem Emigranten aus Weißrussland ermordet wird; schließlich kommt es in Leningrad zu einer Explosion in einem Büro der kommunistischen Partei.

Jetzt schlägt sogar Generalstabschef Tuchatschewski Alarm und fordert eine rasche Modernisierung der Armee. Die NEP scheint nicht mehr in der Lage zu sein, das Problem zu lösen: Zwar zeigt die Wirtschaft Anzeichen der Erholung und in den Jahren 1926/27 ist sie auf das Vorkriegsniveau zurückgekehrt, doch was die Industrieproduktion und die Technologie betrifft, ist die Kluft im Vergleich zu den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern unverändert geblieben. Einschneiden de und drastische Maßnahmen sind vonnöten.[410] Und die militärischen Kreise drängen auf ähnliche Maßnahmen auch in der Landwirtschaft, um eine regelmäßige Lebensmittelversorgung für die Armee zu gewährleisten. Wie man sieht, ist die Wende von 1929 nicht das Ergebnis einer Laune Stalins, der vielmehr den von den militärischen Kreisen ausgehenden Druck, wenn schon nicht aufhalten, so doch in die richtige Spur leiten muss: Während er die vor allem von Tuchatschewski geforderten übertriebenen Zielsetzungen zurückweist, warnt er vor einem »roten Militarismus«, der, ausschließlich auf die Rüstungsindustrie konzentriert, Gefahr liefe, die wirtschaftliche Entwicklung und folglich auch die Modernisierung des Militärapparats insgesamt zu gefährden.[411] Die Wende ist auch nicht Resultat einer ideologischen Grille: Abgesehen von der Macht der kommunistischen Partei und von den gesellschaftlichen Verhältnissen in der UdSSR steht die Existenz der Nation auf dem Spiel: Dies ist die Überzeugung eines Großteils der sowjetischen Führungsgruppe, von Stalin angefangen natürlich.

Die Sorge ist besonders auch deshalb gerechtfertigt, weil sich mit der Verdüsterung des internationalen Horizonts sowohl auf diplomatischer als auch auf ökonomischer Ebene (1929 ist das Jahr der großen Depression) innerhalb Russlands die ›Getreidekrise‹ (der jähe Rück gang des von den Bauern auf den Markt gebrachten Getreides) verbindet: »In den Städten bildeten sich lange Schlangen für den Lebens mitteleinkauf« und das führte zu einer weiteren Verschärfung der Krise. Es war eine Lage, »in der man unbedingt gegen Bucharins Tendenzen vorgehen musste«, bemerkt mit Recht dessen Biograph.[412] Nunmehr ist das Schicksal des Duumvirats vorgezeichnet. Der Bruch ist nicht nur mit den moralischen Skrupeln des besiegten Duumvirs zu erklären, der mit Weitblick die »Bartholomäusnacht« vorausgesehen hatte, zu der die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft führen sollte (vgl. oben, Kap. 3, § 7). Vor allem ein anderes Element hat zur Zerrüttung geführt. Auch Bucharin sorgt sich ernsthaft um die Kriegsgefahr, aber er glaubt nicht, dass man eine Lösung auf bloß nationaler Ebene finden könne: »Der wirkliche, endgültige Sieg des Sozialismus in unserem Land ist nicht möglich ohne die Hilfe der anderen Länder und der Weltrevolution«.[413] Der bolschewistische Führer, der schon den Frieden von Brest Litowsk als eine feige und nationalistische Desertion aus dem internationalen Kampf des revolutionären Proletariats verurteilt hatte, bleibt dieser Auffassung von Internationalismus weiterhin treu:

Wenn wir unsere Möglichkeiten übertreiben, könnte eine Tendenz entstehen (…) auf die internationale Revolution »zu spucken«: Eine solche Tendenz könnte ihre spezifische Ideologie, einen besonderen »nationalen Bolschewismus« oder etwas anderes in diesem Geiste ins Leben rufen. Von da aus fehlt nur ein Schritt zu zahlreichen noch viel gefährlicheren Ideen.[414]

Stalin geht indes realistischer von der Voraussetzung der erfolgten Stabilisierung der kapitalistischen Welt aus: Die Verteidigung der UdSSR sei in erster Linie eine nationale Aufgabe. Es gehe nicht nur darum, die Industrialisierung des Landes energisch voranzutreiben: Wie die ›Getreidekrise‹ beweise, ist der Zufluss von Lebensmitteln vom Land in die Stadt und zum Heer keineswegs gewährleistet. Für dieses Problem besonders empfänglich war ein Führer wie Stalin, der infolge der im Bürgerkrieg angesammelten reichen Erfahrung mehrmals die primäre Bedeutung der Stabilität des Hinterlandes und des Lebensmittelnach schubs vom Land in einem zukünftigen Krieg hervorgehoben hatte. Hier die Schlussfolgerungen, die aus einem Brief an Lenin und aus einem Interview mit der ›Prawda‹ vom Sommer bzw. vom Herbst 1918 hervorgehen: »Die Lebensmittelfrage ist natürlich mit der militärischen Frage verflochten«. Und das heißt: »Eine Armee kann nicht lange ohne festes Hinterland existieren. Für eine stabile Front ist es notwendig, dass die Armee regelmäßig Ersatz, Munition und Proviant aus dem Hinterland erhält«.[415] Noch am Vorabend der Hitleraggression wird Stalin der Landwirtschaft große Aufmerksamkeit widmen und weist sie als ein zentrales Element der nationalen Verteidigung aus.[416] Man versteht daher, warum Ende der 1920er Jahre die Kollektivierung der Landwirtschaft als der obligate Weg erscheint, um die Industrialisierung des Landes drastisch zu beschleunigen und den Städten und der Armee die stabile Verpflegung zu garantieren, die sie brauchen. Das alles in Voraussicht des Krieges. In der Tat:

Wenn man die menschlichen Opfer beiseite lässt, waren die wirtschaftlichen Resultate des ersten Fünfjahresplans verblüffend. Indem Sowjetrussland seine Industrieproduktion um 250 % erhöhte, machte es Riesen schritte, um eine große Industriemacht zu werden (…). Natürlich brachte der »große Sprung nach vorn« in der Industriewirtschaft Sowjetrusslands einen »großen Sprung nach vorn« im Militärsektor mit sich, mit Militär ausgaben, die sich zwischen 1929 und 1940 verfünffachen.[417]

Bescheidener sind die Resultate, die in der Landwirtschaft erzielt wer den, wo aber die Überwindung der Subsistenzwirtschaft und die Zentralisierung jedenfalls günstigere Bedingungen für die reguläre Versorgung einer umfangreichen Armee schaffen.

2. Vom »sozialistischen Demokratismus« zum Großen Terror

Nach Überwindung der »Bartholomäusnacht«, die die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft mit ihren furchtbaren sozialen und menschlichen Opfern bedeutet hat, scheint es erneut zu einer Politik der Öffnung zu kommen, wie wir sie schon kennen. Nach dem Sieg über die Kulaken – merkt Kaganowitsch im September 1934 an – müsse man »vollständig zur Gesetzlichkeit übergehen« und »unsere Bevölkerung im sozialistischen Rechtsbewußtsein erziehen«: ja, ohne die Massenerziehung von »160 Millionen Menschen im Geiste des Rechtsbewußtseins« sei »die Festigung unserer Ordnung« nicht möglich.[418] Dies sei auch besonders deshalb notwendig – bekräftigt Stalin –, weil es in der UdSSR »keine antagonistischen Klassen mehr gibt«.[419] Es gebe also keinen Grund mehr, die Einführung des »allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrechts bei geheimer Abstimmung«,[420] des »allgemeinen Wahl rechts ohne jegliche Einschränkung«[421] aufzuschieben. Daher müssten die Abänderungsanträge an der neuen Verfassung zurückgewiesen werden, die vorschlagen, »den Geistlichen, ehemaligen Weißgardisten, allen ›Ehemaligen‹ und Personen, die sich nicht mit gemeinnütziger Arbeit befassen, das Wahlrecht zu entziehen«. Und es habe auch keinen Sinn, diesen Gruppen »nur das Recht zu geben zu wählen, nicht aber gewählt zu werden«; ebenfalls sollte der Vorschlag zurückgewiesen werden, der fordert, »dass die Ausübung religiöser Kulthandlungen verboten werde«. Inzwischen sei es möglich, zum »sozialistischen Demokratismus« vorzurücken.[422]

Es handelt sich nicht nur um Propaganda, die sicherlich eine wichtige Rolle spielt. Wir haben es mit einer Perspektive zu tun, die die scharfe Polemik Trotzkis hervorruft. Er sieht und verurteilt im »Stalinschen Liberalismus« die Aufgabe des »Rätesystems« und die Rückkehr zur »bürgerlichen Demokratie«, in der unter Verdrängung der Klassenunter schiede als Abstraktion das Subjekt des »Staatsbürgers« gebildet wird. Diese Wende sei gut zu verstehen: »Die erste Sorge der Sowjetaristokratie ist es, sich der Arbeiter- und Rotarmisten-Sowjets zu entledigen«.[423] Der Gegensatz zwischen den beiden Perspektiven ist offensichtlich. War erst einmal die Gefahr für die Unabhängigkeit des Landes gebannt, die ein rückständiges, von den Kulaken hegemonisiertes flaches Land darstellte, das in der Lage war, den Zufluss an Lebensmitteln für die Städte und für die Armee zu blockieren, hatte Stalin, unter Beibehaltung der von der Kommunistischen Partei ausgeübten Diktatur, keinerlei Interesse daran, den politischen und sozialen Konflikt weiter zu verschärfen. Es ist gerade die fixe Idee der forcierten Industrialisierung, die Stalin dazu bringt, die Beförderung von »Parteilosen« auf Verantwortungsposten in der Fabrik und in der Gesellschaft anzuregen. Es sei unzulässig, ihnen gegenüber eine ablehnende Haltung einzunehmen: Es gibt »nichts Dümmeres und Reaktionäreres«; »unsere Politik besteht keineswegs darin, die Partei in eine abgesonderte Kaste zu verwandeln«; man müsse jede Anstrengung unternehmen, um Spezialisten, Ingenieure und Techniker der »alten Schule« für die industrielle und technologische Entwicklung des Landes zu gewinnen.[424]

Ohne materiellen Anreiz ist außerdem die Heranbildung spezialisierter Arbeiter und Techniker zur Förderung der industriellen und technologischen Entwicklung nicht möglich; daher die Polemik gegen die »›linkslerische‹ Gleichmacherei auf dem Gebiet des Arbeitslohns«. Nur wenn man von einer groben Bezahlungsgleichmacherei Abstand nimmt, sei es möglich, eine wirksamere »Arbeitsorganisation« einzuführen und die »Fluktuation der Arbeitskraft«, vor allem der qualifizierteren, zu beseitigen, die von Betrieb zu Betrieb auf der Suche nach einer besseren und weniger abgeflachten Vergütung wandert. Abgesehen vom Egalitarismus und von der objektiven Entmutigung der qualifizierteren und engagierteren Arbeiter, müsse die Politik der materiellen Anreize auch der kollektiven Verantwortungslosigkeit ein Ende setzen, um stattdessen das Prinzip der »persönlichen Verantwortlichkeit« ein zuführen.[425]

Genau zu diesem Zeitpunkt reifen die Bedingungen für das Aufflammen des dritten Bürgerkriegs heran, der sogar die bolschewistischen Reihen zerrüttet. Besonders hart ist die Stellungnahme Trotzkis gegen das, was er ohne Zögern als »Neo-NEP« bezeichnet. Ja, in der KPdSU sei eine immer ausgeprägtere »Rechtswendung« mit der Begünstigung der »Oberschichten des Dorfes« und des Wiederauftretens der Kulaken im Gange: Die Bürokratie »ist bereit, der Bauernschaft, d. h. deren klein bürgerlichen Interessen und Tendenzen, ökonomische Zugeständnisse zu machen«. Allgemeiner ausgedrückt: Auch infolge der »Wendung zum Markt« und zur »Geldrechnung« und der damit verbundenen Erhöhung der Lebenshaltungskosten, sei die Sowjetgesellschaft weit entfernt, zum Sozialismus und zur Überwindung der Ungleichheiten und der Klassenunterschiede überzugehen, und immer deutlicher von »neu en Prozessen der Klassenschichtung« gekennzeichnet.[426] Dieser Rückentwicklung im Inneren entspreche in der Außenpolitik der Verzicht auf jede revolutionäre und internationalistische Perspektive seitens der »konservativen und nationalbornierten Bürokratie der Sowjetunion«.[427] »Das alleinige Leitprinzip ist: der Status quo!«, was durch den »Eintritt der Sowjetunion in den Völkerbund« bestätigt werde.[428]

Natürlich entgeht weder Stalin noch Trotzki die Zuspitzung der internationalen Lage, doch ihre Antworten auf dieses Problem sind unterschiedlich und entgegengesetzt. Für Stalin geht es darum, sich auf die ökonomische und technologische Entwicklung Russlands zu konzentrieren und die von der Oktoberrevolution und der Kollektivierung der Landwirtschaft geschlagenen Wunden so weit wie möglich auszuheilen und die kommunistische Partei als Führer der ganzen Nation zu präsentieren. Die Stabilität und das Gleichgewicht, die so im Inneren erreicht werden, können es gleichzeitig ermöglichen, die Bündnispolitik auf internationaler Ebene zur Gewährleistung der Sicherheit der UdSSR zu fördern. Für Trotzki kann indes Sowjetrussland, so ungestüm seine industrielle Entwicklung auch sein mag, eine Aggression der fort geschrittenen imperialistischen Länder nur mithilfe der Unterstützung des Proletariats der Angreiferländer besiegen.[429] Der Ausgleich mit der Bourgeoisie auf innerer und internationaler Ebene ist nicht nur Verrat, sondern verwehrt es dem aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Land, das internationale revolutionäre Proletariat anzuziehen, das allein es retten kann. Der Zusammenstoß zwischen diesen beiden Perspektiven ist unvermeidbar. Kirow wird am 1. Dezember 1934 er mordet; der französisch-sowjetische Pakt trägt das Datum 2. Mai 1935: Zwischen diesen beiden Daten steht der oben zitierte lange Beitrag Trotzkis (Wohin führt die Stalin-Bürokratie die UdSSR?), der am 30. Januar 1935 veröffentlicht wird und eine scharfe Anklage gegen die innere und internationale »Neo-NEP« darstellt.

3. Vom »Sozialismus ohne Diktatur des Proletariats« zur Verschärfung der Lage im Kalten Krieg

Auf den Großen Terror und die furchtbare Säuberung, die er mit sich bringt, folgt der Große Vaterländische Krieg. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs erklärt Stalin, der für das antifaschistische »Große Bündnis eine große Zukunft voraussieht« und den Ausbruch des Kalten Krieges zu verhindern versucht,[430] wiederholt auch im Ver lauf von vertraulichen Begegnungen mit kommunistischen Führern Osteuropas, dass es hier nicht darum gehe, das sowjetische politische Modell einzuführen: »Es ist möglich, dass die Diktatur des Proletariats einen anderen Charakter angenommen hätte, wenn wir in der Sowjetunion keinen Krieg gehabt hätten«. Die Lage, die in Osteuropa nach 1945 eingetreten ist, sei eindeutig günstiger: »In Polen gibt es keine Diktatur des Proletariats und Ihr braucht sie auch nicht«; »muss Polen den Weg der Einführung der Diktatur des Proletariats einschlagen? Nein, es ist nicht dazu gezwungen, es ist nicht notwendig«. Und an die bulgarischen kommunistischen Führer gewandt: Es ist möglich, »den Sozialismus auf neue Art zu verwirklichen, ohne die Diktatur des Proletariats«; »die Lage hat sich im Vergleich zu unserer Revolution radikal geändert, man muss andere Methoden und Formen anwenden (…). Ihr dürft nicht befürchten, des Opportunismus angeklagt zu werden.

Dies ist nicht Opportunismus, sondern die Anwendung des Marxismus auf die jetzige Lage«. Und zu Tito: »Heutzutage ist der Sozialismus sogar unter der englischen Monarchie möglich. Die Revolution ist nicht mehr überall notwendig (…). Ja, der Sozialismus ist sogar unter einem englischen König möglich«. Der Historiker, der diese Ge spräche zitiert, kommentiert seinerseits: »Wie diese Beobachtungen zeigen, überdachte Stalin aktiv die allgemeine Gültigkeit des sowjetischen Revolutions- und Sozialismusmodells«.[431] Vielleicht kann man sogar noch weiter gehen und sagen, dass das Neuüberdenken auch das Verhältnis zwischen Sozialismus und Demokratie im Allgemeinen und folglich sogar mit Bezug auf die Sowjetunion betraf: Die Hypothese eines Sozialismus unter einem englischen König zu formulieren, bedeutet jedenfalls, die terroristische Diktatur und die Autokratie zur Diskussion zu stellen, wenn schon nicht die monopolistische Konzentration der Macht in den Händen der kommunistischen Partei. Symptomatisch ist die in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands verfolgte Politik: »Die Russen förderten nicht nur das sozialistische Theater und Ballett, die sozialistischen Opern und Filme; sie förderten ebenfalls die bürgerlichen Künste« und das in Übereinstimmung mit dem in Moskau formulierten Programm, »demzufolge das sowjetische Modell nicht zu Deutschland passte, das vielmehr auf der Grundlage breitangelegter, antifaschistischer und demokratischer Prinzipien reorganisiert werden musste«. Sodass es »in den ersten drei Jahren nach dem Krieg in der Hauptstadt keine wirkliche kulturelle Trennung gab und die sowjetische Zone weiterhin eine Führungsrolle auf kulturellem Gebiet spielte«.[432]

Der Ausbruch des Kalten Krieges unterbricht jählings diese Erfahrung und diese Überlegungen: Um eine Wiederholung der Tragödien der Vergangenheit zu vermeiden, wird jetzt die Schaffung eines Sicherheitsgürtels um ein Land, das von der Nazi-Aggression und -Besatzung hart geprüft worden war, zum zentralen Problem. Wird auch »das Problem des zumindest teilweisen Abbaus des Gulag in der UdSSR schon vor dem Tode Stalins in Angriff genommen«,[433] so ist ein wirkliches Tauwetter unmöglich. Nach Hiroshima und Nagasaki muss die Sowjetunion einen neuen »Gewaltmarsch« unternehmen, um der neuen »westlichen technologischen Revolution« hinterherzuhetzen. Sie hat sich von der »westlichen deutschen Besatzung« befreit, kann sich aber »keine Ruhe gönnen«: eine neue furchtbare Gefahr ist aufgetaucht.[434] Zumal ein paar Jahre später, am 1. November 1952, die Explosion der ersten Wasserstoffbombe hinzukommt, die tausend mal stärker ist als die über den japanischen Städten abgeworfenen Bomben:

Als die amerikanische Regierung den Ausgang des Tests ankündigte, kam es in anderen Ländern zu Bestürzung und Schockreaktionen. Es war klar, dass man eine Bombe von so außergewöhnlicher Gewalt nie gegen militärische Ziele hätte einsetzen können. Wenn sie keine Kriegswaffe war, konnte sie nur eine Waffe für den Genozid und die politische Erpressung sein (…). Stalin erhielt Mitte November einen Bericht über den Test und das diente nur zur Bestätigung seiner Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten sich ernsthaft auf einen Krieg gegen die Sowjetunion vorbereite ten.[435]

Eine nicht unbegründete Befürchtung, wenn man bedenkt, dass Truman im Januar 1952 zur Überwindung des toten Punkts bei den Militäraktionen in Korea mit einer radikalen Idee liebäugelt, die er auch einer Tagebucheintragung anvertraut hat: Man könnte der Sowjetunion und Volkschina ein Ultimatum stellen und im Voraus klarstellen, dass die ausbleibende Befolgung »bedeutet, dass Moskau, Petersburg, Mukden, Wladiwostok, Peking, Shanghai, Port Arthur, Dairen, Odessa, Stalin grad und alle Industrieanlagen in China und in der Sowjetunion eliminiert würden«.[436]

Für die drei Jahrzehnte der Geschichte Sowjetrusslands unter der Führung Stalins ist der grundlegende Aspekt nicht die Mündung der Parteidiktatur in die Autokratie, sondern der wiederholte Versuch, vom Ausnahmezustand zu einer Situation relativer Normalität überzugehen; diese Versuche scheiterten sowohl aus inneren (die abstrakte Utopie und der Messianismus, die es verhinderten, sich mit den erzielten Resultaten zu identifizieren) als auch aus internationalen Gründen (die permanente Bedrohung, die auf dem aus der Oktoberrevolution her vorgegangenen Land lastete) bzw. aus der Verflechtung beider. Und gerade der Messianismus ist zum einen Ausdruck von Tendenzen, die dem Marxismus innewohnen, zum andern ist er die Reaktion auf die Schrecken des Ersten Weltkriegs, der auch in Kreisen und bei Persönlichkeiten, die dem Marxismus fernstehen, den Wunsch nach einer völlig neuen Welt erweckt, die in keinem Zusammenhang mit einer Realität steht, die diese Schrecken erneut hervorbringen könnte. Mit dem Aufflammen des dritten Bürgerkriegs (innerhalb der bolschewistischen Reihen) und während sich gleichzeitig der Zweite Weltkrieg (in Asien noch vor Europa) nähert, läuft dieses mehrfache Scheitern auf den Anbruch der Autokratie hinaus, die ein Führer ausübt, der Gegenstand eines wahren Kults wird.

4. Bürokratismus oder »furioser Glaube«?

Was für eine Vorstellung können wir uns von der Führungsgruppe machen, die siegreich aus dem dritten Bürgerkrieg hervorgeht und versucht, der Zweiten Periode der Unruhen ein Ende zu setzen, gerade als sich am Horizont neue ungeheure Stürme abzeichnen? Wie wir wissen, macht Chruschtschow Kirow mit gewundenen Anspielungen zum Opfer der vom Kreml organisierten Verschwörung, während Trotzki den selben als Komplizen des Tyrannen und als Exponenten ersten Ranges der verhassten usurpatorischen und parasitären Bürokratie hinstellt, die die geforderte neue Revolution ein für alle Mal hinwegfegen sollte. Aber ist der von den Pistolenschüssen Nikolajews getroffene Kirow wirklich ein Bürokrat? Kehren wir zu der schon zitierten russischen Forscherin zurück, die den Mythos eines von Stalin inspirierten Mordes kritisiert, um zu sehen, wie sie das Opfer beschreibt. Wer war also Kirow? Er sei ein loyaler, aufrichtiger, der Sache ergebener Führer gewesen. Und das ist noch nicht alles: Was seine Persönlichkeit kennzeichnete, waren die Aufmerksamkeit auch für die kleinsten Probleme des täglichen Lebens seiner Mitarbeiter, eine große Bescheidenheit, die »Toleranz gegenüber anderen als seinen Meinungen, der Respekt vor der Kultur und den Traditionen der anderen Völker«.[437]

Dieses vorteilhafte Urteil wirft am Ende ein günstiges Licht auf den ganzen von Kirow frequentierten Kreis und letztlich auch auf Stalin, dessen enger und zuverlässiger Mitstreiter jener gewesen ist. Wir haben es keineswegs mit einer Schicht von Bürokraten ohne Ideale zu tun, die nur an ihre Karriere denken:

Wie viele der damaligen Führer glaubte Kirow ehrlich an die glänzende Zukunft, für die er achtzehn bis zwanzig Stunden am Tag arbeitete: Überzeugter Kommunist war er auch, wenn er Stalins Lob sang im Namen des Erstarkens der Partei und der Sowjetunion, der Entwicklung und der Macht des Landes. Dieser furiose Glaube war vielleicht die Tragödie einer ganzen Generation.[438]

Die gesamte Führungsgruppe zeigt jedenfalls Hingabe an die Arbeit und Opfergeist. Wir sprachen schon von dem »enormen Arbeitspensum«, das der sowjetische Führer absolvieren konnte (vgl. Kap. 1, § 4): Zumindest in den Kriegsjahren

arbeitete Stalin vierzehn oder fünfzehn Stunden am Tag im Kreml oder in der Datscha (…). Im Herbst 1946 verbrachte Stalin einen Urlaub im Süden, den ersten seit 1937 (…). (Wenige Monate vor seinem Tod und den dringenden Rat der Ärzte missachtend) weigerte Stalin sich, im Herbst oder Winter 1952 eine Pause einzulegen, und das trotz der enormen Zeit und Mühe, die er der Organisation des XIX. Parteitags im Monat Oktober gewidmet hatte.[439]

Ähnliche Betrachtungen können für einen engen Mitarbeiter Stalins, nämlich Lasar M. Kaganowitsch, angestellt werden, der mit einem »frenetischen Einsatz« den Bau der U-Bahn in Moskau leitete: »Er stieg direkt in die Gruben hinab, auch nachts, um den Stand der Arbeiten zu kontrollieren und sich über die Lage Klarheit zu verschaffen«.[440] Zusammenfassend gesagt, haben wir es mit einer Führungsgruppe zu tun, die vor allem in den Kriegsjahren »schier Übermenschliches leistete«.[441] Was sie anfeuert, ist ein »furioser Glaube«, der nicht auf diese kleine Gruppe und auch nicht nur auf die Mitglieder der kommunistischen Partei begrenzt blieb. »Missionarischen Eifer« zeigten »auch gewöhnliche Männer und Frauen«; insgesamt »war dies eine Periode echter Begeisterung, fieberhafter Anstrengungen und freiwilliger Opfer«.[442] Dieses geistige Klima ist gut zu verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Land im Eilschritt auf die Industrialisierung zusteuerte und breiten Bevölkerungsschichten ausgedehnte Perspektiven sozialen Aufstiegs bot, gerade als die umliegende kapitalistische Welt von einer verheerenden Krise geschüttelt wurde. Erteilen wir einem Historiker das Wort, der sich für seine Analyse auch interessanter Erinnerungsbücher bedient:

Die Jahre 1928-31 waren für die Klasse der Werktätigen eine Zeit der enormen Mobilität nach oben. Die Träger des sozialistischen Wettbewerbs und die Stoßbrigaden ersetzten nicht nur die als »ungeeignet« betrachteten Kader, sondern besetzten massenweise die zur Verfügung stehenden Stellen in den bürokratischen Apparaten und in den Erziehungsanstalten, die sich rasch ausbreiteten. Sie wurden nicht passiv gefördert, sondern waren aktive Protagonisten der Förderung (samovydvizhentsy). Sie hatten »ein klares und bestimmtes Ziel für die Gegenwart und die Zukunft« und »versuchten so viel wie möglich an Kenntnissen und praktischer Erfahrung zu sammeln, um der neuen Gesellschaft so nützlich wie möglich zu sein. Die Stoßbrigaden-Bewegung und der sozialistische Wettbewerb spielten eine entscheidende Rolle beim Industrialisierungsprozess: Sie halfen der politischen Führung, den Rhythmus dieses Prozesses zu beschleunigen, die industrielle Modernisierung voranzubringen, die Fabrik-Troika nach dem Modell der einzigen Direktion neu zu organisieren, zur Beförderung junge, ehrgeizige, kompetente und politisch zuverlässige Werktätige auszuwählen. Das Auftauchen dieser Werktätigen als neue Kräfte übte auf die Führer der Partei, der Industrie und der Gewerkschaft eine mitreißende Wirkung aus.[443]

Zur Bestätigung und weiteren Bereicherung des hier gezeichneten Bildes trägt ein besonders bedeutendes Zeugnis bei. Im Jahre 1932 sendet aus Riga, der Hauptstadt Lettlands, ein junger US-amerikanischer Diplomat, der später als Theoretiker des antisowjetischen containments berühmt werden wird (George Kennan), eine Depesche nach Washington, die eine recht interessante Analyse enthält. Zunächst sei anzumerken, dass »das Leben in der Sowjetunion weiterhin im Interesse einer Doktrin verwaltet wird«, und diese Doktrin ist der Kommunismus. Die se Weltanschauung stoße auf ausgedehnte Zustimmung. Das »Industrieproletariat« genieße eine so hohe soziale Anerkennung, dass dies in seinen Augen bei weitem die »materiellen Nachteile« übertreffe, die mit der programmierten Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung verbunden sind. Vor allem die jungen Leute bzw. »ein gewisser Teil der Jugend« zeige sich »extrem begeistert und glücklich, wie es nur bei Menschen geschehen kann, die vollkommen in Aufgaben vertieft sind, die keine Beziehung zum persönlichen Leben haben«, d. h. bei Menschen, die vollkommen von dem aufregenden Plan des Aufbaus einer neuen Gesellschaft erfasst sind. In diesem Sinne könne man von »grenzenlosem Selbstvertrauen, geistiger Gesundheit und Glückseligkeit der neuen russischen Generation« reden. Aber hier wird eine Warnung angefügt, die angesichts der späteren historischen Erfahrung als weit sichtig betrachtet werden kann: »Vom moralisch vereinigtsten Land der Welt kann Russland sich von heute auf morgen in das schlimmste moralische Chaos verwandeln«.[444] Nur schwerlich habe ein Zustand so starker moralischer Anspannung dem Verschleiß der Zeit und den unvermeidlichen Schwierigkeiten und Misserfolgen beim Projekt, eine neue Gesellschaft aufzubauen, widerstanden, und deshalb habe er sich leicht in sein Gegenteil verkehren können. Bleibt die Tatsache, dass im Jahre 1932 und am Vorabend der Ermordung Kirows Sowjetrussland für den zukünftigen Theoretiker des containment das »moralisch vereinigtste Land« zu sein schien.

Wenn Kennan sich so ausdrückt, hat er sicher eher die Realität der Städte (wo die Wende, zwar mit Widersprüchen, tatsächlich die Begeisterung einer großen Anzahl von Jugendlichen, Intellektuellen und Fabrikarbeitern hervorgerufen hatte[445]) als jene des flachen Landes im Auge. Auf dem Land hatte die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft nach der vorausschauenden Warnung Bucharins zu »einer ›Bartholomäusnacht‹ für die reichen Bauern« und allgemeiner noch für »eine enorme Anzahl von Bauern« geführt, die sehr oft den nationalen Minderheiten angehörten. Daraus hat sich ein Bürgerkrieg entwickelt, der sowohl von der einen als auch der anderen Seite unerbittlich und grausam geführt wurde, so unerbittlich und grausam, dass er einen hohen Vertreter der sowjetischen Militärmacht zum Selbstmord trieb: Er war erschüttert von einer Inspektion, bei der er wiederholt geschrien habe, das sei nicht Kommunismus, sondern »Horror«.[446] Wahrscheinlich hat dieser »Horror« die moralische Krise Bucharins ausgelöst, der über die Bartholomäusnacht eines so großen Ausmaßes entsetzt war, und vor der er vergebens gewarnt hatte. Ihn schauderte vor dem gigantischen sozialtechnologischen Experiment, das »erbarmungslos« voranschritt, ohne »zwischen einer Person und einem Stück Holz zu unterscheiden«.[447] Auch nach dem Abschluss der Kollektivierung überzeugt es nicht, von einem »moralisch vereinigten« Land zu sprechen, gerade so, als wäre sogar die Erinnerung an den blutigen Bürgerkrieg, der es zerrüttet hatte, völlig verschwunden.

Trotz dieser notwendigen Klarstellungen lassen uns Kennans Be stehen auf der Hingabe an die »Doktrin« und auf der Begeisterung an den »furiosen Glauben« und an den »missionarischen Eifer« denken, von denen schon gesprochen worden ist. Zumindest nach den überein stimmenden Analysen eines US-amerikanischen und eines russischen Historikers ändert sich das Bild bis zur Entfesselung des Großen Terrors im Jahre 1937 nicht radikal. Auch wenn der Erste auf dem Aspekt der Manipulation der öffentlichen Meinung von oben besteht, stellt er doch fest, dass Stalin sich 1935 großer Popularität erfreute: Ein eventueller Versuch, seine Macht zu stürzen, wäre auf breiten Widerstand gestoßen.[448] Der Zweite (ein militanter antistalinistischer Historiker) stellt in Bezug auf das darauffolgende Jahr fest, »dass die Partei und das sowjetische Volk weiterhin Vertrauen zu Stalin hatten«; in Anbetracht der Tatsache, dass »der städtische und ländliche Lebensstandard erheblich stieg«, habe sich »eine gewisse Volksbegeisterung« verbreitet.[449]

Der Grund für diese »Begeisterung« ist nicht nur die Erhöhung des Lebensstandards. Es gibt weit mehr: Die »reale Entwicklung« der bisher ausgegrenzten Nationen; die »rechtliche Gleichstellung der Frauen mit den Männern, verbunden mit einer Verbesserung ihres gesellschaftlichen Status«; das Entstehen »eines soliden Systems sozialer Absicherung«, das »Renten, ärztliche Betreuung, Schwangerschaftsschutz, Kindergeld« mit sich bringt; »die beachtliche Entwicklung des Erziehungssystems und der intellektuellen Sphäre insgesamt« mit der Ausdehnung »des Netzes der Bibliotheken und der Lesesäle« und die Verbreitung des »Gefallens an den Künsten und der Dichtung«. Dies ist der stürmische und aufregende Anbruch der Moderne (Verstädterung, Kleinfamilie, soziale Mobilität).[450] Es handelt sich um Prozesse, die die Geschichte Sowjetrusslands als Ganzes kennzeichnen, die aber gerade in den Jahren Stalins ihren Anfang nehmen.

Die traditionell zum Analphabetismus verurteilten Volksmassen drängen massiv an die Schulen und Universitäten vor; so bildet sich »eine ganze neue Generation spezialisierter Arbeiter und Techniker und technisch geschulter Verwalter« heraus, die rasch eine führende Rolle spielen sollen. »Neue Städte werden gegründet und alte Städte werden modernisiert«; das Entstehen neuer riesiger Industriekomplexe geht Hand in Hand mit dem »Aufstieg fähiger und ehrgeiziger Bürger aus Arbeiter- und Bauernkreisen auf die höheren Stufen der sozialen Leiter«[451]. Man hat diesbezüglich von »einer Mischung aus brutalem Zwang, denkwürdigem Heroismus, katastrophalem Wahnsinn und spektakulären Resultaten« geredet.[452]

Aber vielleicht sind diese Resultate und die damit verbundenen ökonomischen Verbesserungen nicht einmal der wichtigste Aspekt. Er ist vielmehr in der radikalen Umwandlung auszumachen, die der Arbeitsplatz und die Produktionsstätte beim Übergang vom alten zum neuen Regime erfahren. Im zaristischen Russland

forderten die Werktätigen, von ihren Vorgesetzten respektvoller behandelt zu werden, und sie bestanden dabei auf der Benutzung des »Sie« anstelle des »Du«, in dem sie einen Überrest des alten Systems der Leibeigenschaft erblickten. Sie wollten als »Staatsbürger« behandelt werden. Und gerade die Frage der Anerkennung der menschlichen Würde belebte die Arbeiterunruhen und -demonstrationen.[453]

Die Knechte, die lange vergebens Anerkennung (im Hegelschen Sinn des Wortes) ersehnt und gesucht hatten, erhalten diese mit dem Anbruch der Sowjetmacht. Und dies gilt nicht nur für die Werktätigen, sondern auch, wie wir noch sehen werden, für die nationalen Minderheiten. Diese Verflechtung zwischen »spektakulären Resultaten« auf dem Ge biet der ökonomischen Entwicklung und Umwälzung der Hierarchien des Ancien Régime (die von der Möglichkeit der Mobilität und eines beispiellosen sozialen Aufstiegs bestätigt wird) erregt in der Masse der Bevölkerung ein überschwängliches Gefühl: Zur schon erhaltenen Anerkennung als Werktätige gesellt sich jetzt die Anerkennung als vereinigtes sowjetisches Volk, das sich inzwischen anschickt, die fortgeschrittensten Länder einzuholen, und damit die Tradition und das Bild der Rückständigkeit abschüttelt. Das erklärt das überschwängliche Gefühl, sich am Aufbau einer neuen Gesellschaft und einer neuen Kultur zu beteiligen, die trotz der Fehler, der Opfer und des Terrors vorankommen. Im Übrigen ist es interessant, noch einmal den Vorwurf zu lesen, den Trotzki am Vorabend des Großen Terrors gegen die bürokratische sowjetische Führung formuliert. Es ist, als ob die Anklage plötzlich so auffallende Wege und so wichtige Anerkennungen erschlösse, dass sie sich in ihr Gegenteil verkehrt:

Gigantische Errungenschaften in der Industrie, vielversprechender Beginn eines Aufschwungs der Landwirtschaft, außerordentliches Anwachsen der alten und Entstehung neuer Industriestädte, rasche Zunahme der Zahl der Arbeiter, Hebung des Kulturniveaus und der Bedürfnisse – das sind die unbestreitbaren Ergebnisse der Oktoberrevolution, in der die Propheten der alten Welt das Grab der menschlichen Zivilisation sehen wollten. Mit den Herren bürgerlichen Ökonomen braucht man nicht mehr zu streiten: Der Sozialismus hat sein Recht auf den Sieg nicht auf den Seiten des »Kapitals« bewiesen, sondern in einer Wirtschaftsarena, die ein Sechstel der Erdoberfläche ausmacht (…). Allein dank der proletarischen Revolution erzielte ein zurückgebliebenes Land in weniger als zwei Jahrzehnten historisch beispiellose Erfolge.[454]

Mit der ökonomischen Entwicklung verbindet sich der Zugang zur Kultur nicht nur neuer Gesellschaftsschichten, sondern auch ganzer Völker:

In den Schulen der Union wird heute in nicht weniger als achtzig Sprachen unterrichtet. Für die meisten mussten ein neues Alphabet geschaffen oder die sehr aristokratischen asiatischen durch ein demokratischeres, das lateinische ersetzt werden. In ebensovielen Sprachen erscheinen Zeitungen, welche die Bauern und Hirtennomaden erstmalig mit den elementaren Vorstellungen der menschlichen Kultur bekanntmachen. In den entlegensten Randgebieten des ehemaligen Zarenreichs entstehen eigen ständige Industrien. Die alte, noch halb vom Stammesdasein geprägte Kultur bricht unter dem Traktor auseinander. Neben dem Schreiben und Lesen werden die Erkenntnisse der Agrarwissenschaft und der Medizin vermittelt. Schwerlich ist die Bedeutung dieses Aufbauwerks an dem neu en Menschenschlag zu überschätzen.[455]

Zumindest was das Verhältnis zu den »rückständigen Völkerschaften« betrifft, leiste die verhasste Bürokratie trotz allem »eine gewisse progressive Arbeit«; sie »baut ihnen eine Brücke zu den elementaren Errungenschaften der bürgerlichen, zum Teil auch noch vorbürgerlichen Kultur«.[456] Wie Trotzki auf der Grundlage dieses Bildes glauben konnte, die antibürokratische Revolution stünde kurz bevor, bleibt ein Rätsel. Aber das ist nicht der Punkt, der uns hier interessiert. Die Anerkennungen, die der Oppositionsführer unbeabsichtigt ausspricht, sind Anzeichen für das Prestige und den Konsens, die die sowjetische Führung noch genießt. Anders wäre es nicht zu erklären, dass ein neuer »Sowjetpatriotismus« sich ausbreitet, ein »zweifellos sehr tiefes, aufrichtiges und lebendiges« Gefühl.[457] 1937/38 ist das Biennium des Großen Terrors. Nicht einmal in »seiner schlimmsten Phase« verliert das Regime Stalins seine soziale Konsensgrundlage und seine »begeisterten Anhänger«, die weiter hin sowohl von der Ideologie als auch von den Chancen des sozialen Aufstiegs motiviert werden: Es wäre ein »Fehler«, den permanenten Konsens als »einen bloßen Kunstgriff der Zensur und der staatlichen Repression« zu deuten.[458] Eine paradoxe und tragische Verflechtung ergibt sich: Infolge der starken ökonomischen und kulturellen Entwicklung einerseits und der von der Repression hinterlassenen er schreckenden Leerstellen andererseits »wurden zehntausende Stachanowisten zu Werkstattdirektoren«, und eine ähnliche äußerst rapide vertikale Mobilität ergab sich in den Streitkräften.[459] Während der Verhandlungen über den Nichtangriffspakt im August 1939 besichtigte der Chefdolmetscher des deutschen Außenministeriums Moskau und beschrieb dann das Schauspiel, das ihm der Rote Platz und das Lenin Mausoleum bieten:

Eine lange Schlange russischer Bauern wartete geduldig vor diesem Mausoleum, um sich den wächsernen Vorgänger Stalins in seinem gläsernen Sarg anzusehen. Die Russen machten auf mich ihrer Haltung und ihrem Gesichtsausdruck nach den Eindruck von andächtigen Wallfahrern. »Wer in Moskau gewesen ist und Lenin nicht gesehen hat«, sagte mir ein Botschaftsmitglied, »gilt bei der russischen Landbevölkerung nichts«.[460]

Die weit verbreitete Verehrung des »Vorgängers Stalins« war ein Zeichen dafür, dass auch Letzterer immer noch auf den Konsens einer breiten sozialen Basis rechnen konnte. Die vom Großen Terror hervorgerufenen tiefen Zerrüttungen sind jedenfalls zum Teil infolge der patriotischen Einheit abgeklungen, die sich im Verlauf des Widerstands gegen den Hitlerschen Versklavungs- und Vernichtungskrieg gefestigt hat. Sicher ist – und wir zitieren wiederum eine Historikerin, die nicht im Verdacht stehen kann, Nachsicht mit dem Kommunismus und dem »Stalinismus« zu üben –, dass »der Sieg nicht nur das internationale Prestige der Sowjetunion, sondern auch die Autorität des Regimes im Inneren des Landes einzigartig verstärkte«, sodass »die Popularität Stalins in den auf den Krieg folgenden Jahren ihren Höhepunkt erreichte«.[461] Diese »Popularität« blieb unverändert bis zu seinem Tode und war auch außerhalb der Sowjetunion und in einem gewissen Ausmaß sogar außerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung spürbar.

5. Ein Konzentrationslager-Universum voller Widersprüche

Wie der Terror zeigt auch das von ihm hervorgebrachte Konzentrationslager-Universum keinen geradlinigen Verlauf und kein homogenes Bild: Weit entfernt, »ein statisches System« zu sein, »drehte es sich kontinuierlich wie ein Kreisel«, jedenfalls »machte es Zyklen relativer Grausamkeit und relativer Menschlichkeit durch«.[462] Das meint eine US-amerikanische Historikerin, die ansonsten nicht nur in düstersten Farben das mit dem Oktober 1917 begonnene Geschehen beschreibt, sondern auch die »westlichen Staatsmänner« verspottet, die sich von einem wenn auch recht verschlagenen »Ausrotter« wie Stalin umgarnen ließen und so weit gingen, ihm Achtung entgegenzubringen.[463] Ähnlich argumentiert das Buch eines russischen Historikers, der sich eben falls zu beweisen bemüht, dass die UdSSR Stalins dem Dritten Reich gleichwertig sei. Und dennoch erzählen beide Monographien, auf die ich vor allem Bezug nehme, um das Konzentrationslager-Universum Sowjetrusslands zu analysieren, eine Geschichte, die ganz anders als die Absichten ihrer Autoren lautet. Das von der US-amerikanischen Historikerin skizzierte Bild könnte ab und zu mit einem sowjetischen Propagandaprodukt verwechselt werden, stammte es nicht von einer stramm antikommunistischen Autorin. Beginnen wir, es zu untersuchen. Während im Jahre 1921 der Bürgerkrieg wütet, funktioniert eine Zeit lang das Moskauer Gefängnis Butyrka wie folgt:

Den Gefangenen war es ohne weiteres erlaubt, aus dem Gefängnis hinauszugehen. Sie organisierten Morgengymnastikstunden, sie hatten ein Orchester und einen Chor gegründet, einen »Klub« eingerichtet, der mit ausländischen Zeitschriften und einer guten Bibliothek bestückt war. Der Tradition der vorrevolutionären Epoche gemäß, hinterließ jeder Gefangene bei seiner Freilassung seine Bücher. Ein Gefangenenrat wies die Zellen zu, von denen einige gut eingerichtet waren, mit Teppichen auf dem Bo den und an den Wänden. Ein anderer Gefangener erinnerte sich: »Wie spazierten die Korridore entlang, als wären es Wege«. Der Babina (einer Sozialrevolutionärin) erschien das Leben im Gefängnis irreal: »Wird es ihnen je gelingen, uns einzusperren?«

Eine andere Sozialrevolutionärin, die 1924 verhaftet und nach Sawatiewo geschickt wurde, war angenehm überrascht, sich an einem Ort zu befinden, der »keineswegs einem Gefängnis ähnelte«. Es gelingt ihr, dank ihrer Bekanntschaften, nicht nur, den politischen Gefangenen reichlich Lebensmittel und Kleidung zukommen zu lassen, sondern sie kann auch ihre Zelle in die Frauensektion der Sozialrevolutionäre verwandeln. Noch ein paar Jahre später sehen wir, dass die auf den Solowez-Inseln Inhaftierten, darunter viele Petersburger Wissenschaftler, über ein Theater, eine Bibliothek mit 30.000 Bänden und einen botanischen Garten verfügten, auch »ein Museum der Flora, der Fauna, der lokalen Kunst und Geschichte« aufbauten und »Monatszeitschriften und Tageszeitungen« herausgaben, »in denen Karikaturen, sehnsuchtsvolle Gedichte und überraschend offene Erzählungen erschienen«.[464] Es stimmt zwar, dass das Bild, das uns das Gefängnissystem im gleichen Zeitraum aufweist, nicht homogen ist. Dennoch sind die oben zitierten Fälle nicht isoliert. Und selbst wenn es sich nur um glückliche und flüchtige Inseln handeln sollte, ist ihre Existenz schon als solche bedeutsam. Es fehlt natürlich nicht an Protesten, es ist aber interessant, die (teil weise angenommenen) Forderungen zu lesen, die von den politischen Gefangenen (meist Trotzkisten) durch einen Hungerstreik unterstrichen wurden:

Die Bibliothek erweitern, sie sowohl mit in der UdSSR veröffentlichten Zeitschriften als auch mit Ausgaben der Sektion der KI (der Kommunistischen Internationale; D. L.) ergänzen, systematisch die Abteilungen Ökonomie, Politik und Literatur und die Abteilung mit Werken in den Sprachen der nationalen Minderheiten auf den letzten Stand bringen. Zumindest eine Kopie der ausländischen Zeitungen abonnieren. Die Einschreibung in Fernkurse erlauben. Zu diesem Zweck einen eigenen Kulturfonds einrichten, wie es sogar in den Zuchthäusern geschieht (…). Die Einführung aller in der UdSSR zugelassenen ausländischen Veröffentlichungen in das Gefängnis erlauben, besonders die genehmigten ausländischen Zeitungen, die bürgerlichen nicht ausgeschlossen. Den Austausch der Bücher zwischen den Stockwerken und den Trakten gestatten (…). An Papier nicht weniger als 10 Hefte pro Monat und Person kaufen81.

Wir sind im Juni 1931 und das Datum ist bedeutsam. Während es zu einer massiven Ausdehnung des Konzentrationslager-Universums kommt, ändern Stalins Machtübernahme und die von ihm lancierte Kampagne zur »Liquidierung der Kulaken als Klasse« die innerhalb dieses Universums existierende Lage nicht wesentlich. Dies gilt nicht nur für die politischen Gefangenen: »Der Anfang der 1930er Jahre (…) war für die Inhaftierten eine fast ›günstige‹ und sogar ›liberale‹ Epoche«. Die Führung des Gulag zeigte »eine gewisse religiöse Toleranz« und nahm die Forderung nach einer vegetarischen Diät seitens der Anhänger gewisser »religiöser Sekten« an82. Hier ein Ausblick auf die Strafkolonien im extremen Norden Anfang der 1930er Jahre:

Man brauchte Krankenhäuser, und die Verwalter bauten sie und führten Verfahren ein, um einige Häftlinge zu Apothekern und Krankenpflegern auszubilden. Zur Lebensmittelbeschaffung errichteten sie eigene kollektive Landwirtschaftsbetriebe, Lagerhäuser und ein eigenes Verteilersystem. Da man Elektrizität brauchte, bauten sie Elektrizitätswerke und um der Nachfrage nach Baumaterial zu genügen, errichteten sie Ziegeleien. Da Facharbeiter gebraucht wurden, bildeten sie diejenigen dazu aus, die sie hatten. Viele der ehemaligen Kulaken waren Analphabeten oder Halbanalphabeten, und das brachte riesige Probleme mit sich, wenn es darum ging, technisch relativ komplexe Projekte in Angriff zu nehmen. Deshalb richtete die Lagerverwaltung Schulen für technische Ausbildung ein, was weitere Gebäude und weitere Kader erforderte: Mathematik- und Physiklehrer, sowie »politische Instrukteure«, die die Oberaufsicht führ ten. In den 1940er Jahren verfügte Workuta, eine auf Permafrostboden erbaute Stadt, wo jedes Frühjahr die Straßen neu asphaltiert und die Rohrleitungen repariert werden mussten, bereits über ein geologisches Institut und eine Universität, Theater, Marionettentheater, Schwimmbäder und Kindergärten.[465]

So »sonderbar« es auch klingen mag, »brachte der Gulag nach und nach die ›Zivilisation‹, wenn man das so nennen kann, in ferne unbewohnte Gegenden«.[466] Unter den Führern und Verwaltern gab es auch menschliche und intelligente Personen:

Anscheinend begrüßte Bersin (sogar mit Begeisterung, wie er sagte) die Ideen Gorkis über die Rehabilitierung der Gefangenen. Er war voller Wohlwollen und Paternalismus, eröffnete für seine Häftlinge Kinosäle und Diskussionsklubs, Bibliotheken und Mensen »im Restaurantstil«. Er pflanzte Gärten mit Brunnen an und richtete einen kleinen Zoo ein. Außerdem zahlte er den Gefangenen einen regulären Lohn und verfolgte die gleiche Politik der »vorzeitigen Entlassung gegen gute Arbeit« wie die Kommandanten des Weißmeerkanals.[467]

Vom Hunger, vom Drang, die Produktivität der Gefangenen zu er höhen, von der Desorganisation und oft von der Inkompetenz und Habgier der lokalen Führer ausgelöst, ereigneten sich andererseits »jede Menge Tragödien«.[468] Besonders schrecklich war jene, die 1933 über die Deportierten hereingebrochen ist, die die Insel Nasino (Westsibirien) hätten bepflanzen sollen. Die Aufgabe erwies sich sofort als verzweifelt: Ohne Geräte, die Medikamente und Lebensmittel großenteils schon auf der Reise verbraucht, versuchten die Deportierten auf einer »völlig unberührten Insel« ohne »irgendwelche Gebäude« und »Nahrungsmittel« zu überleben, indem sie sich von Leichnamen ernährten oder regelrechten Kannibalismus verübten. Diese Einzelheiten kann man einem Brief entnehmen, den ein lokaler kommunistischer Führer an Stalin geschrieben hatte und dessen Inhalt dann allen Mitgliedern des Politbüros mitgeteilt wurde, die davon gewissermaßen erschüttert waren: »Die Tragödie von Nasino hatte eine beträchtliche Resonanz und wurde Untersuchungsgegenstand seitens verschiedener Kommissionen«.[469] Eindeutig hat kein Mordwille diesen Horror hervorgebracht: Es handelt sich »um ein bezeichnendes Beispiel dafür, wie die Dinge wegen des bloßen Fehlens einer Programmierung schief gehen konnten«. Zumindest bis 1937 »starben die Leute durch Zufall«, infolge der Desorganisation im Gulag.[470] Das sowjetische Konzentrationslager-Universum zeichnete sich vor allem durch die besessene Vorstellung von Entwicklung aus und diese Vorstellung führte zum einen zur Schande von Nasino, hatte aber auch ganz andere Folgen. Wie in der ganzen Gesellschaft versuchte man den »sozialistischen Wettbewerb« auch unter den Gefangenen anzuspornen: Diejenigen, die sich darin auszeichneten, konnten »eine Nahrungszulage« und »andere Privilegien« erhalten. Aber das ist noch nicht alles:

Am Ende wurden die tüchtigsten Arbeiter vorzeitig entlassen; für je drei Arbeitstage, an denen die Norm hundertprozentig erfüllt wurde, erhielt der Häftling einen Tag Straferlass. Als dann der (Weißmeer-)kanal im August 1933 rechtzeitig fertiggestellt wurde, sind 12.484 Gefangene freigelassen worden. Viele andere erhielten Medaillen und Prämien. Ein Häftling feierte seine vorzeitige Freilassung mit einer Zeremonie, die auch das traditionelle russische Angebot von Brot und Salz miteinschloss, während die Dabeistehenden riefen: »Ein Hurra auf die Erbauer des Kanals!« In der Aufregung begann er, eine Unbekannte zu küssen. Sie verbrachten schließlich die Nacht gemeinsam am Ufer des Kanals«.[471]

Die produktive Besessenheit verband sich mit der pädagogischen, wie die Einrichtung einer »erzieherisch-kulturellen Sektion« (KVC) in den Lagern zeigt, eine Institution, an die die »Moskauer Führer des Gulag (…) in Wahrheit stark glaubten«. Gerade deshalb »nahmen sie die Wandzeitungen überaus ernst«. Wenn wir diese also zu lesen versuchen, sehen wir, dass die Biographien der rehabilitierten Gefangenen »in einer Sprache« geschrieben sind, die »der der guten Arbeiter außerhalb der Kolonie sehr ähnelt: Sie arbeiteten, lernten, brachten Opfer und versuchten, sich zu verbessern«.[472] Man bemühte sich, die Häftlinge »umzuerziehen« und in Stachanowisten zu verwandeln, die bereit waren, sich in vorderster Reihe und mit patriotischer Begeisterung an der Entwicklung des Landes zu beteiligen. Erteilen wir nochmals der US-amerikanischen Historikerin des Gulag das Wort: »In den Lagern entwickelte sich wie in der Außenwelt der ›sozialistische Wettbewerb‹, Arbeitswettbewerbe, bei denen die Häftlinge wetteiferten, wer am meisten produzieren konnte. Außerdem feierten sie die Stoßbrigaden, weil diese angeblich fähig waren, die Normen zu verdreifachen bzw. zu vervierfachen«.[473] Es ist kein Zufall, dass bis 1937 der Aufseher sich mit »Genosse« an den Gefangenen wandte.[474] Die Haft im Konzentrationslager schloss die Möglichkeit des sozialen Auf stiegs nicht aus: »Viele Verbannte arbeiteten schließlich als Aufseher oder Verwalter in den Lagern«;[475] vor allem erlernten, wie wir gesehen haben, nicht wenige einen Beruf, den sie auch nach ihrer Freilassung ausüben konnten. Eine brutale Wendung findet allerdings im Jahre 1937 statt. Während der dritte Bürgerkrieg wütet und immer bedrohlichere Wolken sich am internationalen Horizont zusammenballen, wird die wirkliche oder vermeintliche fünfte Kolonne Gegenstand einer immer verbisseneren Jagd. Unter diesen Umständen ist der Häftling kein potenzieller »Genosse« mehr: Es ist inzwischen verboten, sich so an ihn zu wenden; die Bezeichnung »Bürger« steht ihm zu, aber es handelt sich um einen Bürger, der ein potenzieller Feind ist. Ist das sowjetische Konzentrationslager von diesem Augenblick an von einem Mordwillen beseelt?[476] Davon ist die hier wiederholt zitierte US-amerikanische Historikerin überzeugt, aber wiederum wird sie von ihrem eigenen Bericht wider legt: »In den 1940er Jahren hatte die KVC eines jeden Lagers theoretisch zumindest einen Ausbilder, eine kleine Bibliothek und einen ›Klub‹, wo Theateraufführungen und Konzerte veranstaltet, politische Konferenzen organisiert und Debatten geführt wurden«.[477] Mehr noch. Während Hitlers Vernichtungskrieg wütete und das ganze Land sich in einem absolut tragischen Zustand befand, wurden großzügig »Zeit und Geld« investiert, um »die Propaganda, die Plakate und die Versammlungen zur politischen Indoktrinierung« der Gefangenen zu verstärken und zu verbessern:

Alleine unter den Schriftstücken der Verwaltung des Gulag finden sich aberhunderte Dokumente, die eine intensive Aktivität der erzieherischen kulturellen Sektion bezeugen. In den ersten drei Monaten des Jahres 1943 kam es zum Beispiel mitten im Krieg zu einem frenetischen Austausch von Telegrammen zwischen Moskau und den Lagern, weil die lokalen Kommandanten mit allen Mitteln versuchten, sich Musikinstrumente für die Gefangenen zu verschaffen. Inzwischen organisierten die Lager einen Wettbewerb zum Thema »der Große Vaterländische Krieg des sowjetischen Volkes gegen die faschistischen deutschen Besatzer«; daran nahmen fünfzig inhaftierte Maler und acht Bildhauer teil.[478]

Im selben Jahr zog der Verantwortliche eines Lagers mit 13.000 Gefangenen eine bezeichnende Bilanz seiner Tätigkeit:

Er merkte stolz an, dass in der zweiten Hälfte des Jahres 762 politische Konferenzen stattgefunden hatten, an denen 70.000 Gefangene teilgenommen hatten (viele beteiligten sich wahrscheinlich mehrmals). Außerdem hatte die KVC 444 politische Informationsversammlungen organisiert, an denen 82.400 Gefangene teilgenommen hatten, 5.046 »Wandzeitungen« veröffentlicht, die von 350.000 Personen gelesen worden sind, 232 Konzerte und Schauspiele veranstaltet, 69 Filme vorgeführt und 38 Theatertruppen organisiert.[478]

Sicher verspürten die Gefangenen nach der Hitlerinvasion dramatisch die Auswirkungen des Mangels an Lebensmitteln, aber das hatte nichts mit dem Auftauchen eines Mordwillens zu tun:

Die hohen Todesziffern bestimmter Jahre in den Konzentrationslagern spiegelten zum Teil die Ereignisse wider, die außerhalb stattfanden (…). Im Winter 1941/42, als ein Viertel der Gulaginsassen Hungers starb, verhungerte vielleicht eine Million Einwohner Leningrads infolge der deutschen Belagerung.

Mangel und Unterernährung herrschten in einem Großteil der Sowjetunion.[479] Im Januar 1943 »richtete die sowjetische Regierung einen speziellen ›Lebensmittelfonds‹ für den Gulag ein« und das trotz einer so verzweifelten Lage; jedenfalls »verbesserte sich die Situation der Versorgung, als die Geschicke des Krieges sich zugunsten der Sowjetunion wendeten«.[480]

So weit entfernt sind wir von einem Mordwillen, dass die vom Großen Vaterländischen Krieg ausgelöste Stimmung der nationalen Einheit sich auch im Gulag ausbreitet. Zunächst wird die Anzahl der Gefangenen infolge einer Reihe von Amnestien massiv verringert; vor allem aber kämpfen die ehemaligen Häftlinge tapfer, sie drücken sich zufrieden und stolz darüber aus, dass sie »dank der Industrialisierung des Landes« (die allerdings die erste bedeutende Ausdehnung des Konzentrationslager-Universums bedeutet hatte) über technologisch moderne Waffen verfügen, sie machen Karriere in der Roten Armee, sie werden in die kommunistische Partei aufgenommen, erhalten Auszeichnungen und Tapferkeitsmedaillen.[481]

Mit dem Wechsel zwischen relativ »günstigen« und »liberalen« Phasen und Phasen eindeutiger Verschlechterung der ökonomischen und rechtlichen Lage der Gefangenen spiegelt der Gulag die Geschichte der sowjetischen Gesellschaft wider. Den Versuchen, im ganzen Land die »sowjetische Demokratie«, den »sozialistischen Demokratismus« und sogar den »Sozialismus ohne Diktatur des Proletariats« zu realisieren, entsprechen die Versuche, im Gulag die »sozialistische Legalität« bzw. die »revolutionäre Legalität« wiederherzustellen. Aus diesem Grund kommt es zu scharfen Kritiken am Konzentrationslager-Universum aus ihrem Inneren und von ihren Kommandanten. Im Jahre 1930 rief Jagoda dazu auf, im »ganzen Gefängniswesen, das bis an die Wurzeln faul ist«, Ordnung zu schaffen. Im Februar 1938 beklagt sogar Wyschinski, Generalstaatsanwalt der UdSSR, die »unbefriedigenden und in einzelnen Fällen absolut unhaltbaren Haftbedingungen«, die die Menschen »zu wilden Tieren« erniedrigten. Ein paar Monate später unterstützte Lawrenti Berija, Geheimdienstchef unter Stalin, eine Verfügung, die dazu aufforderte, »die Ermittlungsbeamten streng zu bestrafen, die die Schläge für die Hauptuntersuchungsmethode halten und die Verhafteten verkrüppeln, wenn sie nicht genügend Beweise für ihre antisowjetische Tätigkeit haben«.[482] Es handelt sich nicht um rituelle Anklagen: Wenn sie entdeckt werden, werden die für »Missbrauch« Verantwortlichen streng bestraft, sogar mit dem Tod; vielen anderen wird gekündigt. Es kommt sogar zu Konflikten zwischen Richterschaft und Repressionsapparat, der gegen die Einführung von »Regeln« protestiert, die als »eine extrem unangenehme Überraschung« empfunden werden.[483] Um die Kontrolle zu verstärken, wird zur Einreichung von Beschwerden und Eingaben seitens der Gefangenen ermutigt. Bei anderer Gelegenheit versucht man, die Lage durch Amnestien und Entlastung der Lager zu verbessern.[484] Im Intervall zwischen der einen und der anderen Anklage kommt es zu einer wirklichen Verbesserung: Es sind die ›Liberalismus‹-Phasen, die bald vom Ausbruch neuer Krisen unterbrochen werden. Wegen der Verflechtung von objektiven Umständen und subjektiver Verantwortung gelingt es dem Gulag, wie der Gesellschaft insgesamt nicht, den Ausnahmezustand zu überwinden.

6. Zaristisches Sibirien, ›Sibirien‹ des liberalen England und sowjetischer Gulag

Müssen wir den sowjetischen Gulag in die Nähe des nazistischen Konzentrationslagers rücken oder ihm sogar gleichstellen? Eine Frage, auf die man mit einer anderen antworten könnte: Warum sollte man den Vergleich nur auf diese beiden Realitäten begrenzen? Im Russland der Zaren – urteilt Conquest (im Kielwasser Solschenizyns) kategorisch – war das Konzentrationslager-Universum weniger überfüllt und weniger unmenschlich als zu Zeiten Lenins und vor allem Stalins.[485] Es lohnt sich, an das zu erinnern, was Anton Tschechow im Jahre 1890 geschrieben hat:

Wir haben Millionen Personen zwecklos, rücksichtslos und barbarisch im Gefängnis zugrunde gehen lassen, wir haben diese Leute in Ketten zehntausende Werst weit ins Eis gejagt, wir haben sie mit Syphilis anstecken lassen und verdorben, wir haben die Kriminellen verdorben und vermehrt, aber wir alle sind es, die wir uns von dieser Angelegenheit gebührend distanzieren, fast so als ob sie uns nichts anginge.[486]

Im Verlauf seiner jahrhundertelangen Existenz hat das zaristische Konzentrationslager-Universum (das zumindest seit Peter dem Großen, dem Gulag ähnlich, auch darauf abzielte, sich Zwangsarbeiter zu verschaffen, die für die Entwicklung der unwegsameren und rückständigeren Gebiete notwendig waren) über lange Zeit hinweg Züge extremer Grausamkeit aufgewiesen. Eine via dolorosa führte die zur Verbannung bzw. zur Zwangsarbeit Verurteilten nach Sibirien: »Sie wurden nicht nur mit Stöcken geschlagen, sondern viele von ihnen erlitten die Verstümmelung einer Hand, eines Fußes, eines Ohres und außerdem die Erniedrigung einer Brandmarke«. Zwar versuchte man im 19. Jahrhundert »die extremsten Formen der Grausamkeit« abzuschaffen, aber es handelte sich um Teilmaßnahmen, die außerdem nicht immer Erfolg hatten.[487]

Aus alledem geht hervor, wie hinfällig der Versuch ist, das zaristische Sibirien zu bagatellisieren, um den sowjetischen Gulag zu isolieren und ihn mit dem nazistischen Konzentrationslager gleichzusetzen. Aber eine andere Betrachtung ist noch wichtiger: Methodologisch unkorrekt ist eine Komparatistik, die eine normale Lage mit einem akuten Ausnahmezustand konfrontiert! Mit einem kritischeren Bewusstsein gelesen, kann der von Conquest aufgestellte Vergleich zu einem gegenteiligen Resultat führen: Nur im vorrevolutionären Russland hält man die Haft und die Deportation auf dem Verwaltungswege auch ohne besondere Konflikte und Gefahren für eine normale Praxis. In Sowjetrussland übt indes der Ausnahmezustand einen mächtigen Einfluss auf die Entstehung und die Konfiguration des Konzentrationslager-Universums aus, das umso brutaler wird, je mehr man sich von der normalen Lage entfernt.

Hier muss man noch einen Schritt weiter gehen. Abgesehen vom zaristischen oder sowjetischen Russland und von Deutschland ist es notwendig, andere Länder in den Vergleich miteinzubeziehen. Eine doppelte Funktion wohnt auch dem vom liberalen England realisierten Konzentrationslager-Universum inne. In Bezug auf die »irischen Dissidenten« ist darauf hingewiesen worden, dass sie »zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert ihr offizielles Sibirien in Australien hatten«, das zumindest bis 1868 »Vertreter fast aller in Großbritannien existierenden radikalen Bewegungen« verschlang.[488] Soweit, was die Repression betrifft. Man darf aber die ökonomische Funktion des »Sibiriens« des liberalen England nicht aus den Augen verlieren. Gleich nach der Glorious Revolution nehmen die Straftaten massiv zu, für die die Todes strafe vorgesehen ist. Sie droht auch denen, die für den Diebstahl eines Schillings oder eines Taschentuchs oder für das Abschneiden eines Zierstrauchs verantwortlich sind, und verschont nicht einmal elfjährige Kinder. Diese terroristische Gesetzgebung, die mit ein paar Abschwächungen noch im 19. Jahrhundert gilt, sieht eine Alternative vor: Die Begnadigten werden einer Strafknechtschaft unterworfen, die sie dazu zwingt, eine bestimmte Anzahl von Jahren in den noch wenig ausgenutzten und explorierten Kolonien zu arbeiten, zunächst besonders in Nordamerika und später in Australien. Mit anderen Worten, auch auf ökonomischem Gebiet ist vor allem Australien das »Sibirien« des liberalen England: Seine Funktion verliert an Bedeutung, als man zunächst schwarze Sklaven und später indische und chinesische coolies und solche aus anderen Kolonialvölker zum Einsatz bringt.[489]

Das englische »Sibirien« ist nicht weniger grausam als das zaristische. Von dieser »totalitären Gesellschaft«, die sich in Australien entwickelt, während gleichzeitig die Urbevölkerung ausgerottet wird, ist ein besonders grauenvolles Bild gezeichnet worden, das sich auch auf Erinnerungsbücher stützt:

In unvorhersehbaren Abständen wurden die Häftlinge versammelt, gezählt und einer kompletten Leibesvisitation mit der Inspektion des Mundes und des Afters unterworfen (…). »Das Essen wurde den verschiedenen Arbeitergruppen auf Holztellern oder in Blechschüsseln gebracht und vor sie hingestellt, als wären sie Hunde oder Schweine und wie Hunde und Schweine mussten sie es mit den Zähnen packen« (…). Die Disziplin stützte sich auf die Figur des Denunzianten (…). Nicht zu denunzieren war daher ein schon an sich verdächtiges Verhalten. Es verging keine Woche, ohne dass komplizierte Verschwörungen, natürlich mit Namenslisten in einem Wettbewerb von Denunziationen aufgedeckt wurden. »Dieser Handel mit Menschenblut (…) war die einzige Möglichkeit, um Nachsicht zu erhalten«. Viel wichtiger als der Inhalt war die Anzahl der Informationen. Die Denunzianten mussten ihre Anzeigequoten erreichen und waren »zu allen Schand- und Bluttaten bereit, egal wie niederträchtig und grauenhaft sie auch waren« (…). Die normalen Beziehungen zwischen Schuld und Sühne verwandelten sich in eine ununterbrochene Geschichte von Sadismus, dessen einziges Ziel es war, den Terror aufrechtzuerhalten (…). Die Gewalt wurde absolut und launenhaft ausgeübt (…). Die zweihundert Peitschenhiebe (der Strafe) wurden (auf mehrere Tage) verteilt. Die Geißler waren fast wie wir mit Blut beschmiert (…). Die einzige Lösung, den Leiden ein Ende zu setzen, war der Selbstmord.

Tatsächlich war der Selbstmord nicht nur verbreitet, sondern eine Praxis, die die gesamte Gemeinschaft der Gefangenen miteinschloss: »In einer Gruppe von Zwangsarbeitern loste man zwei Männer aus, dem Ersten galt der Tod, dem Zweiten die Aufgabe, den Ersten zu töten. Den Übrigen kam die Rolle der Zeugen zu«. In den wenigen Tagen der Reise und des Prozesses (der in Sydney, in einer gewissen Entfernung vom eigentlichen ›Sibirien‹ stattfand) konnte der Mörder, bevor er auf den Galgen stieg, gewissermaßen seine Lage als normaler Häftling genießen (in Wahrheit handelte es sich um einen indirekten und zeitversetzten Selbstmord). Und diese Pause ermöglichte es den Zeugen durchzuatmen, bevor sie in das Inferno zurückkehrten und eventuell eine neue Auslosung vornahmen.[490]

7. Das Konzentrationslager-Universum in Sowjetrussland und im Dritten Reich

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs breitete sich das Konzentrationslager übrigens auch deutlich im liberalen Westen aus. Jenseits des Atlantiks lässt Franklin D. Roosevelt die US-amerikanischen Staatsbürger ja panischer Herkunft samt Frauen und Kindern in Konzentrationslagern internieren. Und doch befinden sich die Vereinigten Staaten in einer eindeutig günstigeren geopolitischen Lage als die Sowjetunion. Auf je den Fall kann man nach der Schlacht bei den Midwayinseln nicht mehr von Problemen der militärischen Sicherheit reden. Und dennoch bleiben die US-Amerikaner japanischer Herkunft in den Konzentrationslagern eingesperrt: Schrittweise begonnen, kommt die Rückkehr in die Freiheit erst Mitte 1946, fast ein Jahr nach Kriegsende, zu ihrem Abschluss. Noch langsamer verläuft die Heimkehr der lateinamerikanischen Staatsbürger japanischer Herkunft, die von den USA aus dreizehn Ländern Lateinamerikas deportiert worden waren: Erst 1948 wurden die letzten aus dem ›Internierungs‹- oder besser Konzentrationslager Crystal City in Texas entlassen.[491] Nun wäre es zumindest übereilt, das alles zu erklären, in dem man nicht etwa vom Krieg und vom Ausnahmezustand, sondern von der Ideologie eines Präsidenten ausgeht, der von seinen Gegnern wegen seines ökonomischen Interventionismus während der Großen Depression und wegen der verfassungsmäßigen Leichtfertigkeit, mit der er ein recht widerwilliges Land in den Krieg hineinzieht, des »Totalitarismus« bezichtigt wurde (vgl. oben, Kap. 1, § 6).

Mit dieser Betrachtung stoßen wir auf eine weitere Verdrängung der üblichen Komparatistik und zwar auf das Konzentrationslager Universum, das sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts auch im liberalen Westen entwickelt und gelegentlich fürchterliche Formen annimmt. Die deutschen Emigranten, die bei Ausbruch des Krieges in die französischen Konzentrationslager eingesperrt wurden, hatten den Eindruck, dass sie dazu bestimmt seien zu »krepieren«.[492] Entschieden widerlich sind die Misshandlungen, die die USA noch nach Kriegsende deutschen Kriegsgefangenen zufügten, wie es seinerzeit der kanadische Historiker James Bacque dokumentiert hat. Das haben, wenn auch schweren Herzens, schließlich sogar jene zugegeben, die sich verpflichtet sahen, den General Dwight D. Eisenhower in Schutz zu nehmen. Neuere Untersuchungen haben noch weitere Einzelheiten ans Licht gebracht. Ich beschränke mich darauf, eine davon zu zitieren: Eine US-amerikanische Kommission stellte fest, dass 137 von 139 untersuchten Gefangenen »wegen der Schläge, die sie erhalten haben, dauerhaft zerstörte Hoden« hatten.[493] Wir werden noch von dem Schrecken in den Konzentrationslagern sprechen, in die die Engländer bei Ausbruch des Kalten Krieges des Kommunismus Verdächtigte einsperrten (vgl. unten Kap. 6, § 4). Schließlich sollte man an den Gulag erinnern, in den in Jugoslawien nach 1948 infolge des Bruchs mit der UdSSR die stalintreuen Kommunisten ein gesperrt wurden.[494] Zumindest in diesem Fall sind die ›Stalinisten‹ nicht die Betreiber, sondern die Opfer des Konzentrationslager-Universums, das von einem zwar kommunistischen, zu diesem Zeitpunkt aber mit dem Westen verbündeten Land eingerichtet worden ist.

Selbst wenn man von der besonders großen Ausdehnung und Härte des sowjetischen Gulag ausgehen will, bleibt in jedem Fall das Hauptproblem offen: Es ist immer notwendig, die Rolle der Ideologie von der Rolle der objektiven Bedingungen (der außergewöhnliche Ernst der Gefahr und der verbreitete Nahrungsmittelmangel, die die UdSSR kenn zeichnen) zu unterscheiden. Im Vergleich zu so komplexen Analysen machen es sich der Deduktionismus, der alles von der Ideologie her leitet, und die Gleichsetzung der von den zwei »totalitären« Ideologien hervorgebrachten Konzentrationslager-Universen sehr viel leichter.

Aber konzentrieren wir uns dennoch auf Sowjetrussland und das Dritte Reich. Im ersten Fall taucht das Konzentrationslager-Universum auf, während die Zweite Periode der Unruhen wütet. Noch in den 1930er Jahren übte die Sowjetmacht nicht die volle Kontrolle über ihr Territorium aus: »Die gewöhnliche Kriminalität hatte, auch wegen der radikalen Brüche, die im Land stattgefunden und die traditionellen Strukturen der gesellschaftlichen Organisation zerstört hatten, wirklich ein besorgniserregendes Niveau erreicht«.[495] In den Regionen des Fernen Ostens ist die Lage noch entschieden schlimmer. Dort sieht es so aus:

Unsichere Gebiete, von den Machthabern schlecht kontrolliert, wo sich Außenseiter und Banditen konzentrieren, wo die bewaffneten Banden die isolierten Kolchosen überfallen und die seltenen »Vertreter der Sowjet macht« umbringen. Gebiete der Willkür und der Gewalt, wo alle bewaffnet sind, Menschenleben hat keinen Wert, und die Jagd auf Menschen er setzt, wenn sich die Gelegenheit bietet, die Jagd auf Tiere (…). Gebiete, in denen der Staat, zumindest der, den Weber als einen »Anstaltsbetrieb« bezeichnet, der »erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwangs für die Durchführung der Ordnung in Anspruch nimmt«, fast abwesend ist.[496]

Vom Attentat auf den deutschen Botschafter in Moskau an, das im Juli 1918 »während der Sitzung des V. Panrussischen Kongresses der Sowjets« vom Mitglied einer Partei (Sozialrevolutionäre) verübt worden ist, die an der Regierung beteiligt ist, bis mindestens zur Ermordung Kirows vor der Tür seines Büros durch einen jungen Kommunisten, hat die Sowjetmacht immer mit dem Terrorismus (einem Phänomen mit einer langen Geschichte in Russland) zu tun und fürchtet die Unterwanderung durch die Opposition auf allen Ebenen des Staatsapparats, einer Opposition, die entschlossen ist, die Macht der ›Usurpatoren« und ›Verräter‹ zu stürzen. Erst mit dem Beginn der Autokratie erreicht also die Sowjetmacht die volle Kontrolle über das Territorium und den Staatsapparat, und der Terror ist in erster Linie die Antwort auf eine besonders akute und lang andauernde Krise.

Auch später ist die Lage immer noch von einer Verflechtung von Widersprüchen gekennzeichnet: Das Heraufziehen des Sturms des Krieges auf internationaler Ebene, der latente Bürgerkrieg im Innern, die forcierte Industrialisierung, die für die Rettung des Landes für nötig gehalten wird, aber gleichzeitig neue Konflikte und Spannungen hervorruft; diese Verflechtung verlängert in neuen Formen den Ausnahmezustand. Gerade deshalb könne, wie eine neuere Untersuchung hervorhebt, »der Terror nicht ausschließlich als eine Reihe von Befehlen Stalins und seiner Komplizen interpretiert werden«. In Wahrheit wirkten bei ihm auch »Elemente aus dem Volk« mit, und es habe nicht an Initiativen »von unten« gefehlt; oft seien es die vom »furiosen Glauben« animierten Arbeiter, die wir schon kennen, die das Todesurteil für ›Verräter‹ und sogar den Verzicht auf »rechtliche Spitzfindigkeiten« langer und teurer Gerichtsverfahren forderten.[497] Und all das geschieht im Verlauf eines begrenzten, aber immerhin realen Demokratisierungsprozesses, mit der Entwicklung der Volksbeteiligung an der Verwaltung der Macht am Arbeitsplatz, mit der geheimen anstelle der offenen Wahl und der Möglichkeit, bei den Wahlen der Gewerkschafts- und Fabrikleiter zwischen mehreren Kandidaten zu entscheiden. Und die Neugewählten engagieren sich oft für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Vermeidung von Arbeitsunfällen.[498] Es stimmt, »in der politischen Psychologie Stalins und seiner Anhänger gibt es keinen Widerspruch zwischen Repression und Demokratie«, und in diesem Sinne könne man sogar von einer »Demokratisierung der Repression« reden.[499]

Aber gerade die Demokratisierung fördert eine Ausweitung der Repression. Indem sie von der neuen Möglichkeit Gebrauch macht, bestochene und unfähige Funktionäre in der Fabrik und in Briefen an die Presse zur Diskussion zu stellen, tendiert die ungestüme Bewegung von unten, die sich auf diese Weise entwickelt, dazu, diese Funktionäre als Volksfeinde hinzustellen und bei den ständigen Arbeitsunfällen eine Sabotage der neuen Gesellschaft zu beklagen, die diese Bewegung aufbauen will.[500] Das Gefühl einer wachsenden Kriegsgefahr und die verbissene Jagd auf eine engmaschig verbreitete, aber recht gut verschleierte fünfte Kolonne, die grassierende Angst und Hysterie verwandeln die Fabrik-, Gewerkschafts- und Parteiversammlungen in einen »Krieg aller gegen alle«. Manchmal sind Stalin und seine engsten Mitstreiter einzugreifen gezwungen, um diese Raserei einzudämmen und zu lenken, indem sie vor der Tendenz warnen, überall Verräter und Saboteure ausfindig zu machen und auf diese Weise die Partei- und Gewerkschaftsorganisationen zu zerstören.[501] Man denkt an die Große Angst, die sich 1789 in Frankreich in den Wochen und Monaten nach dem Sturm auf die Bastille ausbreitete, als »die bäuerliche Phantasie überall Söldner der aristokratischen Verschwörung und der ausländischen Invasion erblickt« und eine Gefahr, die nicht nur imaginär ist, maßlos übertreibt.[502] In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre gab es in der UdSSR eine reale und besonders schwere Gefahr, aber die Hysterie war nicht weniger real.

Zusammengefasst: In Sowjetrussland tritt der Terror zu einem Zeit punkt auf, der vom Ersten Weltkrieg, mit dem die Zweite Periode der Unruhen eröffnet wird, bis zum Zweiten Weltkrieg reicht, der über das Land und die Nation insgesamt eine noch gewaltigere Katastrophe zu verhängen droht: Jene Dezimierung und Versklavung, die klar und deutlich in Mein Kampf formuliert werden. Und der Terror tritt in einer Zeit der forcierten Industrialisierung auf, die darauf abzielt, das Land und die Nation zu retten, und in deren Verlauf der Horror der furcht baren Repression auf breiter Ebene sich mit Prozessen realer Emanzipation verknüpft: Die massive Ausbreitung der Schulbildung und der Kultur, die erstaunliche vertikale Mobilität, das Entstehen des Sozialstaats, der ungestüme Protagonismus von Gesellschaftsklassen, die bis her zu einer totalen Unterordnung verurteilt waren.

Die Unterschiede gegenüber dem Dritten Reich, das von Anfang an auf die volle Kontrolle über das Territorium und den Staatsapparat und auf die traditionelle Effizienz eines engmaschigen bürokratischen Netzes rechnen kann, sind mithin deutlich. Spielte in Russland die Ideologie eine zweitrangige Rolle bei der Entstehung des Ausnahmezustands (der schon vor dem Oktober 1917 bestand und durch den von Stalin teilweise bekämpften revolutionären Messianismus höchstens verlängert wurde), so sind in Deutschland der Ausnahmezustand und das damit verbundene Konzentrationslager-Universum von Anfang an das Ergebnis eines ganz bestimmten politischen Programms und einer ganz bestimmten ideologischen Ausrichtung. Hitler gelangt an die Macht mit einem deutlich formulierten Programm des Krieges und der territorialen Expansion: Um den Zusammenbruch der inneren Front zu vermeiden, zu dem es im Ersten Weltkrieg gekommen war, setzt er entschieden den unerbittlichsten Terror ein. Der Expansionismus Nazideutschlands hat auch das Ziel, auf Weltebene erneut die weiße und arische Vorherrschaft zu behaupten und die koloniale Tradition wieder aufzunehmen und zu radikalisieren und in Osteuropa geltend zu machen: Von Anfang an hat das Konzentrationslager die möglichen Gegner des Krieges und des kolonialen und rassischen Reichs im Visier, das Hitler erobern und errichten will. Voraussetzung für das Gelingen dieses Programms ist die Neutralisierung des jüdisch-bolschewistischen Virus, der die Subversion verbreitet und das Fundament der Zivilisation unterminiert, indem er die natürliche Rangordnung der Völker und Rassen infrage stellt: Deshalb müssen die Juden, die »Kommissare« und die kommunistischen politischen Kader natürlich in den zu erobernden Territorien, aber vorher auch schon in Deutschland liquidiert werden. So wird der Weg geebnet, um die niederen Rassen Osteuropas einerseits wie Indianer zu behandeln, die es zu dezimieren gilt, um germanischen Siedlern Platz zu machen, andererseits wie Sklaven im Dienste der weißen und arischen Herrenrasse.

8. Gulag, Konzentrationslager und Abwesender Dritter

Mit der Invasion zunächst Polens und später der UdSSR scheint das nazistische Konzentrationslager-Universum die tragischsten Kapitel der Kolonialsklaverei wieder aufzunehmen und noch zu verschlimmern. Als dank des Sklavenhandels die Verfügbarkeit von Sklaven praktisch unbegrenzt war, hatten die Sklavenhalter kein ökonomisches Interesse, sie zu schonen; sie konnten sie ruhig dazu verurteilen, an Überarbeitung zu sterben, um sie durch andere zu ersetzen und um aus jedem von ihnen den größtmöglichen Gewinn zu ziehen. So kommt es – beobachtet ein Wirtschaftswissenschaftler des 19. Jahrhunderts, auf den Marx aufmerksam macht –, dass die blühende Landwirtschaft Westindiens »Millionen der africanischen Race verschlungen hat«; ja, »das Negerleben wird am rücksichtslosesten geopfert«.[503] Der von Hitler in Osteuropa entfesselte Krieg stellt die neue und noch brutalere Form des Sklavenhandels dar. Nach Durchkämmung ganzer Gebiete und massenweiser Gefangennahme werden die slawischen Untermenschen (die die Germanisierung des Bodens überlebt haben) gezwungen, an Überarbeitung zu sterben, um die Zivilisation der Herrenrasse zu er möglichen und ihre Kriegsmaschine zu potenzieren; sie erleiden ein ähnliches Schicksal wie die Schwarzen (der Karibik), mit denen sie von Hitler übrigens ausdrücklich verglichen werden.

Das Gefängnissystem reproduziert die Verhältnisse der Gesellschaft, die sich in ihm ausdrückt. In der UdSSR sehen wir im Gulag und außerhalb von ihm im Grunde genommen eine Entwicklungs-Diktatur am Werk, die versucht, alle Kräfte zur Überwindung der jahrhundertelangen Rückständigkeit zu mobilisieren und ›umzuerziehen‹, was umso dringender wird, als ein Krieg aufzieht, der, wie Mein Kampf explizit erklärt, ein Krieg der Versklavung und der Vernichtung sein will: In diesem Zusammenhang verknüpft sich der Terror mit der Emanzipation unterdrückter Nationalitäten und auch mit einer starken sozialen Mobilität und mit dem Zugang sozialer Schichten, die bisher völlig aus gegrenzt waren, zu Bildung, Kultur und sogar zu verantwortlichen und leitenden Stellen. Der pädagogische und Produktivitätsdrang und die damit verbundene Mobilität lassen sich im Guten wie im Bösen sogar im Gulag wahrnehmen. Das nazistische Konzentrationslager-Universum spiegelt dagegen die Hierarchie auf rassischer Basis wider, die den schon existierenden Rassenstaat und das zu errichtende Rassenimperium kennzeichnet: In diesem Fall spielt das konkrete Verhalten des einzelnen Häftlings eine irrelevante oder recht nebensächliche Rolle, und die pädagogische Sorge wäre daher sinnlos. Kurz und gut: Der Häftling im Gulag ist ein potenzieller ›Genosse‹, der dazu gezwungen ist, sich unter besonders harten Bedingungen an der produktiven Kraftanstrengung des ganzen Landes zu beteiligen, und nach 1937 ist er jedenfalls ein potenzieller ›Bürger‹; allerdings ist die Grenzlinie zum Volksfeind bzw. zum Mitglied der fünften Kolonne geworden, die es angesichts des bevorstehenden oder schon im Gang befindlichen totalen Kriegs zu neutralisieren gilt, dünn geworden. Der Häftling des nazistischen Lagers ist in erster Linie der Untermensch, der auf immer von seiner rassischen Einordnung oder Degeneration gezeichnet ist.

Wenn man unbedingt nach einem Äquivalent des nazistischen Konzentrationslagers suchen will, muss man das Konzentrationslager-Universum vor Augen haben, das zutiefst die koloniale Tradition durchzieht (die Hitler ausdrücklich zum Vorbild nimmt) und das die Kolonialvölker oder die Völker kolonialen Ursprungs ins Visier nimmt. Hier finden wir die zentrale Verdrängung der üblichen Komparatistik! In diesem Sinne könnten wir vom Abwesenden Dritten der heute so beliebten Komparatistik reden. Zwei berühmte Historiker haben die »militarisierten Arbeitslager« im kolonialen Indien des Jahres 1877 bzw. die Konzentrationslager, in denen die Libyer schon vom liberalen Italien eingesperrt worden sind, als »Vernichtungslager« bezeichnet.[504] Selbst wenn man diese Formulierung als emphatisch betrachten will, verweisen uns in jedem Fall die rassische Logik und Hierarchie, die in den italienischen und westlichen Kolonialreichen, sowie in den von ihnen errichteten Konzentrationslagern vorherrschen, auf das Konzentrationslager-Universum des Dritten Reichs.

Der Nazismus kommt uns gleichfalls in den Sinn, wenn wir lesen, wie der »kanadische Holocaust« bzw. die »Endlösung unserer Indianer frage« verübt wurde. Die »Kommission für die Wahrheit über den kanadischen Genozid« spricht von »Todeslagern«, von »Männern, Frauen und Kindern«, die »absichtlich vernichtet« werden, von einem »System, dessen Ziel es ist, den größtmöglichen Teil der Ureinwohner durch Krankheiten, Deportation oder regelrechten Mord zu vernichten«. Al lein um dieses Resultat zu erzielen, schonen die Verfechter der weißen Vorherrschaft nicht einmal »unschuldige Kinder«. Sie finden »durch Schläge, Torturen oder nachdem sie absichtlich der Tuberkulose oder anderen Krankheiten ausgesetzt wurden«, den Tod; andere erleiden die Zwangssterilisation. Einer kleinen »Minderheit von Kollaborateuren« gelingt es zu überleben, aber erst nachdem sie auf ihre Sprache und ihre Identität verzichtet und sich in den Dienst ihrer Peiniger gestellt haben.[505] Auch in diesem Fall kann man vermuten, dass die gerechte Entrüstung dazu beigetragen hat, etwas dick aufzutragen; Tatsache aber ist, dass wir hier auf ähnliche bzw. identische Praktiken wie die im Dritten Reich üblichen stoßen, Praktiken, die von einer Ideologie ausgehen, die ebenfalls der ähnelt, die der Errichtung des Hitlerschen Rassenstaats zugrunde liegt.

Kommen wir jetzt zu den Vereinigten Staaten: In den auf den Se zessionskrieg folgenden Jahrzehnten wurden die oft an Privatunternehmen vermieteten schwarzen Häftlinge (die große Mehrheit der Gefängnisinsassen) in »großen Käfigen auf Rädern« zusammengepfercht, »die dem Zug der Bauunternehmer und der Eisenbahnkonstrukteure nach folgten«. Sogar aus den offiziellen Berichten geht hervor,

(…) »dass die Häftlinge übertrieben und manchmal grausam bestraft wurden; dass sie ärmlich gekleidet und ernährt waren, dass die Kranken vernachlässigt wurden, weil man für kein Krankenhaus gesorgt hatte, und sie mit den gesunden Häftlingen eingesperrt waren«. Eine vom Gericht im Krankenhaus des Gefängnisses von Mississippi durchgeführte Untersuchung berichtete, dass alle Patienten »an ihren Körpern Zeichen der unmenschlichsten und brutalsten Behandlung« trugen. »Bei sehr vielen war der Rücken von Blasen und Narben entstellt, bei einigen war die Haut in folge grausamer Peitschenhiebe abgeschürft… Sie lagen im Sterben, einige von ihnen auf rohen Brettern, so schwach und ausgemergelt, dass man fast ihre Knochen durch die Haut schimmern sah, und viele beklagten sich über den Mangel an Lebensmitteln (…). Wir sahen außerdem lebendige Parasiten über ihre Gesichter kriechen, und das Wenige, das sie zum Schlafen brauchen und die wenige Kleidung, die sie haben, sind zerfetzt und starren oft vor Schmutz«. In den Lagern der Grubenarbeiter in Arkansas und Alabama hatte man die Zuchthäusler den ganzen Winter ohne Schuhe und stundenlang im Wasser stehend arbeiten lassen. In diesen beiden Staaten war Akkordarbeit gebräuchlich, wodurch eine Dreiergruppe gezwungen war, eine bestimmte Menge Kohle pro Tag abzubauen, bei Strafe einer harten Auspeitschung für die ganze Gruppe. Die Zuchthäusler in den Arbeitslagern der Terebinthen in Florida waren mit »Ketten an den Füßen« und »Ketten um die Taille« gefesselt und gezwungen, im Trab zu arbeiten.[506]

Wir haben es mit einem System zu tun, das »Ketten, Hunde, Peitschen und Schusswaffen« benutzt und »für die Gefangenen eine Hölle auf Erden herbeiführt«. Die Sterblichkeitsziffer ist äußerst viel sagend. Beim Bau der Eisenbahnlinie von Greenwood und Augusta zwischen 1877 und 1880 »starben fast 45 Prozent« der dort eingesetzten Zwangsarbeiter, »und es waren junge Leute in der Blüte ihres Lebens«.[507] Oder man kann andere statistische Daten aus dem gleichen Zeitraum zitieren: »In den ersten zwei Jahren, in denen Alabama sei ne Häftlinge vermietete, starben fast 20 Prozent. Im Jahr darauf stieg die Mortalität auf 35 Prozent an; im vierten Jahr sind fast 45 Prozent gestorben«.[508]

Was die Sterblichkeitsziffer betrifft, wäre ein systematischer statistischer Vergleich mit den Konzentrationslagern in der UdSSR und im Dritten Reich interessant. In Bezug auf den Gulag ist kalkuliert worden, dass anfangs der 1930er Jahre, vor der vom Mord an Kirow und von der Verschärfung der Kriegsgefahr ausgelösten Zuspitzung der Lage, die jährliche Sterblichkeitsziffer »sich mehr oder weniger auf 4,8 % der durchschnittlichen Lagerbevölkerung belief«. Gewiss, diese statistische Angabe schließt nicht die Lager der Ausbeutung der Gold vorkommen im Gebiet des Flusses Kolyma mit ein; außerdem muss man die »charakteristischen Unterschätzungen der Rechenschaftsberichte der Sanitätssektionen« bedenken. Doch selbst wenn man die offiziellen Daten erheblich ansteigen lässt, erscheint es schwierig, dass man auf die gerade zitierte Sterblichkeitsrate kommen kann, die die afroamerikanischen Häftlinge dahinraffte. Im Übrigen sind die Grün de für die »Unterschätzungen« bezeichnend. Tatsache ist, dass »hohe Sterblichkeitsziffern und hohe Ausbruchszahlen zu schweren Sanktionen führen konnten«; »die Sanitätssektionen der Lager fürchteten, der Nachlässigkeit und der Verspätung bei der Krankenhauseinlieferung beschuldigt zu werden«; »auf der Lagerleitung lastete beständig die Drohung der Inspektionen«.[509]

Nach der Mortalität der vermieteten Halbsklaven zu schließen, scheint es, dass keine ähnliche Drohung auf den US-amerikanischen Unternehmern lastete, die sich mit dem Bau der Eisenbahnlinien von Greenwood und Augusta oder mit anderen Aufträgen bereicherten. Einen Punkt sollte man jedenfalls festhalten. Im Süden der Vereinigten Staaten sind die schwarzen Häftlinge fürchterlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt und sterben massenweise in einer Friedensperiode: Der Ausnahmezustand spielt überhaupt keine Rolle, und der Produktivitätsdrang ist nebensächlich oder sogar inexistent. Das Konzentrationslager-Universum der US-amerikanischen Südstaaten reproduziert die Rassenhierarchie und den Rassenstaat, die die Gesellschaft insgesamt kennzeichnen: Der schwarze Häftling ist weder ein potenzieller »Genosse« noch ein potenzieller »Bürger«, er ist ein Untermensch. Die ihm von den Weißen vorbehaltene Behandlung ist die, die im Umgang mit den Rassen, die der echten Zivilisation fernstehen, als normal erachtet wird. Und erneut stoßen wir auf die Ideologie des Dritten Reichs.

Im Übrigen sind es namhafte US-amerikanische Historiker, die das soeben beschriebene Gefängnissystem mit den »Gefangenenlagern Nazideutschlands« vergleichen.[510] Es ist kein Zufall, dass die medizinischen Versuche, die in Nazideutschland an den Untermenschen durch geführt wurden, in den USA mit Schwarzen als Versuchspersonen vor genommen werden.[511] Schon vor den Versuchen im eigenen Land hat übrigens das kolonialistische und imperialistische Deutschland in den Jahren Wilhelm II. seine medizinischen Experimente in Afrika an Afrikanern durchgeführt: Bei dieser Tätigkeit zeichnen sich zwei Ärzte aus, die später die Lehrer Joseph Mengeles werden,[512] der in Nazideutschland jene Perversion der Medizin und der Wissenschaft zur Vollendung bringt, die sich schon in der (europäischen und US-amerikanischen) kolonialen Tradition abgezeichnet hatte. Es ist unmöglich, das Dritte Reich von der Geschichte der Beziehungen zu trennen, die der Westen zu den Kolonialvölkern bzw. den Völkern kolonialen Ursprungs unterhielt; man muss aber auch hinzufügen, dass diese Tradition die Niederlage Hitlers weit überlebt hat. Im Jahre 1997 hat US-Präsident Clinton sich gezwungen gefühlt, die afroamerikanische Gemeinschaft um Entschuldigung zu bitten: »In den sechziger Jahren wurden in Alabama 400 Farbige von der Regierung als menschliche Versuchskaninchen benutzt. An Syphilis erkrankt, wurden sie nicht behandelt, weil die Wissenschaftler die Wirkungen der Krankheit an einer ›Bevölkerungsstichprobe‹ untersuchen wollten«.[513]

9. Das nationale Erwachen in Osteuropa und in den Kolonien – Zwei gegensätzliche Antworten

Hier wird die Absurdität einer Komparation der Konzentrationslager offensichtlich: Sie gründet nämlich auf der Verdrängung der Behandlung, die auch der liberale Westen den »niedrigeren Rassen« vorbehalten hat, und außerdem auf der Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik, zwischen repressiven Praktiken und Ideologien, auf die diese sich stützen. Wenn wir diese Elemente und diese gewöhnlich ignorierten Zusammenhänge einführen, so verkehrt sich die übliche Gleichset zung der beiden totalitären Diktatoren in eine Antithese. Es ist bemerkt worden, dass »Stalin sehr beeindruckt war« vom Erwachen der im Habsburger Reich unterdrückten bzw. ausgegrenzten Nationalitäten. Diesbezüglich wird auf seine Ausführungen auf dem X. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands im Jahre 1921 verwiesen:[514] »Vor etwa fünfzig Jahren trugen alle Städte Ungarns deutschen Charakter, jetzt sind sie madjarisiert«; auch die »Tschechen« erleben ein »Erwachen«. Es handle sich um ein Phänomen, das ganz Europa erfasse: Aus »deutscher Stadt«, die sie war, wird Riga jetzt eine »lettische Stadt«; die Städte der Ukraine werden »unvermeidlich ukrainisiert werden« und damit das zuvor vorherrschende russische Element sekundär werden lassen.[515]

Mit der Bewusstwerdung dieses Prozesses, der für progressiv und irreversibel gehalten wird, engagieren sich die gesamte bolschewistische Partei und Stalin persönlich in »einem neuen und faszinierenden Experiment der Regierung eines multiethnischen Staates«, der wie folgt beschrieben werden kann:

Die Sowjetunion war das erste Affirmative Action Empire. Die neue revolutionäre Regierung Russlands war die erste unter den alten multiethnischen europäischen Staaten, die der wachsenden Woge des Nationalismus entgegentrat und darauf reagierte, indem sie systematisch das nationale Bewusstsein seiner ethnischen Minderheiten entwickelte und für sie viele der institutionellen Formen festlegte, die für Staat-Nation charakteristisch sind. Die bolschewistische Strategie war es, die Führung des als unvermeidlich erscheinenden Entkolonialisierungsprozesses zu übernehmen und ihn so zu Ende zu führen, dass die territoriale Integrität des alten russischen Reichs bewahrt wurde. Zu diesem Zweck schuf der sowjetische Staat nicht nur ein Dutzend Republiken großer Dimensionen, sondern auch zehntausende nationale Territorien, die über die ganze Ausdehnung der Sowjetunion verstreut waren. Neue nationale Eliten wurden aus gebildet und stiegen auf zu führenden Stellen in der Regierung, in den Schulen, in den Industrieunternehmen dieser Territorien neuer Formierung. In jedem Territorium wurde die nationale Sprache zur Amtssprache der Regierung erklärt. In vielen Fällen wurde damit die Schaffung einer Schriftsprache notwendig, die zuvor nicht existierte. Der sowjetische Staat finanzierte die Massenproduktion von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen, dazu Filme, Opern, Museen, Volksmusikorchester und andere kulturelle Produkte in den nicht russischen Sprachen. Nichts Vergleichbares war je zuvor versucht worden.[516]

Das Neue dieser Politik wird noch deutlicher, wenn man sie mit der Vereinheitlichungswut vergleicht, die noch mitten im 20. Jahrhundert in den USA und in Kanada tobt: Die Indianerkinder werden gezwungen, die Verbindungen zur ursprünglichen Gemeinschaft und sogar zur Familie abzubrechen, sie müssen auch auf ihre Tänze und ihre ›sonderbare‹ Kleidung verzichten, sie sind verpflichtet, kurze Haare zu tragen und vor allem die Benutzung ihrer Stammessprache wie die Pest zu vermeiden; die Verletzung der Norm, die dazu zwingt, sich ausschließlich auf Englisch auszudrücken, führt zu harten Strafen und in Kanada sogar zur Elektroschockbehandlung.[517] Was die UdSSR betrifft, herrscht inzwischen über einen wesentlichen Punkt ein gewisser Konsens:

So erhielten die Republiken, die eine früher, die andere später, eine Fahne, eine Hymne, eine Sprache, eine Nationalakademie, in einigen Fällen sogar ein Kommissariat des Äußeren und bewahrten das 1991 dann genutzte Recht, aus der Föderation auszuscheiden, auch wenn die entsprechende Prozedur nicht näher bestimmt war.[518]

In Mein Kampf geht auch Hitler von der Slawisierung und »Entdeutschung« in Osteuropa aus. Für ihn handelt es sich aber um einen Prozess, der weder progressiv noch irreversibel ist; doch nur sehr radikale Maßnahmen könnten ihn aufhalten und zurückwerfen. Es gehe nicht darum, eine Politik der Assimilierung durchzuführen und »eine Germanisierung des österreichischen Slawentums« voranzubringen; nein, »Germanisierung kann nur am Boden vorgenommen werden und niemals an Menschen«. Es wäre lächerlich, »aus einem Neger oder einem Chinesen einen Germanen« machen zu wollen, nur »weil er Deutsch lernt und bereit ist, künftighin die deutsche Sprache zu sprechen und etwa einer deutschen Partei seine Stimme zu geben«: »Jede solche Germanisation ist in Wirklichkeit eine Entgermanisation«, sie würde »den Beginn einer Bastardierung« und daher eine »Vernichtung germanischen Elementes« bedeuten, »die Vernichtung gerade der Eigenschaften, welche das Eroberervolk einst zum Siege befähigt hatten«.[519] Den Boden zu germanisieren, ohne je die Menschen zu germanisieren, sei nur möglich, wenn man einem ganz präzisen Vorbild folge: Jenseits des Atlantiks habe sich die weiße Rasse nach Westen ausgebreitet, in dem sie den Boden, aber gewiss nicht die Rothäute amerikanisierte: Auf diese Weise seien die USA ein »nordisch-germanischer Staat« geblieben, ohne zu einem »internationalen Völkerbrei« herunterzukommen.[520] Dasselbe Modell müsse von Deutschland in Osteuropa verfolgt werden.

Wenn die Bolschewiki und Stalin sich darum bemühen, in den Sowjetrepubliken nationale Eliten und eine möglichst breite einheimische politische Schicht herauszubilden, so ist das von Hitler für die Eroberung des Ostens dargelegte Programm genau das Gegenteil: »Alle Vertreter der polnischen Intelligenz seien umzubringen«; man müsse mit allen Mitteln verhindern, dass sie »auf eine höhere Intelligenzstufe gehoben« werden. Nur so könnten die kolonialen Aufgaben erfüllt werden: Die Völker, die dazu bestimmt sind, als Sklaven zu arbeiten, dürften nicht aus den Augen verlieren, dass es »nur einen Herren geben dürfe und das sei der Deutsche«.[521]

In seinem Referat auf dem X. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands im Jahre 1921, lenkt Stalin die Aufmerksamkeit auf ein weiteres Element der Wendung, die sich in der Weltgeschichte ereignet: »Während des imperialistischen Krieges sahen sich die imperialistischen Gruppen der kriegführenden Staaten selbst genötigt, an die Kolonien zu appellieren, aus denen sie das Menschenmaterial zur Aufstellung von Armeen schöpften«, und dies musste »diese Stämme und Völkerschaften zur Befreiung, zum Kampf aufrütteln«. Das nationale Erwachen in Osteuropa verbindet sich mit dem nationalen Erwachen in der kolonialen Welt: »Die Entwicklung der nationalen Frage zur all gemeinen Kolonialfrage ist kein geschichtlicher Zufall«.[522] Soll in Europa das nationale Erwachen einer Politik der Diskriminierung, Entnationalisierung und Unterdrückung der Minderheiten ein Ende bereiten, so ist es in den Kolonien dazu bestimmt, das Konzentrationslager-Universum radikal infrage zu stellen, das von den Eroberern den Rassen aufgezwungen wurde, die sie für niedriger hielten.

Die Neuheit des Einsatzes farbiger Truppen ist auch Hitler nicht entgangen, der sich jedoch beeilt, den so an der weißen Rasse begangenen Verrat anzuklagen. Vor allem Frankreich sei dafür verantwortlich, wo sich rasch und verderblich ein Prozess der »Bastardierung« und »Vernegerung« abspiele und wo man der »Entstehung eines afrikanischen Staates auf europäischem Boden« beiwohne.[523] Wir haben es hier nicht nur mit ›Vorurteilen‹ zu tun: Es geht um ein präzises politisches Programm, das den Einsatz der farbigen Truppen und die Rassenmischung auch auf der Ebene der sexuellen und ehelichen Beziehungen voller Abscheu betrachtet, weil diese Praktiken die Barriere zwischen Herrenrasse und Dienerrasse auflösen und damit die Vorherrschaft und das Konzentrationslager-Universum, das die Herrenrasse im höheren Interesse der Zivilisation der Dienerrasse aufzwingen müsse, in eine Krise stürzen. Aus der Sichtweise des Naziführers stellen das nationale Erwachen in Osteuropa und der Einsatz farbiger Truppen in Konflikten innerhalb des Westens (mit dem damit verbundenen Übermütig werden der Kolonialvölker) eine fürchterliche Gesamtbedrohung für die Zivilisation und die weiße Rasse dar. Eine Antwort auch auf diese Bedrohung sind die Errichtung des Rassenstaats und -reichs und die Entfesselung des Krieges im Osten, mit dem Zustrom einer unermesslichen Masse aus den ›niederen Rassen‹ rekrutierter Sklaven in das Kon zentrationslager-Universum, wo diese Sklaven dann dazu bestimmt sind, im Dienst der Herrenrasse zu arbeiten und durch Arbeit den Tod zu finden.

Das nazistische Konzentrationslager-Universum ist darauf programmiert, die Millionen und Abermillionen Sklaven oder Überflüssigen zu verschlingen, die unvermeidlich aus einem Plan hervorgehen, der eine möglichst rasche Germanisierung des Bodens zum Ziel hat, wobei die Germanisierung der ›Eingeborenen‹, die ihn bewohnen, a priori ausgeschlossen wird. Und dieses Projekt hätte eine noch unermesslichere Masse von Opfern verschlungen, wäre es nicht von einem entgegengesetzten Projekt besiegt worden, das auf der Anerkennung nicht nur der existentiellen, sondern auch der kulturellen und nationalen Rechte der Einheimischen beruht. Eine Reihe objektiver Umstände und auch subjektive Verantwortung, die keineswegs bagatellisiert werden dürfen, hat auch bei diesem zweiten Projekt zu einem Konzentrationslager-Universum geführt. Aber trotz seines Grauens kann es in keiner Weise mit dem erstgenannten gleichgesetzt werden, das ausdrücklich die Fortsetzung der genozidalen Praktiken in der kolonialen Welt im eigentlichen Sinn und ihre Ausdehnung in noch brutalerer Form auf die neuen Kolonien voraussetzt, die in Osteuropa errichtet werden sollen.

10. Totalitarismus oder Entwicklungsdiktatur?

Jetzt sind wir in der Lage, den unangemessenen und irreführenden Charakter der Kategorie Totalitarismus zu verstehen, die im Allgemeinen herangezogen wird, um die Gleichsetzung der Stalinschen UdSSR mit Nazideutschland zu besiegeln. Eine wachsende Zahl von Historikern stellt diese infrage oder weist sie ausdrücklich zurück. Um die Geschichte der Sowjetunion zu erklären, gehen einige von ihnen zurück auf Peter den Großen und noch weiter auf das »eingekreiste Moskowien« mit einer recht verwundbaren geopolitischen Lage, wie die Invasion Dschingis Khans bewies. Von der Geschichte und der Geographie her fühlte Stalin sich daher gefordert, eine möglichst schnelle ökonomische Entwicklung voranzutreiben, um gleichzeitig die Nation und die neue gesellschaftspolitische Ordnung, die sie sich gegeben hatte zu retten.[524] So entsteht und setzt sich das durch, was man heute eine Entwicklungsdiktatur nennen kann.

All das in einer Gesellschaft, die wahrscheinlich nicht ganz uneingedenk der Warnung war, die Lenin 1905 ausgegeben hatte (»Wer auf einem anderen Weg als dem des politischen Demokratismus zum Sozialismus kommen will, der gelangt unvermeidlich zu Schlußfolgerungen, die sowohl im ökonomischen als auch im politischen Sinne absurd und reaktionär sind«),[525] und die außerdem, auf Grund sowohl objektiver Umstände als auch innerer ideologischer Schwächen, von einem Ausnahmezustand zum anderen, von einem Bürgerkrieg zum anderen getrieben wurde. Wir haben es also mit einer Gesellschaft zu tun, die nicht etwa von totalitärer Einförmigkeit und Gleichschaltung gekennzeichnet ist, sondern vom Andauern und von der Allgegenwart des Bürgerkriegs, der sich sogar innerhalb der Familien abspielt, die infolge der gegensätzlichen Haltung zerrüttet sind, die von ihren Mitgliedern zum Beispiel gegenüber dem Prozess der Kollektivierung der Landwirtschaft eingenommen wird: »Eine Bäuerin, die einer evangelischen Sekte angehörte, erschlug ihren schlafenden Mann mit einer Axt, weil er, wie es scheint, ein Kolchosaktivist war«. Ähnliche grauenhafte Bluttaten zerstörten manchmal sogar das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern.[526] Der Konflikt nimmt hier die Grausamkeit des Religionskriegs an. Und dies gilt nicht nur für diejenigen, die sich ausdrücklich auf christliche Motive berufen, sondern auch für die begeisterten Anhänger der neuen Gesellschaft, die ebenfalls von »furiosem Glauben« beseelt sind.

Aufschlussreich ist vor allem die Analyse der Produktionsverhältnisse. Versuchen wir, in Gedanken eine sowjetische Fabrik zu besuchen oder auf eine der vielen Baustellen zu gehen, die auf der Woge des von Stalin geförderten gigantischen Modernisierungsprogramms aufblühten. Weit entfernt, einheitlich von oben entschieden zu werden, wird schon ihre Lokalisierung am Ende eines komplexen Entscheidungsprozesses festgelegt, der sich mit leidenschaftlichen und oft qualvollen Diskussionen abspielt: »Im Gegensatz zur strengen Zentralisation der zaristischen Ära verlieh die antikolonialistische Rhetorik der Sowjetunion den regionalen Lobbys eine im Ancien Régime undenkbare Macht«. Besonders stark war die Macht in jenen Regionen, die gerade auf Grund ihrer Rückständigkeit vom Regime fordern, seine Versprechen zu halten, mit den Ungleichheiten und »den Ungerechtigkeiten des zaristischen Imperialismus« Schluss zu machen, um die Industrialisierung und die Modernisierung auf nationaler Ebene voranzubringen.[527]

Wenn wir eine Produktions- und Arbeitsstätte besuchen, bemerken wir, dass dort keineswegs eine strenge Disziplin und ein blinder Gehorsam walten: Im Gegenteil, es fehlt weder an Unordnung noch an scharfen Konflikten. Zunächst fällt die starke Fluktuation der Arbeitskräfte auf. Stalin muss zäh gegen dieses Phänomen ankämpfen, und dennoch »verlassen mehr als 87 % der Industriearbeiter ihren Arbeitsplatz« noch im Jahre 1936. Auch von der Politik der Vollbeschäftigung und von den konkreten Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs angeregt, bildet diese Fluktuation jedenfalls ein Gegengewicht zu der Macht, die von den Vorgesetzten in der Fabrik bzw. auf der Baustelle ausgeübt wird. Aber das ist noch nicht alles. Insgesamt wohnen wir einer Art »Tauziehen« mit drei Beteiligten bei: Die Partei- und Gewerkschaftsführer, die darum bemüht sind, die Arbeitsproduktivität zu steigern; die Arbeiter, die oft in erster Linie darum besorgt sind, das Lohnniveau zu erhöhen; die Techniker, die dazwischenstehen und unsicher sind, was zu tun sei. Meistens gewinnen die Arbeiter die Oberhand, und oft lassen auch die Techniker »die aus Moskau kommenden Direktiven« unbeachtet.[528]

Man muss hinzuzufügen, dass auch die Arbeiterklasse uneins ist. Während der Appell, die Produktivität zu steigern und sich gründlich im sozialistischen Wettbewerb zu engagieren, um die Produktivkräfte zu entwickeln und die fortgeschrittensten Länder des Westens einzuholen oder zu übertreffen, bei einigen Begeisterung auslöst, ruft er bei an deren Verstimmtheit, den passiven Widerstand oder offene Feindseligkeit hervor. Werden die Ersten von den Zweiten als »abkommandierte Abteilung des Antichrists« abgestempelt, so entwickelten diese »einen heiligen Hass auf die Feinde des neuen sozialistischen Lebens«,[529] mit einer Sprache also, die uns erneut zum »furiosen Glauben« zurückführt, der eine ganze Generation inspiriert.

Der Konflikt, der letztlich Anhänger und Gegner der neuen Ordnung betrifft, ist sicher nicht der einzige. Divergenzen gibt es auch zwischen Technikern einerseits und der Masse der Arbeiter andererseits. Die Techniker haben oft auf der Seite der Weißen gegen die Bolschewiki gekämpft: Man beruft sich auf ihre Kompetenz, aber gleichzeitig versucht man, sie einer gewissen Form der Kontrolle zu unterwerfen. Aber auch die neu ausgebildeten Techniker und Spezialisten oder diejenigen, die sich zwar unter dem alten Regime formiert haben, aber, von patriotischen Gefühlen getragen, loyal mit der Sowjetmacht zusammenarbeiten, sind gezwungen der Herausforderung entgegenzutreten, die von einer neuen sozialen Schicht, den »Stoßbrigaden« ausgeht. Diese Herausforderung ist besonders in einer Gesellschaft zu fürchten, in der die »Arbeiter aufgerufen sind, ihre Vorgesetzten zu beurteilen«; es ist daher gut zu verstehen, dass die »Ingenieure« gegen die »Arbeiterkontrolle« oft »harten Widerstand leisten«.[530] Dabei handelt es sich keineswegs um einen mühelosen Widerstand: Die Arbeiter können ihre Stimme hören lassen und geltend machen, indem sie Plakate am Arbeitsplatz aufhängen und an die Presse oder Parteiführung schreiben; oft fühlen sich gerade die Techniker oder die Produktionsleiter in der Fabrik oder überhaupt am Arbeitsplatz eingeschüchtert.[531]

Auf diese Konflikte spielt auch Stalin an, wenn er sich mit der Stachanowbewegung beschäftigt, die »gewissermaßen aus sich selbst he raus, fast spontan, von unten her, ohne irgendwelchen Druck seitens der Leitungen unserer Betriebe begonnen hat (…), ja selbst im Kampf mit ihnen entstanden und zur Entfaltung gekommen« ist; ja, zumindest anfangs mussten die Stachanowisten ihre Versuche »hinter dem Rücken der Wirtschaftsorganisation, hinter dem Rücken des Kontrollpersonals« machen; ein Arbeiter, der sich darum bemühte, »Neuerungen« einzuführen, riskierte sogar den »Verlust der Arbeitsstelle«, was aber dank des »Eingreifens des Abteilungsleiters« verhindert wurde.[532] In Konkurrenz und oft im Konflikt miteinander arbeiten eine Vielfalt von »industriellen Autoritäten«, von technischen, administrativen, politischen und gewerkschaftlichen Autoritäten (es gibt auch eine Unterscheidung zwischen »Partei und Gewerkschaft«).[533]

Wenn man also eine sowjetische Fabrik oder Baustelle (auch in den Jahren Stalins) besichtigt, hat man sicher nicht den Eindruck, eine ›totalitäre‹ Arbeitsstätte zu besuchen. Der ›Totalitarismus‹ war in der Fabrik im zaristischen Russland viel stärker entwickelt. Dort galt ein unmissverständliches Prinzip: »Der Besitzer des Werks ist absoluter Herrscher und Gesetzgeber, der keine gesetzlichen Einschränkungen kennt«; tatsächlich konnte er im Fall von schwereren Verstößen auch zur Peitsche greifen.[534] Oder man denke an ein Land wie die USA. Kehren wir in diesem Zusammenhang zur Behandlung der Häftlinge (fast immer Afroamerikaner) zurück, die an private Unternehmen vermietet wurden. Als Gegenleistung für das ausgegebene Geld durften diese die »absolute Kontrolle« ausüben:

Die Wächter hatten das Recht, die Gefangenen anzuketten, auf diejenigen zu schießen, die zu fliehen versuchten, die zu foltern, die sich weigerten, sich zu unterwerfen, und die Ungehorsamen, nackt oder bekleidet, wie sie waren, fast ohne Einschränkungen auszupeitschen. Acht Jahrzehnte lang (von den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg) gab es fast nie Verurteilungen für einen Käufer dieser Sklaven wegen deren schlechter Behandlung oder Tods.[535]

Gewiss, es handelte sich um Häftlinge, aber man bedenke, dass für die Afroamerikaner schon die Anklage der »Landstreicherei« genügte, um verhaftet, verurteilt und an Unternehmer vermietet zu werden, die entschieden waren, sich zu bereichern. Bei anderer Gelegenheit wurden die Schwarzen einfach von den Grundbesitzern eingefangen und zur Zwangsarbeit genötigt. Nicht zufällig spricht der hier zitierte Autor schon im Titel und Untertitel seines Buches von »Sklaverei unter einem anderen Namen«, von »Wiedereinführung der Sklaverei für die schwarzen Amerikaner vom Bürgerkrieg bis zum Zweiten Weltkrieg«.[536] Selbst wenn die Sklaven oder Halbsklaven natürlich nur einen kleinen Prozentsatz der Gesamtarbeitskraft ausmachten, gibt das so lange Andauern sklavischer oder halbsklavischer Arbeit in der US-amerikanischen kapitalistischen Gesellschaft zu denken. Abgesehen davon, sollte man eine Betrachtung allgemeinerer Art anstellen: Bei genauerem Hinsehen finden wir in der sowjetischen Fabrik Dynamiken und Verhältnisse, die auch in der kapitalistischen Fabrik der demokratischen Länder für unannehmbar undiszipliniert gehalten würden. Zur Klärung dieses Punktes kann eine berühmte These von Marx (Das Elend der Philosophie) nützlich sein:

Während innerhalb der modernen Fabrik die Arbeitsteilung durch die Autorität des Unternehmers bis ins einzelnste geregelt ist, kennt die moderne Gesellschaft keine andere Regel, keine andere Autorität für die Verteilung der Arbeit als die freie Konkurrenz (…). Man kann als allgemeine Regel auf stellen: Je weniger die Autorität der Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft vorsteht, desto mehr entwickelt sich die Arbeitsteilung im Innern der Werkstatt und um so mehr ist sie der Autorität eines einzelnen unterworfen. Danach steht die Autorität in der Werkstatt und die in der Gesellschaft, in bezug auf die Arbeitsteilung, im umgekehrten Verhältnis zueinander.[537]

Man könnte sagen, dass sich in der sowjetischen Gesellschaft von Zeit zu Zeit eine Umkehr der von Marx beschriebenen Dialektik der kapitalistischen Gesellschaft herausgebildet hat: Dem Fehlen einer starren Fabrikdisziplin (mit dem Wegfall des traditionellen, mehr oder weniger ausgeprägten Despotismus des Besitzers) entsprach der vom Staat über die Zivilgesellschaft ausgeübte Terror. Aber auch diesbezüglich muss man sich vor Vereinfachungen hüten: Wir haben es mit »einem verworreneren und weniger organisierten Staat« zu tun, als man meinen möchte; »selten sprach das Zentrum einstimmig«; sogar die »ideologische Einförmigkeit« war oft nur eine »Fassade«.[538]

Von den Produktions- und Arbeitsstätten abstrahieren die üblichen Totalitarismusanalysen vollkommen und schon aus diesem Grund sind sie einseitig und oberflächlich. Wenn wir dieser totalen und unrecht mäßigen Abstraktion ein Ende setzen, erscheint uns die Kategorie Totalitarismus sogleich in ihrer ganzen Unangemessenheit: Sie hilft uns keineswegs, eine Gesellschaft zu verstehen, die in ihrer Endphase, als der »furiose Glaube« verschwunden war, der nicht ewig dauern konnte (wie Kennan klar vorausgesehen hatte), von einer regelrechten Anarchie an den Arbeitsplätzen unterminiert wird: diese werden von den Arbeitnehmern seelenruhig verlassen, die, selbst wenn sie anwesend sind, eine Art von Bummelstreik durchzuführen scheinen, der übrigens toleriert wird. Diesen Eindruck erhalten, etwas perplex und etwas verwundert, die Arbeiter- und Gewerkschaftsdelegationen, die die UdSSR der letzten Jahre besuchen. In China, das gerade begann, den Maoismus hinter sich zu lassen, herrschten im öffentlichen Dienst weiterhin Gewohnheiten vor, die von einem westlichen Journalisten wie folgt beschrieben werden: »Auch der letzte Bedienstete (…) kann, wenn er will, entscheiden, überhaupt nichts zu tun, er kann ein, zwei Jahre lang daheim bleiben und sein Gehalt am Monatsende erhalten«. Die »Kultur der Faulheit« ließ sich auch noch im privaten Sektor der Wirtschaft, der gerade entstand, verspüren: »Die ehemaligen staatlichen Angestellten (…) kommen spät, lesen dann Zeitung, gehen eine halbe Stunde früher in die Kantine, verlassen das Büro eine Stunde früher« und bleiben oft aus Familiengründen, zum Beispiel »weil die Frau krank ist«, weg von der Arbeit. Und die Führungskräfte und die Techniker, die versuchen, Disziplin und Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz einzuführen, müssen nicht nur dem Widerstand und der moralischen Entrüstung der Belegschaft (die Geldstrafe für einen Arbeiter, der ferngeblieben ist, um seine Frau zu pflegen, ist eine Schande), sondern manchmal auch den Drohungen und sogar der von unten kommenden Gewalt entgegen treten158. Es ist recht schwierig, diese Verhältnisse mit der Kategorie ›Totalitarismus‹ zu beschreiben; besser orientiert man sich, wenn man sich die schon zitierte Stelle von Marx zunutze macht. Das Elend der Philosophie kann uns helfen, ein Phänomen zu verstehen, das aus der Sicht weise der klassischen Totalitarismustheorie absolut unerklärlich ist: In der UdSSR, in den Ländern Osteuropas und in China geht der mehr oder weniger radikale Abbau des ›totalitären‹ Systems Hand in Hand mit einer drastischen Verschärfung der Disziplin am Arbeitsplatz; um ein Beispiel zu nennen, wird in China erst 1993 das Gesetz verabschiedet, das die Kündigung wegen zu langer Fehlzeiten erlaubt159.

Zweifellos werden vor allem in akuten Krisensituationen in der UdSSR und im maoistischen China die Produktions- und Arbeitsstätten nicht vom Terror ausgespart, doch der Alltag ist von einem Regime gekennzeichnet, das von Totalitarismus weit entfernt ist. Zusammenfassend könnte man sagen, dass der übliche Rekurs auf diese Kategorie nur mit Hilfe einer doppelten, willkürlichen Abstraktion überzeugend ist. Die Ausblendung der an den Produktions- und Arbeitsstätten bestehenden Verhältnisse aus dem Untersuchungsgegenstand ermöglicht es, die kommunistische der nazistischen Diktatur anzunähern; nur das Verschweigen des Terrors und des Konzentrationslager-Universums in den Kolonien und Halbkolonien und sogar in der Metropole zum Schaden der Völker kolonialen Ursprungs (wie die Indianer und Afroamerikaner) ermöglicht es, eine Kluft zwischen liberalem Westen und ›totalitären‹ Staaten aufzureißen. Im Vergleich zur UdSSR Breschnews und seiner Nachfolger weist die UdSSR Stalins andere Merkmale auf, aber das zentrale Element der Unterscheidung ist die außerordentliche ideologische und politische Mobilisierung, der es – bevor sie zusammenfiel und jegliche Glaubwürdigkeit verlor – über lange Zeit hinweg gelang, einen wesentlichen Beitrag zum Funktionieren des produktiven und ökonomischen Apparats zu leisten. Es sind die Jahrzehnte, in denen sich eine Entwicklungsdiktatur herausbildet: Ihr Verlauf ist zugleich ungestüm und unerbittlich und sie ist von dem »furiosen Glauben« gekennzeichnet, der ethnische und soziale Gruppen beseelt, denen der Weg für einen starken Aufstieg geebnet wird und die eine Anerkennung erreichen, die ihnen bisher hartnäckig verweigert wurde. Es hat wenig Sinn, diese tragische und widersprüchliche Erfahrung mit einer Diktatur, nämlich der nazistischen, zu vergleichen, die ausdrücklich zum Zweck des Krieges, der kolonialen Eroberung und der erneuten Behauptung der Rassenhierarchie errichtet wird, eine Diktatur, die von Anfang an über einen bürokratischen und Staatsapparat von konsolidierter Effizienz verfügen und sich homo gen auf jedem Gebiet des gesellschaftlichen Lebens durchsetzen kann. Und dennoch ist diese Gleichsetzung inzwischen eine Art Gemeinplatz geworden. Dessen Entstehung gilt es zu untersuchen.

Kapitel 5: Verdrängung der Geschichte und Konstruktion der Mythologie Stalin und Hitler als Zwillingsmonster

1. Kalter Krieg und reductio ad Hitlerum des neuen Feindes

Mit dem Ausbruch des Kalten Krieges bemüht sich jeder der beiden Antagonisten, den anderen als Erben des Dritten Reichs hinzustellen, das man kurz zuvor gemeinsam besiegt hatte. »Niemand«, schreibt Lukács 1954, »wird wohl heute zu behaupten wagen, dass der Hitlerismus, sowohl seine Ideologie wie seine Verfahrensweisen restlos der Vergangenheit der Geschichte angehören würden«.[539] Darin können in der Tat beide Lager problemlos einig sein. Nur dass der kommunistische Philosoph, die Kategorie Imperialismus heranziehend, Eisenhower Hitler an die Seite stellt,[540] während man auf der Gegenseite die Kategorie Totalitarismus benutzt, um unter sie Nazideutschland und die Sowjetunion zu subsumieren.

Beide Kategorien werden wie Kampfinstrumente geschwungen. Der Versuch, den neuen mit dem alten Feind gleichzustellen, beschränkt sich nicht auf die Verurteilung des Imperialismus bzw. des Totalitarismus. Nachdem er den ideologischen Weg, der zum Triumph des Dritten Reichs führt, als Prozess der »Zerstörung der Vernunft« beschrieben hat, verspürt Lukács das Bedürfnis, unter die Kategorie Irrationalismus auch die »Ideologie der ›freien Welt‹« zu subsumieren, die von den USA angeführt wird. Die Operation ist nicht ganz einfach, und so beklagt der ungarische Philosoph, dass wir es »unter einer scheinrationalistischen Hülle mit einer neuen Form des Irrationalismus zu tun« hätten. In der »neuen Lage«, die entstanden ist, sei es »ganz natürlich, dass auch in der Philosophie nicht der deutsche Typus des Irrationalismus herrscht, sondern der machistisch-pragmatische«, dessen Exponenten u. a. Wittgenstein, Carnap und Dewey wären.[541]

Die Mühe, den neuen Feind mit dem alten gleichzusetzen, lässt sich auch auf der Gegenseite bemerken. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft besteht Arendt zunächst lange auf der unheilvollen Rolle des Imperialismus und weist diesbezüglich besonders auf Lord Cromer hin (der noch nach dem Zweiten Weltkrieg von Churchill zu den Helden des britischen Empires gezählt wurde),[542] um dann den Vergleich und die Gleichstellung zwischen Nazideutschland und Stalins Sowjetunion zu vervollständigen, indem sie nicht nur auf den Totalitarismus, sondern auch auf eine andere Kategorie, auf die »Panbewegungen« verweist. Damit taucht eine weitere Analogie auf: Das Gegenstück zum Pangermanismus des ersten der hier miteinander verglichenen Länder sei der Panslawismus des zweiten. Dieser Schluss folgt aus einer tour de force, die noch waghalsiger als die von Lukács ist. Wir werden noch sehen, wie Churchill die kommunistische Bewegung mit einer »Kirche« vergleicht, die sich durch einen expansionistischen Universalismus aus zeichne und »deren Missionare in allen Ländern« und in allen Völkern sind; jedenfalls ruft der angebliche Stalinsche Panslawismus die Völker der Kolonien dazu auf, die Herrschaft der Herrenrasse hinwegzufegen, eine Herrschaft, die indes von den Theoretikern des Pangermanismus für natürlich und gut gehalten wird.

Zu diesem Zeitpunkt aber ist es die Hauptsorge der beiden entgegengesetzten Lager, Analogien und Symmetrien zu bilden. Man kann nur darüber lächeln, wenn man bei Arendt liest, dass die »Panbewegungen« (Nazismus und Kommunismus also) ein »Anspruch der Auserwähltheit« kennzeichne: Die Verherrlichung der Vereinigten Staaten als das von Gott auserwählte Volk durchdringt tief die US-amerikanische politische Tradition und ertönt noch heute in den Reden der US-Präsidenten! Die Erfordernisse des Kalten Krieges behalten eindeutig die Oberhand über alle anderen Überlegungen. Was 1950 von dem Beitrag eines US-amerikanischen Historikers ersten Ranges bestätigt wird. Seinerzeit hatte er sich Franklin D. Roosevelt und seiner Bündnispolitik mit der UdSSR widersetzt; vom Ausbruch des Kalten Krieges an fühlt er sich ermutigt, die These von der politischen und moralischen Gleichartigkeit Hitlers und Stalins zu bekräftigen. Jetzt setzt er sich für die restlose Gleichstellung der beiden Diktatoren ein. Hitler besteht auf dem »Rassenschicksal der Teutonen«: Dem normalen Leser käme hier die von der Vorsehung gewollte »offenkundige Bestimmung« (manifest destiny) in den Sinn, die einer langen Tradition gemäß die unaufhaltsame Expansion der USA leite; doch der hier zitierte Historiker, der ähnlich wie Arendt argumentiert und verdrängt, lässt dem nazistischen Motiv des »Rassenschicksals der Teutonen« den »Glauben Stalins und Lenins an die messianische Rolle des Proletariats und der revolutionären kommunistischen internationalen Bewegung« entsprechen. Weiter noch. Zentral ist in der Hitlerideologie die Verherrlichung der »Herrenrasse«: Die Suche nach den Analogien und Präzedenzfällen müsste eigentlich in Richtung des Regimes der white supremacy gehen, das lange in den Südstaaten der USA in Kraft war, auf das sich der Nazismus wiederholt berufen hat und das gewissermaßen im Jahre 1950, dem Jahr der Veröffentlichung des hier diskutierten Buches, noch fortbesteht. Der US-amerikanische Historiker entdeckt indes, dass der Hitlerschen Theorie der »Herrenrasse« die Theorie ähnelt, die in der Sowjetunion Stalins gelte, wo fast »jede wichtige Entdeckung« »irgendeinem unbekannten oder kaum bekannten Russen« zugeschrieben werde![543]

Die reductio ad Hitlerum des ehemaligen Alliierten führt auch zur Genozid-Anklage. Als erste bewegt sich vielleicht in diese Richtung die von der kommunistischen Bewegung und von der Sowjetunion hegemonisierte Front. 1951 besorgt in New York der schwarze Rechtsanwalt William Patterson, Führer des Civil Rights Congress (eine im Kampf sowohl gegen den McCarthyismus als auch gegen das Regime der white supremacy engagierte Organisation) die Herausgabe eines Buches, das gleichzeitig ein Appell an die UNO ist, sich der Tragödie bewusst zu werden, die die Afroamerikaner erleben: In den USA (vor allem in den Südstaaten) ist weiterhin ein Regime der rassischen Diskriminierung, Erniedrigung und Unterdrückung und der sozialen Ausgrenzung am Ruder; die Vergewaltigungen, die Lynchmorde, die gesetzlichen und außer gesetzlichen Exekutionen haben nicht aufgehört und die Polizeigewalt wütet (noch im Jahre 1963 redet Martin Luther King von »unbeschreiblichen Gräueln der polizeilichen Brutalität«). Dieses Buch zählt eine lange Liste von Ungerechtigkeiten und Leiden auf, verweist auf die von der UNO im Dezember 1948 verabschiedete Konvention über das Verbrechen des Genozids und macht die Tatsache geltend, dass dieser Konvention zufolge der Genozid nicht notwendig zur systematischen Vernichtung einer ganzen ethnischen Gruppe führt; noch dazu trägt es einen entschieden provokatorischen Titel: We charge genocide. Dem Anschein nach von der starken Opposition bestätigt, auf die die UNO-Konvention in der US-amerikanischen politischen Welt gestoßen ist, wird diese Anklageschrift in viele Sprachen übersetzt: In der UdSSR erscheint sie mit einer Einführung des Intellektuellen jüdischer Herkunft Ilja Ehrenburg, der die USA an die Seite des Dritten Reichs stellt, da sie beide von einem genozidalen oder potenziell genozidalen rassistischen Delirium befallen seien. Wütende Reaktionen löst das Buch natürlich in den USA aus und diese kehren die Anklage um. Ein Mitglied des Ausschusses, der die Verabschiedung der UNO-Konvention befürwortet, erklärt: »In den kommunistischen Ländern ist es offizielle Politik, ganze Gruppen auf Grund ihres rassischen und nationalen Ursprungs hinwegzufegen«.[544]

Wenn zu Beginn des Kalten Krieges jeder der beiden Antagonisten den anderen als neue Version des Nazismus und seines genozidalen Wahns hinstellt, so entwickelt sich, als sich der Triumph des Westens abzeichnet, das Spiel der Analogien immer ausschließlicher in die den Siegern genehme Richtung. Insbesondere ist es für die herrschende Ideologie zu einer fixen Idee geworden, Stalin und Hitler so vollkommen wie möglich gleichzusetzen, was so weit geht, sie als Zwillingsmonster zu präsentieren.

2. Der negative Heldenkult

Wie kann man dieses Resultat erzielen? Zunächst konzentriert man die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Sowjetunion und das Dritte Reich. Wir werden sehen, dass Gandhi in seiner Verurteilung das kolonialistische England mit Hitlerdeutschland, den britischen mit dem nazistischen Imperialismus verbindet. Forscher, die nicht im Verdacht stehen können, gegen den Westen zu sein, haben wiederholt die Behandlung, die der liberale Westen den Kolonialvölkern vorbehalten und gelegentlich auch ausdrücklich theoretisch begründet hat, mit den genozidalen Praktiken des Dritten Reichs verglichen. Angestellt wurde dieser Vergleich für die Deportation der Cherokee, die Andrew Jackson (der Präsident der von Tocqueville besuchten und gefeierten Ver einigten Staaten) angeordnet hatte; für die von Theodore Roosevelt gegenüber den »niederen Rassen« (denen man im Fall der Rebellion gegen die »höhere Rasse« mit einem »Vernichtungskrieg« entgegentreten müsse) eingenommene Haltung; für die Behandlung, die England dem irischen Volk (das wie die Rothäute behandelt und noch Mitte des 19. Jahrhunderts zum massenweisen Hungertod verurteilt wurde) auferlegt hat.

Mehr noch. Die Schlüsselwörter, die heutzutage benutzt werden, um das Grauen des 20. Jahrhunderts zu beschreiben, tauchen schon in den Untersuchungen auf, die die liberale Welt des 19. Jahrhunderts erforschen: Besonders mit Bezug auf die »Entwicklung des industriellen Kapitalismus« in England ist behauptet worden, dass »der Gulag keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist«; als »totalitäre Gesellschaft« ist jene bezeichnet worden, die in Australien die aus England deportierten Menschen verschlingt (oft Armselige, die wegen eines unbedeutenden Diebstahls, zu dem sie der Hunger trieb, verurteilt wurden); in Bezug auf die Tragödie der Ureinwohner in Amerika, in Australien und ganz allgemein in den englischen Kolonien haben namhafte Forscher von »amerikanischem Holocaust« (oder »Endlösung« der Indianerfrage) bzw. von »australischem Holocaust« und »spätviktorianischen Holocausts« gesprochen; ganz zu schweigen vom »schwarzen Holocaust« (die Deportation und Versklavung der Überlebenden, einer von drei oder vier), auf den die Afroamerikaner die Aufmerksamkeit zu lenken versuchen. Zum Schluss haben wir auch den »kanadischen Holocaust« beschrieben.

Sogar was die Ereignisse betrifft, die sich unter unseren Augen ab spielen, kann man in wichtigen Presseorganen lesen, dass in Afghanistan, einem Land unter US-amerikanischem Protektorat, die gefangenen Taliban an einem Ort eingesperrt sind, der »dem nazistischen Konzentrationslager Auschwitz ähnelt«, und dass in Guantánamo, der Definition von Amnesty International zufolge, eine Art »Gulag unserer Tage« betrieben wird. Es lohnt sich schließlich, darauf hinzuweisen, dass die unvoreingenommenste US-amerikanische Historiographie ohne Zögern einen Vergleich zwischen der angloamerikanischen Vernichtung ganzer Städte aus der Luft (Dresden, Hiroshima und Nagasaki) und dem nazistischen Judenmord angestellt hat.[545] Aber all das verschwindet wie durch Zauberhand in der vorherrschenden Ideologie und Historiographie, so wie auch die Realität des Konzentrationslager Universums verschwindet, das im Verlauf des Zweiten Dreißigjährigen Krieges auch in den Ländern mit konsolidierter liberaler Tradition auftaucht und das auch nach der Niederlage des Dritten Reichs noch eine Zeit lang zu antisowjetischem und antikommunistischem Zweck beibehalten und jedenfalls in den Kolonien und Halbkolonien weiter ausgebaut wird.

Und doch reicht diese Verdrängung, obwohl sie kolossal ist, nicht aus, um den Mythos der Zwillingsmonster zu konstruieren. Wie geht man deshalb vor? Vom Vergleich zwischen der UdSSR und dem Dritten Reich gleitet man zur Komparation zwischen Stalin und Hitler hinüber, wobei der eine wie der andere von den jeweiligen historischen Kontexten und politischen Plänen abstrahierend beschrieben wird. Die explosiven Widersprüche erst einmal ausgeschaltet, die die Zweite Periode der Unruhen bzw. den Zweiten Dreißigjährigen Krieg kennzeichnen, erscheint der Terror Stalins als Ausdruck einer unbegründeten Ge walt und ausschließlich von der totalitären Ideologie oder sogar von der blutgierigen Paranoia einer einzelnen Person motiviert.

Auf ähnliche Weise wird die Geschichte im Hintergrund Hitlers verdrängt. Er wird am Ende des 19. Jahrhunderts geboren. Noch ist das »schmerzensreichste« Jahrhundert der Menschheitsgeschichte, das »Jahrhundert der Kolonien« und vor allem das »Jahrhundert der Rassen« nicht zu Ende, dem das Verdienst zukomme, ein für alle Mal die naiven »Weltverbrüderungsideen des 18. Jahrhunderts« und die Mythologie des gemeinsamen Ursprungs und der Einheit des Menschengeschlechts widerlegt zu haben; das sei aber gerade das ideologische Rüstzeug, an dem die »Sozialisten«, trotz der klaren Dementis der Ge schichte und der Wissenschaft noch pathetisch festhielten.[546] So drückt sich im Jahre 1898 der Deutsch-Engländer Houston S. Chamberlain aus, den später gerade Hitler besonders schätzen, der aber damals im ganzen Westen umjubelt wird. Auch zum Verständnis des Nazismus muss man also in erster Linie das politische Projekt, das ihm zugrunde liegt, untersuchen, und dieses politische Projekt verweist keineswegs nur auf eine einzelne kriminelle bzw. verrückte Persönlichkeit, sondern bezieht, über Deutschland und den Nazismus hinaus, auf verschiede ne Weise andere Länder und andere politische Bewegungen mit ein. In diesem Sinn ist, abgesehen natürlich vom künstlerischen Aspekt, Bertolt Brechts Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui nicht über zeugend. Zur Erklärung der Persönlichkeit Hitlers wird hier auf eine literarische Gattung (die Kriminalgeschichte) rekurriert, die irreführend ist. Auf diese Weise wird eine moralische Evidenz vorausgesetzt, die in Wahrheit nachträglich konstruiert wird. Der Nazismus wurzelt in einer historischen Zeit, in der die ›Evidenz‹ höchstens die Hierarchisierung der Rassen und ein kolonialer Expansionismus, oft im Zeichen genozidaler Praktiken, sind.

Diese Tradition zu einem Zeitpunkt zu übernehmen, in der sie scharf kritisiert zu werden beginnt, und sie so weit zu radikalisieren, dass sie auch auf Osteuropa angewandt werden soll, ist sicherlich eine furchtbare Eskalation, aber genau um eine Eskalation handelt es sich und nicht um eine Schaffung aus dem Nichts. Weit verbreitet war in der Kultur des 19. Jahrhunderts die Idee der rassischen »Vernichtung«, die – so betonte Disraeli – Ausdruck »eines unwiderstehlichen Gesetzes der Natur« sei. Am Jahrhundertende beklagte Spencer: »Wir sind in eine Epoche des sozialen Kannibalismus eingetreten, in der die stärksten Nationen die schwächsten fressen«. Um die Jahrhundertwende gab es in den USA sogar Aufrufe zur »Endlösung«, zur »endgültigen und vollständigen Lösung« der Indianer- und der Schwarzenfrage.[547] Zur gleichen Zeit forderte in Kanada eine einflussreiche Persönlichkeit der Regierung die »Endlösung unserer Indianerfrage«.[548] Das Grauen und die Schande der Eskalation bleiben, aber angeregt wird diese vom Scheitern des Versuchs, ein überseeisches Kolonialreich zu errichten, ein Versuch, der bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs sogleich von der überlegenen britischen Flotte zunichte gemacht wurde, die eine Seeblockade über Deutschland verhängte, die auch für die Zivilbevölkerung verheerend und mörderisch war. Folglich: Sollte man sich weiterhin dieser furcht baren Gefahr aussetzen oder um jeden Preis ein kontinentales Reich errichten, sicher mit Massakern und genozidalen Praktiken, aber zum Nachteil niederer Rassen und jedenfalls dem klassischen und konsolidierten Modell des kolonialen Expansionismus des Westens folgend?

Nach Ausschaltung jedes politischen Projekts werden in der herrschenden Ideologie die Schandtaten des Dritten Reichs ebenfalls zur Manifestation der erschreckenden Krankheit mysteriösen Ursprungs, die ›Totalitarismus‹ heißt. So ist der Weg der Gleichsetzung Stalins mit Hitler geebnet. Überflüssig (und vielleicht hinderlich) wird deshalb die Analogie zwischen »Panslawismus« und »Pangermanismus«, auf der Arendt besteht, eine Analogie, die aber heute keinen besonderen Er folg zu haben scheint. Alles dreht sich um zwei (kranke und kriminelle) Persönlichkeiten, über die manchmal parallele Biographien verfasst werden.[549]

Was in solchen Texten am meisten auffällt, ist die Abwesenheit der Geschichte und in gewissem Sinn sogar der Politik: Es verschwinden der Kolonialismus, der Imperialismus, die Weltkriege, die nationalen Befreiungskämpfe, die unterschiedlichen und gegensätzlichen politischen Pläne. Man fragt sich nicht einmal nach den Beziehungen des liberalen Westens zum Faschismus und Nazismus (die sich als Verfechter des authentischen und konsequenten Okzidents aufspielen) einerseits und zum russischen Ancien Régime andererseits, dessen Widersprüche seit langem eine entsetzliche Katastrophe ankündigen. All das wird im Wesentlichen in den Schatten gestellt, von der absoluten Zentralität, die zwei schöpferischen, wenn auch unheilvoll schöpferischen Persönlichkeiten erteilt wird.

3. Das Theorem der Wahlverwandtschaft zwischen Stalin und Hitler

Diese beiden Persönlichkeiten – so wird fabuliert – seien nicht nur moralisch und politisch gleichwertig, sondern auch durch eine Art gegen seitige Anziehung miteinander verbunden. Zum Beweis dafür wer den der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt und die Festlegung der gegenseitigen Einflusssphären angeführt. In Wahrheit setzt dieser Pakt dem Brest-Litowsker Diktat ein Ende und ist außerdem nur eine Etappe eines widersprüchlichen Prozesses der Festlegung der Einflusssphären seitens der Großmächte, der in München beginnt und (provisorisch) in Jalta zum Abschluss kommt.[550] Nur wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sieht 1946 Ernest Bevin, eine Persönlichkeit der Labour Party von erstem Rang und englischer Außenminister, die Welt tendenziell aufgeteilt »in Einflusssphären, die besser als die drei großen Monroe-Doktrinen bezeichnet werden können« und respektive von den USA, von der UdSSR und von Großbritannien gefordert und geltend gemacht werden.[551] Löst sich die britische rasch auf, so protestiert John F. Kennedy nach dem ruhmlosen Abenteuer in der Schweine bucht noch 1961 in einem Gespräch in Wien gegenüber Chruschtschow gegen den Verlauf und die Dynamik der kubanischen Revolution: Die USA könnten kein Regime tolerieren, das beansprucht, ihre Hegemonie in der »westlichen Hemisphäre« in einer »Zone vitalen Interesses« zu schwächen, so wie die UdSSR eine Herausforderung ihrer Hegemonie in ihrer Sicherheitszone in Osteuropa nicht dulden könne.[552]

Natürlich kann man die auf der Grundlage der Geheimprotokolle des deutsch-sowjetischen Pakts vorgenommene Festlegung der Einflusssphären besonders widerwärtig finden und den Zynismus dieses Handelns kritisieren, das es Stalin erlaubt, sowohl Zeit als auch Raum zu gewinnen; doch es ist recht schwierig, diese Verurteilung mit der These der gegenseitigen Anziehung der beiden Diktatoren, mit dem Theorem der Wahlverwandtschaft in Einklang zu bringen. In Wahrheit begrüßt Churchill, gleich nachdem Nazideutschland den Krieg entfesselt hatte, den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ostpolen. An die Führung Lettlands gewandt, begründet wenig später Stalin mit äußerster Deutlichkeit seine Politik im Baltikum: »Die Deutschen könnten angreifen. Sechs Jahre lang haben sich deutsche Faschisten und Kommunisten gegenseitig verflucht. Jetzt hat sich, der Geschichte zum Trotz, eine unerwartete Wende eingestellt, aber man kann sich nicht auf sie stützen. Wir müssen rechtzeitig vorbereitet sein. Andere, die nicht vorbereitet waren, haben teuer dafür bezahlt«. Nur allmählich, auch von der Notwendigkeit diktiert, die Machenschaften des Dritten Reichs in der Region zu vereiteln, verwandelte sich das militärische Protektorat, mit dem Moskau sich anfangs zu begnügen schien, in eine richtige Annexion:[553] So werden die Amputationen radikal infrage gestellt, die Sowjetrussland in der Periode seiner größten Schwäche erlitten hatte, während sich gleichzeitig in der neuen Führungsspitze die Tendenz verstärkt, ohne übermäßige Einschränkungen das Erbe der internationalen Politik des zaristischen Russland anzutreten.

Bei der üblichen Beurteilung des deutsch-sowjetischen Pakts fehlen vollkommen jene Fragen, die seinem Verständnis vorausgesetzt wären: Welche Abkommen sind vom Dritten Reich vorher geschlossen worden? Wie soll man den Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und der Sowjetunion weniger als zwei Jahre später erklären, und welche Pläne schmiedete die Nummer zwei des Naziregimes (Rudolf Heß), die am Vorabend des Unternehmens Barbarossa auf abenteuerliche Weise in England landete?

In dem Wettbewerb, einen Kompromiss bzw. eine Übereinkunft mit dem neuen Regime, das sich in Berlin etabliert hat, zu erzielen, ist Stalin entschieden als Letzter an der Reihe. Auf den 20. Juli 1933 geht das Konkordat zwischen Deutschland und dem Heiligen Stuhl zurück, das der neuen »verfassungsmässig gebildeten Regierung« die Loyalität der deutschen Katholiken zusichert. Eine Anerkennung, die nur kurze Zeit nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes mit seinem Griff zum Terror und nach dem Entstehen des Rassenstaats mit den ersten Maßnahmen gegen Beamte ›nicht arischer Herkunft‹ erfolgt. Zwei Wochen zuvor hatte sich die katholische Zentrumspartei aufgelöst, deren Anhänger sich verpflichteten, »der unter Führung des Herrn Reichskanzlers stehenden Nationalen Front zur positiven Mitarbeit« zur Verfügung zu stehen.[554] Was die protestantische Welt betrifft, darf man nicht vergessen, dass die Deutschen Christen schon gleich nach der Machtübernahme für Hitler Partei genommen haben: Sie passen das Christentum den Bedürfnissen des Dritten Reichs an, indem sie die Reformation nationalistisch und sogar rassistisch neu interpretieren, um eine Kirche theoretisch zu fundieren, die mit der deutschen »Volksgemeinschaft« verschmolzen ist und sich auf die »Anerkennung der Verschiedenheit der Völker und Rassen als eine von Gott gewollte Ordnung gründet«.[555]

Ähnlich schnell ist auch die zionistische Bewegung bereit, sich um die Gunst der neuen Regierenden zu bemühen. Die »Jüdische Rund schau«, das Blatt der Zionisten, blieb von der Verbots- und Verfolgungswelle, die die deutsche Presse gleich nach dem Reichstagsbrand traf, praktisch unbehelligt. Nur wenige Wochen später, am 7. April, ruft die Zeitung Zionisten und Nationalsozialisten dazu auf, »ehrliche Partner« zu sein. Das alles führte 1935 zum Abkommen über die »Übersiedlung« von 20.000 Juden nach Palästina, denen es erlaubt war, fast 30 Millionen Dollar mitzunehmen, was der Kolonisierung und dem Prozess, der später zur Errichtung des Staates Israel führen würde, einen starken Impuls gab.[556] Später versucht auch der Großmufti von Jerusalem, sich als Reaktion auf das Abkommen zur »Übersiedlung« bei Hitler einzuschmeicheln. Gehen wir jetzt zu den politischen Parteien der Opposition über. »Ausgesprochen schwach« sei die Rede des sozialdemokratischen Abgeordneten und Parteivorsitzenden Otto Wels in der Reichstagssitzung gewesen, die Hitler außerordentliche Vollmachten zugestand.[557] Vor der nunmehr an der Macht befindlichen Barbarei warnt in erster Linie die Kommunistische und »Stalinsche« Partei, die auch den Widerstand organisiert.

1935 ist auch das Jahr des Flottenabkommens zwischen Großbritannien und Deutschland. Sein Abschluss nach dem Ankurbeln einer fieberhaften Aufrüstung und der Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland beflügelt Hitlers Hoffnungen, ein strategisches Über einkommen mit der Anerkennung der Flottenüberlegenheit Großbritanniens und der gegenseitigen Achtung der beiden großen »germanischen« Reiche zu erzielen: Das überseeische britische und das kontinentale deutsche, das mit der Kolonisierung Osteuropas und der Unterwerfung der Slawen zu errichten sei. Mit Recht wurde diesbezüglich von einer »zynischen Haltung« Londons gesprochen, das den Eindruck erweckt, ein infames Programm zu bestätigen, das schon klar und deutlich in Mein Kampf dargelegt war.[558] Die wachsenden Befürchtungen Moskaus, die starke Gereiztheit von Paris[559] und die unbändige Freude Hitlers, der jetzt das feiern kann, was er seinen »glücklichsten Tag« nennt, verwundern nicht.[560]

Noch beunruhigender ist die Rolle Polens. Wie festgestellt worden ist, wird es nach Unterzeichnung des zehnjährigen Nichtangriffspakts vom 26. Januar 1934 »insgesamt subaltern gegenüber der deutschen Politik«. Ein Jahr später erklärt der Außenminister Beck seinem Stellvertreter: »Es gibt zwei politische Formationen, die zweifellos zum Ver schwinden verurteilt sind, Österreich und die Tschechoslowakei«.[561] Die Übereinstimmung mit dem Programm Hitlers ist offensichtlich und es handelt sich nicht nur um Worte: »Das Ultimatum, mit dem Polen von der Tschechoslowakei die Rückgabe Teschens forderte, veranlasste Benesch, nach seinen eigenen Angaben, endgültig dazu, jede Idee fallen zu lassen, sich der Münchner Regelung zu widersetzen. Polen war bis dahin für Deutschland ein nützlicherer Schakal im Osten gewesen, als Italien im Mittelmeergebiet«. Das Münchner Abkommen bedeutet nicht das Ende der Zusammenarbeit der Warschauer Regierung mit dem Dritten Reich: »Wenn Hitler wirklich in der Ukraine ankommen wollte, musste er Polen durchqueren; und im Herbst 1938 schien das keineswegs eine politische Phantasie zu sein«.[562] Es schien sogar eine Ermutigung von Seiten Warschaus zu geben. Im Januar des darauffolgenden Jahres er klärte Beck während eines Gesprächs mit Hitler: Polen »mißt den so genannten Systemen der Sicherheit keinerlei Bedeutung bei«.[563]

Stalin hatte allen Grund, besorgt und beängstigt zu sein. Vor dem Münchner Abkommen hatte der US-amerikanische Botschafter in Frankreich, William C. Bullitt, darauf hingewiesen, dass es das wichtigste sei, den »asiatischen Despotismus« zu isolieren und die »europäische Zivilisation« vor einem Bruderkrieg zu retten. Nach dem von Hitler erzielten Triumph hatte ein englischer Diplomat in sein Tagebuch notiert: »Von einem auf das Herz Deutschlands gerichteten Dolch wird die Tschechoslowakei jetzt ganz schnell in einen Dolch gegen die lebenswichtigen Organe Russlands verwandelt«.[564] Bei der in das Münchner Abkommen mündenden Krise ist die UdSSR das einzige Land gewesen, das das Dritte Reich herausgefordert und seine Unterstützung der Prager Regierung bestätigt hat, da es mehr als 70 Divisionen in Kampfbereitschaft versetzte. Später, nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei, die das Dritte Reich im März 1939 vervollständigte, hatte Moskau eine scharfe Protestnote in Berlin eingereicht.[565] Viel ›zurück haltender‹ war die Reaktion der anderen Hauptstädte. Folglich: Die faschistischen Aggressoren hatten nacheinander Äthiopien, Spanien, die Tschechoslowakei, Albanien und in Asien China dank der direkten Beihilfe bzw. der Passivität der Westmächte verschlungen, die dazu tendierten, die weiteren Ambitionen und expansionistischen Absichten des Dritten Reichs auf das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Land zu lenken; im Osten spürt die Sowjetunion den Druck, den Japan auf seine Ostgrenzen ausübt. Es zeichnet sich so die Gefahr der Invasion und des Krieges an zwei Fronten ab: Erst jetzt beginnt Moskau, sich in Richtung auf den Nichtangriffspakt mit Deutschland zu bewegen, wobei es das Scheitern der Volksfrontpolitik konstatieren muss.

Von ihm überzeugt und entschieden vorangebracht, kam Stalin die Volksfrontpolitik teuer zu stehen. Sie hatte die trotzkistische Opposition und Agitation besonders in den Kolonien gestärkt: Welche Glaubwürdigkeit konnte ein Antikolonialismus haben, der – so lautete die Anklage – die wichtigsten damaligen Kolonialmächte verschonte, um das Feuer auf ein Land, und zwar Deutschland, zu konzentrieren, das in Versailles sogar die wenigen Kolonien, die es zuvor besaß, verloren hatte? Vor allem für die Kolonialvölker selber war es schwierig, die Wendung zu akzeptieren. England war reichlich verrufen. Im Frühjahr 1919 hatte es sich nicht nur des Massakers von Amritsar schuldig gemacht, das Hunderte von wehrlosen Indern das Leben gekostet hatte, sondern auch »öffentliche Auspeitschungen«, eine entmenschlichende Kollektivstrafe und eine furchtbare nationale und rassische Demütigung in die Wege geleitet, als es die Einwohner der Stadt »dazu zwang, auf allen vieren nach Hause zurückzukehren oder das Haus zu verlassen«.[566] Später, während der Zweite Weltkrieg sich ausbreitete, unter drückte die imperiale Regierung die Unabhängigkeitsdemonstrationen mit dem Maschinengewehrfeuer der Luftwaffe (vgl. unten Kap. 6, § 4). Es sind dies die Jahre, in denen Gandhi behauptet: »In Indien haben wir eine, wenn auch sanfter verkleidete Hitlersche Regierung«. Und weiter noch: »Hitler ist die ›Sünde Großbritanniens‹ gewesen. Hitler ist nur die Antwort auf den britischen Imperialismus«.[567] Nach Kriegsende geht Gandhi sogar so weit, Subhas Chandra Bose zu ehren, der, nur um die Unabhängigkeit zu erreichen, an der Seite der Achsenmächte gekämpft hatte: »Subhas war ein großer Patriot und hat sein Leben für das Wohl des Landes gegeben«.[568]

Zum Schluss: Für die Sowjetunion ist es nicht leicht gewesen, die Idee durchzusetzen, dass, dem Anschein zum Trotz, auch für die Völker der Kolonien die Hauptgefahr die nazifaschistische Koalition, die Ach se Deutschland-Japan-Italien und besonders das Dritte Reich bildete, das entschieden war, die koloniale Tradition auch mit extremen Mitteln wieder aufzunehmen und zu radikalisieren. Für Länder wie England und Frankreich brachte die Volksfront-Politik einen viel geringeren Aufwand mit sich und dennoch hatten sie diese boykottiert. So blieb der UdSSR keine andere Wahl als das Übereinkommen mit Deutschland, eine Taktik, die als »eine dramatische Improvisation des letzten Augenblicks« bezeichnet wurde, auf die Moskau »am unmittelbaren Vorabend eines neuen europäischen Krieges« in Ermangelung von Alternativen zurückgegriffen habe.[569]

So tritt eine Wendung ein, die im Allgemeinen ausschließlich mit Blick auf Europa beurteilt wird. Es gibt aber keinen Grund, die Auswirkungen in Asien zu ignorieren. Mao Zedong bringt seine Genugtuung zum Ausdruck: »Im Osten versetzte dieser Vertrag Japan einen Schlag und erwies China eine Hilfe«, weil er »der Sowjetunion größere Möglichkeiten gibt«, den »Widerstandskrieg Chinas gegen die japanische Aggression« zu unterstützen.[570] Genau deshalb hält die japanische Regierung das Verhalten Berlins für »verräterisch und unverzeihlich«.[571] Russische Waffen und Munition werden tatsächlich reichlich nach China geliefert. Ganz anders die Haltung des Westens:

Ein dunkler Fleck im großen Buch der Geschichte ist die Indifferenz, mit der Europa und Amerika, die offensichtlich die Realität nicht klar vor Augen hatten, davon absahen, spontan irgend etwas zu unternehmen, um den japanischen Faschisten den Weg zu versperren; doch was noch schlimmer ist, die Vereinigten Staaten haben weiterhin Erdöl und Benzin bis fast zum großen Angriff von Pearl Harbour an Japan geliefert.[572]

Lassen wir jetzt Asien beiseite, um uns auf Europa zu konzentrieren. Das gegenseitige Misstrauen zwischen der Sowjetunion und dem Dritten Reich und beider Vorbereitung auf den frontalen Zusammenstoß sind auch während der Monate des Nichtangriffspakts keineswegs verschwunden. Noch vor der Unterzeichnung des Vertrags stellt Hitler in einem Gespräch mit dem Völkerbundkommissar für Danzig klar:

Alles, was ich unternehme, ist gegen Rußland gerichtet; wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit diesen Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen und dann nach seiner Niederlage mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden.[573]

Nach dieser Unterredung zu schließen, war es das ständige Ziel Hitlers, ein westliches Bündnis unter der Führung Deutschlands zur Niederwerfung der Sowjetunion zu errichten; wenn es nicht gelingt, dieses Bündnis mit einem präventiven Übereinkommen zu schließen, dann bleibt nichts anderes übrig, als es den widerspenstigen Partnern nach ihrer Niederlage aufzuzwingen; das vorläufige Übereinkommen mit Moskau ist nur ein Hilfsmittel, um den Sieg zu erringen und auf diese Weise das notwendige westliche Bündnis zur endgültigen Abrechnung mit dem Bolschewismus zu realisieren. Der Nichtangriffspakt dient der Erreichung des bleibenden und Hauptziels des Dritten Reichs, das das Unternehmen Barbarossa entfesselt und dieses als einen Kreuzzug für Europa hinstellt, zu dem europäische Länder und Völker beitragen sollen und tatsächlich auf unterschiedliche Weise und mit menschlichem und materiellem Einsatz auch beitragen.

Rechnete Stalin auf eine ewige bzw. lange Dauer des Pakts? In Wahrheit war er sich von Anfang an über die Unausweichlichkeit des Zusammenpralls mit Nazideutschland im Klaren: »Wir werden vom Krieg ein wenig länger verschont bleiben«.[574] Er nützte die so gewonnene Zeit, um die Position seines Landes zu konsolidieren. Schon im November 1939 ist für Hitler das von den Kommunisten regierte Land darum bemüht, sich militärisch zu stärken, und bereit, den Vertrag nur je nach den Umständen und den Zweckmäßigkeiten zu respektieren.[575] Dieser Punkt wird vom Führer zwei Monate später bekräftigt: Stalin sei vorsichtig, er sei sich über die Kräfteverhältnisse klar, aber er warte eindeutig auf »für Deutschland schwierige Situationen«; auch die Meteorologie verliere er nicht aus den Augen und werde »immer unverschämt« in den Wintermonaten, wenn er sich vor der gewaltigen Kriegsmaschine des Dritten Reichs besser geschützt fühlt.[576]

Die Befürchtungen des Führers sind keineswegs unbegründet. Nehmen wir uns die Haltung Moskaus gegen Ende des Sommers 1940 vor, als das Dritte Reich, nach Vervollständigung der triumphalen Besetzung Frankreichs dabei zu sein schien, auch England zur Kapitulation zwingen zu können:

Während Stalin in dieser Weise Hitler gegenüber seinen Glauben an einen raschen Kriegsausgang bekundete, waren seine diplomatischen Vertreter und Agenten im Ausland überall sorgsam darauf bedacht, jede Regung des Widerstands gegen die »Neue Ordnung« zu unterstützen. Die Zeitungen in Moskau, die bisher nur unfreundliche Bemerkungen über die Alliierten gebracht hatten, fingen jetzt an, die Schlacht über England mit einem für England sympathischen Unterton darzustellen und sogar die französischen Patrioten in ihrem Widerstand gegen die Unterdrücker ihres Vaterlandes zu ermutigen. Schon vorher hatte das deutsche Auswärtige Amt in Moskau gegen die antinazistische Propaganda der russischen Gesandtin in Schweden protestieren müssen.[577]

Vielsagend ist ein Gespräch, das am 25. November 1940 zwei enge Mitarbeiter Stalins führen:

D(imitroff): Wir streben die Zersetzung der deutschen Okkupationstruppen in den verschiedenen Ländern an, und diese Aktivitäten wollen wir, ohne es an die große Glocke zu hängen, noch verstärken. Wird das die sowjetische Politik nicht behindern? M(olotow): Selbstverständlich muß man das tun. Wir wären keine Kommunisten, wenn wir diesen Kurs nicht einhalten würden. Nur muß es lautlos geschehen.[578]

Mit diesem Kurs ist auch Stalin einverstanden.[579] Er ist eindeutig bemüht, den Widerstand gegen den Expansionismus des Dritten Reichs zu fördern. Das ist natürlich ein Kollisionskurs, und Stalin ist sich dessen bewusst, wie aus seinen Beobachtungen und aus den von ihm erteilten Anordnungen hervorgeht. 7. November 1940: Man muss militärisch auf der Höhe »unserer Gegner (und das sind alle kapitalistischen Länder, auch jene, die sich als unsere Freunde ausgeben!)« sein.[580] 25. November des gleichen Jahres: »Unsere Beziehungen zu den Deutschen sind nach außen höflich, doch gibt es zwischen uns ernst zu nehmende Reibungen«.[581]

In den ersten Monaten des Jahres 1941 beginnt auch der Schein zu zerrinnen: »Jedes Zeichen des Widerstands gegen Hitler wurde jetzt (von Moskau) ermutigt«. Dies stimmt besonders, was den Balkan betrifft, wo der Interessenkonflikt zwischen den beiden Unterzeichnern des zwei Jahre zurückliegenden Nichtangriffspakts immer akuter wird. Stalin empfängt im Kreml den jugoslawischen Botschafter in Moskau und diskutiert und definiert mit ihm, wie man der Politik des Dritten Reichs entgegentreten solle. Angenehm überrascht von dieser Kühnheit gegenüber den angehenden Herren der Welt, formuliert der Vertreter Belgrads eine Frage: »Und wenn die Deutschen sich ärgern und euch angreifen?« Prompt folgt die Antwort: »Sie sollen nur kommen«[582] Auf den Abschluss des Freundschaftsvertrags zwischen der UdSSR und Jugoslawien am 4. April 1941 folgt unmittelbar die Invasion dieses Landes durch die Hitlertruppen. Wenige Tage später gibt Dimitroff wieder, was auch die Meinung des sowjetischen Führers ist, indem er (am 18. April 1941) in seinem Tagebuch notiert: »Der Krieg des griechischen und jugoslawischen Volkes gegen die imperialistische Aggression ist ein gerechter Krieg«, darüber gibt es »keine Bedenken«.[583] Der Zusammenprall mit dem Dritten Reich zeichnet sich immer deutlicher am Horizont ab. Am 5. Mai 1941 merkt Stalin an: »Ist die deutsche Armee unbesiegbar? Nein. Sie ist nicht unbesiegbar (…) Aber jetzt setzt Deutschland den Krieg unter dem Banner der Unterwerfung, der Unterdrückung anderer Völker, unter dem Banner der Hegemonie fort. Das ist ein großes Minus für die deutsche Armee«.[584]

Hatte die Annäherung zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion in den nazistischen Reihen und besonders bei Rosenberg (»ich habe das Gefühl, als ob sich dieser Moskau-Pakt irgendwann am Nationalsozialismus rächen wird«) beachtliches Unbehagen hervorgerufen, so erweckte das Unternehmen Barbarossa ein Gefühl der Erleichterung: »Ein Flecken auf unserem Ehrenschild« wird abgewaschen, schrieb Goebbels in sein Tagebuch.[585] Sogar der Führer schreibt an Mussolini: »Ich fühle mich (…) innerlich frei«; die »Seelenqualen« und der Eindruck eines »Bruchs mit meiner ganzen Herkunft, meinen Auffassungen und meinen früheren Verpflichtungen«, die Gefühle, die den Nichtangriffspakt begleitet hatten, waren verschwunden. Hitler – kommentiert ein zeitgenössischer Historiker – gelangt endlich zu dem »Konflikt«, der seit fast zwei Jahrzehnten »ein zentrales Element seines Denkens« und sogar seiner »Psyche« ausmachte. Seit jeher ersehnt, würde die Vernichtung des orientalischen und asiatischen Bolschewismus es ermöglichen, unter den von Berlin diktierten Bedingungen, eine Neubildung der Einheit des Westens und der weißen Rasse und besonders ein permanentes Einvernehmen mit dem »britischen Empire« zu erlangen, das für den Führer weiterhin das »vor trefflichste Modell der Herrschaft und der Ausbeutung« darstellte.[586] Wenn Arendt behauptet, dass Hitler »niemals die Absicht hatte, das ›Abendland‹ gegen den Bolschewismus zu verteidigen«, und dass er im Gegenteil »zur Vernichtung des Westens immer bereit blieb, mit den ›Roten‹ zusammenzugehen«, so huldigt sie nur der Ideologie des Kalten Krieges.[587]

Tatsächlich hatte die Führung des Dritten Reichs nicht Unrecht, sich erleichtert zu fühlen, weil sie mit dem Unternehmen Barbarossa endlich dem wahren Antagonisten, dem ewigen Feind entgegentreten und (so hoffte sie) ihn liquidieren konnte. Schon vor der Machtübernahme der Nazis hatte Stalin am 12. Januar 1931 den Antisemitismus als eine Art »Kannibalismus« gebrandmarkt (vgl. unten, Kap. 5, § 9). Auf den Anbruch des Dritten Reichs hatte er am 26. Januar 1934 mit einer scharfen Stellungnahme gegen den Faschismus und vor allem gegen den »Faschismus deutschen Schlages« reagiert: »Wieder rücken, wie im Jahre 1914, Parteien des kriegslüsternen Imperialismus, Kriegs- und Revancheparteien, in den Vordergrund«. Der »neue Krieg«, der sich am Horizont abzeichne, kündige sich als besonders barbarisch an: Man sagt, »dass eine ›höhere Rasse‹, sagen wir die germanische ›Rasse‹, den Krieg gegen eine ›niedere Rasse‹, vor allem gegen die Slawen organisieren müsse«.[588] Stalin hat später, am 25. November 1936, diesen Begriff anlässlich der Präsentation der neuen Verfassung der UdSSR bestätigt, die von ihm, wegen ihres »zutiefst internationalen« Charakters den »bürgerlichen Verfassungen« entgegengestellt wird. Diese »gehen stillschweigend von der Voraussetzung aus, dass die Nationen und Rassen nicht gleichberechtigt sein können«. Es stimmt zwar, dass hier der Diskurs allgemein gehalten war, wie aus der Bezugnahme auf die »Kolonien« und auf die auf die »Unterschiede in der Hautfarbe« gegründeten Diskriminierungen hervorgeht, aber es ist klar, dass die Hauptzielscheibe Nazideutschland war, das die Rassenideologie zur Staatsdoktrin erhoben hatte. Es ist kein Zufall, dass Stalin auf dem Prinzip der Gleichheit der Nationen bestand, »unabhängig von ihrer Kraft oder Schwäche«:[589] Damals war das Dritte Reich der Verfechter des Sozialdarwinismus auf internationaler Ebene. Noch wenige Monate vor dem Kriegsausbruch in Europa warnte Stalin am 10. März 1939 die Westmächte davor, dass ihr »großes und gefährliches politisches Spiel«, den expansionistischen Druck des Dritten Reichs »nach Osten, gegen die Sowjetunion« zu lenken, zu einem »ernsten Fiasko« (und das heißt zu einem Nichtangriffspakt zwischen Moskau und Berlin) führen könne. Deshalb rief er dazu auf, dem appeasement, also jener Politik ein Ende zu setzen, die »den Aggressoren ein Zugeständnis nach dem anderen« mache, um stattdessen eine gemeinsame Front gegen die Kriegsprovokateure zu bilden.[590]

Indem sie den hier summarisch aufgezeichneten historischen Zusammenhang völlig verdrängt, formuliert Arendt das Theorem von der Wahlverwandtschaft zwischen Stalin und Hitler: Der einzige Mann, dem Stalin vertraute, sei Hitler, und der einzige von Hitler bewunderte Mann sei Stalin gewesen (vgl. unten, Kap. 7, § 3). Nach dem, was wir berichtet haben, klingt es unfreiwillig komisch, von Vertrauen zwischen den beiden zu reden, während Arendts These von der »hitlerfreundlichen Politik Stalins« eine banale Anpassung an die Ideologie des Kalten Krieges ist.[591] In Moskau im Jahre 1937 – beobachtet Feuchtwanger – »rechnet jedermann mit dem unmittelbar bevorstehenden Krieg als mit einer hundertprozentigen Sicherheit« und erblickt in dem »deutschen Faschisten« den Feind. Der Grund dafür ist klar: »Unsere bloße, von Tag zu Tag blühendere Existenz, sagen die Sowjetleute, ist eine so augenscheinliche Widerlegung aller faschistischen Theorien, dass die faschistischen Staaten, wenn sie selber leben wollen, uns vernichten müssen«.[592] Hier wird präzis der Vernichtungskrieg vorausgesehen, der später vom Dritten Reich entfesselt werden wird; weit entfernt nachzulassen, verstärken sich die Vorbereitungen darauf, bis sie in den Monaten des Nichtangriffspakts sogar hektisch werden.

Es stimmt zwar, dass Hitler nach Beginn des Unternehmens Barbarossa gelegentlich die politischen und militärischen Fähigkeiten seines großen Antagonisten hervorhebt: Ist dies die Bestätigung des Theorems von der Wahlverwandtschaft? Im Verlauf der Konferenz von Teheran polemisierte Stalin freundschaftlich gegen Franklin D. Roosevelt (der dazu tendierte, Hitler psychopathologisch zu deuten) und unterstrich indessen, dass der gemeinsame Feind »sehr geschickt« sei und man nur so die außerordentlichen Erfolge erklären könne, die er anfangs erzielt hatte:[593] Ist dies eine weitere Bestätigung der heute Gemeinplatz gewordenen These? In Wahrheit hatte der sowjetische Führer recht und nicht der US-Präsident! Man muss eine recht primitive Auffassung von Antagonismus haben, wenn man glaubt, er müsse die Nichtanerkennung der Fähigkeiten des Feindes einschließen. Die Historiker stimmen heute überein, Hitler eine Unterschätzung der UdSSR vorzuwerfen, und Arendt geht hingegen von ihrer verspäteten und partiellen Einsicht aus, um das Theorem der Wahlverwandtschaft zu konstruieren.

Hitler wird außerdem einseitig zitiert. Gut verständlich ist sein Wunsch, die unerwarteten Misserfolge bzw. Niederlagen an der Ostfront, die den Mythos von der Unbesiegbarkeit des Dritten Reichs und der Wehrmacht demütigend widerlegten, mit den ungewöhnlichen Eigenschaften des neuen Feindes zu erklären. Diese Eigenschaften werden aber keineswegs immer schmeichelhaft beschrieben. Schon am 15. Juli 1941 urteilt Hitler, während er den erbitterten Widerstand, auf den das Unternehmen Barbarossa stößt, kommentiert: »Diese Gegner seien keine Menschen mehr«. Und die Meinung ihrer Chefs übernehmend, schreibt eine seiner Sekretärinnen an eine Freundin: Man kann sagen, »dass wir gegen wilde Tiere kämpfen«.[594] Zu diesen »wilden Tieren« gehört natürlich auch Stalin, der bei anderer Gelegenheit von Hitler, zur Bestätigung des »satanischen« Charakters des Bolschewismus, als ein Wesen aus der »Unterwelt« betrachtet wird.[595] Auf der Gegenseite werden wir noch feststellen können, dass Stalin sowohl vor als auch während des Krieges Hitler als den Verfechter des antisemitischen »Kannibalismus« bzw. einer auf den »Rassenhass« gegründeten »kannibalischen Politik« kritisiert.

Es muss hinzugefügt werden, dass ein positives Urteil über den sowjetischen Führer auch von Persönlichkeiten ersten Ranges des liberalen Westens, Churchill inbegriffen, der auch menschlich ein Gefühl der Sympathie äußert (vgl. oben, Vorwort), formuliert wird. Und wenn Franklin D. Roosevelt von den »großartigen Fortschritten des russischen Volkes« spricht, ehrt er indirekt auch denjenigen, der es anführt.[596] Schließlich heben heutzutage auch bedeutende Historiker die außerordentlichen politischen und militärischen Fähigkeiten Stalins hervor, ohne deshalb diejenigen Hitlers zu unterschätzen. Sollten wir alle diese untereinander so verschiedenartigen Persönlichkeiten in das Theorem der Wahlverwandtschaft einfügen? Indem Arendt und diejenigen, die sich in ihrem Kielwasser bewegen, dieses Theorem aufstellen, gleiten sie in Wahrheit von der Ebene der historischen und philosophischen Forschung auf die der Belletristik ab.

4. Der ukrainische Holocaust als Ausgleich für den jüdischen Holocaust

Die beiden kriminellen Persönlichkeiten, die durch Wahlverwandtschaft miteinander verbunden sind, bringen zwei Konzentrationslager-Universen hervor, die sich sehr ähnlich sehen: So geht die Konstruktion der politischen Mythologie vor, die heute gang und gäbe ist. Um die Wahrheit zu sagen, ist der Diskurs Arendts, obwohl sie diese Denkrichtung eingeleitet hat, differenzierter. Einerseits weist sie, wenn auch recht summarisch, auf die »totalen Herrschaftsmethoden« hin, die von den Konzentrationslagern vorab angekündigt werden, in die das liberale England die Buren einsperrte, oder auf die »totalen« Elemente, die in den Konzentrationslagern vorhanden sind, die das Frankreich der Dritten Republik »nach dem Ende des spanischen Bürgerkrieges« errichtete. Im Übrigen macht Arendt bei ihrem Vergleich zwischen Stalins UdSSR und Hitlerdeutschland einige wichtige Unterschiede geltend: Nur in Bezug auf das zweite Land spricht sie von »Vernichtungslagern«. Mehr noch: »Die sowjetrussischen Wachmannschaften im Unterschied zu den SS-Kommandeuren waren nicht speziell auf Verbrecher trainiert«. Was von der Analyse einer Zeugin bestätigt wird, die die tragische Erfahrung beider Konzentrationslager-Universen durchgemacht hat: »Die Russen manifestierten nie den Sadismus der Nazis (…). Unsere russischen Wächter waren ehrbare Menschen und keine Sadisten, aber sie beachteten gewissenhaft die Regeln des unmenschlichen Systems«.[597] In unseren Tagen sind die auch nur oberflächliche Bezugnahme auf den liberalen Westen und der Hinweis auf die verschiedenen Konfigurationen des Konzentrationslager-Universums verschwunden und der ganze Diskurs dreht sich um die Gleichsetzung von Gulag und deutschem Konzentrationslager.

Damit diese Gleichsetzung überzeugend wird, bläht man vor allem die Ziffern des Stalinschen Terrors auf. Im Jahr 2007 hat eine US-amerikanische Forscherin kalkuliert, dass die wirklich erfolgten Exekutionen sich auf »ein Zehntel« der gängigen Schätzungen belaufen.[598] Das Grauen dieser auf jeden Fall groß angelegten Repression bleibt natürlich bestehen. Und dennoch ist die Leichtfertigkeit gewisser Historiker und Ideologen beeindruckend. Sie beschränken sich nicht darauf, die Zahlen zu übertreiben. Total von der Geschichte und Politik abstrahierend, kann die Konstruktion des Mythos der Zwillingsmonster noch einen Schritt weiter gehen: Dem Holocaust der von Nazideutschland an den Juden, vor allem nach dem Steckenbleiben des Krieges im Osten, begangen wurde, würde der Holocaust entsprechen, der schon zuvor (Anfang der 1930er Jahre) von Stalins Sowjetrussland an den Ukrainern (der sogenannte Holodomor) begangen worden sei; im zweiten Fall hätte es sich um eine geplante »terroristische Hungersnot« gehandelt, die schließlich zu einem »immensen Bergen-Belsen« und d. h. zu einem immensen Vernichtungslager geführt habe.[599]

Besonders Robert Conquest hat sich mit dieser These hervorgetan. Seine Kritiker halten ihm vor, seinerzeit als Desinformations-Agent beim britischen Geheimdienst gearbeitet und sich für die Bearbeitung des ukrainischen Dossiers diesen Beruf zunutze gemacht zu haben.[600] Auch seine Verehrer anerkennen einen Punkt, der nicht unwichtig ist: Conquest sei »ein Veteran des Kalten Krieges« und habe sein Buch im Rahmen einer »politisch-kulturellen Operation« verfasst, die letztendlich vom US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan geführt worden sei, und zwar mit »zahlreichen Früchten: Auf der einen Seite hat es sich bedeutend auf die internationale Debatte über den Wert und die Grenzen der Gorbatschowschen Reformen ausgewirkt, auf der anderen Seite hat es, über die Stellungnahme des Kongresses der Vereinigten Staaten, die Radikalisierung der Unabhängigkeitstendenzen der Ukraine stark beeinflusst«.[601] Anders gesagt, ist das Buch im Rahmen einer »politisch-kulturellen Operation« mit dem Ziel veröffentlicht worden, der Sowjetunion den letzten und entscheidenden Stoß zu versetzen: Sie wurde als verantwortlich für Schandtaten diskreditiert, die den vom Dritten Reich begangenen gleichkamen, und ihre Auflösung wurde dank der Erkenntnis des ukrainischen Volkes beschleunigt, Opfer des »Holocaust« gewesen zu sein, weshalb es jetzt nicht mehr mit seinen Peinigern zusammenleben könne. Man darf auch nicht vergessen, dass Conquest im gleichen Jahr wie das Buch über die Ukraine (in Zusammenarbeit mit einem gewissen J. M. White) ein weiteres veröffentlicht, in dem er seinen Mitbürgern Ratschläge erteilt, wie sie die mögliche (bzw. drohende) Invasion durch die Sowjetunion überleben könnten (What to Do When the Russians Come: A Survivalist’s Handbook).[602]

Unabhängig von den zugrunde liegenden politischen Motiven sollte eine These natürlich auf Grund der Argumente, die sie vorbringt, analysiert werden. Und die These der von Stalin geplanten »terroristischen Hungersnot« zur Ausrottung des ukrainischen Volkes dürfte glaubwürdiger sein als die, die Vereinigten Staaten Reagans liefen Gefahr, von der UdSSR Gorbatschows überfallen zu werden! Konzentrieren wir also unsere Aufmerksamkeit auf die Ukraine Anfang der 1930er Jahre. Nach der Rückkehr von einer Reise in die Sowjetunion im Jahre 1934, die ihn auch in die Ukraine geführt hatte, bestritt der französische Ministerpräsident Edouard Herriot nicht nur den geplanten Charakter, sondern auch das Ausmaß und Härte der Hungersnot.[603] Vom Ministerpräsidenten eines Landes abgegeben, das ein Jahr später einen Bündnisvertrag mit der UdSSR abschließen würde, werden diese Erklärungen im Allgemeinen für wenig glaubwürdig gehalten. Über jeden Verdacht erhaben ist jedoch das Zeugnis, das sich in den Berichten der Diplomaten des faschistischen Italien findet. Auch in den Zeiten der unerbittlichsten Repression der ›Konterrevolutionäre‹ verbindet diese sich mit Initiativen, die in eine andere und entgegengesetzte Richtung weisen: Hier die »zur Mithilfe bei den Feldarbeiten aufs Land geschickten Soldaten« oder die Arbeiter, die herbeieilen, um die Maschinen zu reparieren; parallel zur »Initiative der Zerstörung einer jeden ukrainischen separatistischen Anwandlung« entwickelt sich eine »Politik der Aufwertung der nationalen ukrainischen Charakteristiken«, die versucht, »die Ukrainer Polens zu einer möglichen oder wünschenswerten Vereinigung mit denen der UdSSR« zu stimulieren. Und dieses Ziel wird verfolgt, indem man den freien Ausdruck der ukrainischen Sprache, Kultur und Bräuche fördert.[604] Nahm sich Stalin vor, »die Ukrainer Polens« an die sowjetischen Ukrainer anzunähern, indem er Letztere durch Hungertod ausrottete? Wie es scheint, werden die sowjetischen Truppen, die gleich nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die von Polen besetzten ukrainischen Gebiete einrückten, von der lokalen Bevölkerung freudig empfangen.[605]

Betrachten wir jetzt das Bild, das aus der Stellungnahme anderer Feinde Stalins hervorgeht, die sich aber diesmal innerhalb der kommunistischen Bewegung befinden. Trotzki, der bekanntermaßen in der Ukraine geboren wurde und sich in seinen letzten Lebensjahren wiederholt mit seinem Heimatland befasst, spricht sich zugunsten der Unabhängigkeitsbewegung aus: Er verurteilt die Grausamkeit der Repression, erspart Stalin (der mehrmals mit Hitler verglichen wird) keine Anklage, deutet aber nirgendwo auf den von Moskau geplanten so genannten »Hungerholocaust« hin.[606] Trotzki betont, dass »die ukrainischen Massen von unversöhnlicher Feindschaft gegenüber der Sowjetbürokratie erfüllt sind«, erblickt aber den Grund für diese Feindseligkeit in der »Unterdrückung der ukrainischen Unabhängigkeit«. Nach der heute gängigen These zu urteilen, hätte sich der Holodomor in den ersten 1930er Jahren abgespielt; doch Trotzki zufolge hat sich »das ukrainische Problem zu Beginn dieses Jahres zugespitzt«, des Jahres 1939 nämlich.[607] Ebenso wie Stalin möchte auch der Oppositionsführer alle Ukrainer vereinigen, wenn auch jetzt nicht innerhalb der Sowjetunion, sondern in einem unabhängigen Staat: Wäre es aber sinnvoll gewesen, dieses Projekt zu formulieren und gleichzeitig den schon begangenen Genozid völlig zu verschweigen? Für Trotzki besteht die Heimtücke der Sowjetbürokratie darin: Zwar errichte sie dem großen Nationaldichter ( Taras Schewtschenko) Denkmäler, aber nur, um das ukrainische Volk zu zwingen, den Moskauer Unterdrückern in der Sprache seines großen Nationaldichters zu huldigen.[608] Wie man sieht, wird nicht von Genozid und noch nicht einmal von Ethnozid gesprochen; so hart die Verurteilung des Stalinregimes auch ausfallen mag, wird ihm weder die physische noch die kulturelle Zerstörung des ukrainischen Volkes zur Last gelegt. Seien sie nun außerhalb oder innerhalb der kommunistischen Bewegung angesiedelt, am Ende stimmen die Feinde Stalins in diesem wesentlichen Punkt überein.

Die Inkonsistenz und der instrumentale Charakter der zwischen Holodomor und »Endlösung« hergestellten Entsprechung beginnen klar zu werden. Hitler und die anderen Nazi-Größen proklamieren ausdrücklich und wiederholt, dass man zur Vernichtung der Juden übergehen müsse, die mit einem Bazillus, einem Virus, einem Krankheitserreger verglichen werden, dessen Vertilgung es der Gesellschaft ermögliche, wieder zu gesunden. Umsonst würde man solche Erklärungen in Bezug auf das ukrainische (oder jüdische) Volk bei der sowjetischen Führung suchen. Interessanter könnte es sein, die Politik der UdSSR Stalins mit der Hitlerdeutschlands jeweils in Bezug auf die Ukraine zu vergleichen. Hitler erklärt mehrmals, dass die Ukrainer, wie alle »unterworfenen Völker« von der Kultur und der Schulbildung gebührend ferngehalten werden sollten; auch ihr Geschichtsbewusstsein müsse zerstört werden; es wäre gut, wenn sie nicht einmal »Lesen und Schreiben« könnten.[609] Und das ist noch nicht alles: Man könne dort 80-90 Prozent der verarmten Bevölkerung »entbehren«.[610] Vor allem könne und müsse man vollkommen ohne die intellektuellen Schichten auskommen. Ihre Liquidierung ist die Bedingung, um das unterworfene Volk in eine er bliche Kaste von Sklaven oder Halbsklaven verwandeln zu können, die dazu bestimmt sind, im Dienst der Herrenrasse zu arbeiten und an Arbeit zu sterben. Noch besser wird das Naziprogramm von Himmler erklärt. Es gehe darum, die Juden (die in den intellektuellen Schichten erheblich präsent sind) unverzüglich zu eliminieren und die ukrainische Bevölkerung insgesamt auf ein »Minimum« zu reduzieren, um der »zu künftigen germanischen Kolonisation« den Weg zu ebnen. So gehen – kommentiert der hier zitierte Historiker – auch in der Ukraine »Errichtung des Nazireichs« und »Holocaust« Hand in Hand; zu diesem leisten die ukrainischen Nationalisten ihren Beitrag, die die Hauptquelle und die Hauptpropagandisten des Buches von Conquest sind.[611]

Im Vergleich zum Dritten Reich bewegt sich die Sowjetmacht genau in die entgegengesetzte Richtung. Wir kennen die Politik der affirmative action der Sowjetmacht gegenüber den nationalen Minderheiten und den ukrainischen »Brüdern und Genossen«, um die Worte wieder aufzunehmen, die Stalin gleich nach der Oktoberrevolution benutzt hatte.[612] Die affirmative action zugunsten des ukrainischen Volkes wird tatsächlich gerade von jenem gefördert, der heute als Verantwortlicher für den Holodomor hingestellt wird. Im Jahre 1921 wies er die These derjenigen zurück, die behaupteten, »die ukrainische Republik und die ukrainische Nation seien eine Erfindung der Deutschen«: »Indessen ist es klar, dass die ukrainische Nation existiert, und es ist die Pflicht der Kommunisten, deren Kultur zu entwickeln«.[613] Von diesen Voraussetzungen aus entwickelt sich die ›Ukrainisierung‹ der Kultur, der Schule, der Presse, des Verlagswesens, der Parteikader und des Staatsapparats. Lasar Kaganowitsch, ein zuverlässiger Mitarbeiter Stalins, der im März 1925 Parteisekretär in der Ukraine wird, gab der Verwirklichung dieser Politik einen starken Impuls.[614] Die Resultate lassen nicht auf sich warten. 1931 erreichte die Veröffentlichung von Büchern in ukrainischer Sprache »ihren Höhepunkt mit 6.218 Titeln von 8.086, fast 77 %, während der Prozentsatz der Russen in der Partei von 72 % im Jahre 1922 auf 52 % gesunken war«. Außerdem muss man die Entwicklung des ukrainischen Industrieapparats bedenken, auf deren Notwendigkeit erneut Stalin besteht.[615]

Man kann versuchen, all das zu bagatellisieren, indem man auf das andauernde Machtmonopol verweist, das in Moskau von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ausgeübt werde. Dennoch hat diese Politik der ›Ukrainisierung‹ eine so starke Wirkung, dass sie gezwungen ist, dem Widerstand der Russen entgegenzutreten:

Letztere waren jedenfalls enttäuscht von der Lösung, die der nationalen Frage in der UdSSR gegeben wurde. Die Gleichstellung Russlands mit den anderen Republiken der Föderation schmerzte, die den Minderheiten in der russischen Republik zuerkannten Rechte irritierten, die antirussische Rhetorik des Regimes verärgerte (…) und die Tatsache, dass die Russen die einzige Nationalität waren, die weder ihre Partei noch ihre Akademie der Wissenschaften hatte, bedrückte.[616]

Es ergibt überhaupt keinen Sinn, die nazistische mit der sowjetischen Politik gleichzusetzen, denn diese zeigte sich in Wahrheit auch der Politik der (vom Westen unterstützten) Weißen eindeutig überlegen. Dies gibt am Ende unvermeidlicherweise sogar Conquest zu. Denikin, der die Politik der zaristischen Autokratie weiterverfolgte, »weigerte sich, die Existenz der Ukrainer zuzugeben«. Genau entgegengesetzt verhält sich Stalin, der die »Ukrainisierung der ukrainischen Städte« begrüßte. Nach dem Erfolg dieser Politik beginnt ein neues und sehr positives Kapitel:

Im April 1923 fand auf dem XII. Parteitag die Politik der ›Ukrainisierung‹ volle legale Anerkennung: Zum ersten Mal seit dem 18. Jahrhundert schloss eine solide ukrainische Regierung die Verteidigung und die Entwicklung der ukrainischen Sprache und Kultur in ihr Programm ein (…). Die kulturellen ukrainischen Persönlichkeiten, die in ihr Land zurück kehrten, taten dies in der realen Hoffnung, dass auch eine sowjetische Ukraine die nationale Wiedergeburt hätte in die Wege leiten können. Und großenteils hatten sie einige Jahre lang Recht behalten. Dichtung und erzählende Literatur, linguistische und historische Werke verbreiteten sich ausgiebig und mit stimulierender Intensität in allen Klassen, während die gesamte vorhergehende Literatur in breitem Umfang neu gedruckt wurde.[617]

Wir wissen, dass diese Politik noch Anfang der 1930er Jahre in der Ukraine vorherrscht und sich sogar in voller Entwicklung befindet. Gewiss kommt es später zu einem fürchterlichen Konflikt und zur Hungersnot, und dennoch bleibt es ein Geheimnis, wie man es bewerkstelligen könne, in kürzester Zeit von einer radikalen affirmative action zugunsten der Ukrainer zur Planung ihrer Vernichtung überzugehen. Man täte gut daran, nicht zu vergessen, dass bei der Ausarbeitung und Verbreitung der These des Holodomor die nationalistischen ukrainischen Kreise eine wichtige Rolle gespielt haben, die zunächst in den Jahren des Bürgerkriegs viele antijüdische »Pogrome« entfesselt hatten[618] und später oft mit den nazistischen Invasoren zusammengearbeitet haben, die die »Endlösung« organisierten: Nachdem die These des Holodomor gleichzeitig als Instrument der Dämonisierung des Feindes und der bequemen eigenen Freisprechung gedient hatte, wird sie später zu einer ausgezeichneten ideologischen Waffe im Endstadium des Kalten Krieges und für die Politik der Zerstückelung der Sowjetunion.

Eine letzte Überlegung. Im 20. Jahrhundert sind die ›Genozid‹- und die ›Holocaust‹-Anklage auf verschiedenartigste Weise dekliniert worden. Wir haben schon mehrere Beispiele genannt. Es lohnt sich, ein weiteres hinzuzufügen. Am 20. Oktober 1941 berichtete die ›Chicago Tribune‹ von dem leidenschaftlichen Appell Herbert Hoovers an England, der Blockade Deutschlands ein Ende zu bereiten. Schon seit einigen Monaten hat der Vernichtungskrieg begonnen, den das Dritte Reich gegen die Sowjetunion entfesselt hatte, aber darüber verliert der ehemalige US-Präsident kein Wort. Er konzentriert sich auf die furchtbare Lage der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten (in Warschau »ist die Kindersterblichkeitsziffer zehnmal so hoch wie die Geburtenziffer«) und ruft dazu auf, diesen im Übrigen nutzlosen »Holocaust« zu beenden, da er den Vormarsch der Wehrmacht nicht aufhalten könne.[619] Es ist klar, dass Hoover sich bemühte, das Land oder die Länder in schlechten Ruf zu bringen, an deren Seite F. D. Roosevelt sich anschickte zu intervenieren, und es muss kaum betont werden, dass der mutmaßliche »Holocaust«, den der Verfechter des Isolationismus London und zum Teil Washington zur Last legt, in Vergessenheit geraten ist.

5. Die terroristische Hungersnot in der Geschichte des liberalen Westens

Mehr noch als die Fälschungen entkräftet übrigens all das, was er verschweigt, den ganzen Diskurs des »Veteranen des Kalten Krieges«. Man könnte mit einer Debatte beginnen, die im Unterhaus am 28. Oktober 1948 stattfindet: Churchill klagt über die Ausbreitung des Konflikts zwischen Hindus und Muslimen und den »fürchterlichen Holocaust«, der sich in Indien nach der von der Labourregierung zugestandenen Unabhängigkeit und der Auflösung des britischen Empires abspielt. Hier unterbricht ein Labourabgeordneter den Redner: »Warum sprechen Sie nicht vom Hunger in Indien?«. Der ehemalige Premierminister versucht auszuweichen, aber der andere hakt nach: »Warum sprechen Sie nicht vom Hunger in Indien, für den die vorherige konservative Regierung verantwortlich gewesen ist?«.[620] Der Hinweis gilt der von Churchill hartnäckig geleugneten Hungersnot, die 1943/44 in Bengalen drei Millionen Opfer gefordert hatte. Keine der beiden Seiten beschwört indes die Hungersnot, die immer noch im kolonialen Indien einige Jahrzehnte zuvor gewütet hatte: In diesem Fall verloren etwa 20 bis 30 Millionen Inder das Leben. Sie mussten oft »harte Arbeit« leisten, bei einer Kost, die geringer war, als die, die den Häftlingen des »traurig bekannten Lagers Buchenwald« zugestanden wurde. Bei dieser Gelegenheit war die rassistische Komponente eindeutig und erklärt. Die britischen Bürokraten glaubten, dass es ein »Fehler wäre, so viel Geld auszugeben, nur um einen Haufen Schwarzer zu retten«. Dem Vizekönig Sir Richard Temple zufolge, hätten ihr Leben außerdem vor allem Bettler ohne wirkliche Lust zur Arbeit, verloren: »Es werden nicht viele sein, die das Schicksal beklagen, das sie sich gesucht haben und das oft einem kriminellen und Faulenzerleben ein Ende bereitet hat«.[621]

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht Sir Victor Gollancz, ein nach seiner Flucht vor der antisemitischen Verfolgung in Deutschland in England lebender Jude, 1946 The Ethics of Starvation und ein Jahr später In Darkest Germany. Der Autor klagt die Aushungerungspolitik an, die nach der Niederlage des Dritten Reichs die Kriegsgefangenen und die deutsche Bevölkerung traf, die ständig der Verurteilung zum Hungertod ausgesetzt gewesen seien: Die Kindersterblichkeit war zehnmal höher als 1944, ein immerhin besonders tragisches Jahr; die Rationen, die den Deutschen zur Verfügung standen, seien denen gefährlich ähnlich gewesen, die in »Bergen-Belsen« üblich waren.[622]

In den soeben zitierten Fällen werden nicht die Sowjetukraine, sondern die Arbeitslager in dem England unterworfenen Indien und das den Besiegten vom liberalen Westen auferlegte Besatzungsregime mit einem nazistischen Konzentrationslager verglichen. Zumindest die letzte Anklage scheint überzeugender zu sein, so wie es vom neuesten und erschöpfendsten Buch zu diesem Argument bestätigt wird: »In der sowjetischen Besatzungszone wurden die Deutschen besser ernährt«. Das Land, das die genozidale Politik des Dritten Reichs erlitten hatte und das wegen dieser Politik immer noch an Mangel litt, ist großzügiger gewesen. Es war in der Tat nicht die Knappheit an Lebensmitteln, die den liberalen Westen dazu brachte, über die Besiegten den Hungertod zu verhängen: »Politiker und Militärs – wie Sir Montgomery – bestanden darauf, dass keine Lebensmittel aus Großbritannien geschickt wer den durften. Der Hungertod war die Strafe. Montgomery behauptete, dreiviertel aller Deutschen seien noch Nazis«. Gerade deshalb war es verboten zu »fraternisieren«: Man sollte mit den Angehörigen eines so total und hoffnungslos perversen Volkes weder sprechen, noch ihnen zulächeln. Der US-amerikanische Soldat war gewarnt: »Im Herz, im Körper und im Geist ist jeder Deutsche ein Hitler«. Auch ein Mädchen konnte mörderisch sein: »Benehme dich nicht wie Samson mit Delila; sie möchte dir gerne die Haare und später den Hals abschneiden«. Diese Hasskampagne zielte ausdrücklich darauf ab, das Mitleidsgefühl auszuschalten, um damit den Erfolg der »Ethik der Verurteilung zum Hunger« zu gewährleisten. Die US-amerikanischen Soldaten wurden sogar dazu aufgefordert, auch hungernden Kindern gegenüber kalt herzig zu bleiben: »In einem deutschen gelbhaarigen Kind (…) lauert der Nazi«.[623]

Kann man die Tragödien Bengalens und der Ukraine damit erklären, dass angesichts des Näherrückens bzw. Wütens des Zweiten Weltkriegs Prioritäten gesetzt wurden, die zur Konzentration der wenigen Ressourcen im Kampf gegen einen Todfeind zwangen,[624] so darf man in Bezug auf Deutschland, unmittelbar nach der Niederlage des Dritten Reichs ohne weiteres von geplanter und terroristischer Hungersnot reden: Hier spielt der Mangel an Lebensmitteln überhaupt keine Rolle, während die Rassisierung eines Volkes, das F. D. Roosevelt eine Zeit lang versucht ist, durch »Kastration« von der Erdoberfläche zu tilgen, einen beträchtlichen Einfluss ausübt (vgl. oben, Kap. 1, § 4). Man könnte sagen, dass es der Ausbruch des Kalten Krieges war, der die Deutschen (und die Japaner) gerettet oder ihre Leiden erheblich verkürzt hat: Im Kampf gegen den neuen Feind könnten das Kanonenfutter und die zur Verfügung gestellte Erfahrung des ehemaligen Feindes nützlich und wertvoll sein.

Hinweise auf die Hungersnot im kolonialen und britischen Indien oder auf das westliche Bergen-Belsen in Deutschland sucht man beim »Veteranen des Kalten Krieges« aber vergeblich. Er bemüht sich, das a priori vom historischen Revisionismus konstruierte Schema geltend zu machen: Alle nazistischen Schandtaten seien nur die Wiederholung der kommunistischen; auch das Hitlersche Bergen-Belsen reproduziere also nur das Bergen-Belsen ante litteram, für das Stalin verantwortlich ist.

In voller Übereinstimmung mit diesem Schema ignoriert Conquest vollkommen die Tatsache, dass der Rekurs auf das Aushungern und auf die Androhung des Hungertods eine Konstante in den Beziehungen bildet, die der Westen zu den Barbaren und zu den jeweils mit Barbaren gleichgesetzten Feinden unterhält. Nach der schwarzen Revolution auf San Domingo befürchtete Jefferson die ansteckende Wirkung des ersten Landes, das auf dem amerikanischen Kontinent die Sklaverei abgeschafft hatte, und erklärte sich daher dazu bereit, »Toussaint zum Hungertod zu verurteilen«. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts forderte Tocqueville, die Ernte der Araber, die es wagten, sich der französischen Eroberung zu widersetzen, zu verbrennen und ihre Silos zu leeren (vgl. unten, Kap. 8, § 5). Fünf Jahrzehnte später erstickten die Vereinigten Staaten den Widerstand auf den Philippinen mit derselben Kriegstaktik, die ein ganzes Volk zum Hunger bzw. zum Hungertod verurteilt. Selbst wenn sie nicht absichtlich geplant ist, kann die Hungersnot auf jeden Fall eine Gelegenheit sein, die es nicht zu verpassen gilt. In der gleichen Zeit, in der Tocqueville dazu aufrief, verbrannte Erde um die arabischen Rebellen herum zu schaffen, vernichtete in Irland ein verheerender Schädling die Kartoffelernte und dezimierte die schon von der Ausplünderung und Unterdrückung durch die englischen Kolonisatoren stark mitgenommene Bevölkerung. In der neuen Tragödie sieht Sir Charles Edward Trevelyan (von der Londoner Regierung beauftragt, die Lage zu verfolgen und zu verwalten) die »allwissende Voraussehung« am Werk, die auf diese Weise das Problem der Übervölkerung (und auch der ende mischen Rebellion einer barbarischen Bevölkerung) löse. In diesem Sin ne wurde der englische Politiker manchmal als ein »Eichmann-Vorläufer« hingestellt, als Protagonist einer Tragödie, die man als den Prototyp der Genozide des 20. Jahrhunderts betrachten könne.[625]

Konzentrieren wir uns aber jetzt auf das 20. Jahrhundert. Die traditionell gegen die Kolonialvölker angewandten Methoden können auch im Kampf um die Hegemonie unter den Großmächten nützlich sein. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhängte England eine mörderische Seeblockade über Deutschland, deren Bedeutung von Churchill so erklärt wird: »Die britische Blockade behandelte ganz Deutschland wie eine belagerte Festung und versuchte ausdrücklich, die ganze Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge, Verwundete und Gesunde auszuhungern, um sie so zur Kapitulation zu zwingen«. Die Blockade wird noch monatelang nach dem Waffenstillstand fortgesetzt, und es ist immer noch Churchill, der erklärt, trotz des Schweigens der Waffen müsse beharrt werden auf dieser »Waffe des Aushungerns bis zum Hungertod, die vor allem die Frauen und die Kinder, die Alten, die Schwachen und die Armen trifft«: Die Besiegten müssten die Friedensbedingungen der Sieger bis zum Letzten akzeptieren.[626]

Aber mit dem bedrohlichen Auftauchen Sowjetrusslands wird nun mehr ein Anderer zum Feind. Fürchtete Jefferson die Ansteckung durch die schwarze Revolution, so sorgt Wilson sich darum, die bolschewistische Revolution einzudämmen. Unverändert bleiben die Methoden. Um zu verhindern, dass Österreich dem Beispiel Sowjetrusslands folgte, wird es, um mit Gramsci zu sprechen, vor eine »räuberische Herausforderung« gestellt: »Entweder die bürgerliche Ordnung oder der Hunger!«[627] Tatsächlich warnt einige Zeit später Herbert Hoover, bedeutender Exponent der Wilson-Administration und späterer Präsident der Vereinigten Staaten, die österreichischen Machthabenden, dass »jede Störung der öffentlichen Ordnung die Lieferung von Lebensmitteln unmöglich werden lässt und Wien dem absoluten Hunger aussetzen wird«. Und später wird genau dieser US-Politiker, sich damit eindeutig brüstend, diese Bilanz ziehen: »Die Angst vor dem Hungertod hat das österreichische Volk von der Revolution abgehalten«.[628] Wie man sieht, wird die »terroristische Hungersnot«, die Conquest Stalin vor wirft, vor allem von Jefferson und Hoover ausdrücklich theoretisch gerechtfertigt.

Wir haben es mit einer Politik zu tun, die auch heute noch weiter geführt wird. Im Juni 1996 hob ein Beitrag des Direktors des Center for Economic and Social Rights die furchtbaren Folgen der »kollektiven Strafe« hervor, die mit dem Embargo über das irakische Volk verhängt worden ist: Schon seien »500.000 irakische Kinder an Krankheiten und Hungers gestorben«. Viele andere liefen Gefahr, dasselbe Schicksal zu erleiden. Eine Betrachtung allgemeinerer Art stellt einige Jahre später eine offiziöse Zeitschrift des Außenministeriums, nämlich ›Foreign Affairs‹, an: Nach dem Zusammenbruch des »realen Sozialismus« sei in einer unter der Hegemonie der USA vereinigten Welt das Embargo die Massenvernichtungswaffe schlechthin; offiziell verhängt, um Saddam Hussein den Zugang zu Massenvernichtungswaffen zu verwehren, hat das Embargo im Irak »in den auf den Kalten Krieg folgenden Jahren mehr Tote gefordert als alle Massenvernichtungswaffen im Verlauf der Geschichte« insgesamt. Es ist daher so, als hätte das arabische Land gleichzeitig die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki, die Giftgasangriffe Wilhelms II. und Mussolinis und anderes mehr über sich er gehen lassen.[629] Zum Schluss: Die Stalin vorgeworfene Politik der »terroristischen Hungersnot« durchzieht zutiefst die Geschichte des Westens, richtet sich im 20. Jahrhundert vor allem gegen das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Land und erlebt ihren Triumph nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

6. Perfekte Symmetrien und Selbstfreisprechung: Antisemitismus Stalins?

Und dennoch, so raffiniert das Spiel der Analogien auch sein mag, scheint die Konstruktion des Mythos der Zwillingsmonster noch nicht vollendet zu sein. Trotz der Versuche, den ukrainischen mit dem jüdischen Holocaust auf eine Stufe zu stellen, erregt der Name Auschwitz im Bewusstsein unserer Zeit ein ganz besonderes Grauen. Vielleicht könnte man die Gleichsetzung Stalins mit Hitler als perfekt betrachten, wenn sich herausstellte, dass auch Ersterer von dem Wahnsinn befallen war, der zu dem vom Zweiteren begangenen Judenmord geführt hat.

Chruschtschow erinnert daran, dass Stalin in seinem letzten Lebensabschnitt die Ärzte, die die Führungsspitze des Landes behandelten, verdächtigt hatte, in Wahrheit an einer imperialistischen Verschwörung beteiligt zu sein, die die Sowjetunion enthaupten wollte. In der Geheimrede wird es nicht gesagt, aber nicht wenige unter den verdächtigten Ärzten waren Juden.[630] So kann man von hier ausgehen, um das Bild des sowjetischen Monsters um eine neue, entscheidende Einzelheit zu bereichern: »Der grundlegende Antisemitismus Stalins und seiner Anhänger«, erklärt Medvedev, »war für niemanden ein Geheimnis«. Vom »offiziellen Antisemitismus des Sowjetstaates«, präzisiert Hobsbawm, »existieren unleugbare Spuren seit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948«. Der US-amerikanische Historiker der ethnischen Säuberung und des Rassenhasses, den wir schon kennen, geht etwas weiter zurück: »Am Ende des Krieges teilte Stalin viele Aspekte des Hitlerschen Antisemitismus«. Noch weiter geht Furet: »Vom Anfang des Hitlerismus an hat Stalin nie das geringste Mitleid mit den Juden gezeigt«.[631] Radikaler als alle ist natürlich Conquest: »Seit jeher latent im Geiste Stalins«, begann der Antisemitismus sich bei ihm »von 1942/43 an« in auffallender Weise zu zeigen, um 1948 »alles durchdringend« zu werden.[632] Jetzt kann man die Konstruktion des Mythos der Zwillingsmonster für abgeschlossen halten.

Bevor wir die extreme Inkonsistenz dieser Konstruktion untersuchen, sollte darauf hingewiesen werden, dass sie gleichzeitig dazu dient, die große Verantwortung des Westens für die Tragödie zu verdrängen, die im 20. Jahrhundert über die Juden hereinbricht. Eine Tragödie in drei Aufzügen mit einem Vorspiel. Im Jahre 1911 wird das Buch Chamberlains (Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts) ins Englische über setzt, ein Buch, das die Weltgeschichte ganz in rassischem (arischem und antisemitischem) Sinn interpretiert. Die erstrangige Rolle, die der deutsch-englische Schriftsteller als maître à penser des Nazismus spielt, ist von daher gut zu verstehen. Besonders überschwänglich äußert sich Goebbels, der, als er ihn krank und bettlägerig besucht, eine Art Gebet anstimmt: »Vater unseres Geistes, sei gegrüßt. Bahnbrecher, Wegbereiter«.[633] Nicht weniger inspiriert, erblickt Chamberlain in Hitler eine Art Retter und dies nicht nur für Deutschland.[634] Hitler erinnert sich noch nach der Machtübernahme und während er fieberhaft mit dem von ihm entfesselten Krieg beschäftigt ist, dankbar an die Ermutigung, die Chamberlain ihm während des Gefängnisaufenthalts hat zukommen lassen.[635]

Nun gut, wie wird dieser Schlüssel-Text der Weltanschauung und Rassenideologie, die für den Nazismus typisch ist, im Westen aufgenommen? In England ist die Reaktion der Presse begeistert, von der ›Times‹ angefangen, die das Meisterwerk mit kräftigem Beifall »als eines der seltenen Bücher, die eine gewisse Bedeutung haben«, begrüßt. Jenseits des Atlantiks fällt das Urteil eines Staatsmannes ersten Ranges wie Theodore Roosevelt ausgesprochen positiv aus.[636] Auf der Gegenseite bringt 1914 Kautsky, der damals (vor Kriegsausbruch) von der sozialistischen und Arbeiterbewegung insgesamt, Stalin inbegriffen, als Lehrer verehrt wurde, seine ganze Verachtung für Chamberlain und die »Rassentheoretiker« aller Art zum Ausdruck. Besonders Stalin bezeichnete im Jahre 1907 den deutschen Schriftsteller als »einen würdigen Theoretiker der Sozialdemokratie«, auch wegen seines Beitrags zur Analyse und Anprangerung des Antisemitismus und der »Judenpogrome« im zaristischen Russland.[637]

Gehen wir jetzt zum ersten Akt der Tragödie über. Er spielt im vor revolutionären Russland, das im Ersten Weltkrieg ein enger Verbündeter der Entente war. Diskriminiert und unterdrückt, werden die Juden verdächtigt, mit dem deutschen Feind und Invasoren zu sympathisieren. Der russische Generalstab warnt vor ihrer Spionagetätigkeit. Einige werden als Geiseln festgehalten und mit dem Tode bedroht, falls die »jüdische Gemeinschaft« geringe patriotische Loyalität zeige; mutmaßliche Spione werden erschossen.[638] Das ist noch nicht alles. Am Anfang des Jahres 1915 wird in den Gebieten, wo das Wilhelminische Heer vorrückt, eine Massendeportation dekretiert. Ein Abgeordneter der Duma beschreibt die Operation folgendermaßen: In Radom wird um 23 Uhr

die Bevölkerung benachrichtigt, dass sie die Stadt verlassen muss, mit der Drohung, dass jeder, der bei Tagesanbruch überrascht wird, erhängt werde (…). Weil es keine Verkehrsmittel gibt, müssen die Alten, Invaliden und Gelähmten getragen werden. Polizei und Gendarmen behandeln die Juden wie Verbrecher. In einem Fall ist ein Zug völlig versiegelt und als er endlich wieder geöffnet wird, liegen die meisten Leute, die drin waren, im Sterben.

Hunderttausend von der halben Million Juden, die die Deportation er litten hatten, überlebten nicht.[639]

Auf der Woge des Kampfs gegen den Krieg und das Grauen, das er mit sich bringt, bricht später die Oktoberrevolution aus. Sie beruft sich auf Marx und Engels, welch Letzterer um die Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben hatte: »Die Zeiten jenes Aberglaubens, der Revolutionen auf die Bösartigkeit einer Handvoll Agitatoren zurückführt, sind längst vorüber.[640] Leider handelte es sich um eine katastrophal falsche Voraussicht. Die Machtübernahme in Russland durch eine Bewegung, die sich auf den »Juden Marx« beruft und in ihrer Führungsgruppe eine starke jüdische Präsenz aufweist, weiht eine Epoche ein, in der die Theorie der Verschwörung ihre Triumphe feiert. In Russland, das vom Bürgerkrieg zerrüttet ist, stehen Pogrome und Massaker an Juden auf der Tagesordnung, weil diese als Drahtzieher des Bolschewismus abgestempelt werden. Die neue Sowjetmacht setzt sich dafür ein, dieses Grauen aufzuhalten: Äußerst strenge Gesetze werden erlassen, und Lenin ruft in einer Rede dazu auf, die »Feindschaft gegen die Juden, Haß gegen andere Nationen« zu überwinden; eine Rede, die auch auf Schallplatte aufgenommen wurde, um die Millionen von Analphabeten zu erreichen.[641] England, Frankreich und die Vereinigten Staaten stehen auf der Seite der Weißen und manchmal beteiligen sie sich aktiv und direkt an der blutigen antisemitischen Agitation. Im Sommer 1918 verbreiteten die im Norden Russlands gelandeten britischen Truppen massiv antisemitische Flugblätter, die sie aus Flugzeugen abwarfen.[642] Ein paar Monate später kommt es zu Pogromen erschütternder Ausmaße, bei denen zirka 60.000 Juden ihr Leben verlieren: »Man sagte, dass die Alliierten, die damals ihre Invasion Russlands organisierten, insgeheim die Pogrome unterstützt hätten«.[643] Dies sei ein »Auftakt«, schreiben maßgebliche Historiker, der »nazistischen Verbrechen«, der »Vernichtung des Zweiten Weltkriegs«[644] und es ist ein Auftakt, der die aktive Beteiligung Großbritanniens verzeichnet, das damals an der Spitze des antibolschewistischen Kreuzzugs stand.

So kommen wir zum dritten Akt. Trotz der massiven westlichen Hilfe von den Bolschewiki geschlagen, emigrieren die Weißen in den Westen und bringen die Brandmarkung der Oktoberrevolution als jüdisch-bolschewistische Verschwörung und die Protokolle der Weisen von Zion mit, die unwiderlegbar diese Deutung bestätigen sollten.

All das bleibt nicht ohne Folgen. In England drucken die »offiziellen Typografen Seiner Majestät« die englische Ausgabe der Protokolle, die kurz darauf von der ›Times‹ groß aufgemacht und als Beweis oder Indiz für die geheime Intrige zitiert werden, die den Westen jetzt bedrohe.[645] So entsteht eine Kampagne, an der auch Churchill nicht unbeteiligt ist, der die Rolle des Judentums nicht nur in Russland, sondern im ganzen Zyklus der Subversion anprangert, die seit dem 18. Jahrhundert im Westen wüte:

Diese Bewegung unter den Juden ist nicht neu. Seit den Tagen von Spartakus Weishaupt (Aufklärer Bayerns) bis zu jener Karl Marx’ und bis hinunter zu Trotzki (Russland), Béla Kun (Ungarn), Rosa Luxemburg (Deutschland) und Emma Goldman (Vereinigte Staaten) ist diese weltweite Verschwörung zum Sturz der Zivilisation und zur Neugestaltung der Gesellschaft auf Grund aufgehaltener Entwicklung, neidischer Mißgunst und unmöglicher Gleichheit, im Wachsen begriffen. Wie ein zeitgenössischer Autor, Mrs. Webster, so geschickt nachgewiesen hat, spielte (diese Bewegung) eine genau erkennbare Rolle in der Tragödie der französischen Revolution. Sie war die Triebfeder hinter jeder subversiven Bewegung des 19. Jahrhunderts, und jetzt hat diese Bande von außerordentlichen Persönlichkeiten aus der Unterwelt der großen Städte Europas und Amerikas das russische Volk am Kragen gepackt und ist praktisch der unangefochtene Herr eines gewaltigen Reiches geworden.[646]

Noch im Jahre 1937 unterstreicht Churchill, während er ein positives Urteil über Hitler abgibt, beharrlich die jüdische Herkunft eines Führers der bolschewistischen Revolution von erstem Rang, nämlich von »Lew Trotzki, alias Bronstein«. Ja, »er war doch immer ein Jude. Nichts konnte diese Charakteristik auslöschen«.[647]

Jenseits des Atlantiks fördert Henry Ford die Verbreitung der Protokolle der Weisen von Zion und fällt sein Urteil: »Die russische Revolution ist rassischen, nicht politischen Ursprunges«, sie bediene sich zwar humanitärer und sozialistischer Schlagworte, bringe in Wirklichkeit aber ein »rassisches Weltherrschaftsstreben« zum Ausdruck.[648] Abgesehen vom Magnaten der US-Automobilindustrie zeichnen sich zwei Verfechter des Regimes der white supremacy durch die Brandmarkung der okkulten jüdischen Regie der revolutionären Bewegung aus, die das zaristische Regime gestürzt habe und jetzt den Westen erschüttere: Vor der »semitischen Führung« des »Bolschewismus« warnt Madison Grant, während Lothrop Stoddard das »bolschewistische Regime Sowjetrusslands« als »weitgehend judaisch« abstempelt[649] und genau Stoddard wird zum Bezugspunkt zweier US-amerikanischer Präsidenten (vgl. unten, Kap. 8, § 3).

In diesem Klima erheben sich in der nordamerikanischen Republik Stimmen, die radikale Maßnahmen fordern, um dem »judaischen Imperialismus mit dem Endziel, eine jüdische Herrschaft auf Weltebene zu errichten«, entgegenzutreten. Ein hartes Schicksal – attackieren andere noch drohendere Stimmen – erwarte das Volk, das für diesen infamen Plan verantwortlich ist: es zeichneten sich »Massaker an den Juden in einem bisher für unmöglich gehaltenen Ausmaße« ab, und damit »in einem beispiellosen Maßstab in modernen Zeiten«.[650]

Wenn wir diese Motive bei Churchill, Ford und den anderen zu vor zitierten US-amerikanischen Autoren vorfinden, denken wir an die antisemitische Agitation, die mit noch schärferen Tönen von den Nazis entwickelt wurde. Diese übernehmen von der antibolschewistischen Emigration nicht nur Ideen, sondern erlangen auch Geldmittel und dazu noch Aktivisten und Führungskräfte in nicht zu vernachlässigendem Ausmaß.[651] Man denke in erster Linie an Rosenberg, einen der wichtigsten Interpreten der Oktoberrevolution als jüdische Verschwörung.

Wie man sieht, erlebt die Tragödie des jüdischen Volkes im 20. Jahrhundert in ihrem ganzen Ablauf die aktive Beteiligung einerseits des liberalen Westens, andererseits des vorrevolutionären und konterrevolutionären Russland. Das alles wird ein für alle Mal vergessen mit der Anschuldigung des Antisemitismus, die gegen Stalin erhoben wird, der länger als alle anderen das aus der Oktoberrevolution bzw. aus der »jüdisch-bolschewistischen Verschwörung« hervorgegangene Land geführt hat.

7. Antisemitismus und kolonialer Rassismus: Die Stalin-Churchill-Polemik

Die schwarze Legende, die wir hier untersuchen, erlaubt es auch, den kolonialen Rassismus oder den Rassismus kolonialen Ursprungs zu verdrängen, der im Westen noch mitten im 20. Jahrhundert um sich greift. Diesbezüglich ist die epochale Bedeutung des Bruchs, den der Leninismus darstellte, von Stalin so zusammengefasst worden:

Früher beschränkte sich die nationale Frage gewöhnlich auf einen engen Kreis von Fragen, die hauptsächlich die »zivilisierten« Nationalitäten betrafen. Irländer, Ungarn, Polen, Finnen, Serben und einige andere Nationalitäten Europas – das war der Kreis der nicht vollberechtigten Völker, für deren Schicksal sich die Führer der II. Internationale interessierten. Die Millionen und Abermillionen der Völker Asiens und Afrikas, die unter der nationalen Bedrückung in ihrer rohesten und grausamsten Form litten, blieben gewöhnlich außerhalb ihres Gesichtsfeldes. Man konnte sich nicht entschließen, Weiße und Farbige, »Zivilisierte« und »Unzivilisierte« auf eine Stufe zu stellen (…). Der Leninismus hat dieses schrei ende Missverhältnis aufgedeckt, die Scheidewand zwischen Weißen und Farbigen, zwischen Europäern und Asiaten, zwischen »zivilisierten« und »unzivilisierten« Sklaven des Imperialismus niedergerissen und auf diese Weise die nationale Frage mit der Frage der Kolonien verknüpft.[652]

Wir schreiben das Jahr 1924. Großen Erfolg erzielte damals beiderseits des Atlantiks der US-amerikanische Autor Stoddard, der die tödliche Gefahr für den Westen und die weiße Rasse beklagt, die die anwachsen de Agitation der (von den Bolschewiki angestachelten und ermutigten) Kolonialvölker, d. h. die »steigende Flut der farbigen Völker« darstelle.[653] Diese Tendenz zur Verherrlichung der white supremacy bleibt auch in den folgenden Jahrzehnten recht aktuell.

Verurteilt Stalin die auch gegen die Asiaten gerichteten Rassisierungsprozesse im Westen, so ist es interessant die Ideologie zu unter suchen, die in den USA anlässlich des Krieges gegen Japan auftritt. Die Presse und eine verbreitete Publizistik warnen vor der »rassischen Bedrohung«: Wir hätten es mit einem »heiligen Krieg, einem Rassenkrieg«, mit »einem ewigen Krieg zwischen orientalischen und abendländischen Idealen« zu tun. Die Entmenschlichung der Feinde, die auf Untermenschen und sogar auf Bestien reduziert werden, ist weit verbreitet. Diese Ideologie ist selbst den führenden Kreisen der Administration von Franklin D. Roosevelt nicht fremd.[654]

Im Übrigen zeigt sich der koloniale Rassismus auch noch nach dem Zusammenbruch des japanischen Imperiums und des Dritten Reichs. Im März 1946 leitet Churchill in Fulton auf propagandistischer Ebene den Kalten Krieg ein und verurteilt dabei nicht nur den »Eisernen Vorhang« und die »totalitäre Kontrolle« der Sowjetunion über Osteuropa, sondern feiert auch im Gegensatz dazu die »Englisch sprechenden Völker« und die »Englisch sprechende Welt« als Verfechter der Freiheit und der »christlichen Zivilisation« und als Führung der Welt.[655] Verständlich daher die zornige Antwort Stalins: Der englische Staatsmann wird beschuldigt, eine »Rassentheorie« formuliert zu haben, die der von Hitler geschätzten ähnlich sehe; er »behauptet, dass nur Nationen, die Englisch sprechen, als vollwertige Nationen an zusehen seien, die dazu berufen sind, über das Schicksal der ganzen Welt zu entscheiden.[656] Die Vereinfachungen des Kalten Krieges wer den in dieser Antwort deutlich. Und trotzdem fehlt es nicht an Ana logien zwischen der Würdigung der Englisch sprechenden Völker und arischer Mythologie: Von der sprachlichen Gemeinschaft leitet man die Einheit der Rasse ab, die sie einschließt; und als Zeugnis für die Vortrefflichkeit dieser Rasse führt man die kulturellen Produkte der arischen Sprachen bzw. der englischen Sprache an. In seiner Korrespondenz mit Eisenhower ist Churchills Sprache noch beunruhigender: Die »Englisch sprechende Welt« (English-Speaking world) ist synonym mit dem »weißen Englisch sprechenden Volk« (white English-Speaking people). Seine »Einheit« sei absolut notwendig:[657] Ein für allemal müssten die »Gegensätze zwischen den eng verwandten Rassen Europas« abgeschafft werden, die die beiden Weltkriege ausgelöst hätten;[658] nur so werde man der Gefahr entgegentreten können, die von der kolonialen und nicht dem Westen angehörenden Welt ausgeht. Daher wird die Aufforderung verständlich, die Churchill 1953 vor allem an die Vereinigten Staaten richtet: Man müsse England in seinem Konflikt mit Ägypten unterstützen, »um ein Massaker an den Weißen zu verhindern« (of white people).[659]

Nicht nur die Araber stünden dem Westen und der weißen Ras se fern. Die kommunistische Welt, die die Revolte der Kolonialvölker gegen den weißen Mann schürt, sei Ausdruck »eines aggressiven halbasiatischen Totalitarismus«.[660] Eindeutig wird der Kalte Krieg tendenziell als ein Zusammenstoß interpretiert, bei dem wir auf der einen Seite den Westen, die »christliche Zivilisation« und weiße Rasse haben, die von der »Englisch sprechenden Welt« bzw. von dem »weißen Englisch sprechenden Volk« angeführt werden, und auf der anderen Seite die Barbarei der kolonialen und kommunistischen Welt. In diesen Kontext fügt sich gut die Verherrlichung sowohl des »britischen Empires« als auch der »britischen Rasse« ein.[661] Und ebenso wie es keinen Hinweis darauf gibt, dass die Judenvernichtung im Herzen des Westens und der weißen Welt stattgefunden hat und von einer der »eng verwandten Rassen Europas« verübt wurde, so wird auch kein Wort verloren über die anhaltende Unterdrückung der Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten der white supremacy.

Auch bei Eisenhower tendiert die Würdigung der »westlichen Welt« und der »westlichen Moral«[662] gelegentlich dazu, rassische Konnotationen anzunehmen: Im Gespräch mit Hoover und Dulles merkt er im Juli 1956 an, dass Nasser mit der Nationalisierung des Suez-Kanals darauf abziele, »den Weißen zu verdrängen« (the white man).[663] Frisch ist noch die Erinnerung an den Koreakrieg, der von Washington – so gibt die US-amerikanische Historiographie zu – mit dem Gefühl der »Verachtung« für »eine niedere Nation« (der chinesischen) geführt worden ist.[664]

8. Trotzki und der Antisemitismus-Vorwurf gegen Stalin

Kehren wir zu dem gegen Stalin erhobenen Vorwurf des Antisemitismus zurück. Da er von nicht wenigen Historikern bestätigt wird, sieht es so aus, als wäre er unanfechtbar. Doch die manchmal maßgebenden, aber in jedem Fall in unanfechtbarem Ton ausgesprochenen Verurteilungen sind untereinander schwer vereinbar, da sie eine unterschiedliche und einander widersprechende Rekonstruktion dieses Verbrechens vornehmen, dessen Beginn jeweils im Jahre 1948, 1945, 1933 oder schon in den Jahren vor der Oktoberrevolution angesetzt wird.

Für einen Orientierungsversuch stellen wir uns eine andere, gewissermaßen eine Vorfrage: Wann ist Stalin zum ersten Mal des Antisemitismus beschuldigt oder verdächtigt worden? In diesem Fall sollte man mehr als auf Chruschtschow auf Trotzki zurückgreifen, der 1937 mit dem ›Verrat‹ der Revolution auch das mögliche Wiederauftauchen der Barbarei des Antisemitismus sogar in der Sowjetunion in Aussicht stellt: »Die Geschichte hat bisher kein Beispiel gesehen, wo die Reaktion, die einem revolutionären Aufschwung folgte, nicht von den unverhohlensten chauvinistischen Leidenschaften begleitet gewesen wäre, den Antisemitismus eingeschlossen!«.[665] Statt einer empirischen Untersuchung haben wir hier eher einen a priori konstruierten Syllogismus vor uns: Die Reaktion, deren notwendiges Produkt der Antisemitismus ist, hat unglücklicherweise in dem von Stalin beherrschten Land gesiegt und daher… Der Thermidor, der die bolschewistischen Errungenschaften liquidierte, öffnete erneut dem Grauen des Ancien Régime Tür und Tor: Mit dem religiösen Aberglauben, dem fetischistischen Kult des Privateigentums, der Erbschaft und der Familie mussten unbedingt die Feindseligkeit zwischen den Nationen und vor allem der antijüdische Hass wieder vordringen. Nicht umsonst ist die Anklage in einer Abhandlung enthalten, die schon im Titel Thermidor und Antisemitismus unauflöslich verbindet. Es stimmt:

Die Oktoberrevolution hat den Paria-Status der Juden abgeschafft. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass sie mit einem Schlag den Antisemitismus beseitigt hat. Ein langer und ausdauernder Kampf gegen die Religion hat selbst bis heute nicht vermocht, Tausende und Abertausende von Betern davon abzuhalten, Kirchen, Moscheen und Synagogen zu füllen. Die gleiche Situation herrscht auf dem Gebiet der nationalen Vorurteile. Gesetzgebung allein ändert die Menschen nicht. Ihre Gedanken, Gefühle, Ansichten hängen von Tradition, materiellen Lebensbedingungen, kulturellem Niveau usw. ab. Das Sowjet-Regime ist noch keine zwanzig Jahre alt. Die ältere Hälfte der Bevölkerung wurde im Zarismus erzogen. Die jüngere Hälfte hat eine Menge von der älteren geerbt. Diese allgemeinen geschichtlichen Bedingungen allein sollten jeden denkenden Menschen erkennen lassen, dass es trotz der vorbildlichen Gesetzgebung der Oktoberrevolution unmöglich ist, dass nationale und chauvinistische Vorurteile – insbesondere der Antisemitismus – nicht in den rückständigeren Schichten der Bevölkerung hartnäckig überdauert haben.[666]

Während Trotzki so argumentierte, verschob er in Wahrheit die Aufmerksamkeit vom Staat auf die Zivilgesellschaft, von der subjektiven auf die objektive Ebene, vom präzisen Charakter der politischen Aktion auf die Langzeitperspektive der historischen Prozesse: Definitionsgemäß konnte das Gewicht einer jahrhundertealten Tradition nicht wie durch ein Wunder in den Schichten verschwinden, die noch nicht voll von der modernen und revolutionären Kultur erfasst worden waren. Welchen Sinn machte es daher, ein Regime und eine Führungsgruppe anzuklagen, die in keinem Punkt die von den Bolschewiki verabschiedete »vorbildliche Gesetzgebung« abgeändert hatten und in einem kolossalen Prozess der Industrialisierung, Alphabetisierung und Verbreitung der Kultur in kürzester Zeit das geographische und soziale Gebiet einschränkten, in dem die »nationalen und chauvinistischen Vorurteile – insbesondere der Antisemitismus« am meisten verwurzelt waren? Hatte nicht gerade Trotzki von der beispiellosen Schnelligkeit gesprochen, mit der sich in der UdSSR die Wirtschaft, die Industrie, die Verstädterung und die Kultur entwickelten, und das Auftauchen eines »neuen Sowjetpatriotismus« festgestellt, eines »zweifellos sehr tiefen, aufrichtigen und lebendigen« Gefühls, das von den verschiedenen zuvor unterdrückten oder gegeneinander aufgehetzten Nationalitäten geteilt wurde (vgl. oben, Kap. 4, § 4).

Im gleichen Jahr, in dem Trotzki seine Abhandlung über Thermidor und Antisemitismus veröffentlicht, erscheint der »Reisebericht« aus Moskau eines deutschen Schriftstellers, der sich als Jude auf der Flucht vor dem Dritten Reich befindet. Das Bild, das er zeichnet, ist schon an sich beredt: Endlich sei »die uralte, leidige und scheinbar unlösbare Judenfrage« gelöst, »bewegend ist die Einhelligkeit, mit der die Juden, denen ich begegnete, betonten, wie einverstanden sie seien mit dem neuen Staatswesen«. Und weiter noch: »Das Jiddische wird in der Union wie alle Nationalsprachen mit Liebe gepflegt. Es gibt jiddische Schulen und jiddische Zeitungen, es gibt eine jiddische Dichtung von Rang, es werden zur Pflege des Jiddischen Kongresse einberufen, und jiddische Theater erfreuen sich höchsten Ansehens«.[667] Noch erstaunlicher ist die Reaktion der US-amerikanischen jüdischen Gemeinschaft. Einer ihrer bedeutenden Vertreter polemisiert so gegen Trotzki: »Wenn seine anderen Anklagen genauso unbegründet sind, wie seine Klage über den Antisemitismus, dann gibt es überhaupt nichts, was er zu sagen hätte«. Eine weitere führende Persönlichkeit erklärt: »Wir pflegen in der Sowjetunion, soweit es den Antisemitismus betrifft, unseren einzigen Lichtblick (…) zu sehen. Es ist deshalb unverzeihlich, dass Trotzki gegen Stalin grundlose Beschuldigungen erhebt«.[668]

Offenkundig werden in dieser Reaktion der Verdruss und der Ärger über das, was als ein plumper Versuch empfunden wird, die internationale jüdische Gemeinschaft in den Machtkampf in der KPdSU hineinzuziehen. Während in Deutschland frenetischer denn je die in der Sowjetunion wütende »bolschewistisch-judaische« Barbarei angeprangert wurde und mit Riesenschritten der Prozess voranging, der auf die »Endlösung« hinauslaufen würde, wurde eine sonderbare Kampagne von Unterstellungen gegen das Land eingeleitet, das, wie wir noch sehen werden, mutiger als alle anderen, den Hitlerschen Antisemitismus als »kannibalisch« kennzeichnete, gegen das Land, an dem sich auf deutschem Boden alle diejenigen inspirierten, die dem antijüdischen Hass Widerstand leisteten. Victor Klemperer hat ergreifend die Beleidigungen und Erniedrigungen beschrieben, die mit dem Tragen des Davidsterns verbunden waren. Jedoch:

Ein Möbelträger (…) der mir von zwei Umzügen her zugetan ist, steht in der Freiberger Straße plötzlich vor mir und packt meine Hand mit seinen beiden Tatzen und flüstert, dass man es über den Fahrdamm weg hören muß: »Nu, Herr Professor, lassen Sie bloß den Kopf nicht hängen! Nächstens haben sie doch abgewirtschaftet, die verfluchten Brüder!

Der jüdische Philologe meint dazu mit liebevoller Ironie: »Gute Leute alle, riechen sehr nach KPD«, die derart das Regime herausfordern![669] Es waren Aktivisten oder Sympathisanten einer Partei, für die auf internationaler Ebene Stalin ein wesentlicher Bezugspunkt war.

Wenn wir im Übrigen von Deutschland zu den Vereinigten Staaten übergehen, stellen wir fest, dass im Süden des Landes die Kommunisten manchmal als Juden abgestempelt (und sowohl von den staatlichen Behörden als auch von der Zivilgesellschaft verfolgt) werden, die die Ignoranz der Schwarzen ausnutzten, um sie gegen das Regime der white supremacy aufzuhetzen, die Idee der Hierarchie und der Rassenreinheit in den Schmutz zu ziehen und den Wahn der Gleichheit und der Rassenmischung zu fördern.[670] Auch in der Republik jenseits des Atlantiks verbindet sich der Antikommunismus mit dem Antisemitismus (und natürlich mit dem kolonialen Rassismus), und diese Verknüpfung ist umso enger, weil in der kommunistischen (und pro-»stalinistischen«) Partei der USA die jüdische Komponente stark vertreten ist.[671]

Aber abgesehen von Verdruss und Ärger gibt es in der Reaktion der US-amerikanischen jüdischen Gemeinschaft auch ein Element tiefer Besorgnis. Um dies zu verstehen, verfolgen wir, wie sich Trotzkis Argumentation weiterentwickelt:

Das Sowjetregime braucht mehr als irgendein anderes Regime der Welt eine große Anzahl von Staatsbediensteten. Staatsbedienstete kommen aus der kultivierteren Stadtbevölkerung. Natürlich stellen die Juden einen unverhältnismäßig hohen Anteil in der Bürokratie, und das besonders in den unteren und mittleren Rängen (…). Schon durch Apriori-Überlegungen muß man zu dem Schluß gelangen, dass der Haß auf die Bürokratie eine antisemitische Färbung annehmen würde, zumindest an solchen Orten, wo die jüdischen Funktionäre einen signifikanten Prozentsatz der Bevölkerung bilden und sich gegen den Hintergrund der bäuerlichen Massen abheben. Im Jahr 1923 schlug ich auf der Partei-Konferenz der Bolschewiki der Ukraine vor, dass die Funktionäre verpflichtet sein sollten, die Sprache der sie umgebenden Bevölkerung zu sprechen und zu schreiben. Wie viele ironische Bemerkungen wurden über diesen Vorschlag gemacht, hauptsächlich von der jüdischen Intelligenzija, die russisch sprach und las und die ukrainische Sprache nicht lernen wollte. Gewiß hat sich die Situation in dieser Hinsicht beträchtlich gebessert. Aber die nationale Zusammensetzung der Bürokratie hat sich wenig geändert, und, was unermeßlich viel wichtiger ist, der Antagonismus zwischen der Bevölkerung und der Bürokratie ist während der letzten zehn oder zwölf Jahre ungeheuer gewachsen.[672]

Wie man sieht, wird zum Kampf gegen die Bürokratie aufgerufen und gleichzeitig hervorgehoben, dass in ihr die Juden stark vertreten sind, die sich nicht selten durch die Arroganz gegenüber der Sprache und der Kultur des von ihnen verwalteten Volkes auszeichnen. Gewiss bewegen sich die Analyse und die Brandmarkung immer auf politischer und sozialer Ebene; Tatsache bleibt aber, dass sie aus der Sichtweise der jüdischen Gemeinschaft Gefahr laufen, das Schreckbild des Antisemitismus zu beschwören und wiederzubeleben, das sie angeblich austreiben wollen.

9. Stalin und die Verurteilung des zaristischen und nazistischen Antisemitismus

Der gegen Stalin erhobene Vorwurf des Antisemitismus ist umso sonderbarer, als dieser sich im gesamten Verlauf seiner Entwicklung praktisch immer dafür eingesetzt hat, diese Schande anzuprangern. Schon im Jahre 1901, als er noch ein junger, zweiundzwanzigjähriger georgischer Revolutionär war, zählt er in einer seiner allerersten Schriften zu den wichtigsten Aufgaben der »sozialdemokratischen Partei« den Kampf gegen die Unterdrückung, die in Russland auf den »Nationen und Glaubensbekenntnissen« laste. Besonders betroffen seien »die ständig verfolgten und geschmähten Juden, die sogar jener kläglichen Rechte beraubt sind, wie sie die übrigen russischen Untertanen genießen – des Rechtes, überall zu wohnen, des Rechtes, in den Schulen zu lernen, des Rechtes, als Beamte zu dienen, usw.«.[673] Ein paar Jahre später bricht die Revolution von 1905 aus: Das zaristische Regime reagiert, indem es die Pogrome unterstützt bzw. entfesselt. Stalin verliert keine Zeit, um zum Kampf gegen eine Politik aufzurufen, die versuche, »mit dem Blut und den Leichen der Bürger« die Autokratie zu festigen. Die Schlussfolgerung ist klar und deutlich: »Das einzige Mittel, die Pogrome aus der Welt zu schaffen, ist die Vernichtung der zaristischen Selbstherrschaft«.[674] Wie man sieht, ist die Judenverfolgung einer der wichtigsten Punkte der Anklagerede gegen das Ancien Régime, das die Revolution stürzen soll.

Dieses Motiv wird in den darauffolgenden Jahren weiterentwickelt. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wird der »halbasiatische« Charakter des zaristischen Russland durch die besonders widerwärtige, gegen die Juden entfesselte Verfolgung belegt; leider werde der Rekurs auf die Pogrome von der »allgemeinen Neigung des Spießers zum Antisemitismus« begünstigt.[675] Der Zusammenbruch der Macht des Zaren und der alten »Landaristokratie«, merkt Stalin zwischen dem Februar und dem Oktober 1917 an, ermögliche es endlich, die Politik der »nationalen Unterdrückung« zu liquidieren, die die »abscheulichsten Formen, die Formen von Massakern und Pogromen an nehmen konnte«.[676]

In Russland überwunden, wird der Antisemitismus eine immer beängstigendere Bedrohung in Deutschland. Stalin wartet nicht Hitlers Machtübernahme ab, um Alarm zu schlagen: In einer am 12. Januar 1931 gegenüber der US-amerikanischen ›Jewish Telegraph Agency‹ abgegebenen Erklärung stellt er den »Rassenchauvinismus« und den Antisemitismus als eine Art von »Kannibalismus« und als Rückkehr in den »Dschungel« hin; diese Stellungnahme wird in Russisch in der › Prawda‹ vom 30. November 1936 wiederveröffentlicht, als es darum geht, die Regierungen und die öffentliche Weltmeinung vor der furcht baren Gefahr zu warnen, die Europa und die Welt bedrohte.[677]

In denselben Kontext kann man die Stellungnahme Kirows (dessen Frau jüdischer Herkunft war) gleich nach der Machtübernahme Hitlers einreihen: Er brandmarkt »den deutschen Faschismus mit seiner Ideologie der Pogrome, seinem Antisemitismus, seiner Vorstellung von höheren und niederen Rassen« als den Erben der russischen Schwarzhunderter.[678] Diese letzte Betrachtung ist besonders bedeutsam. Der Krieg liegt in der Luft und das Näherrücken des Zusammenstoßes bringt die sowjetische Führung immer mehr dazu, an den Patriotismus zu appellieren und damit das Element der Kontinuität in der Geschichte des russischen Volkes und seines Kampfes gegen Aggressoren und Invasoren herauszustreichen. Diese Tendenz verstärkt sich natürlich mit Beginn des Unternehmens Barbarossa. Dennoch legt Stalin am 6. November 1941 nicht nur den Akzent auf das »reaktionäre Pogromwesen« Nazideutschlands, sondern beschreibt den Feind, der inzwischen vor den Toren Moskaus steht, wie folgt:

Dem Wesen der Sache nach ist das Hitlerregime eine Kopie jenes reaktionären Regimes, das in Russland unter dem Zarismus bestanden hat. Man weiß, dass die Hitlerleute die Rechte der Arbeiter, die Rechte der Intelligenz sowie die Rechte der Völker ebenso gern mit Füßen treten, wie das zaristische Regime sie mit Füßen getreten hat, dass sie ebenso gern mittelalterliche Judenpogrome veranstalten, wie sie das zaristische Regime veranstaltet hat. Die Hitlerpartei ist eine Partei der Feinde der demokratischen Freiheiten, eine Partei mittelalterlicher Reaktion und finsterster Pogrome.[679]

Obwohl er einen leidenschaftlichen Aufruf zur nationalen Einheit im Großen Vaterländischen Krieg gegen die Invasoren verbreitet, kritisiert Stalin, wie schon Kirow, das Naziregime hinsichtlich einiger wesentlicher Aspekte als Fortsetzer des von der Oktoberrevolution gestürzten Zarismus. Diese Haltung verdient ganz besondere Aufmerksamkeit, wenn man sie mit jener vergleicht, die der US-amerikanische Präsident und seine Mitarbeiter eingenommen haben, die »zögerten, öffentlich die antisemitische Politik des deutschen Diktators zu kritisieren«.[680] Im Übrigen hatte sich gerade F. D. Roosevelt im Jahre 1922 für eine Einschränkung der jüdischen Präsenz in Harvard und an den US-amerikanischen Universitäten im Allgemeinen ausgesprochen.[681] Noch weniger hätte eine öffentliche Kritik an den Judenverfolgungen des Dritten Reichs ein Staatsmann wie Churchill vorbringen können, der bekanntlich noch 1937 die unselige Rolle des Judentums in der bolschewistischen Agitation betont hatte. Im gleichen Jahr schrieb der englische Staatsmann einen Artikel (der dann unveröffentlicht blieb), der die Juden zumindest teilweise selbst für die Feindseligkeit verantwortlich machte, die ihnen entgegenschlug.[682] Genau entgegengesetzt verhält sich Stalin: Als »Pogromhelden« werden die Nazis weiterhin in der Rede vom 6. November 1943 abgestempelt.[683] Bedeutsam ist aber vor allem die ein Jahr darauf ebenfalls anlässlich des Jahrestags der Oktoberrevolution gehaltene Rede. In diesem Fall fügt sich die übliche Verurteilung der »faschistischen Pogromhelden«, vor deren Barbarei die »Zivilisation Europas« gerettet zu haben, Verdienst des Sowjetvolks sei, in einen allgemeineren Kontext ein, der die zentrale Rolle der »Rassentheorie« und des »Rassenhasses« in der Doktrin und in der Praxis des Nazismus hervorhebt, der daher eine »kannibalische Politik« betreibe.[684] Der Bericht von Ende 1944, am Vorabend des Zusammenbruchs des Dritten Reichs, nahm so das Motiv wieder auf, das schon im Interview vorzufinden ist, das Stalin zwei Jahre vor der Machtübernahme Hitlers der ›Jewish Telegraph Agency‹ gegeben hatte. Hitler nimmt nach der Aggression gegen die Sowjetunion nicht nur verbissener denn je das Motiv des Kampfes gegen die jüdisch bolschewistische Bedrohung auf, sondern scheint direkt auf die öffentliche Kritik aus Moskau an dem »reaktionären Pogromwesen« des Dritten Reichs antworten zu wollen. Es handelt sich um Stalins Rede vom 6. November 1941, Jahrestag der Oktoberrevolution, die wir schon kennen. Zwei Tage später übt Hitler in München, bei einem Anlass, der für das Naziregime ebenso feierlich war (Gedenkfeier für den Putschversuch von 1923) gleichfalls öffentlich Kritik an der Sowjetunion:

Der Mann, der vorübergehend der Herr dieses Staates wurde, ist nichts anderes als ein Instrument in der Hand dieses allmächtigen Judentums und dass, wenn Stalin auf der Bühne vor dem Vorhang sichtbar ist, hinter ihm jedenfalls Kaganowitsch und alle diejenigen Juden stehen, die in einer zehntausendfachen Verästelung dieses gewaltige Reich führen.[685]

Eine These, die einige Zeit später bei einem Tischgespräch bekräftigt wird: »Denn hinter Stalin stehe der Jude«.[686] Wir haben es mit einem konstanten Motiv der Nazipropaganda zu tun: Schon 1938 hatte Goebbels ein Buch (Juden hinter Stalin) gepriesen, das sich vornahm, die Schandtaten des »Judentums« in der UdSSR zu enthüllen.[687] Unter diesen Voraussetzungen ist der Krieg zur Versklavung der Sowjetunion gleichzeitig ein Krieg zur Vernichtung der Juden. Der berüchtigte Kommissarbefehl, der die sofortige Liquidierung der politischen Kommissare der Roten Armee und der Kader der kommunistischen Partei und des Regimes forderte, trifft natürlich besonders unerbittlich die ethnische Gruppe, die verdächtigt wird, den Großteil der Kader und Kommissare zu stellen. In seiner Rede vom 8. November 1941 spricht Hitler von den Machthabern in der Sowjetunion als von »einer riesigen Organisation jüdischer Kommissare«.[688]

Davon sind die deutschen Soldaten überzeugt, die von der Ostfront über die »jüdische, bolschewistische Grausamkeit« berichten und ständig die »verdammten Juden« mit den »verfluchten Bolschewiken« gleichsetzen. Ja, der »Kampf gegen den Bolschewismus« sei gleichzeitig ein »Kampf gegen das Judentum«; es gehe darum, ein für alle Mal »das Judenregime in Rußland«, die »Zentrale der jüdisch-bolschewistischen ›Weltbeglücker‹« zu vernichten. Bei genauerem Hinsehen handele es sich um ein Land, wo »die gesamte Leitung aller Institutionen« in Judenhand ist und wo das Volk »unter der Knute des Judentums« steht. Das so genannte »Sowjetparadies« sei in Wahrheit »ein Paradies für Juden«, ein »Judensystem« und genauer gesagt, »das satanischste und verbrecherischste System aller Zeiten«.[689] Es ist gut verständlich, dass die von der genozidalen Wut des Dritten Reichs besonders ins Visier genommene ethnische Gruppe sich im Kampf gegen ihre Peiniger aus gezeichnet hat: »Im Verlauf des Krieges erhielten die Juden im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Medaillen als jede andere sowjetische Nationalität«.[690] Ist diese feierliche öffentliche Anerkennung mit der These vom Antisemitismus Stalins vereinbar?

Bekanntlich hat die US-amerikanische jüdische Gemeinschaft im Jahre 1937 eindeutig gegen diese Legende Stellung genommen. Fünf Jahre später geht Arendt noch weiter: Sie schreibt der Sowjetunion das Verdienst zu, den Antisemitismus »im Zusammenhang mit einer gerechten und sehr modernen Lösung der Nationalitätenfrage« »einfach liquidiert« zu haben.[691] Dieses positive Urteil ist besonders bedeutsam, weil gerade die exemplarische Lösung der jüdischen und der nationalen Frage im Allgemeinen in dem von Stalin regierten Land von Arendt angeführt wird, um die These jener jüdischen Kreise zu widerlegen, die dazu neigten, das Schreckbild eines ewigen Antisemitismus an die Wand zu malen. Drei Jahre später bestätigte die bedeutende jüdische Denkerin, dass es das Verdienst der Sowjetunion gewesen sei, »unterschiedliche Bevölkerungen (die jüdische eingeschlossen) auf der Grundlage der nationalen Gleichheit organisieren« zu können (vgl. oben, Vorwort).

Zumindest bis 1945 scheint es keine Spuren von Antisemitismus in der Sowjetunion zu geben, in einem Land, das für Hitler, auf jeden Fall nach der Entfesselung des Unternehmens Barbarossa, »der größte Diener des Judentums« ist.[692]

10. Stalin und die Unterstützung der Gründung und Konsolidierung Israels

Wenn die entschiedene Behauptung Furets, Stalin habe zumindest ab 1933 Gleichgültigkeit gegenüber der jüdischen Tragödie oder echten Antisemitismus gezeigt, eindeutig jeder Grundlage entbehrt, ist dann die von dem schon zitierten US-amerikanischen Historiker vorgeschlagene Datierung glaubwürdiger, der diesen Wahn bei Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg auftreten sieht? Wir kennen schon die verärgerte Reaktion der US-amerikanischen jüdischen Gemeinschaft auf die von Trotzki 1937 gegen Stalin erhobene Anklage des Antisemitismus. Das Bild hat sich acht Jahre später nicht geändert. Besorgnis erregen eher Kreise und Persönlichkeiten des hohen US-Militärs. Man denke an General George S. Patton. Dieser träumt vom sofortigen Krieg gegen die Sowjetrussen: »Früher oder später werden wir gegen sie kämpfen müssen (…). Warum nicht jetzt, wo unser Heer noch intakt ist und wir diese verdammten Russen in drei Monaten nach Moskau zurückwerfen könnten? Wir könnten das leicht mit den deutschen Truppen, die wir haben, tun, man braucht sie nur zu bewaffnen und mitzunehmen. Sie hassen diese Bastarde«.[693] Unglücklicherweise seien die Juden, dem US-General zufolge, gegen diesen Plan. Voller Ressentiment Deutschland gegenüber, verspürten sie Sympathie für die UdSSR: Der »offen kundige semitische Einfluss in der Presse« ziele darauf ab, »den Kommunismus zu fördern«. Eine eindeutige Kontinuität mit der nazistischen Deutung des Kommunismus als Subversion und jüdisch-bolschewistische Verschwörung ist festzustellen: Die Feinde sind immer noch die Kommunisten, die Sowjetrussen und die Juden, welche »sogar unter den Tieren stehen«. Infolge besonders unvorsichtiger Erklärungen wurde General Patton schließlich entlassen, aber seine Orientierung ist nicht die einer isolierten Persönlichkeit.[694]

Wegen ihrer Bindung an das Judentum unter Anklage gestellt, verfolgt die Sowjetunion tatsächlich eine zutiefst wohlwollende Politik gegenüber einem Volk, das gerade eine furchtbare Verfolgung überstanden hat. Bei der Rekonstruktion dieses Kapitels der Geschichte stütze ich mich hauptsächlich auf ein Buch, das sich bemüht den ›Antisemitismus‹ des von der UdSSR angeführten sozialistischen Lagers zu denunzieren. Beginnen wir mit Ungarn. Das Gerüst des kommunistischen Regimes, das im Gefolge der Roten Armee eingesetzt wird, bilden »Kader, die sich in Moskau aufgehalten haben, fast alle Juden«. Tatsache ist, dass »Stalin keine andere Wahl hatte, da er nur (ihnen) traute«. »Als die ersten Wahlen des Zentralkomitees stattfinden, sind ein Drittel Juden«. Dieselbe ethnische Herkunft hat auch die Führungsspitze, bei Rákosi angefangen, »dem ersten jüdischen König von Ungarn«. Autor dieser wohlwollenden Definition ist einer der engsten Mitstreiter Stalins und zwar Berija (wahrscheinlich ebenfalls jüdischer Herkunft).[695] Nicht viel anders ist die Lage im Rest des sozialistischen Lagers. Wir beschränken uns auf zwei weitere Beispiele. In Polen war die »jüdische Präsenz in den Reihen der Kommunisten und vor allem auf dem höchsten Niveau des Regimes« relevant. Und das ist noch nicht alles. »Der Sektor, in dem die Identifikation zwischen Juden und kommunistischer Macht am stärksten auftrat, war ein ganz besonderer: Der Sicherheitsapparat«.[696] In der Tschechoslowakei werden nicht nur die Juden als solche, sondern sogar die Zionisten »von der Regierung der Nachkriegszeit begünstigt« und sind in ihr zugegen.[697]

Eine ähnliche Betrachtung kann man hinsichtlich Deutschlands anstellen: »In der russischen Zone erhielten die Juden tendenziell die besseren Stellen«. Im Übrigen leitete die kulturelle Aktivität von sowjetischer Seite aus ein brillanter Kunsthistoriker, Oberst Alexander Dymschitz, der ebenfalls jüdischer Herkunft war. Und die Präsenz der Spitze der jüdisch-deutschen Intelligenz ließ sich stark in der kulturellen Wiedergeburt verspüren, die aus der Trauer und den Ruinen hervorzugehen begann.[698] Gewiss änderte sich die Lage nicht mit Gründung der Deutschen Demokratischen Republik:

Im kommunistischen Deutschland, das offiziell am 7. Oktober 1949 gegründet wurde, erfreuen sich die Juden anfangs einer günstigen, um nicht zu sagen privilegierten Behandlung. Als ehemals Verfolgte haben sie das Recht auf spezielle Renten für die Alten und für die kranken oder invaliden jungen Leute, und die Verfassung garantiert die Religionsfreiheit. Peter Kirchner erzählt: »Die Renten waren für uns Juden viel höher als für die anderen. Sie schwankten zwischen 1.400 und 1.700 Mark, während die normalen 350 Mark nicht überstiegen«. Die Juden fühlten sich besonders beruhigt, weil sie bei den Wahlen von 1950 fünfzehn Abgeordnetensitze erhielten. »Juden waren außerdem der Minister für Propaganda und Information, Gerhart Eisler, der Nachrichten-Direktor des Staatsradios, Leo Bauer, der Direktor der kommunistischen Tageszeitung ›Neues Deutschland‹, Rudolf Herrnstadt, und der Verantwortliche einer Abteilung des Gesundheitsministeriums, Leo Mandel«.[699]

Auch aus diesem Grund erfreue sich die Sowjetunion so großer Beliebtheit bei den »Zionisten in der ganzen Welt«. Sie gingen so weit, »alles Russische zu bewundern«: darauf weist Arendt hin. Sie drückt noch im Mai 1948 ihre Missbilligung über den »antiwestlichen und prosowjetischen Kurs« der zionistischen Bewegung aus, die dazu tendiere, Großbritannien als »antisemitisch« und die Vereinigten Staaten als »imperialistisch« zu verurteilen.[700]

Die hier beklagte Haltung ist gut zu verstehen. In Nürnberg hatten vor allem die sowjetischen Vertreter der Anklage die Aufmerksamkeit auf das Grauen des Judenmords gelenkt, und sie sie taten dies nicht ohne rhetorische Emphase, indem sie eine stark zweckgerichtete These formulierten: »Die faschistischen Verschwörer planten die Vernichtung des jüdischen Volkes bis zum letzten Menschen in der ganzen Welt und setzten sie im ganzen Zeitraum ihrer Verschwörung von 1933 an in die Tat um« (in Wahrheit begann die »Endlösung« sich erst nach dem Steckenbleiben des Unternehmens Barbarossa abzuzeichnen). Einer der dramatischsten Momente des Prozesses war die ebenfalls von den sowjetischen Vertretern der Anklage unterstützte Aussage von vier Juden, darunter eine Frau, die sich so ausdrückte: »Im Namen aller Frauen Europas, die in den Konzentrationslagern Mütter geworden sind, frage ich die deutschen Mütter: ›Wo sind jetzt unsere Kinder?‹«.[701]

Dies sind vor allem die Jahre, in denen die UdSSR energisch den Zionismus und die Schaffung Israels unterstützte. Stalin spielt dabei eine erstrangige und vielleicht entscheidende Rolle: Ohne ihn »hätte der jüdische Staat nur schwerlich das Licht in Palästina erblickt«, so weit geht die Behauptung eines russischen Historikers, der Dokumente heranzieht, die erst seit kurzem freigegeben worden sind.[702] Wie ein anderer (diesmal westlicher) Autor festgestellt hat, klingt jedenfalls die Rede, die der sowjetische Außenminister Andrej A. Gromyko im Mai 1948 vor der UNO gehalten hat, »fast wie ein zionistisches Propagandahandbuch«: Die Gründung Israels sei notwendig, weil »die Juden in den von Hitler besetzten Gebieten eine fast vollständige physische Vernichtung erlitten haben«, während »kein westeuropäischer Staat in der Lage gewesen ist, dem jüdischen Volk angemessenen Beistand bei der Verteidigung seiner Rechte und sogar seiner Existenz zu leisten«.[703]

Noch dazu stößt Stalin mit seiner Unterstützung des Zionismus manchmal mit Großbritannien zusammen. Letzteres benutzte die Militäreinheiten der ehemaligen Repubblica di Salò und ihre »Zweimann torpedoträger« der X-Mas-Flotte, »um ein Schiff (aber vielleicht waren es zwei Schiffe)« in die Luft zu sprengen, »das nach Ende der Kriegshandlungen Waffen aus Jugoslawien für die Juden in Palästina transportierte«.[704] Zu diesem Zeitpunkt wird die Regierung in London als »der Hauptfeind der Juden« wahrgenommen.[705] Der Verdacht bzw. der Vorwurf des Antisemitismus lastet gewiss nicht auf der Sowjetunion, die darum bemüht ist, die Gründung des Staates Israel auf diplomatischer und auch auf militärischer Ebene zu unterstützen, sondern auf Großbritannien, das bei dem Versuch, diese Pläne zu verhindern, nicht davor zurückschreckt, politische und militärische Kreise zu nutzen, die in der Repubblica di Salò ihren rechtschaffenen Beitrag zur »Endlösung« geleistet hatten!

Man kann aber eine Betrachtung allgemeinerer Art anstellen. In der Nachkriegszeit verfolgt Stalin »eine überwiegend projüdische Palästinapolitik«. Dazu haben sicher politische und geopolitische Erwägungen beigetragen: Der Wunsch, die britischen Positionen im Nahen Osten zu unterhöhlen (ein Ziel das auch Truman anstrebt, der nicht umsonst eben falls damit einverstanden ist, die Gründung des Staates Israel zu unter stützen) und den Beistand oder zumindest das Wohlwollen der US amerikanischen und europäischen jüdischen Gemeinschaft im Kalten Krieg zu gewinnen; außerdem gab es die Hoffnung, dass der neue Staat mit dem entscheidenden Beitrag der aus Osteuropa kommenden und oft links eingestellten Einwanderer eine philosowjetische Haltung ein nehmen würde. Tatsache ist, dass die militärische Hilfe, die der zionistischen Bewegung 1945 über Jugoslawien zugesichert wird, kein isolierter Fall bleibt. Drei Jahre später liefert die Sowjetunion, sich diesmal auf die Tschechoslowakei stützend, Waffen an Israel und lässt sogar die Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 29. März 1948 unbeachtet, indem sie den Zustrom junger Juden aus Osteuropa organisiert, die das Heer des entstehenden jüdischen Staates im Krieg gegen die angrenzenden arabischen Länder auffüllen. Auch mit Moskaus Unterstützung funktioniert, was die »Prag-Jerusalem-Achse« genannt wurde. »Die Waffen, die die Soldaten des im Entstehen begriffenen Staates Israel benutzen, um ihren Unabhängigkeitskrieg zu führen, sind tschechoslowakischer Produktion (…). Gerade als die Regierungen sich weigerten, Waffen an den jüdischen Staat zu verkaufen, entschied die Tschechoslowakei, sie ganz offen weiterzuverkaufen, und gewährte sogar günstige Preise (…). So wurde auf tschechischem Boden die israelische Luftwaffe gegründet: hier organisierte man Übungen für die Fallschirmspringer«.[706] Eine regelrechte Luftbrücke tritt in Aktion, die das zionistische Heer mit Waffen, Ausbildern und sogar mit Freiwilligen versorgt.[707] Im Herbst des gleichen Jahres berichtete aus Paris der israelische Außenminister seinem Ministerpräsidenten Ben Gurion zufrieden, dass die Sowjetdelegierten bei den UN-Beratungen über die Palästina-Frage als »Sachwalter« Israels auftreten.[708]

Man kann zumindest zugeben, dass Stalins Sowjetunion wesentlich zur Gründung und zur Konsolidierung des jüdischen Staates bei getragen hat. Auch was die Beziehungen zum Judentum und zur jüdischen Kultur im Allgemeinen betrifft, tauchen interessante Elemente auf. Noch mitten in der so genannten ›antisemitischen Kampagne‹ trägt »ein Vorort von Moskau« den Namen »Neues Jerusalem«: Dort hat Ilja Ehrenburg seine Datscha, der jüdische Intellektuelle also, der in der damaligen Sowjetunion eine kulturelle und politische Rolle ersten Ranges spielte und dem nicht zufällig der Stalin-Preis verliehen wurde, eine Anerkennung, die auch andere jüdische Schriftsteller und »einige jüdische Musiker mit internationalem Ruhm« erhalten haben.[709]

Welchen Sinn hat es daher, in Bezug auf Stalin von »Antisemitismus« zu reden? Der von ihm zur Gründung und Konsolidierung des Staates Israel geleistete Beitrag ist gleichzeitig ein solcher zur Nakbah, d. h. zur nationalen »Katastrophe« des palästinensischen Volkes, das seit Jahrzehnten in den Flüchtlingslagern und in den Territorien da hinsiecht, die einer unerbittlichen militärischen Okkupation und einem rasanten Prozess der Kolonisation unterworfen sind. Sollte Stalin absurderweise ›Antisemitismus‹ vorgeworfen werden, so wäre es ein antiarabischer ›Antisemitismus‹. Diesbezüglich muss allerdings verdeutlicht werden, dass die von der Sowjetunion bevorzugte Option die »eines unabhängigen und multinationalen Staates war, der die Interessen sowohl der Juden als auch der Araber respektieren würde«.[710]

11. Die Wende zum Kalten Krieg und die Erpressung des Ehepaars Rosenberg

Noch am Vorabend von Stalins Tod bemerkte Kerenski, der inzwischen in den USA lebte, in einem Gespräch mit einem israelischen Historiker, dass der Antisemitismus-Vorwurf, der in jenen Jahren gegen die Sowjetunion erhoben wurde, nur eine Erfindung des Kalten Krieges sei.[711] Genau dieser ist der Wendepunkt, und zu seinem Verständnis sollte man sich ins Klima jener Jahre zurückdenken. Ein Kalter Krieg, der sich je den Augenblick in einen nuklearen Holocaust verwandeln kann, kennt auf ideologischem Gebiet sicher keine Grenzen. Auf der einen wie auf der anderen Seite beklagt man den Antisemitismus, der im feindlichen Lager wüte. Der Prozess und das Todesurteil in den Vereinigten Staaten gegen das Ehepaar Rosenberg, Kommunisten und Juden, die des Hochverrats und der Spionage zugunsten Moskaus beschuldigt werden, findet etwa gleichzeitig statt mit den Prozessen und den Todesurteilen, die im sozialistischen Lager die ›zionistischen‹ Persönlichkeiten treffen, die des Hochverrats und der Spionage zugunsten Tel Avivs und Washingtons bezichtigt werden. Geringer Loyalität verdächtigt und aufgefordert, unmissverständliche Beweise an Patriotismus zu erbringen, ist die jüdische Gemeinschaft in beiden Fällen mehr oder weniger explizitem Druck und Erpressungen ausgeliefert.

Das Klima des Verdachts war in den USA nicht weniger unerträglich als in der UdSSR. Es ist nicht leicht, diese Zeit heutzutage nachzuempfinden, wo alle Welt die besondere Beziehung zwischen Washington und Tel Aviv vor Augen hat, doch beim Ausbruch des Kalten Krieges war die Situation ganz anders: Oft schlossen die »nur für Weiße« bzw. »nur für Kaukasier« reservierten Ortschaften auch noch die Juden aus, die mehr oder weniger wie die Schwarzen für »dumm« gehalten wurden. Noch im Jahre 1959 verspürte die Anti-Defamation League das Bedürfnis, die von den Juden wegen des Andauerns dieser Praxis erlittenen Schikanen zu beklagen.[712] Alles in allem waren »die 1940er und 1950er Jahre für die jüdische Minderheit eine traumatische Periode«.[713] Noch waren die Kreise aktiv, die Judentum mit Kommunismus in Verbindung brachten, die die Juden als Fremde auf US-amerikanischem Boden und als Komplizen des sowjetischen Todfeindes betrachteten und die mit den Texten Henry Fords sogar die Protokolle der Weisen von Zion neu veröffentlichten.[714] Natürlich fand dies nach Auschwitz und d. h. nach dem Bekanntwerden des Grauens, zu dem der Antisemitismus geführt hatte, nicht mehr den früheren Anklang. Aber dennoch: »Die Drohung des antijüdischen Vorurteils war keineswegs verschwunden. Im Jahre 1953 waren die Mehrheit der Angestellten, die suspendiert oder denen andere Aufgaben in den Radar-Laboratorien von Fort Monmouth in New Jersey zugeteilt wurden, Juden«.[715]

Dem französischen Kommunisten Jacques Duclos zufolge, der sich aktiv im Kampf gegen die Verfolgung betätigte, deren Opfer das Ehe paar Rosenberg in den Vereinigten Staaten wurde, spielte der Antisemitismus in den Prozessen, in denen in der Tschechoslowakei die »zionistischen« Verräter im Dienst der Kriegspolitik Washingtons zurecht verurteilt worden seien, keinerlei Rolle.[716] Spiegelbildlich entgegengesetzt ist dem die Auffassung, die die Feinde der Sowjetunion eifrig verbreiteten. Indem das American Jewish Committee den Vorwurf des Antisemitismus zurückweist, den Duclos gegen die Vereinigten Staaten erhob, spricht es sich ohne Zögern für die Hinrichtung des Ehepaars Rosenberg aus und widersetzt sich jedem Gnadenakt: »In den Rängen und Reihen der amerikanischen Juden blickte man voller Abscheu« auf die kommunistischen Spione und Aktivisten (seien es nun Juden oder Nichtjuden): Das sollten alle in den USA wissen;[717] zu den Mitarbeitern McCarthys zählen nicht zufällig auch zwei Juden, sicher um den Kommunismus zu bekämpfen, aber auch um die patriotische Loyalität ihrer Gemeinschaft unter Beweis zu stellen.[718]

Es handelt sich nicht nur darum, die Vereinigten Staaten gegen den Vorwurf des Antisemitismus zu verteidigen. Das FBI arbeitete einen Plan aus, für den sich ein jüdischer Rechtsanwalt verwendete; er wird mit einem ganz präzisen Auftrag betraut:

Das Vertrauen der Rosenbergs im Gefängnis zu gewinnen, und sie zu überzeugen zu versuchen, dass die UdSSR in Wahrheit eine antisemitische Macht war, die die Juden vernichten wollte. Wenn ihre Illusionen über die Sowjetunion erst einmal zerstreut wären, hätten die Rosenbergs im Tausch gegen einen »Appell an die Juden aller Länder, die kommunistische Bewegung zu verlassen und sie zu zerstören zu versuchen, Gnade erfahren können«.[719]

Im Fall der beiden kommunistischen Aktivisten, die am 19. Juni 1953 mutig den elektrischen Stuhl bestiegen, unwirksam, erzielt die Erpressung auf anderer Seite das erwünschte Resultat: »In dem bedrohlichen Klima des Kalten Krieges darf man sich kaum wundern, dass mehrere hochgeschätzte jüdische Intellektuelle der Nation, einige zuvor links stehende eingeschlossen, sich genötigt sahen, eine Tarnung zu suchen und sogar Wendehälse zu werden«;[720] nicht wenige engagieren sich, den ›Antisemitismus‹ Stalins und der Sowjetunion anzuklagen.

Doch diese schwarze Legende stößt auf ernsthafte Schwierigkeiten, bevor sie sich durchsetzen kann. Noch 1949 stellte einer der Vorkämpfer des Kalten Krieges, nämlich Churchill, wiederholt einen vielsagen den Vergleich zwischen Nazismus und Kommunismus an: der Erste sei weniger gefährlich gewesen, da er sich »nur auf den Herrenvolk-Stolz und den antisemitischen Hass« stützen konnte; nicht so der Zweite, der auf »eine Kirche kommunistischer Anhänger, deren Missionare sich in allen Ländern« und in allen Völkern befänden, zählen könne. Folglich werden auf der einen Seite die nationalistischen und rassistischen Hassgefühle, angefangen bei denen gegen das jüdische Volk, geschürt; auf der anderen Seite haben wir einen universalistischen Elan, auch wenn dieser instrumentell einem Vorhaben »imperialistischer Expansion« diene.[721] Noch bezeichnender ist vielleicht Adornos Beitrag aus dem Jahre 1950. Als er seine »Studies in the Authoritarian Personality« veröffentlicht, unterstreicht er »die Korrelation zwischen Antisemitismus und Antikommunismus« und fügt hinzu: »Während der letzten Jahre ist der ganze Propagandamechanismus in Amerika darauf verwendet worden, den Antikommunismus im Sinne eines irrationalen ›Terrors‹ zu entwickeln, und wahrscheinlich sind nicht viele Personen – abgesehen von den Anhängern der ›Parteilinie‹ – in der Lage gewesen, dem unaufhörlichen ideologischen Druck zu widerstehen«.[722] Zu diesem Zeitpunkt nimmt der Vorwurf des Antisemitismus, weit entfernt sich gegen Stalin und seine Anhänger zu richten, immer noch die Antikommunisten ins Visier.

Von Anfang an ungleich, herrscht im Kräfteverhältnis zwischen den beiden Lagern des Kalten Krieges immer deutlicher der Westen vor, und zwar sowohl auf militärischer Ebene im eigentlichen Sinn, als auch hinsichtlich der ideologischen Offensive und der multimedialen Feuer kraft. Von den beiden gegeneinander gerichteten Vorwürfen des Antisemitismus ist heute nur einer übrig geblieben, während der andere sogar in Vergessenheit geraten ist. Es muss hinzugefügt werden, dass, abgesehen von Stalin, dieser Vorwurf auch seine Nachfolger, Chruschtschow inbegriffen, trifft: Auch er hätte, man weiß nicht recht warum, »ausgeprägten Antisemitismus« bewiesen!.[723] Jedoch:

Im Jahre 1973 repräsentierten die Juden, die 0,9% der sowjetischen Bevölkerung ausmachten, 1,9% aller Studenten des Landes, 6,1% des wissenschaftlichen Personals, 8,8% aller Wissenschaftler.[724]

Ein englischer Historiker, der ebenfalls bemüht ist, Stalin als Antisemiten zumindest von den 1930er Jahren an hinzustellen, gibt nicht nur zu, dass die vom sowjetischen Führer frequentierten Personen und sogar »viele seiner engsten Mitarbeiter« »jüdischer Herkunft« waren, sondern er fügt noch hinzu, dass 1937 die »Juden in der Regierung die Mehrheit bildeten« (bzw. im Regierungsapparat).[725] Nur schwerlich können die statistischen Daten und die empirische Untersuchung zur Unterstützung der These des Stalinschen und sowjetischen Antisemitismus herangezogen werden!

12. Stalin, Israel und die jüdischen Gemeinschaften Osteuropas

Sicher ist die jüdische Gemeinschaft nicht von den Konflikten ausgespart geblieben, die die Geschichte der Sowjetunion und des sozialistischen Lagers insgesamt gekennzeichnet haben. Befassen wir uns in erster Linie mit der Lage, die sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gründung Israels in Osteuropa herausbildet. Wir sprachen schon von der starken jüdischen Präsenz im Staats- und Regierungsapparat. Abgesehen von der Zusammensetzung der Institutionen, muss man das Gefühl der Dankbarkeit der Juden zum Beispiel in Ungarn berücksichtigen, weil es – berichtet ein wichtiger Zeuge – »nur die sowjetischen Soldaten waren, die uns dem sicheren Tod entrissen haben«.[726] Doch war der Honigmond, der eine Zeit lang vorzuherrschen schien, von kurzer Dauer. Der Konflikt lässt nicht auf sich warten: Sollten die Juden, die nach Ungarn zurückkehrten und denen es gelungen war, der genozidalen Politik des Dritten Reichs und seiner Schergen zu entrinnen, sich für den Wiederaufbau des zerstörten Landes einsetzen oder in den jüdischen Staat auswandern, der im Nahen Osten Form an zunehmen begann? Anfangs sind die Befürworter der zweiten Option ungestört am Werk:

Zionistische Funktionäre (…) leiten die ungarische Sektion des American Jewish Joint Committee, das in der Nachkriegszeit beachtliche Geldmittel für die Wiederherstellung der jüdischen Gemeinschaften zur Verfügung stellte. Dies war der wichtigste Kanal ökonomischer Hilfe für die Überlebenden. Ein zionistischer Sympathisant, Dr. Fabián Herskovits, wird Rabbiner in der berühmtesten Synagoge von Budapest in der Dohány-Straße und von dort aus hält er jede Woche Reden zugunsten der Auswanderung nach Israel (…). Man sagte damals, dass die Zionisten über eine feinmaschigere und wirksamere Organisation verfügten als die ungarischen Kommunisten (…). Man rechnet, dass zirka ein Fünftel der jüdischen Bevölkerung den Weg der Auswanderung gewählt hat.[727]

Diese massive Auswanderung, vor allem in qualitativer Hinsicht ein regelrechter Aderlass, der das Land der Führungskräfte beraubte, die es so verzweifelt brauchte, um aus den Trümmern des Krieges zu neuem Leben zu erstehen, musste der Regierung und der Partei (die Juden, die die zionistische Option abgelehnt hatten, eingeschlossen) unbedingt Sorge bereiten:

Die Kommunisten (…) blockierten nicht nur im Jahre 1948 den Exodus der Juden, sondern waren auch in der Lage, ihre Hegemonie in der jüdischen Welt durchzusetzen. Der zionistische Führer Ariè Yaari erinnert sich: »Für uns war es ziemlich problematisch, die Personen zu überzeugen, nach Palästina zu übersiedeln. Vor allem die Älteren hatten Angst, ein neues Leben mit einer neuen Sprache zu beginnen. Das Regime bot ihnen indes politische Ämter an, die die Juden noch nie bekleidet hat ten. Sie konnten Richter, Offiziere werden, in die Regierung eintreten. Die kommunistische Bewegung war ziemlich schwach und brauchte viele Führungskräfte. Wie konnten die Juden der Versuchung widerstehen?«.[728]

Wie man sieht, ergibt es keinen Sinn, von Antisemitismus zu reden. Es gibt nicht nur keine Spur negativer Diskriminierung der Juden, sondern allenfalls genießen diese eine bevorzugte Behandlung, wenn sie akzeptieren, in Ungarn zu bleiben. Man muss hinzufügen, dass der Kampf, von dem hier gesprochen wird, die jüdische Gemeinschaft in ihrem Inneren zerrüttet schon bevor er sie der kommunistischen Welt entgegensetzt. Waren sie schon bei jenen Juden gescheitert, die dafür optieren, sich in das Land zu integrieren, dessen Staatsbürger sie sind,

gelang es (den Zionisten) trotz aller Bemühungen nicht, unter den Juden die Idee einer ethnischen Trennung zu verbreiten. Als die Kommunisten Ende der 1940er Jahre die zionistische Bewegung verboten, bewies die übergroße Mehrheit der Juden, dass sie den Diskurs einer jüdischen nationalen Identität überhaupt nicht aufgegriffen hatte. Die Idee, die jüdische Gemeinschaft solle sich als nationale Minderheit betrachten, war das Letzte, was den Juden in den Sinn kam, die wieder auf der Suche nach einer neuen Assimilation waren.[729]

Eine ähnliche Krise findet in der Sowjetunion statt: Auch in diesem Fall durchzieht am Ende der Konflikt die ganze jüdische Gemeinschaft. Vor der Gefährlichkeit des Zionismus – der sich schuldig mache, den Wiederaufbau des von Hitlers Wehrmacht zerstörten und gepeinigten Lan des und Vorkämpfers des Sozialismus in der Welt zu behindern und ein neues Judenproblem zu schaffen, das in der Sowjetunion inzwischen glücklich gelöst sei – warnt der Schriftsteller Ilja Ehrenburg in den Spalten der ›Prawda‹ vom 21. September 1948.[730] Die Stellungnahme gegen den Zionismus verbindet sich mit der Verurteilung des Antisemitismus, der bezeichnenderweise im Kielwasser Stalins als Ausdruck von »Rassenchauvinismus« und »Kannibalismus« bezeichnet wird.[731] Vielsagend ist das Gespräch zwischen Golda Meir und Ilja Ehrenburg, das 1948 in Moskau stattfand. Auf Meir, die ihre Verachtung für die assimilierten Juden zur Schau stellt (»mir gefällt es nicht, Juden zu sehen, die nicht Hebräisch oder zumindest Jiddisch sprechen«), reagiert Ehrenburg wütend: »Sie sind eine Dienerin der Vereinigten Staaten«.[732] Einem anderen Gesprächspartner gegenüber betont der sowjetische Schriftsteller:

Der Staat Israel muss verstehen, dass es in diesem Land kein Judenproblem mehr gibt, dass die Juden der UdSSR in Ruhe gelassen werden sollen und dass alle Versuche, sie zum Zionismus und zur Rückwanderung zu verleiten, aufhören müssen. Sie werden nicht nur von den (sowjetischen) Behörden, sondern auch von den Juden selber scharf bekämpft werden.[733]

Es steht außer Zweifel: Die kolossale Abwanderung von Wissenschaftlern, die sich abzeichnete, eröffnete unabhängig vom Kalten Krieg eine Kontroverse auch deshalb, weil die israelischen diplomatischen Vertreter zur Erreichung ihres Ziels die sowjetischen Behörden übergingen und einen direkten Kontakt zur sowjetischen jüdischen Gemeinschaft herstellten.[734] Jedenfalls wurde die Kontroverse umso schwerwiegen der, je deutlicher sich Israels Annäherung an den Westen abzeichnete: Die zahlreichen und bedeutenden sowjetischen Wissenschaftler jüdischer Herkunft wurden von der zionistischen Propaganda aufgefordert, auszuwandern und in ein Lager überzuwechseln, das entschlossen war, dasjenige Land zu erdrücken, das ihre Emanzipation und ihren sozialen Aufstieg möglich gemacht hatte. Und dennoch: »Trotz zunehmender Reibungen hatten autoritative Repräsentanten der UdSSR bis in das erste Halbjahr 1950 hinein Israel wiederholt des sowjetischen Beistands versichert, diesen allerdings vom neutralen Verhalten der israelischen Regierung in den Ost-West-Auseinandersetzungen abhängig gemacht«.[735]

Doch die letzten Illusionen Moskaus zerrinnen schnell. Der Bruch mit dem jüdischen Staat ist auch der frontale Zusammenstoß mit den im sozialistischen Lager noch recht aktiven zionistischen Kreisen, die jetzt erbarmungslos unterdrückt werden. In der Tschechoslowakei wird Slánský zum Tode verurteilt, der nach dem Zeugnis seiner Tochter »die Auswanderung nach Israel förderte«.[736]

Mehr Glück hatte in Rumänien Ana Pauker, die mit wenigen Monaten Gefängnis davonkam. Und doch haben wir es mit einem ähnlichen Fall zu tun: »Der Zionismus war schon seit längerer Zeit eine vom Regime verurteilte Ideologie, was aber bis zur Entlassung Paukers (als Außenministerin; D. L.), die den Weg ins Gelobte Land diskret offen gehalten hatte, im Jahre 1952 den Fluss der rumänischen Juden nach Israel nicht verhindert hatte«; ihr ist es zu verdanken, dass »nicht weniger als 100.000 Juden Rumänien verlassen haben, um sich in Israel niederzulassen«.[737]

Von daher versteht sich das wachsende Misstrauen Stalins, dem die Behauptung zugeschrieben wird, »jeder Jude ist ein Nationalist und ein Agent der amerikanischen Spionage«.[738] Die Wendung in der Haltung der jüdischen Gemeinschaften Osteuropas hat sicher viele Kommunisten an den ›Verrat‹ denken lassen, der der deutschen Sozialdemokratischen Partei bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs vorgeworfen wurde. Sollen wir den ausbrechenden Konflikt als »den Krieg Stalins gegen die Juden« deuten? Schon im Titel regt dies ein Buch an, das ein Journalist der »Jerusalem Post« zu diesem Gegenstand geschrieben hat. Ist diese Deutung aber wirklich überzeugender, als die Stalins, der »den Krieg der Zionisten gegen die Sowjetunion und das sozialistische Lager« an geklagt hatte? Ein Historiker (Conquest), der zwar darum bemüht ist, den Bolschewismus und den Kommunismus auf ein kriminelles Phänomen zu reduzieren, gibt aber zu, dass in der Sowjetunion »der Antisemitismus als solcher nie eine offizielle Doktrin war«, dass »die offene Verfolgung der Juden als Juden verboten war« und dass es keinerlei Bezug auf die »Rassentheorie« gab.[739]

Welchen Sinn hat es also, Stalin und Hitler gleichzusetzen? Der soeben zitierte Historiker fügt hinzu, dass Stalin »hoffte, Israel gegen den Westen auszuspielen, und fortfuhr, den Westen des Antisemitismus anzuklagen«.[740] Es ist aber nicht bekannt, dass der Naziführer seine Feinde als Antisemiten abstempelte! Conquest geht von der Voraussetzung aus, dass der Vorwurf des Antisemitismus, den Stalin gegen den Westen erhebt, äußerst lächerlich ist, aber er stellt sich noch nicht einmal die Frage, ob der gegen Stalin erhobene westliche Vorwurf des Antisemitismus stichhaltig ist. Warum eigentlich sollte die Instrumentalisierung nur auf einer Seite vorhanden sein? Und war um sollte als Erbe des Antisemitismus des Dritten Reichs das Land angegeben werden, das von Hitler (aber auch von weiten Bereichen der westlichen öffentlichen Meinung) lange Zeit als Inkarnation der ›jüdisch-bolschewistischen Verschwörung‹ und endgültige Bestätigung für die Glaubwürdigkeit und Gefährlichkeit des durch die Veröffentlichung der Protokolle der Weisen von Zion entlarvten Komplotts hin gestellt wurde? An den Mythos des »Krieges Stalins gegen die Juden« glauben jedenfalls nicht die zahlreichen und oft recht einflussreichen Israelis, die ihn nach der Nachricht von seinem Tode betrauern und ihm als einer »Sonne« huldigen, die »untergegangen ist« (vgl. oben, Vorwort).

Doch der Sieg Israels im Sechstagekrieg und die Verschärfung der palästinensischen Tragödie vertiefen zusätzlich noch die Kluft, die in Osteuropa die kommunistischen Machthaber von der jüdischen Gemeinschaft und den proisraelischen und prowestlichen Kreisen in ihrem Umfeld trennt. Sollen wir von Antisemitismus reden? Wenn wir uns der Rekonstruktion der beiden schon mehrmals zitierten Wissenschaftler jüdischer Herkunft anvertrauen, sehen wir, was 1967 in Prag geschieht: »Die Sympathie der tschechischen Studenten für Israel hat (…) einen recht trivialen Grund: Die Antipathie gegen die arabischen Studenten, die sich zu Tausenden an der Universität befinden«. Etwas Ähnliches geschieht in Warschau: »Plötzlich erinnerten die Leute sich daran, dass viele Juden, die in Palästina lebten, aus Polen kamen«. Und so ruft ein Taxifahrer aus: »Unsere mutigen polnischen Juden erteilen den elenden russischen Arabern eine Lektion«.[741] Wer ist rassistisch beim Zusammenstoß mit der kommunistischen Macht, die sich auf die Seite der arabischen Länder stellt? Haben wir es mit einem antijüdischen oder vielmehr mit einem antiarabischen Rassismus zu tun?

13. Das Problem des »Kosmopolitismus«

Sogar die »Verschwörung der Ärzte«, die im Allgemeinen zur Bestätigung von Stalins Antisemitismus angeführt wird, beweist höchstens das Gegenteil: Schließlich hat dieser bis zuletzt seine Behandlung Juden anvertraut. Im Übrigen sind nur ein paar Juden unter den angeklagten Ärzten, und die ›Verschwörung‹ insgesamt wird von den sowjetischen Führern und der sowjetischen Presse »als kapitalistisch und imperialistisch und nicht als zionistisch« hingestellt.[742] War es nur Paranoia, die den Verdacht ausgelöst hat? Ein Detail gibt zu denken: »Die CIA wurde (dem jüdischen Staat gegenüber) freundlicher, seitdem sie von den israelischen Geheimdienstquellen in Osteuropa und in der UdSSR Ge brauch machte. Zum Beispiel waren die Agenten des Mossad die ersten Outsider, die den vollständigen Text der Geheimrede Chruschtschows über die Verbrechen Stalins erhielten«[743] und den sie prompt an die US-amerikanischen Geheimdienste weiterleiteten.

Man darf nicht vergessen, dass das »Zeitalter des Verdachts«, wie es mit Recht genannt wurde, natürlich auf unterschiedliche Weise in bei den Lagern die Hexenjagd stimulierte.[744] Im Übrigen ist es ein offenes Geheimnis, dass die US-amerikanischen Geheimdienste sich um die physische Eliminierung Stalins, sowie Castros, Lumumbas und anderer »tollwütiger Hunde«, bemüht hatten.[745] Wie konnte man den unbestrittenen Anführer der internationalen kommunistischen Bewegung erreichen, wenn nicht unter Ausnutzung ihm nahestehender Personen, die bereit waren, sich von den westlichen Geheimdiensten auf der Woge des jüngsten Konflikts anheuern zu lassen, der nach der Gründung des jüdischen Staates und wegen der von Israel verfolgten Politik der Einwanderung von Juden ausgebrochen war? Zum Zeitpunkt der Entdeckung der ›Verschwörung‹ »glaubte zumindest ein wichtiger in Moskau anwesender westlicher Diplomat, der Engländer Sir A. (›Joe‹) Gascoigne (…), dass die Kremlärzte wahrscheinlich wirklich des politischen Verrats schuldig seien«.[746] Die Verdächtigung der Ärzte scheint übrigens ein wiederkehrendes Motiv in der Geschichte Russlands zu sein: Ein israelischer Historiker russischer Herkunft legt den Tod des Zaren Alexander III. den deutschen Ärzten, die ihn behandelten zur Last (vgl. unten, Kap. 6, § 1).

Hinzuzufügen ist, dass ein vor kurzem in den Vereinigten Staaten veröffentlichtes Buch die These formuliert, dass ärztliche »Behandlungen« den Tod Schdanows bewirkt hätten. Sollen wir daraus den Schluss ziehen, dass die Befürchtungen Stalins nicht unbegründet waren? Ohne einen Beweis zu erbringen und sogar bestätigend, dass es kein Dokument zur Unterstützung ihrer These gibt, beeilen sich die Autoren des Buches zu präzisieren, dass die Mörder-Ärzte nicht von den Feinden der Sowjetunion, sondern vom Kremldiktator in Person geleitet worden seien! Abgesehen vom Röntgentechniker war keiner der behandelnden Ärzte Schdanows Jude!.[747] Damit ist klar. Wir befinden uns im Bereich der Mythologie und einer Mythologie mit beunruhigenden Tönen: Man darf die Ärzte nur verdächtigen, wenn sie Deutsche oder nicht-jüdische Russen sind! Aber kehren wir auf das Gebiet historischer Untersuchung zurück: Man sollte sich vor Augen halten, dass Stalin selber die Nachforschungen eingestellt haben könnte, als er den Fehler bemerkte, den er begangen hatte.[748]

In Ermangelung weiterer Argumente, führt man Stalins Verurteilung des »Kosmopolitismus« an, nur um sich an die These von seinem Antisemitismus zu klammern: Wer sollten die Kosmopoliten sein, wenn nicht die Juden? In Wahrheit muss der Vorwurf des Kosmopolitismus in eine auf beiden Seiten recht erbittert geführte Debatte eingefügt wer den. Diejenigen, die entschlossen sind, sich in erster Linie für den Auf bau des Sozialismus in dem aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Land einzusetzen, und damit auf die messianische Erwartung des Ausbruchs der Revolution in der ganzen Welt bzw. auf ihren Export dorthin verzichten, werden »nationaler Abgeschlossenheit«, »nationaler Beschränktheit« und auch des Provinzialismus bezichtigt:[749] Ist Stalin der »kleine Provinzler« und der »Bauer« (vgl. oben, Vorwort u. Kap. 1, § 1), so kommt in den Augen Trotzkis Molotow, der »kein fremdes Land und keine Fremdsprache kannte«, nicht besser davon.[750] Beide trügen jedenfalls den Makel, sich provinziell und obskurantistisch an die »reaktionäre Rolle des Nationalstaats« zu klammern.[751] Diejenigen, die so beschuldigt werden reagieren, indem sie ihre Kritiker als abstrakte Kosmopoliten abstempeln, die unfähig seien, wirklich eine neue soziale Ordnung aufzubauen.

Die Verurteilung des »Kosmopolitismus« als Antisemitismus auszulegen, bedeutet, ein Problem zu verkleinern, das im Mittelpunkt aller großen Revolutionen steht, die von einem universalistischen Elan beseelt sind. Wenn Robespierre die These vom Export der Revolution zurückweist, auf die die Befürworter der »einen und universalen Republik« bzw. der »Republik oder vielmehr des Weltbrands« viel gaben,[752] so stellt er klar, dass das neue Frankreich nicht zur Sache der Revolution in der Welt beitrüge, wenn es sich als »Hauptstadt des Globus« aufspielte, aus der man »bewaffnete Missionare« für die Bekehrung und die »Eroberung der Welt« aussenden müsse.[753] Nein, es werden nicht die »kriegerischen Abenteuer«, sondern die »Weisheit unserer Gesetze« sein, die das Ancien Régime in Europa in die Krise stürzen.[754] Anders ausgedrückt, die revolutionäre Macht wird eine reale internationalistische Funktion in dem Maße ausüben, in dem es ihr gelingt, ihre nationale Aufgabe des Aufbaus der neuen Ordnung in Frankreich zu erfüllen.

Über dieses Problem hat der deutsche Idealismus tief nachgedacht. Für Kant, der in den Jahren 1793/94 gewissermaßen die historische und philosophische Bilanz der französischen Revolution zieht, läuft der abstrakte »Weltliebhaber« Gefahr, »dass seine Neigung durch die zu große Allgemeinheit zerstreut« wird, während der Patriotismus Gefahr laufe, in den Exklusivismus abzugleiten und das Allgemeine aus den Augen zu verlieren. Es gehe also darum, den »Weltpatriotismus« mit dem »Lokalpatriotismus« oder besser mit der »Vaterlandsliebe« in Einklang zu bringen; derjenige, der ein echter »Cosmopolit« ist, »muß in der Anhänglichkeit an sein Land die Neigung haben, das Wohl der ganzen Welt zu befördern«.[755] Diese Denkrichtung wird von Hegel weiter aus gebaut: Die Rechtsphilosophie (§ 209 A) rühmt zunächst als große historische Errungenschaft die Ausarbeitung des Allgemeinbegriffs Mensch (Inhaber von Rechten, »weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist«), sie fügt jedoch hinzu, dass er nicht zum »Kosmopolitismus« und zur Indifferenz oder Entgegensetzung zum »konkreten Staatsleben« des Landes, dessen Bürger man ist, führen dürfe. Die »Allgemeine Menschenliebe« laufe Gefahr, sich als eine »Allgemeine leer« und inhaltslos darzustellen (§ 126 Z): Das Individuum leiste seinen Beitrag zum Allgemeinen vor allem, indem es sich konkret in dem bestimmten Kreis (Familie, Gesellschaft, Nation), in dem es lebt, engagiert. Sonst ist die ausposaunte »Allgemeine Menschenliebe« bestenfalls eine edle Absichtserklärung und schlimmsten falls eine Technik der Flucht vom Gebiet der konkreten Verantwortung.

Dies ist ein Problem, das die Oktoberrevolution mit ihrem noch emphatischeren Universalismus von der französischen Revolution erbt. Lange vor Stalin zeigte sich schon Herzen, obwohl Emigrant in Paris, misstrauisch und kritisch gegenüber einem Kosmopolitismus, der nichts von der Idee der Nation und von der nationalen Verantwortung wusste (vgl. oben, Kap. 3, § 5). Diese Polemik überschreitet die Grenzen der Sowjetunion. Wenn Gramsci die gegen die Mehrheit der KPdSU und besonders gegen Stalin erhobenen »Vorwürfe des Nationalismus«[756] zurückweist, nimmt er eindeutig Stellung gegen einen »so genannten ›Internationalismus‹«, der in Wahrheit gleichbedeutend mit »vagem ›Kosmopolitismus‹« sei. Die Hauptzielscheibe ist hier Trotzki, der als »Kosmopolit« kritisiert wird, weil er »oberflächlich national« und daher unfähig sei, »den Internationalismus von jedem vagen und bloß (im schlimmsten Sinn) ideologischen Element zu säubern«; ihm wird Stalin und noch vor ihm und vor allem Lenin entgegengestellt, der einen reifen Internationalismus zeige, gerade weil er sich gleichzeitig als »zutiefst national« erweise.[757]

In der UdSSR spitzt sich die Kritik am Kosmopolitismus zu, während die vom Faschismus und vom Nazismus ausgehende Bedrohung größer wird. Wir sprachen schon von dem leidenschaftlichen Aufruf Dimitroffs an die Revolutionäre zwei Jahre nach Hitlers Machtübernahme, den »nationalen Nihilismus« zurückzuweisen. Ein Internationalismus, der in den nationalen Nihilismus mündet, das ist der Kosmopolitismus. Wir haben außerdem Stalin am Vorabend des Unternehmens Barbarossa hervorheben sehen, dass der Internationalismus, im Gegensatz zu einem »Kosmopolitismus«, der unfähig sei, seine nationale Verantwortung zu übernehmen, in der Lage sein müsse, sich mit dem Patriotismus zu verbinden. Weit entfernt, mit Antisemitismus synonym zu sein, ist die Kritik am Kosmopolitismus ein wesentliches Element des Kampfes gegen den Nazifaschismus (und den Antisemitismus). Die se Kritik wird mit dem Ausbruch des Kalten Krieges wieder dringlich, als eine neue furchtbare Bedrohung auf der UdSSR lastet. Die Kritik des Kosmopolitismus wird umso stärker, als das Land, in dem die Revolution ausgebrochen ist, in einen Kampf um das nationale Überleben verwickelt ist. In China schreibt Sun Yat-Sen: »Die Nationen, die sich des Imperialismus bedienen, um die anderen Völker zu erobern, und auf diese Weise versuchen, ihrer Position als Herren der Welt zu nützen, sind für den Kosmopolitismus« und versuchen jedenfalls, den Patriotismus als »etwas Engstirniges und Antiliberales« in Misskredit zu bringen.[758] Auf der gleichen Linie liegt Mao, dem zufolge der Internationalismus den Patriotismus keineswegs obsolet werden lasse: »Die allgemeinen Wahrheiten des Marxismus müssen mit den konkreten Bedingungen der verschiedenen Länder ergänzt werden und es gibt eine Einheit zwischen Internationalismus und Patriotismus«.[759]

In der UdSSR waren die ›Kosmopoliten‹ hauptsächlich Juden und deshalb ist der Anti-Kosmopolitismus nur eine verkappte Form von Antisemitismus? Es lohnt sich, darauf hinzuweisen, dass Sun Yat-Sen bei seiner Polemik gegen den Kosmopolitismus das chinesische Volk auffordert, sich ein Beispiel an den Juden zu nehmen, die trotz jahrtausendelanger Unterdrückung und Diaspora nie den Sinn für ihre Identität und damit für die Pflicht der gegenseitigen Solidarität verloren hätten.[760] Konzentrieren wir uns aber auf die Sowjetunion: In Wahrheit gibt es auch in den Reihen der Mehrheit des KPdSU eine starke jüdische Präsenz. Und doch gehört zu den Ersten, die den Kosmopolitismus-Vorwurf gegen den Oppositionsführer erhoben, der deutsche Schriftsteller jüdischer Herkunft (Feuchtwanger), den wir schon kennen: »Ein russischer Patriot ist Trotzki nie gewesen«, seine einzige Sorge war die »Weltrevolution«.[761] Auf Grund der Hermeneutik des Verdachts, die Stalin gegenüber geltend gemacht wird, könnte nicht einmal Trotzki sich des Antisemitismus-Vorwurfs entziehen. Bei seiner Analyse des vorrevolutionären Russlands unterstreicht er, wie die »Börsenaristokratie« die »zarische Regierung (…) zu ihrem Finanzvasallen machte«, der »Wucherzinsen« garantierte.[762] Hinzuzufügen sei, dass die »Herrschaft der Börse« von »Rothschild und Mendelssohn«, ja sogar vom »internationalen Mendelssohn« und jedenfalls von Individuen verkörpert werde, die bemüht seien, »die Gesetze Mosis sowie die Gesetze der Börse« zu beachten.[763] Wie man sieht, ist in diesem Fall der Bezug auf die jüdische Welt explizit. Sollten wir daraus schließen, dass die Polemik gegen die »Börsenaristokratie« in Wahrheit die Juden als Juden ins Visier nimmt, sodass wir zum soundsovielten Male eine Manifestation von Antisemitismus vor uns hätten? So zu argumentieren, wäre absurd und dies nicht nur wegen der jüdischen Herkunft Trotzkis: Bedeutsamer ist, dass er in demselben Text bewegende Seiten der Beschreibung des blutigen, »finsteren Oktoberbacchanals« widmet, das die antisemitischen Banden inszenierten, die von der Obrigkeit und sogar von »Nikolaus Romanow, dem allerhöchsten Patron der Pogrom banden«, geduldet bzw. ermutigt wurden; zum Glück würden diese Banden entschieden von der revolutionären und sozialistischen Bewegung bekämpft.[764] Doch nicht weniger deutlich fällt Stalins Verurteilung des antisemitischen »Kannibalismus« aus.

14. Stalin am »Hof« der Juden, die Juden am »Hof« Stalins

Die UdSSR ist das »Land, das die größte Zahl von Juden gerettet hat«: Diese Beobachtung stammt von einem Journalisten und Wissenschaftler trotzkistischer Ausrichtung, der es als »Zeuge jener Jahre« für notwendig hält, gegen die heute im Westen geführte Kampagne Stellung zu nehmen. Er fährt so fort: »Kein Land hatte in den höheren Rängen des Heeres so viele Juden wie die Rote Armee«. Das ist noch nicht alles: »Einer der Söhne Stalins sowie auch seine Tochter haben Juden geheiratet«.[765] Man kann hinzufügen, dass in der Stalinschen Führungsgruppe die Juden bis zum Schluss recht gut und auf höchster Ebene vertreten waren. Wenn sie sich irgendwie über Wasser halten will, erfordert die These vom »Antisemitismus« Stalins die Entjudaisierung der Juden, die mit ihm zusammengearbeitet haben. Und genau das tritt pünktlich ein: Zwar hätten »Jagoda, Kaganowitsch und viele andere in Russland und in Mittel- und Osteuropa« eine wichtige Rolle an der Seite eines schrecklichen Diktators gespielt, aber es handle sich um »jüdische Apostaten«: So drückt sich ein jüdischer Intellektueller mit einer Sprache aus, die eindeutig auf die Geschichte der Religionen verweist.[766] Andere Male lässt sich die religiöse Tradition vermittelter und weniger bewusst verspüren: So verurteilt etwa ein Journalist in der wichtigsten italienischen Tageszeitung die »jüdischen Renegaten am Hofe Stalins«.[767]

In Wahrheit enthält der Diskurs über die »Apostaten«, die »Renegaten« (bzw. die ›Hofjuden‹) ein implizites Dementi des Vorwurfs des Antisemitismus, der als Rassismus auf eine ethnische Gruppe abzielt, unabhängig vom religiösen und politischen Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder. Die Präsenz von Juden in führender Position in Stalins UdSSR und in dem von ihm angeführten sozialistischen Lager einzugestehen, bedeutet zuzugeben, dass in jenen Ländern der Zugang zur Macht und die soziale und politische Stellung nicht von unveränderlicher Rassenzugehörigkeit, sondern von veränderlichem politischem Verhalten abhingen. Doch die Entjudaisierung von Juden (als »Apostaten«, »Renegaten«, unechte und »Hofjuden«), die heute als unbequem gelten, ermöglicht es, den Antisemitismus in eine Kategorie zu verwandeln, die jeder aus empirischer Analyse herrührenden Widerlegung widerstehen kann und die daher geeignet ist, nicht nur auf Stalin, sondern auf die ganze Geschichte der Sowjetunion angewandt zu werden.

Gleich nach der Oktoberrevolution entwickelte sich, unter Beteiligung wichtiger jüdischer Kreise in leitender Position, die Kampagne gegen den Obskurantismus, der den verschiedenen Religionen (Judaismus eingeschlossen) vorgeworfen wurde. Hier der Kommentar des schon zitierten Journalisten der Tageszeitung ›Corriere della sera‹: ›Die Jewsektia‹, die jüdische Sektion der KPdSU, war es, die den neu en Antisemitismus schürte«.[768] Ähnlich argumentiert ein Professor der Hebrew University in Jerusalem: »Während der bolschewistischen Revolution (…) gaben sich viele jüdische Bolschewiki der Sache des revolutionären russischen Nationalismus mit solchem Eifer hin, dass sie Antisemiten wurden«.[769] Schon als »Apostaten« und »Renegaten« abgestempelt, werden die Juden kommunistischer Ausrichtung jetzt »Antisemiten« tout court. Hier angelangt betrifft der ›Antisemitismus‹ Vorwurf über Stalin hinaus sogar Lenin, den obersten Anführer dieser ›antisemitischen‹ Kampagne.

Und doch schreibt der gerade zitierte israelische Historiker: »Wahrscheinlich war Lenin immer sehr skeptisch, was die Organisationsfähigkeit der Russen betrifft. In einem Privatgespräch mit Gorki kam es ihm in den Sinn zu bemerken, dass es keinen intelligenten Russen gebe, der nicht Jude wäre oder zumindest Juden unter seinen Vorfahren und ein bisschen jüdisches Blut in seinen Adern hätte«. Die Meinung des russischen Führers ist auch die seines Gesprächspartners: »Gorki hätte nichts dagegen gehabt, wenn die Juden die Leitung der russischen Wirtschaft in die Hand genommen hätten, und im Jahre 1916 schrieb er, dass ›das Talent der Juden für die Organisation, ihre Flexibilität und ihre unbezähmbare Energie in einem so schlecht organisierten Land, wie es unser Russland ist, angemessen berücksichtigt werden müssen‹«.[770] Diesem Text zufolge könnten Lenin und Gorki (der auch der Kommunistischen Partei beitritt) höchstens des antirussischen Rassismus, aber gewiss nicht des Antisemitismus bezichtigt werden.

Die erstrangige Rolle, die die Juden gespielt haben, beschränkt sich nicht auf den Sturz des Ancien Régime in Russland. Der jüdische Historiker fährt fort: Der »überall anzutreffenden jüdischen Minderheit« wies Lenin die Rolle zu, »Vorkämpfer des Kommunismus« zu sein. Folglich: »Nicht die Slawen, sondern die Juden wurden zur Spitze des russischen Vorrückens auf internationalem Gebiet und das heißt gegen Europa und den Rest der Welt. Es war eine geniale Intuition Lenins, sich für den Erfolg der Revolution auf sie und auf andere ethnisch-nationale Minderheiten zu verlassen«.[771] Wie man sieht, leisten zur Ausbreitung des Kommunismus die ›antisemitischen‹ Juden einen relevanten und vielleicht entscheidenden Beitrag: die jüdisch-bolschewistische Verschwörung, von der die Nazis redeten, wird hier als eine zwar von den antisemitischen, aber eben doch von Juden organisierte Agitation oder Verschwörung neu interpretiert! Es handelt sich um eine Agitation und um eine Verschwörung mit einer langen, sehr langen Geschichte im Hintergrund. Weiterhin dem hier zitierten Historiker folgend, hätte Lenin sich der Juden, die mit ihrer Ursprungsgemeinschaft gebrochen hatten, auf die gleiche Weise bedient, wie das Christentum sich ihrer bedient hatte.[772] Erneut tauchen die Analogien zur Geschichtsdeutung des Nazismus auf, die die Rolle der Juden in dem verderblichen Zyklus kritisiert, der vom Christentum hin zum Bolschewismus führe. Das einzig Neue ist jetzt die Betonung, dass diese Rolle Juden spielen, die, weil sie zunächst dem Christentum und später dem Bolschewismus zugestimmt haben, als »Apostaten«, »Renegaten« und letztendlich als »Antisemiten« betrachtet werden müssten. In der Bemühung, mit Stalin die sowjetische Erfahrung ins gesamt anzugreifen, reproduziert der ›Antisemitismus‹-Vorwurf schließlich mit ein paar bescheidenen Varianten die nazistische Geschichtsphilosophie!

15. Von Trotzki zu Stalin, vom ›semitischen‹ zum ›antisemitischen‹ Monster

Im Licht der historischen und begrifflichen Reflexion erweist sich die These von Stalins Antisemitismus als unhaltbar. Wie auch immer man das Auftreten dieser Krankheit datiert (anzusetzen 1948 oder 1945 oder 1933 bzw. im Jahre 1879, dem Jahr der Empfängnis und Geburt Stalins), erweist sich die Diagnose nicht nur als unbegründet, sondern auch als recht beleidigend den Juden gegenüber, die bis zuletzt in ziemlich großer Anzahl ihrem Peiniger gehuldigt hätten. Wie ist also der Ursprung dieser Legende zu erklären? Am 4. Oktober 1919 machte der »Völkische Beobachter«, der damals nicht das Organ der (noch nicht gegründeten) Nationalsozialistischen Partei war, eine »jüdische Terrorherde« und »beschnittene Asiaten« für die bolschewistischen Gräuel verantwortlich und betonte diesbezüglich, dass auch in den Adern Lenins jüdisches Blut fließe. Ähnliche Töne werden in England und in der gesamten westlichen Welt angeschlagen.[773] Unter diesen Voraussetzungen wird es verständlich, dass Trotzki mehr noch als Lenin »zum mephistophelischen Hauptthema der antibolschewistischen Propagandaplakate wird«.[774] Er wird als der »jüdische Ausrotter des russischen Volkes« hingestellt.[775] Ein während des russisch-polnischen Krieges von 1920 verbreitetes antikommunistisches Propagandaplakat bildet ihn mit nicht wirklich menschlichen Gesichtszügen ab, während er, mit dem Davidstern um den Hals, von oben einen Berg von Schädeln betrachtet.[776] »Trotzki, alias Bronstein«, d. h. der jüdische Bolschewik schlechthin, ist 1929 für Goebbels derjenige, »der vielleicht die meisten Verbrechen auf dem Gewissen hat, die je ein Mensch auf sich lud«.[777]

Noch im Verlauf der Invasion der Sowjetunion, die als Kreuzzug für die Rettung der europäischen und westlichen Zivilisation vor der bolschewistischen (und asiatischen) Barbarei propagiert wurde, hat Hitler bekanntlich Stalin als eine Marionette des internationalen Judentums, als einen Juden im Geiste, wenn nicht im Blute beschrieben. In den Jahren, in denen der Antisemitismus wütete und im Westen jedenfalls große Zustimmung fand, musste das Monster schlechthin unbedingt die Züge des Juden annehmen. Anders ist die Lage, die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs und der Enthüllung der Schande der »Endlösung« entstanden ist: Heute ist das Monster, das mehr als alle anderen Grauen erweckt, der Tendenz nach das antisemitische Monster. Und dennoch ist, trotz seiner Variationen, die Kontinuität des Topos offensichtlich, und die Schilderung des antisemitischen Stalin ist nicht viel überzeugender als die, die Trotzki wiedergab, während er den Davidstern vorzeigt und zufrieden auf den unermesslichen Haufen seiner Opfer blickt.

Kapitel 6: Psychopathologie, Moral und Geschichte bei der Interpretation der Stalinära

1. Geopolitik, Terror und Stalins ›Paranoia‹

Welcher Ansatz ermöglicht es, die Entstehung, die Merkmale und die Bedeutung des Stalinismus besser zu verstehen? Arendt zufolge hätte die Fixierung auf den »objektiven Gegner« den Stalinschen (ebenso wie den Hitlerschen) Totalitarismus dazu geführt, immer neue Ziel scheiben für seine Repressionsmaschine zu suchen: Nach den »ehemals herrschenden Klassen« sind die »Bauernklassen«, die Verräter innerhalb der Partei, die »Wolgadeutschen« usw. an der Reihe.[778] Um sich die Nichtigkeit dieses Schemas zu vergegenwärtigen, genügt es, daran zu denken, dass es mühelos auf die Geschichte der Vereinigten Staaten an gewandt werden könnte: Ende des 19. Jahrhunderts beteiligen sie sich an der Verherrlichung der Gemeinschaft der germanischen Nationen oder Rassen (USA, Großbritannien und Deutschland), die an der Spitze der Zivilisation stünden; von der Intervention im Ersten Weltkrieg an werden die Deutschen (und die US-Bürger deutscher Abstammung) jahrzehntelang zum Feind schlechthin. Es ist der Zeitpunkt des Großen Bündnisses mit der Sowjetunion, die jedoch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs zum Erzfeind wird, sodass nicht mehr die US-Amerikaner deutscher (oder japanischer) Abstammung, sondern jene ins Visier genommen werden, die der Sympathie für den Kommunismus verdächtigt werden. Zumindest in der Endphase des Kalten Krieges kann Washington einerseits auf die Kooperation mit China, andererseits mit den islamischen freedom fighters rechnen, die den antisowjetischen Widerstand in Afghanistan anführen; doch mit der Niederlage des Reichs des Bösen stellen die ehemaligen Verbündeten die neue Inkarnation des Bösen dar: Die freedom fighters (und ihre Sympathisanten auf US-amerikanischem Boden und auf der ganzen Welt) verschwinden in Guantánamo. Vor allem ein Fall beweist die Armseligkeit des Arendtschen Schemas, das der Fixierung auf den »objektiven Gegner« die Deportation der »Wolgadeutschen« im Zweiten Weltkrieg zuschreibt. In Wahrheit hatte das zaristische Russland 1915, damals Al liierter des liberalen Westens, analoge Maßnahmen getroffen; vor allem verhält sich Franklin D. Roosevelt gleich nach Pearl Harbour dem »objektiven Gegner«, damals dargestellt von den US-Staatsbürgern japanischer Abstammung, gegenüber ähnlich. Wenn man die geographische und militärische Lage in Betracht ziehen will, erscheint die Befürchtung des sowjetischen Diktators berechtigter als die des US-amerikanischen Präsidenten.

Ab und zu scheint Arendt sich des problematischen Charakters der von ihr benutzten Kategorie bewusst zu werden. Die erste Ausgabe ihres Buches The Origins of Totalitarianism verurteilt die Fixierung auf den »potenziellen Gegner« (potential enemy); aber während der Zweite Dreißigjährige Krieg wütet und das sowjetische Volk von einer tödlichen Gefahr bedroht wird, kann es kaum als Ausdruck von Paranoia betrachtet werden, wenn man sich vor einem potenziellen Feind schützen will. Die späteren Ausgaben reden daher lieber von »objektivem Gegner« (objective enemy), um den psychopathologischen Charakter eines Verhaltens hervorzuheben, das weiterhin ausschließlich den totalitären Diktatoren zugeschrieben wird.[779]

Diese sprachliche Ausbesserung ändert allerdings überhaupt nichts an der Problemlage. Obwohl Arendt entschieden gegen Nazideutschland war und mit dem Land der Dritten Republik und der großen Revolution sympathisierte, war sie nach Ausbruch des Krieges gerade in Frankreich in ein fürchterliches Konzentrationslager gesperrt worden und hatte dieses Geschick letztlich als »potenzielle Gegnerin« bzw. als »objektive Gegnerin« erlitten. Wir werden gleich sehen, dass diese Kategorie auch in Churchills England und in F. D. Roosevelts USA funktioniert.

Leider bewegt Arendt sich auf einer rein ideologischen Ebene und stellt sich nicht einmal die Frage nach einer komparativen Analyse der Politik, die die Führungsgruppen der verschiedenen Länder in einer akuten Krisenlage verfolgt haben. Diese Lücke sollte man ausfüllen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zieht Churchill folgende Bilanz der Lage in seinem Land am Vorabend des gigantischen Zusammenstoßes: »Man wußte, dass es damals in England zwanzigtausend organisierte Nazis gab: Einer akuten Periode von Sabotage und Delikt als Vor spiel zum Kriegsausbruch würden die Maßnahmen entsprechen, die schon andere befreundete Länder getroffen hatten«.[780] Auf diese Weise rechtfertigte der Staatsmann die von ihm während des Krieges verfolgte Politik, als in England alle verhaftet werden konnten, die im Verdacht standen, mit dem Feind oder mit seinem politischen System zu »sympathisieren«: »›Sympathisieren‹, das war der alles umfassende Terminus, der es der Regierung erlaubte, ohne Prozess und auf unbestimmte Zeit nicht nur Mitglieder der faschistischen Organisationen, sondern auch jeder Gruppe zu verhaften, die nach Meinung des Innenministers den Deutschen wohlgesinnt waren, diejenigen inbegriffen, die Verhandlungen mit Hitler befürworteten«.[781] Ins Visier genommen wurden nicht die für konkrete und bestimmte Aktionen Verantwortlichen, sondern die »potenziellen« bzw. »objektiven Gegner«.

Vom Atlantik und vom Pazifik und noch dazu von einer starken Marine geschützt, sollten die Vereinigten Staaten sich nicht besonders bedroht fühlen. Doch F. D. Roosevelt warnt: Der Feind lasse sich nicht vom Ozean abhalten, man müsse sich die »Lektion Norwegens« zunutze machen, »dessen wichtigste Häfen dank dem mehrere Jahre vor bereiteten Verrat und der Überraschung, eingenommen worden sind«. Eine ähnliche Bedrohung laste auf dem amerikanischen Kontinent:

Die erste Phase der Invasion dieser Hemisphäre wird nicht die Landung regulärer Truppen sein. Die wichtigsten strategischen Punkte werden von Geheimagenten und den in ihrem Dienst stehenden Einfaltspinseln besetzt werden und sie befinden sich schon in großer Zahl hier und in Lateinamerika. Solange die aggressiven Nationen auf ihrer Offensive beharren, werden sie es sein, die den Zeitpunkt, den Ort und die Methode ihres Angriffs wählen.[782]

Und das ist noch nicht alles: Man müsse auch der Aggression entgegen treten, die »mit der geheimen Verbreitung der giftigen Propaganda derer, die versuchen die Einheit zu zerstören und Zwietracht zu säen«, durchgeführt wird. Tendenzielle Verräter oder »objektive« Gegner sind hier schon diejenigen, die Meinungen äußern, die im Widerspruch zum nationalen Interesse stehen, und der Widerstand wird zu einer Aufgabe, die nicht nur vom Heer, sondern vom ganzen Land erfüllt werden muss. Beide müssten eine lückenlose Geschlossenheit aufweisen:

Diejenigen, die in unseren Verteidigungslinien eingesetzt sind, und die, die im Hinterland diese Linien aufbauen, müssen die Energie und den Mut haben, die ihnen der unerschütterliche Glaube an den Lebensstil vermittelt, den sie verteidigen. Die mächtige Aktion, die wir fordern, kann sich nicht auf den Mangel an Respekt für die Dinge, für die wir kämpfen, gründen.[783]

Nur eine totale Mobilisierung, die am Ende auch die politische Sphäre miteinbezieht, könne eine überall anzutreffende Aggression, die sich auch auf politischer Ebene zeige, liquidieren. Von diesen Voraussetzungen aus entfaltet sich eine »gut organisierte Medien-Kampagne«:[784] »Wann wird Hitler die USA überfallen?« fragt ein Plakat mit der Abbildung nazistischer Fallschirmspringer, die im Begriff sind, sich auf wehr lose amerikanische Städte zu stürzen, die auch – so zeigt ein anderes Plakat – einem Angriff vom Meer her ausgesetzt seien. Die Gefahr sei besonders groß, weil »Hitlers Heer hier ist«. So behauptet jedenfalls ein drittes Plakat, das vor »der fünften Kolonne in den USA« warnt.[785] Auf den Ernst dieser Bedrohung machen Filme und Bücher aufmerksam, die einen großen Erfolg erzielen, während der Ausschuss, der über »unamerikanische« Aktivitäten wacht, die Anhänger von Organisationen, die bereit sind, den Invasoren zu helfen, auf 480.000 schätzt![786] Und wie in England weitet sich auch in den USA die Kategorie Agent bzw. Komplize des Feindes dermaßen aus, dass sie alle jene einschließt, die vermeiden möchten, dass das Land in den Krieg verwickelt und hinein gerissen wird.[787] Sie werden beschuldigt, »der Vermittler der Nazis«, das ›trojanische Pferd‹ des Dritten Reichs zu sein oder, um es diesmal mit F. D. Roosevelt in Person zu sagen, die »fünfte Kolonne des appeasement«. Der letzte Ausdruck ist besonders bedeutsam: Gleichbedeutend mit Verrat ist eine politische Einstellung, und diejenigen, die sie einnehmen, werden schon deshalb zur Zielscheibe von Anzeigen, Prozessen und Einschüchterungen; sie werden als letztlich ›potenzielle‹ oder ›objektive‹ Gegner ins Visier genommen.

Eine Atmosphäre der Angst und des Verdachts breitet sich im Land aus, die sofort ausgenützt wird, um »die Macht des FBI zu stärken«.[788] Der Präsident enthüllt der Presse, dass deutschlandfreundliche Elemente »das Heer und die Marine« unterwandert und Sabotageakte in »vierzig oder fünfzig Fabriken in diesem Land« organisiert bzw. den Versuch dazu unternommen hätten. Sogar ein ausgewogener Intellektueller wie William L. Shirer fordert anlässlich des bevorstehenden Krieges, dar auf vorbereitet zu sein, den »Sabotageakten von Tausenden von Naziagenten von einer Küste zur anderen« entgegenzutreten. Überall verdächtigt und ahnt man das Eingreifen des Feindes. Die fünfte Kolonne hat eine fundamentale Rolle gespielt, um Belgien und Frankreich von innen heraus zu zersetzen; nun gut – so argumentiert man –, die nazistischen »Termiten« seien auch in der nordamerikanischen Republik aktiv, die Gefahr laufe, dasselbe Schicksal zu erleiden.[789] Wie es scheint, gibt es »einige Versuche« seitens der Agenten des Dritten Reichs »die Unzufriedenheit der Fabrikarbeiter anzustacheln und auszunutzen und die Rüstungsproduktion für die Alliierten zu behindern«; dem deutschen Generalkonsul zufolge sind diese »Sabotageakte« in Wahrheit »Industrieunfälle, die Roosevelt den Nazis zuschreibt«.[790] Es überrascht daher nicht, dass »die Kinder in zartem Alter manchmal von der alarmistischen Propaganda verschreckt waren«, die unermüdlich den drohenden Einfall der Hitlerschen Horden ankündigten und in den fürchterlichsten Farben schilderten.[791]

Als dann die USA offiziell in den Krieg eintreten, wird das Klima noch bedrückender. Eine unablässige Warnung vor Spionen, vor unbefangener Redseligkeit (»Hüte deine Zunge«, »Schweigen bedeutet Sicherheit«, man kann auch mit »naiven Reden« töten: Unermüdlich unterstreichen das die Kriegsplakate, die das Gesicht von Kindern zur Schau stellen, die wegen unverantwortlicher Schwätzer im Begriff sind, zu Waisen zu werden), vor »Sabotageakten« (ein weiteres Plakat proklamiert ein neues Verbrechen, das des »schlechten Gebrauchs der Arbeitswerkzeuge« und zeigt den »Herrn Werkzeugzerbrecher«, mister Toolwrecker, der angezeigt und von einem Polizisten in Gewahrsam genommen wird).[792] Natürlich verbindet sich die reale Gefahrensituation mit der geschickten Manipulation der realen Lage. Abschließend schreibt der US-amerikanische Historiker, dem ich hier folge: »FDR verstand den Wert der nationalen Angst ganz gut«; »FDR und seine Anhänger überschritten manchmal die Linie, die die öffentliche Besorgtheit von der Massenhysterie trennt«.[793]

Wir haben es hier mit den gleichen Indikatoren zu tun, wie sie zum Terror führen, der in Sowjetrussland wütet. Zweifellos zeigen sich hier die Phänomene, die in Bezug auf England und die USA untersucht wurden, ungeheuerlich vergrößert; aber spielt die Ideologie, die Paranoia oder die objektive Lage die entscheidende Rolle? Abgesehen von dem wechselvollen, aber unaufhörlichen Bürgerkrieg muss man die Geopolitik berücksichtigen. Im April 1947, als sich schon der Kalte Krieg abzeichnet, wird Stalin in einem Gespräch mit dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten Harald Stassen mit einem gewissen Neid die außerordentlich günstige Lage der USA hervorheben, die von zwei Ozeanen geschützt werden und im Norden an Kanada und im Süden an Mexiko grenzen, zwei schwache Länder, die bestimmt keine Gefahr darstellten.[794]

Ganz anders liegen die Dinge für Sowjetrussland. Man kann wohl über Stalins ›Paranoia‹ spotten, aber wir haben gesehen, wie Goebbels den großen Erfolg der deutschen Spionage in Frankreich, doch ihr totales Scheitern in der UdSSR konstatiert hat (vgl. oben, Kap. 1, § 3). Die Ersten, die auf der alles durchdringenden Aktivität der deutschen fünften Kolonne in Russland bestanden, waren übrigens gerade die Feinde des Bolschewismus. Für Kerenski handelten die Protagonisten der Oktoberrevolution, wie die »Kapitulation von Brest-Litowsk« und die Unterzeichnung eines »verräterischen Separatfriedens« beweise, im Dienste Wilhelms II., von dem sie massiv finanziert und unterstützt würden; immer dem menschewistischen Führer zufolge hätten die deutschen Geheimdienste schon bei der pazifistischen Agitation, die die kriegerischen Anstrengungen des Landes unterminiert habe, eine relevante Rolle gespielt.[795] Genauso argumentiert Churchill, der die Bedeutung des »deutschen Goldes« bei den Umwälzungen in Russland herausstreicht.[796]

Noch viel weiter zurück ausholend, glaubt heutzutage der schon zitierte israelische (aus der Sowjetunion stammende) Historiker, dass das kaiserliche Deutschland, entschlossen, mit allen Mitteln die rivalisierende Nachbarmacht zu schwächen, schon 1894, beim frühzeitigen Tod Alexanders III., der »gestorben ist, weil ein Ärzteteam (die meisten von ihnen Deutsche) ihn einer falschen Behandlung unterzogen hatte«, oder 1911 bei der Ermordung Pjotr Stolypins unter »Einbeziehung einiger hoher, deutschlandfreundlicher russischer Offiziere« oder bei gewissen Wunderlichkeiten Nikolaus II. (»seine Frau war eine deutsche Prinzessin«) seine Hand im Spiel hatte.[797] Hinsichtlich des Zusammenbruchs des zaristischen Regimes dürfe man jedenfalls nicht die »effektive deutsche fünfte Kolonne am russischen Hof und im Oberkommando des Heeres« und damit an der Spitze der Macht aus den Augen verlieren. Es stimmt, »im Mai 1915 war Moskau Schauplatz verschiedener antideutscher Pogrome«, doch »war die deutsche Minderheit, die die hohen Ränge besetzt hielt, noch unversehrt«. Zum Schluss: »Die Historiker, die der revolutionären Spontaneität oder der liberalen Steuerung den ausschließlichen Vorzug gegeben haben, haben andere Beweisführungen ignoriert, aus denen hervorgeht, dass die revolutionäre Bewegung zum Teil von der deutschfreundlichen Clique bzw. von einem direkten Eingreifen der deutschen Spionage gemäß dem von Brockdorff- Rantzau entworfenen Plan ausgelöst worden sein könnte«.[798]

Ist das hier entworfene Bild glaubhaft oder leidet es selber an der Paranoia, die im Allgemeinen Stalin zugeschrieben wird? Man kann jedenfalls von einer Voraussetzung ausgehen: Die Niederlage des Zweiten Reichs schwächt zwar einige Zeit lang die Aktivität der Geheimdienste, löscht sie aber nicht aus in Russland, wo ansonsten die Auflösung des Ancien Régime mit der Ausdehnung der Präsenz der westlichen Großmächte auf allen Ebenen zusammenfällt. Im Großen und Ganzen genügt es, eine Geschichte des Kalten Krieges zu lesen, um zu bemerken, dass das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Land nicht nur der militärischen Invasion, sondern auch der Infiltration und der Spionage besonders ausgesetzt war. In den 1920er Jahren war England dank der Kollaboration der russischen Emigranten in der Lage, die chiffrierten Botschaften der Sowjetunion zu entschlüsseln, die das Hauptziel seiner Geheimdienste noch »mitten in den 1930er Jahren« bildete. Inzwischen ist das Dritte Reich angebrochen, das zur Vorbereitung des Angriffs die erprobte Bravour Generalmajor Reinhard Gehlens ausnutzen kann, eines »Meisters des Geheimdienstes, der Subversion und der Irreführung«; später, gleich nach der Niederlage Hitlerdeutschlands erweist sich Allen Dulles als »weitblickend«, als er gerade ihn der »eine große Rolle beim deutschen Angriff auf Russland im Jahr 1941 gespielt hatte«, in den Dienst der im Entstehen begriffenen CIA stellt.[799] Während des Kalten Krieges erstreckte sich die Aktivität der westlichen Geheimdienste über die Spionage hinaus auch auf »Sabotageakte« und manchmal auf die Unterstützung aufständischer Bewegungen.[800]

Mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod Stalins ändert sich das Bild nicht. Dies kann man dem Artikel einer angesehenen US-amerikanischen Zeitung entnehmen. Der Autor berichtet zufrieden, »wie eine Computer-Sabotage Kampagne der CIA, die (1974) zu einer riesigen Explosion in Sibirien geführt hatte – alles von einem Gus Weiss genannten Wirtschaftler mit höflichen Manieren organisiert –, den Ver einigten Staaten geholfen hatte, den Kalten Krieg zu gewinnen«.[801] Wenn wir dann berücksichtigen, dass die Praxis der Sabotage auch eine besondere russische Tradition hinter sich hat (vgl. oben, Kap. 2, § 8), können wir zum Schluss sagen: Zum Verständnis dessen, was in den Jahren Stalins geschieht, sollte man, statt sich eine einzelne paranoische Person als deus ex machina vorzunehmen, lieber dem Ansatz folgen, den ein berühmter Zeuge anregt, der in Moskau im Jahr 1937 von unbezweifelbaren »Sabotage-Akten« und gleichzeitig von einer »Schädlingspsychose« spricht, die sich im Gefolge dieser Realität verbreite.[802]

2. Die ›Paranoia‹ des liberalen Westens

Doch während Arendt sich darauf beschränkt, auf den dem (Stalinschen bzw. Hitlerschen) Totalitarismus innewohnenden Wahnsinn zu verweisen, so geht Furet noch weiter: »Der Revolutionär braucht Hassmotive«: Dies gelte für die Jakobiner, aber mehr noch für die Bolschewiki und ganz besonders für Stalin, der »zur Erreichung seiner extravaganten Ziele zum Kampf gegen die Saboteure, die Feinde, die Imperia listen und ihre Agenten aufrufen muss«.[803] Der französische Historiker spricht vom »Revolutionär« im Allgemeinen, aber in Wahrheit nimmt er nur Russland und Frankreich ins Visier und vergisst hinzuzufügen, dass, abgesehen von den Bolschewiki und den Jakobinern (und Rousseau), auch die Protagonisten der puritanischen Revolution und der abolitionistischen ›Revolution‹, die die Sklaverei zunächst in England und später in den USA hinwegfegte, oft einer ähnlichen psychoanalytischen Behandlung unterworfen worden sind. Und Furet berücksichtigt auch nicht die Tatsache, dass einem bedeutenden US-amerikanischen Historiker zufolge der »paranoide Stil« die Geschichte seines Landes zutiefst präge. Der auch bei George Washington vorzufindende Glaube an die Absicht Londons, die jenseits des Atlantiks angesiedelten Kolonisten zu versklaven, war ein zentrales Element der nordamerikanischen Revolution; als dann Ende des 18. Jahrhunderts akute Widersprüche in der neuen Führungsgruppe auftreten, wird Jefferson verdächtigt, Agent Frankreichs zu sein, während Hamilton als britischer Agent abgestempelt wird. Eine ähnliche Dialektik zeigt sich einige Jahrzehnte später anlässlich der Krise, die zum Sezessionskrieg führte, als die beiden entgegengesetzten Parteien sich wechselseitig beschuldigten, das Erbe der Gründerväter verraten zu haben.[804] Um ganz davon zu schweigen, dass für Nietzsche das gestörte Verhältnis zur Realität die revolutionäre Tradition als Ganzes kennzeichnet, angefangen von jenen »christlichen Agitatoren«, die als »Kirchenväter« gelten, und zuvor schon von den jüdischen Propheten.

Zeichnet sich die Persönlichkeit Stalins durch besonders ausgeprägte krankhafte Züge aus? Geht man von dieser Voraussetzung aus, wäre der Zauber, den er auf Persönlichkeiten ersten Ranges des Westens aus geübt hat, unerklärlich. Etwas gibt zu denken: Freud, der 1939 starb, hat es für opportun gehalten, eine psychoanalytische Studie nicht über Stalin und in Wahrheit noch nicht einmal über Hitler, sondern über Wilson anzufertigen, der zu den gefährlichen »Fanatikern« gerechnet wird, die überzeugt seien, »ein besonderes persönliches Verhältnis zur Gottheit« zu haben, und die sich von daher mit der von der Vorsehung bestimmten Mission betraut sehen, die Welt zu führen und umzuwandeln.[805] Gewiss erscheint ein Staatsmann als etwas ungewöhnlich, der sein Land in den Ersten Weltkrieg stürzt und, die Realität des Gemetzels vor Augen und von ganz kräftigen materiellen und geopolitischen Interessen geleitet, dennoch die US-amerikanische Intervention als einen »heiligen Krieg, den heiligsten aller Kriege« und die US-Soldaten als »Kreuzfahrer«, Protagonisten eines »transzendenten Unternehmens« feiert.[806]

Doch Furet konzentriert sich auf die psychopathologische Deutung des mit dem Oktober 1917 begonnenen Geschehens und vor allem der dreißig Jahre Stalins: Vermutet dieser nicht, als echter Paranoiker, über all Gefahren, Hinterhalte und Verschwörungen? Was sollten wir also von F. D. Roosevelt und seinen Mitarbeitern halten, die eine eindeutig günstigere politische und geopolitische Lage vorfinden und trotz dem schon in den Monaten, die der US-amerikanischen Intervention im Zweiten Weltkrieg vorangehen, wegen einer eventuellen deutschen Landung in Amerika Alarm schlagen, den Anti-Interventionismus als gleichbedeutend mit nationalem Verrat hinstellen und vor den vom Feind provozierten Industrie-»Sabotagen« und vor einer fünften Kolonne warnen, die sich sogar auf eine halbe Million Personen beliefe? Deshalb wirft Hitler dem US-amerikanischen Präsidenten vor, eine kranke, »alberne Phantasie« zu haben, die Phantasie eines »wirklich geisteskranken« Mannes.[807] Wie man sieht, ist der Vorwurf der Paranoia bzw. des Wahnsinns nicht neu, er kann von den unerwartetsten Personen lanciert werden und die unterschiedlichsten Ziele treffen.

Wichtiger ist jedoch eine andere Überlegung: Die zwei Verschwörungstheorien, die die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielleicht am meisten gekennzeichnet haben, registrieren zwar die starke Präsenz der Bolschewiki, doch nicht als Protagonisten, sondern vielmehr als Ziel; und solche Theorien sind mit einem entscheiden den Beitrag seitens der Vereinigten Staaten ausgearbeitet und verbreitet worden. Im September 1918 bewilligte Wilson die Veröffentlichung von Dokumenten, die sensationelle Enthüllungen enthalten: Nicht nur sei die Oktoberrevolution nichts anderes als eine deutsche Verschwörung gewesen, sondern Lenin, Trotzki und die anderen bolschewistischen Führer seien auch nach der Eroberung der Macht weiterhin im (bezahlten) Dienste des kaiserlichen Deutschland gestanden; sogar die anscheinend dramatische Zerrüttung anlässlich von Brest-Litowsk sei bloß eine Inszenierung gewesen mit dem Ziel, die andauernde Kontrolle zu verheimlichen, die der deutsche Generalstab über Sowjetrussland ausübte. All das wurde von den so genannten Sisson Papers bewiesen, nach dem Namen des Vertreters des Committee on Public Information in Russland, des Komitees also, das Wilson im Hinblick auf die totale Mobilisierung auch der Informationsvermittlung ins Leben gerufen hatte. Die Echtheit dieser angeblichen Dokumente (die sich später als eklatante Fälschung herausstellten) wurde auch von bedeutenden US-amerikanischen Historikern bestätigt, die sich später rechtfertigten, indem sie sich auf den Druck beriefen, der auf sie »im Namen der Notwendigkeit in Kriegszeiten« ausgeübt wurde.[808] Diese Geschichte findet auch außerhalb der Vereinigten Staaten eine Resonanz. In der Zeitung ›Il Grido del Popolo‹ spottet Gramsci: »Die beiden Bürger, die sich in Russland Lenin und Trotzki nennen lassen, sind zwei in den deutschen wissenschaftlichen Laboratorien fabrizierte Doppelgänger, die, weil sie maschinell hergestellt wurden, nicht von den Revolverschüssen der Terroristen getötet werden können« (die Anspielung gilt dem Attentat, das am 30. August 1918 auf Lenin verübt wurde).[809]

Später kommt zur Erklärung der Oktoberrevolution eine zweite Verschwörungstheorie hinzu, die, abgesehen von den üblichen Bolschewiki, jetzt nicht mehr die Deutschen, sondern die Juden beschuldigt. Nachdem die Denunziation der jüdisch-bolschewistischen Machenschaften, die den Aufruhr in der Welt verbreiten und die Ordnung und die Zivilisation als solche bedrohen, in den USA eine große Resonanz gefunden hatte, wird sie später eine erstrangige Rolle bei der »Endlösung« spielen (vgl. oben, Kap. 5, § 6).

3. Immoralität oder moralische Entrüstung?

Der psychopathologische Ansatz ist also irreführend; ist aber die Deutung der im 20. Jahrhundert über Russland hereinbrechenden großen historischen Krise überzeugender, die den Bolschewiki und insbesondere Stalin vorwirft, eine der Moral und der Menschlichkeit gegenüber gleichgültige Weltanschauung entwickelt zu haben? Doch wenn wir von den Jahren oder Jahrzehnten vor der Oktoberrevolution ausgehen, so sehen wir, dass die Rollen von Angeklagten und Anklägern sich leicht umkehren können: Es sind die Protagonisten der revolutionären Bewegung, die die Welt, die sie umstürzen wollen, für die Verbrechen verantwortlich machen, die ihnen heute zugeschrieben werden. Mündet der Kommunismus in den Völkermord? In den Jahren des Ersten Weltkriegs war die liberale und bürgerliche Gesellschaft, die es abzuschaffen galt, synonym mit Völkermord. Spricht Stalin von »blutigem Gemetzel« und »massenhafter Vernichtung der lebendigen Kräfte der Völker«,[810] so Bucharin von »schauerlicher Leichenfabrik«.[811] Fürchterlich und besonders zutreffend ist vor allem Rosa Luxemburgs Beschreibung: »Ermüdend eintöniges Geschäft« würden auf den Schlachtfeldern die »Massenschlächterei« und der »Völkermord«, sodass sich sogar in der Etappe eine »Ritualmordatmosphäre« ausbreite. Zum Kampf gegen den »Völkermord«, vielmehr gegen den »Triumph des Völkermordens« ruft auch Karl Liebknecht auf, der außerdem die »Anbetung der brutalen Gewalt«, den »Schiffbruch« »alles Menschenadels« und die grassierende »moralische Rebarbarisierung« verurteilt. Die moralische Entrüstung über den unglaublichen Horror des Ersten Weltkriegs führt Liebknecht dazu, die Oktoberrevolution zu begrüßen, und veranlasst ihn, in Sowjetrussland das Entstehen einer nicht nur »handfesten«, sondern auch »derben« Macht herbeizuwünschen, die jedenfalls in der Lage wäre, die Wiederholung der Tragödie und die Rückkehr eines Systems zu verhindern, das er schon am Vorabend des Krieges als ohne »moralische Skrupel« verurteilt hatte.[812]

Schließlich sollte man Trotzki zitieren: »Die Kainsarbeit der ›patriotischen‹ Presse« der beiden entgegengesetzten Lager sei der »unwiderlegbare Beweis für den moralischen Verfall der bürgerlichen Gesellschaft«. Ja, man müsse von »moralischem Verfall« sprechen, wenn man die Menschheit in eine »blinde und schmachvolle Barbarei« zurückfallen sieht; man erlebe, wie der »Wettstreit des blutigen Wahnsinns« um sich greift, um die fortgeschrittenste Technik zu kriegerischen Zwecken zu benutzen; dies sei eine »wissenschaftliche Barbarei«, die die großen Entdeckungen der Menschheit ausnutzt, »um die Grundlagen des kulturellen Zusammenlebens zu zerstören, und vor allem, um den Menschen auszurotten«. Alles was die Zivilisation an Gutem hervorgebracht hat, versinke im Blut und im Schlamm der Schützengräben: »Gesundheit, Komfort, Hygiene, Ordnung, gewohnte Alltagsbeziehungen, freundschaftliche Bindungen, berufliche Pflichten und letztendlich die scheinbar unerschütterlichen Regeln der Moral«.[813] Der Terminus »Völkermord« wird mit einer kleinen Variante auch von Trotzki benutzt, der 1934 vor dem neuen Weltkrieg, vor dem neuen »Völkermorden« warnt, das sich am Horizont abzeichne.[814] Noch am 31. August 1939 beschuldigt Molotow Frankreich und England, die sowjetische Politik der kollektiven Sicherheit in der Hoffnung zurückgewiesen zu haben, das Dritte Reich gegen die UdSSR zu entfesseln, ohne davor zurückzuschrecken, auf diese Weise »ein neues großes Massaker, einen neuen Holocaust der Nationen« auszulösen.[815]

Es ist eindeutig moralische Entrüstung, die diese Brandmarkung der Gräuel des Krieges inspiriert. Ganz anders verhält sich diesbezüglich ein US-amerikanischer Staatsmann ersten Ranges wie Theodore Roosevelt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert rühmt er in vitalistischem Ton den Krieg schlechthin, und zwar in einer Sichtweise, die gewissermaßen – so könnte man mit Nietzsche sagen – »jenseits von Gut und Böse« sein will. Lesen wir: »Jeder Mann, der die Kraft in sich hat, sich der Schlacht zu erfreuen, kann sie verspüren, wenn ihm die Bestie ins Herz einzudringen beginnt; dann weicht er nicht erschrocken vor dem Blut zurück oder glaubt, die Schlacht müsse aufhören; er genießt vielmehr den Schmerz, das Leid, die Gefahr, so als ob sie seinen Triumph schmückten«.[816] Das sind Themen, die in leicht abgeschwächter Form auch bei Churchill anklingen, der im Hinblick auf die kolonialen Expeditionen behauptet: »Der Krieg ist ein Spiel, bei dem man lächeln soll«. Das Wüten des Gemetzels in Europa vom August 1914 an ändert nichts an dieser Auffassung: »Der Krieg ist das größte Spiel der Weltgeschichte. Wir spielen um die höchsten Einsätze«; »einziger Sinn und Ziel unseres Lebens« ist der Krieg.[817] Mit einem Über gang von der grob vitalistischen Verherrlichung des Krieges zu seiner spiritualistischen Verklärung wird der Erste Weltkrieg von Max Weber als »groß und wunderbar« begrüßt, während Benedetto Croce und mit ihm zahlreiche andere Vertreter des damaligen liberalen Westens eine »Regeneration des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens« von ihm erwarten.[818] Auch Herbert Hoover gehört dazu, ein hoher Exponent der US-Administration und späterer Präsident der Vereinigten Staaten, der gleich nach Unterzeichnung des Waffenstillstands dem soeben beendeten Krieg die Funktion einer »Läuterung der Menschen« zuschreibt und damit die Vorbereitung auf »eine neue goldene Epoche: Wir sind stolz, an dieser Wiedergeburt der Menschheit teilgenommen zu haben«.[819]

An die politisch-moralische Verurteilung des Krieges hält sich indessen beharrlich Lenin, der mit dem Krieg das politisch-gesellschaftliche System unter Anklage stellt, das ihn seiner Meinung nach verursacht hat. Das moralische Pathos, das Lenins Analyse des Kapitalismus und insbesondere des Kolonialismus inspiriert, wird offensichtlich. Hier in der Beschreibung des italienischen Kriegs in Libyen, dieser »typische Kolonialkrieg eines ›zivilisierten‹ Staates des 20. Jahrhunderts«; wir sehen eine »zivilisierte, konstitutionelle Nation« das »Zivilisieren« mit »dem Bajonett, mit der Kugel, mit dem Strick, mit Feuer, durch die Vergewaltigung ihrer Frauen« vorantreiben. In Wahrheit handle es sich um »ein vervollkommnetes, zivilisiertes Massaker, ein Abschlachten der Araber mit ›neuzeitlichsten‹ Waffen (…). ›Zur Strafe‹ wurden etwa 3.000 Araber getötet, ganze Familien ausgerottet, Frauen und Kinder hingemetzelt«.[820] Der Anbruch der fortschrittlichsten bürgerlichen Republik setzt diesem Grauen keineswegs ein Ende: Man denke an »die französischen ›republikanischen‹ Truppen, die mit der gleichen Bestialität die afrikanischen Völker ausrotteten«.[821]

Die Brandmarkung der genozidalen Praktiken des Westens nimmt eine zentrale Rolle vor allem in der Beschreibung ein, die Lenin in den Heften über den Imperialismus gibt, wobei er das der damaligen liberal bürgerlichen Literatur entnommene Material zitiert. Schon ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kann man im Buch eines deutschen Autors lesen: »Der härtere Kampf ums Dasein führt zu heftiger Feindschaft der Europäer und zum Versuch gegenseitiger Vernichtung«. Im Übrigen ist die Vernichtungspolitik in den Kolonien schon Realität: In Afrika sind die Herero von Deutschland »großenteils vernichtet« worden, das übrigens bei der Unterdrückung des »Aufstands der Hottentotten« auf die aktive Mithilfe Englands rechnen kann. Aber sehen wir uns einmal an, wie das führende Land des damaligen liberalen Westens sich in seinen Kolonien verhält. »Die Tasmanier wurden von den Engländern mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Aber die Iren sind keine Tasmanier! Sie sind einfach nicht umzubringen«. Obwohl die Schwarzen einer unerbittlichen Herrschaft und Unterdrückung unterworfen sind, vermehren sie sich besorgniserregend: »Manche colonials wünschen geradezu einen Aufstand, um die gefährliche Volksvermehrung der Kaffern zu dämpfen und um mit deren Rechten und Ländern Tabula rasa zu machen«.[822] Diese kalten und distanzierten Erklärungen der bürgerlichen Historiker werden bei ihrer Übernahme durch Lenin mit moralischer Entrüstung aufgeladen, wenn dieser anmerkt: Hier die »Resultate der Kolonialkriege«; dank der Enteignung und der Vernichtung der Herero können die Neuankömmlinge »Land rauben und Gutsbesitzer werden«.[823]

Stalins Deutung des Kolonialismus weist nicht weniger moralische Entrüstung auf. Doch auf die Verurteilung der versklavenden und genozidalen Methoden in den Kolonien scheint Theodore Roosevelt im Voraus zu antworten: »Sehr zum Glück lassen sich die harten und energischen Politiker, die als Pioniere die schwere Arbeit leisteten, barbarische Territorien zu zivilisieren, nicht von falscher Empfindsamkeit überwältigen«; die »empfindsamen Philanthropen«, die über das Schicksal der Kolonialvölker beunruhigt sind, seien als die schlimmsten »Berufsverbrecher« zu betrachten.[824] Ganz ähnlich hatte über die »her vorragenden Philanthropen«, die wegen der Brutalität und des Grauens der französischen Eroberung Algeriens beunruhigt waren, ein paar Jahrzehnte zuvor General Bugeaud gespottet, der aber von Tocqueville wegen der »Energie« und »unvergleichliche(n) Kraft«, mit der er »die einzige in Afrika mögliche Art von Krieg« geführt habe, zum Vorbild genommen wird.[825]

Ist heutzutage Kommunismus gleichbedeutend mit totalem Staat und Totalitarismus? In den Jahren des Ersten Weltkriegs verkörperten all das die kapitalistischen Länder, die liberal orientierten eingeschlossen. Lenin hebt hervor, dass an der Front »eine Zuchthausdisziplin« die »Verbrüderung« verhindere und dass sogar das Hinterland sich in »Militärzuchthäuser« verwandle.[826] Sogar die Zivilgesellschaft wird der Reglementierung und der eisernen Faust unterworfen; diesbezüglich unterstreicht der russische Revolutionär die Aktualität der Analyse, die einige Jahrzehnte zuvor Engels geleistet hatte, demzufolge die wach sende Militarisierung und die »Eroberungskonkurrenz die öffentliche Macht in eine Höhe emporgeschraubt haben, auf der sie die ganze Gesellschaft und selbst den Staat zu verschlingen droht«.[827] Wenn Bucharin die »Zentralisierung des Kasernen-Staates« und die »eiserne Faust des militaristischen Staates« brandmarkt, sieht er am Horizont einen »neuen Leviathan« auftauchen, »angesichts dessen die Phantasie Thomas Hobbes’ ein Kinderspiel zu sein scheint«.[828] Dieses Thema findet sich auch bei Stalin wieder, demzufolge der Krieg am Ende die »Demokratie« auch dort verstümmele bzw. zerstöre, wo sie besonders eingewurzelt erscheint; im Gegensatz zu Russland habe in England die »nationale Unterdrückung« im Allgemeinen nicht »die abscheulichen Formen, die Formen von Massakern und Pogromen« angenommen, sie sei »milder, weniger unmenschlich« gewesen; doch mit dem Ausbruch der Feindseligkeiten habe sich die Lage drastisch verschlimmert, was sowohl die Iren als auch die Inder am eigenen Leib erlebt hätten.[829] Auch die westlichen Demokratien unterscheiden sich der Tendenz nach nicht mehr von einem Land, das von einer schrecklichen und »unmenschlichen« Autokratie gekennzeichnet ist. Dieser Sprache könnte man »den sehr häufigen Gebrauch der Worte ›mannhaft‹, ›herrisch‹, ›geschickt‹ in der Prosa (Th.) Roosevelts«[830] entgegensetzen, eine Prosa, die erneut auf eine Haltung »jenseits von Gut und Böse« und auf einen Kult des Willens zur Macht verweist, die moralische Grenzen nicht vertragen.

Wie man sieht, hält der Gemeinplatz, der gerne den robusten moralischen Sinn der bürgerlich-liberalen Welt dem skrupellosen Machiavellismus der Vorkämpfer der kommunistischen Bewegung entgegenstellt, der historischen Analyse nicht stand. Gleich nach der Oktoberrevolution, die er zustimmend begrüßt, erblickt der junge Lukács in der »historischen Bewegung« des »Sozialismus« eine radikale Abrechnung mit der »Realpolitik«;[831] für Croce verkörpert sich indes die widerwärtige und lächerliche Figur des »politischen Moralisten« in den Bolschewiki, in den »russischen Revolutionären«. Sie »haben einen großen Gerichtshof eröffnet und rufen alle Völker im Namen der Moralität zur Überprüfung ihrer Kriegsziele auf, um sie zu kontrollieren und die Ehrlichen zuzulassen und die Unehrlichen auszuschließen; und so haben sie moralistisch vorgehend die diplomatischen Verträge veröffentlicht«, die als unmoralisch hingestellt werden, weil sie den Krieg geplant hätten, um territoriale Eroberungen zu erzielen. Es sei aber absurd, entgegnet der liberale Philosoph, ein »moralisches Urteil über die Staaten abgeben« zu wollen und »die Politik als Moral zu behandeln, wo doch die Politik (das ist die einfache Wahrheit) Politik, gerade Politik und nichts anderes als Politik ist; und (…) ihre Moralität besteht ganz und gar nur darin, eine ausgezeichnete Politik zu sein«. Deshalb habe es keinen Sinn zu argumentieren, »indem man demjenigen Rechte zuerteilt, der sie nicht erobern und verteidigen kann, und Grenzen und Pflichten demjenigen, der seinen Verstand behält und sein Blut vergießt und mit Recht keine andere Grenze und Pflicht anerkennt als die, die sein Verstand und sei ne Kraft ihm anraten und setzen«.[832] Man könnte sagen, dass Stalin am 10. März 1939 ideell Croce antwortet, als sich nämlich die Tragödie der Tschechoslowakei abspielte, die dank dem Münchner Abkommen und der Beihilfe des Westens zerstückelt wird, der sich weigert, den Willen zur Macht und die expansionistische Vitalität des Dritten Reichs zu verurteilen und einzudämmen, und sich damit befleißigt, diese noch mehr nach Osten zu abzulenken: »Es wäre naiv, Leuten, die die menschliche Moral nicht anerkennen, Moral zu predigen. Politik ist Politik, wie die alten durchtriebenen bürgerlichen Diplomaten sagen«.[833]

Konzentrieren wir uns aber auf den Ersten Weltkrieg. Es lohnt sich nachzulesen, was Pareto 1920 schrieb: Vor Kriegsausbruch erklärten »die Proletarier und besonders die Sozialisten« sich dazu bereit, ihn mit dem Generalstreik oder mit noch radikaleren Mitteln zu verhindern. »Nach so schönen Reden kam der Weltkrieg. Den Generalstreik hat man nicht gesehen; dagegen genehmigten die Sozialisten in den verschiedenen Parlamenten die Ausgaben für den Krieg oder widersetzten sich diesen nicht allzu sehr«, sodass sich »das Gebot des Meisters (Marx): ›Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‹ implizit in das andere verwandelt sah: ›Proletarier aller Länder, tötet euch!‹«.[834] Auf Pareto, zumindest damals ein typischer Vertreter der bürgerlich-liberalen Welt, der seinen Zynismus und seine Genugtuung über die blutige Widerlegung, die der sozialistische Internationalismus erfahren hatte, nicht verbarg, scheint Stalin im Voraus zu antworten. Seine Worte sind voller moralischer Entrüstung und gleichzeitig voller Hoffnung (die Februarrevolution war ausgebrochen):

Es sind bald drei Jahre vergangen, seitdem die Arbeiter aller Länder, gestern noch leibliche Brüder, heute aber in den Soldatenrock gesteckt, einander als Feinde gegenüberstehen, einander verstümmeln und töten – zur Genugtuung der Feinde des Proletariats (…). Die russische Revolution schlägt als erste eine Bresche in die Mauer, die die Arbeiter voneinander trennt. Im Augenblick des allgemeinen »patriotischen« Taumels proklamieren die russischen Arbeiter als erste die in Vergessenheit geratene Losung: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«.[835]

In der neuen Lage, die in Russland (und in der Welt) entstanden ist, werde es möglich, den Kampf wieder aufzunehmen, um dem Massaker ein Ende zu bereiten und der »Massenverbrüderung an den Fronten« und »neuen Banden der Brüderlichkeit zwischen den Völkern« die Bahn zu ebnen.[836] Um dieses Resultat zu erreichen, sei es jedoch vonnöten, über die Februarrevolution hinauszugehen. »Das Leben in den Schützengräben, das wirkliche Leben der Soldaten brachte ein neues Kampfmittel hervor, nämlich die Massenverbrüderung«, der sich je doch die Provisorische Regierung widersetze, die zur »Offensive« und zu neuen Blutbädern aufrufe[837] und drohe, die an der »Verbrüderung« »Schuldigen« vor Gericht zu stellen.[838]

In der Zeit des Untergrunds haben die bolschewistische Partei und Stalin den Kampf gegen die Autokratie allerdings mit recht rücksichtslosen Methoden geführt (Überfälle auf Banken und Geldtransporte), und davon gehen die Historiker aus, die darum bemüht sind, Stalin schon in seiner Jugend als Gangster hinzustellen. Was soll man von diesem Ansatz sagen? Stellen wir einen Vergleich mit Churchill an, der fünf Jahre älter als Stalin ist. Der spätere englische Staatsmann beginnt seine Karriere, indem er in den Kriegen des britischen Empires, auch in den weniger ruhmreichen, kämpft und sie lobend beschreibt: Werden im Sudan keine Gefangenen gemacht, so errichten die Eroberer in Südafrika Konzentrationslager, die später zum traurigen Vorbild werden. Mit diesen Erfahrungen beginnt Churchill, sich als politischer Führer auszuzeichnen, wobei er sich voller Eifer für die Verteidigung der »britischen Rasse« und der weißen Rasse ganz allgemein einsetzt. Um dieses Resultat zu erzielen, genüge es nicht, die Kontrolle über die Kolonialvölker zu verschärfen, es sei auch notwendig, in der Metropole einzugreifen: man müsse die Zwangssterilisierung der »Geistesschwachen«, der Verhaltensgestörten, der vermutlichen Gewohnheitsverbrecher vornehmen; die faulen Landstreicher sollten in Arbeitslager gesperrt werden. Nur so könne man angemessen »einer nationalen und rassischen Gefahr« begegnen, »die man unmöglich übertreiben kann«. Kommentiert der Autor, der diese Passagen zitiert: Als Home Secretary war Churchill 1911 Befürworter »drakonischer« Maßnahmen, die »ihm persönlich eine fast unbegrenzte Macht über das Leben der Individuen verliehen«.[839] Sind die Anfänge Churchills wirklich erbaulicher als die Stalins? Ein paar Jahre später, während Stalin im Gefängnis, in das er vom zaristischen, mit England verbündeten Regime geworfen worden ist, von der Verbrüderung der Soldaten und der Völker träumt, ist Churchill voll und ganz damit beschäftigt, einen Krieg zu führen, der in seinen Augen die Hegemonie des Empires und der »britischen Rasse« verstärken soll.

Wenn also ein Historiker seinen Bericht mit dem Oktober 1917 unterbrechen würde, wäre es recht schwierig, die Bolschewiki und Stalin als die im Kampf befindliche Partei anzugeben, die die Gebote der Moral ignoriert.

4. Die reductio ad Hitlerum und ihre Varianten

Der psychopathologische und der moralische Ansatz führen besonders deshalb zu nichts, weil die Tragödie, die sich im 20. Jahrhundert in Russland abgespielt hat, schon Jahrzehnte oder Jahrhunderte vorher von ganz verschiedenartigen Persönlichkeiten vorausgesehen worden ist: Sie kann also nur schwerlich mit der psychischen Anomalie bzw. der moralischen Verkommenheit einzelner Individuen erklärt werden. Übrigens könnte sowohl der erste als auch der zweite Ansatz benutzt werden, um die Führer des liberalen Westens unter Anklage zu stellen. Man kann von der Unterstützung ausgehen, die besonders Großbritannien dem Putschversuch Kornilows und später den Weißen gewährte, auch dann noch, als diese eine blutige Menschenjagd gegen die Juden entfesselten und Gemetzel begingen, die gewissermaßen Vorboten der »Endlösung« waren. Nur um Russland die immerwährende Teilnahme an dem aufzuzwingen, was die Kommunisten den »Völkermord« des Ersten Weltkriegs nannten, drückte der liberale Westen ein Auge zu, was andere furchtbare Verbrechen betraf.

Nach dem militärischen Triumph kommt der Augenblick der Aufteilung der kolonialen Beute. England steht unter anderem der Irak zu, der sich aber 1920 erhebt. Und wie packt eines der führenden Länder des liberalen Westens die Lage an? Die britischen Truppen entfesselten »grausame Repressalien«, »brannten ihre Dörfer nieder und unter nahmen andere Aktionen, die wir heute für übertrieben repressiv, wenn nicht sogar barbarisch halten würden«. Churchill gebietet ihnen sicher keinen Einhalt, ja er fordert sogar die Luftwaffe auf, den »widerspenstigen Eingeborenen« eine harte Lektion zu erteilen und sie mit einem »experimentellen Werk« auf der Grundlage »von Gas- und vor allem Senfgasgeschossen« zu schlagen.[840] In diesem Fall denken wir nicht an die »Endlösung«, sondern an den vom faschistischen Italien gegen Äthiopien entfesselten Kolonialkrieg, der unter Einsatz von Waffen, die von internationalen Abkommen verboten sind, besonders barbarisch geführt worden ist: Churchill erscheint hier als der Vorläufer Mussolinis. Wenn es darum geht, das Empire zu retten oder auszuweiten, bilden die brüsken Methoden des englischen Staatsmannes eine Konstante: im Jahre 1942 sind die Unabhängigkeitsdemonstrationen in Indien »mit extremen Mitteln, wie dem Einsatz der Luftwaffe, um die Massen der Demonstranten mit Maschinengewehrfeuer zu belegen«, unterdrückt worden;[841] in den beiden darauffolgenden Jahren besteht Churchill darauf, die Realität des Hungers, der die Bevölkerung des indischen Bengalen dezimiert, zu ignorieren und zu vernachlässigen. Um weiter beim Thema der Kolonien und der Völker kolonialen Ursprungs zu bleiben: Inwieweit wirft die »Endlösung unserer Indianer frage« in Kanada, das bis 1931 zum britischen Commonwealth gehörte, einen Schatten auch auf ein maßgebliches Mitglied der englischen politischen Klasse, wie Churchill es ist? Er ist jedenfalls als Premierminister von 1951 bis 1955 als verantwortlich für die genozidalen Praktiken zu erachten, die die Londoner Regierung bei dem Versuch anwandte, den Aufstand der Mau-Mau zu unterdrücken (vgl. unten, Kap. 8, § 4).

Kehren wir aber zur Vorkriegszeit und zu Europa zurück. Nach der Machtübernahme Hitlers versucht die Londoner Regierung mit allen Mitteln, die expansionistische Wut des Dritten Reichs nach Osten und vor allem auf Sowjetrussland umzulenken. Diesbezüglich sind zwei kanadische Historiker zu einem Schluss gekommen, der zu denken gibt: »Die Verantwortung für die Tragödie des Zweiten Weltkriegs, der Holocaust eingeschlossen, muss zum Teil auf Stanley Baldwin, Neville Chamberlain, Lord Halifax und ihre engen Verbündeten zurückfallen«.[842]

Dennoch gelang es England nicht, dem Zusammenprall mit Nazideutschland aus dem Weg zu gehen, und es reagiert darauf vor allem mit wahllosen und terroristischen Bombardements der deutschen Städte mit dem damit verbundenen Massaker an der Zivilbevölkerung: Dies hat zwei US-amerikanische Historiker dazu geführt, einen Ver gleich mit der Behandlung des jüdischen Volkes durch den Nazismus anzustellen (vgl. oben, Kap. 5, § 2). Die sowjetische Führung versuchte das Massaker zu begrenzen, wie aus einem Tagebucheintrag Dimitroffs vom 17. März 1945 hervorgeht:

Abends zusammen mit Molotow bei Stalin. Wir haben über die Deutschland betreffenden Probleme diskutiert. Die Engländer wollen Deutschland aufteilen (Bayern und Österreich, das Rheinland usw.). Sie versuchen mit allen Mitteln, ihren Konkurrenten zu zerstören. Sie bombardieren wütend die deutschen Fabriken. Wir lassen ihre Luftwaffe unsere Zone Deutschlands nicht überfliegen. Aber sie versuchen mit allen Mitteln auch dort zu bombardieren (…). Es ist notwendig, dass Deutsche auftreten, die handeln, um das zu retten, was für das Leben des deutschen Volkes noch zu retten ist: In den von der Roten Armee besetzten bzw. zu besetzenden Gebieten die Gemeindeverwaltungen organisieren, das Wirtschaftsleben in Ordnung bringen usw. Lokale Verwaltungsorgane schaffen, aus denen am Ende auch eine deutsche Regierung hervorgeht.[843]

Besonders abscheulich erscheint die von der britischen Luftwaffe entfesselte Feuerhölle, weil der englische Premierminister Chamberlain zwei Wochen nach Kriegsausbruch erklärt hatte: »Unabhängig davon, wie weit andere gehen könnten, wird die Regierung Ihrer Majestät niemals einen absichtlichen Angriff auf Frauen und Kinder mit bloß terroristischen Zielen durchführen«.[844] In Wahrheit hatten die Pläne für wahllose und terroristische Bombardements schon im Ersten Weltkrieg begonnen, Form anzunehmen: Während dieser sich hinzog, ohne zu einem Abschluss zu kommen, hatte Churchill »für 1919 einen Tausend bomberangriff auf Berlin vorgesehen«. Diese Pläne werden nach dem Sieg weiterentwickelt.[845] – Wollte man die oberflächliche Argumentationsweise der heute beliebten Ideologen nachahmen, so könnte man also sagen, dass das damals führende Land des liberalen Westens einen neuen »Völkermord« plante, während es gerade den 1914 begonnenen zu Ende führte. Gerade England wurde jedenfalls Protagonist der systematischen Zerstörung deutscher Städte noch fast am Ende des Zweiten Weltkriegs (man denke insbesondere an Dresden), was mit dem erklärten Ziel geplant und durchgeführt wurde, der Zivilbevölkerung keinen Ausweg zu lassen; sie wurde von den Flammen verfolgt und verschlungen, bei ihrem Fluchtversuch von Zeitbomben blockiert und oft von oben mit Maschinengewehrfeuer belegt.

Umso schlimmer erscheint dieses Vorgehen, wenn man an Churchills Erklärung vom April 1941 denkt: »Es gibt weniger als 70 Millionen bösartiger Hunnen. Einige (some) sind zu heilen, andere (others) umzubringen«. Wenn auch nicht an einen regelrechten Genozid gedacht ist, wie Nolte meint, so doch klar an eine massive Ausdünnung der deutschen Bevölkerung.[846] In dieser Perspektive kann die Kampagne der strategischen Bombenangriffe gesehen werden: »1940 bis 1945 hat Churchill die Kölner, die Berliner, die Dresdner als Hunnen beseitigt«.[847] Als nicht weniger unerbittlich erwies sich der britische Premierminister, als er die Einflusszone Londons zuschnitt und systematisch die für feindselig oder verdächtig gehaltenen Partisanenkräfte liquidierte. Beredt sind die Anweisungen an das britische Expeditionskorps in Griechenland: »Handelt ohne Zögern, als ob ihr euch in einer eroberten Stadt befändet, in der eine lokale Revolte ausgebrochen ist«. Und mehr noch: »Bestimmte Dinge darf man nicht auf halbem Wege stehen lassen«.[848]

Kommen wir zum Kalten Krieg. Vor einiger Zeit hat ›The Guardian‹ enthüllt, dass Großbritannien zwischen 1946 und 1948 in Deutschland Lager eingerichtet hat, die für Kommunisten und Elemente, die der Sympathie für die Kommunisten verdächtigt wurden, wirkliche oder mutmaßliche sowjetische Spione bestimmt waren: »Die Bilder zeigen verstörte und leidende Gesichter junger Männer, zum Skelett abgemagert, die monatelang Essens- und Schlafentzug unterworfen waren, wiederholt geprügelt und extrem niedrigen Temperaturen ausgesetzt wurden. Unmenschliche Behandlungen, die zum Tod einiger Häftlinge führten«. »Auch zahlreiche Frauen, denen die Tortur nicht erspart blieb«, seien dort eingesperrt gewesen. Für die Folter wurden manch mal von der Gestapo geerbte Instrumente benutzt; tatsächlich habe es sich um Lager gehandelt, die »den nazistischen Lagern würdig« waren.[849] Wie man sieht, taucht ständig der Vergleich zwischen den Praktiken Großbritanniens im 20. Jahrhundert und den vom Dritten Reich angewandten auf.

Zu keinen anderen Resultaten kommen wir, wenn wir uns mit den Vereinigten Staaten beschäftigen. In diesem Fall erreicht die Heuchelei, die Chamberlain kennzeichnete, ihren Höhepunkt. Gleich nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verurteilt Franklin D. Roosevelt die Bombardements, die die Zivilbevölkerung heimsuchen, als gegen die Gefühle »jedes zivilisierten Mannes und jeder zivilisierten Frau« und gegen das »Gewissen der Menschheit« gerichtet und als Ausdruck »unmenschlicher Barbarei«.[850] Später begeht gerade die US-amerikanische Kriegsmaschine eine noch schlimmere »unmenschliche Barbarei«, als sie zur systematischen und terroristischen Zerstörung japanischer Städte übergeht und sich aktiv an der ähnlichen Operation gegen deutsche Städte beteiligt. Auch die Bombardements, die Italien gelten, dürfen nicht unterbewertet werden, denn auch sie haben das Ziel, die Zivilbevölkerung zu treffen und deren Moral zu unterminieren. Dies hebt gerade F. D. Roosevelt hervor: »Wir werden die Italiener den Geschmack eines wirklichen Bombardements probieren lassen, und ich bin mehr als sicher, dass sie unter einem Druck wie diesem umfallen werden«.[851]

Die Kampagne terroristischer Bombardements gipfelt während der Truman-Administration im Einsatz der Atomwaffe gegen ein Land, das inzwischen schon am Ende seiner Kräfte ist. Ein noch grauenhafteres Detail ist hinzuzufügen: Es ist darauf hingewiesen worden, dass zumindest die Vernichtung der Zivilbevölkerung Hiroshimas und Nagasakis mehr als das vor der Kapitulation stehende Japan die Sowjetunion zum Ziel hatte, der so eine schwere Warnung erteilt wurde.[852] Wir haben es also mit zwei Terrorakten auf breitester Basis zu tun, wo die Opfer doppelt unschuldig sind: Zehntausende und Aberzehntausende wehrlose Zivilpersonen des alten Feindes (besser des bisherigen Feindes, der dabei ist, sich in einen Verbündeten zu verwandeln), nur um den Verbündeten zu terrorisieren, der schon als neuer Feind und als Zielscheibe der genozidalen Methoden, die gerade erprobt worden sind, ins Visier genommen wird!

Doch der Krieg in Asien legt weitere Betrachtungen nahe. In den Vereinigten Staaten wird inzwischen weitgehend die These akzeptiert, wonach der Angriff auf Pearl Harbour sehr wohl vorauszusehen war (und in Wahrheit von einem Erdölembargo provoziert wurde, das Japan nur wenige Alternativen ließ). Aber nachdem der Angriff stattgefunden hatte, wurde der Krieg von Washington im Zeichen einer sicher heuchlerischen moralischen Entrüstung, aber angesichts dessen, was wir heute wissen, umso mörderischer geführt. Es geht nicht nur um die Zerstörung von Städten. Man denke an die Leichenverstümmelungen und sogar an die Verstümmelung von Feinden, die noch letzte Lebenszuckungen zeigen, um an Souvenirs zu kommen, mit denen man unbesorgt und stolz prahlte. Bedeutsam ist vor allem die Ideologie, die diesen Praktiken zugrunde liegt: Die Japaner werden unter Benutzung einer zentralen Kategorie des nazistischen Diskurses als »Untermenschen« abgestempelt.[853] Und auf diesen Diskurs kommen wir erneut zurück, wenn F. D. Roosevelt mit der Idee der »Kastration« der Deutschen liebäugelt. Diese werden nach Ende des Krieges in Konzentrationslager gesperrt, wo sie aus reinem Sadismus oder aus reinem Rachegeist Hunger, Durst und Entbehrungen und Demütigungen aller Art zu erleiden müssen, während auf dem besiegten Volk insgesamt das Schreckgespenst des Hungertodes lastet.

Noch immer über den Staatsmann, der vielleicht mehr als alle an deren zum Helden der Freiheit stilisiert wird: Er ändert in keiner Weise die von Washington in Lateinamerika traditionell verfolgte Politik, und im Jahre 1937 kommt in Nicaragua, dank der von den USA aufgestellten Nationalgarde, ein blutgieriger Diktator wie Anastasio Somoza an die Macht.[854] Im Inneren der Vereinigten Staaten: Die während der F. D.-Roosevelt-Administration gebauten Städte schließen weiterhin ausdrücklich die Afroamerikaner aus; »die Wohnungen für die in der Rüstung beschäftigen Arbeiter, die von der Regierung im Zweiten Weltkrieg gebaut bzw. finanziert worden sind, wurden absichtlich einer Segregation ausgesetzt, die noch strenger war als die in den Wohnungen der umliegenden Gemeinden«. Übrigens »behielten auch die Streitkräfte während des Krieges eine strenge Segregation bei«. Mehr noch: »Der Präsident drängte nie auf ein Gesetzesvorhaben gegen die Lynch morde«,[855] die im Süden noch immer als Schauspiel für eine Masse von Männern, Frauen und Kindern inszeniert wurden, die den Anblick der Demütigungen und der sadistischsten Torturen und die Hinrichtung des Opfers, eine langsame, so lang wie möglich hinausgezogene, end lose Hinrichtung genossen (vgl. unten, Kap. 8, § 4).

Zum Schluss: Hatte F. D. Roosevelt im Januar 1941 die Vereinigten Staaten als das Land gerühmt, das sich unaufhörlich und friedlich, »ohne Konzentrationslager« entwickle,[856] so greift er gleich nach Ausbruch des Krieges auf diese totale Einrichtung zurück, um souverän und kollektiv, ohne Unterschied von Geschlecht und Alter die US amerikanische Gemeinschaft japanischer Abstammung der Freiheit zu berauben.

Heute ist es fast selbstverständlich geworden, Stalin mit Hitler gleich zusetzen; da ist es vielleicht interessant, die Bilanz zu lesen, die ein deutscher Historiker über die strategischen Bombenangriffe auf Deutschland aufstellt, angefangen vor allem beim Brand, der Dresden und seine Einwohner zerstörte:

Die Leichenbergung entspricht der Tötungsprozedur. Der Ausgerottete erhält kein eigenes Grab, erhält keinen eigenen Tod, weil ihm kein Lebensrecht gehörte (…). Die tausend unter zehnjährigen Kinder wurden nicht zur Strafe bombardiert. Bomber Harris unterstellte ihnen keinerlei Schuld. Churchill behauptete nur, dass sie ihm gegenüber keine Rechte geltend machen konnten. Im Ersten Weltkrieg hätten sie solche besessen, im Zweiten nun nicht mehr. Hitler, Churchill und Roosevelt haben sie ihnen abgenommen.[857]

Diese drei Persönlichkeiten nebeneinander zu stellen, ist ganz gewiss eine polemische Verzerrung, die einen im Nachkriegsdeutschland verbreiteten Gemütszustand reproduziert, im zerstörten, durch das Verbot der Fraternisierung isolierten und vom liberalen Westen an die Schwelle des Hungertods gebrachten Deutschland. Ein Gespräch zwischen zwei erbitterten deutschen Bürgern in der US-Zone ist festgehalten worden:

Ja, Hitler war schlecht, unser Krieg war falsch, aber jetzt tun sie dasselbe Falsche, sie sind alle gleich, es gibt keinen Unterschied, sie wollen Deutschland genauso versklaven, wie Hitler die Polen versklaven wollte, jetzt sind wir die Juden, die »minderwertige Rasse«.[858]

Nimmt der erste der zuletzt zitierten Texte eine teilweise Angleichung von Hitler, Churchill und F. D. Roosevelt vor, so geht der zweite zu ihrer völligen Gleichsetzung über. Die heute vorherrschende Ideologie stellt Stalin mit Hitler gleich, sie ist aber dabei genauso oberflächlich wie die vom Hunger und von den Demütigungen erbitterten deutschen Bürger: ›Es gibt keinen Unterschied‹!

5. Tragische Konflikte und moralische Dilemmata

Auch wenn man sich auf die eigentlich moralische Dimension konzentriert, fehlt es beim Vergleich zwischen den Protagonisten des großen antifaschistischen Bündnisses sicher nicht an Schattierungen. Wie soll man daher die heutige manichäische Entgegensetzung erklären? Kehren wir zu dem jahrhundertelangen Prozess im Hintergrund der Katastrophe zurück, die nach dem Zusammenbruch der zaristischen Autokratie ausbricht. Die Langzeitperspektive, die bei der historischen Rekonstruktion geltend gemacht wurde, verschwindet leider wie von Zauberhand, wenn man zur Formulierung des moralischen Urteils übergeht: Alles läuft auf die Dämonisierung der Periode hinaus, die mit dem Oktober 1917 und insbesondere mit Stalin begonnen hat. Haben diejenigen keinerlei Verantwortung, die über lange Zeit hinweg ein Regime unterstützt haben, das von so gewalttätigen und so gewaltsam entmenschlichenden sozialen Verhältnissen gekennzeichnet war, dass sogar ganz unterschiedliche Persönlichkeiten (Maistre, Marx, Witte) die Katastrophe vorausahnten? Haben diejenigen sich nichts vorzu werfen, die den Ersten Weltkrieg entfesselt haben und die vom Westen aus ohne Zögern die reaktionärsten und grausamsten Banden bewaffneten und unterstützten, nur um Russland zu zwingen, bis zum Ende am Krieg teilzunehmen? Wenn der ›Stalinismus‹, wie einer der Autoren des Schwarzbuchs des Kommunismus behauptet, im Jahre 1914 Form anzunehmen begonnen hat, warum sitzen dann auf der Anklagebank nicht die für das Gemetzel Verantwortlichen, sondern nur diejenigen, die versucht haben, es zu verhindern oder sein Ende zu beschleunigen?

Zumindest was Entstehung und Ablauf des Zweiten Weltkriegs betrifft, ist den aufmerksameren Historikern der problematische Charakter des über die westlichen und liberalen Staatsmänner zu formulieren den moralischen Urteils nicht entgangen. Wie wir wissen, haben zwei kanadische Historiker den englischen Verfechtern der Appeasement-Politik, in Wahrheit der Ablenkung des nazistischen Expansionismus nach Osten, die Mitverantwortlichkeit »für die Tragödie des Zweiten Weltkriegs, den Holocaust eingeschlossen«, zugeschrieben.

Außerdem gibt es das Problem, wie der Krieg nach seinem Ausbruch vom liberalen Westen geführt wurde. Auch in diesem Fall macht es sich die herrschende Ideologie leicht. Ein erfolgreicher Historiker und Journalist, dessen Artikel auch in der ›New York Times‹ erscheinen, hegt so wenige Zweifel an »der Opportunität und der moralischen Rechtfertigung« des Einsatzes der Atombombe gegen Japan, dass er behauptet, es »wäre unlogisch, ja sogar unverantwortlich gewesen«, sie nicht zu benutzen. Gewiss sei es zu einem Massaker der unschuldigen Zivilbevölkerung gekommen, aber »die, die in Hiroshima und Nagasaki gestorben sind, waren nicht in erster Linie Opfer der angloamerikanischen Technologie, sondern eines durch eine perverse Ideologie paralysierten Regierungssystems, einer Ideologie, die nicht nur die absoluten moralischen Werte, sondern auch die Vernunft eliminiert hatte«.[859] Diese überlegenen Gewissheiten beruhen auf einer sehr einfachen Voraussetzung: Die Verantwortung für eine fürchterliche Tat muss nicht unbedingt dem wirklichen Täter zugeschrieben werden. Ähnlich ist oft von Seiten der sowjetischen Führung argumentiert worden: Man gab natürlich das Grauen zu, das sich in kritischen Momenten der Geschichte des Landes abgespielt hatte, doch man schrieb die Verantwortung dafür der »imperialistischen Einkreisung« und der aggressiven Politik der kapitalistischen Großmächte zu. Es braucht kaum darauf hingewiesen zu werden, dass der Historiker-Journalist, der in den wichtigsten Presseorganen publiziert und geehrt wird, das von ihm formulierte Kriterium nur für den liberalen und angelsächsischen Westen geltend macht. Doch ein Kriterium nur für sich und die eigene Seite zu beanspruchen, ist gerade die Definition für Dogmatismus auf theoretischer und Heuchelei auf moralischer Ebene.

Zum Glück kann man über Dresden, Hiroshima und Nagasaki auch problembewusstere Stimmen vernehmen. Ein berühmter US-amerikanischer Philosoph, Michael Walzer, weist darauf hin, dass es seitens der schon »siegreichen« USA ein »doppeltes Verbrechen« gewesen sei, die Atombombe einzusetzen und »die Zivilpersonen zu töten und zu terrorisieren«, ohne wirkliche Verhandlungen mit Japan versucht zu haben. Zu einem ähnlichen Schluss gelangt Walzer in Bezug auf die Zerstörung Dresdens und anderer deutscher und japanischer Städte »bei praktisch schon gewonnenem Krieg«.[860] Anders stelle sich die Frage für die Jahre, als das Dritte Reich zu triumphieren schien und Großbritannien da her seine Kampagne der strategischen Bombenangriffe begann, die in Deutschland systematisch und unbarmherzig die Zivilbevölkerung trafen. Dies sei ein tragischer Augenblick gewesen, und die englische Regierung habe vor einem furchtbaren moralischen Dilemma gestanden, das man so formulieren könne:

Können Soldaten und Staatsmänner die Rechte unschuldiger Leute mit Füßen treten, nur um die eigene politische Gemeinschaft zu retten? Ich wäre geneigt, bejahend auf die Frage zu antworten, wenn auch nur zögernd und besorgt. Welche andere Wahl hätten sie zur Verfügung? Sie können sich selbst opfern, um das moralische Gesetz zu verteidigen, aber sie können nicht ihre Landsleute opfern. Angesichts eines ausweglosen Grauens erschöpfen sich ihre Wahlmöglichkeiten, sie werden das tun, was notwendig ist, um ihre Leute zu retten.[861]

Die Gefahr des Triumphs des Dritten Reichs, »die Personifikation des Bösen in der Welt«, bewirkt einen »äußersten Notfall« (supreme emergency), einen »Notstand«; nun gut, man müsse zur Kenntnis nehmen, dass »die Not keine Regeln kennt«. Gewiss seien Bombardements, die zum Ziel haben, die Zivilbevölkerung des feindlichen Landes zu töten und zu terrorisieren, ein Verbrechen; aber dennoch: »Ich wage zu sagen, dass unsere Geschichte ausgelöscht und unsere Zukunft kompromittiert würde, wenn ich nicht einwilligte, hier und jetzt die Last des Verbrechens auf mich zu nehmen«. Ähnlich argumentiert der junge Lukács, wenn er, vom Horror über das Gemetzel des Ersten Weltkriegs getrieben, seine revolutionäre Wahl trifft. Wenn er die Unausweichlichkeit der »Schuld« behauptet und an den »Ernst«, das »Gewissen« und das moralische »Verantwortungsbewusstsein« appelliert, ruft er mit Hebbel aus: »Und wenn Gott zwischen mich und die mir auferlegte Tat die Sünde gesetzt hätte – wer bin ich, dass ich mich dieser entziehen könnte?«.[862] Vermutlich hat der ungarische Philosoph sich später, während die Bedrohung durch das Dritte Reich immer näher kam, im gleichen Gemütszustand mit den Jahren des Stalinschen Terrors auseinander gesetzt.

Jetzt können wir uns der Sowjetunion zuwenden. Es lohnt sich, da rauf hinzuweisen, dass die seinerzeit von Toynbee formulierte These, wonach der von Stalins UdSSR »von 1928 bis 1941« verfolgte Weg Stalingrad möglich gemacht habe,[863] heute von nicht wenigen Historikern und Forschern der Militärstrategie bestätigt wird. Es sei ziemlich wahrscheinlich, dass es ohne das Fallenlassen der NEP, ohne die Kollektivierung der Landwirtschaft (mit der Konsolidierung der Lebensmittel zufuhr vom Land in die Stadt und an die Front) und ohne die forcierte Industrialisierung (mit der Entwicklung der Rüstungsindustrie und mit dem Entstehen neuer Industriezentren in den östlichen Regionen mit Sicherheitsabstand zum Invasorenheer) unmöglich gewesen wäre, der Hitlerschen Aggression siegreich entgegenzutreten: »Der außerordentliche und unbestreitbare Beitrag Sowjetrusslands zur Niederlage Nazideutschlands ist eng mit der beharrlichen Zweiten Revolution Stalins verbunden«.[864] Churchill zufolge hätten sogar der Tuchatschewski- Prozess und der Große Terror insgesamt eine positive und ziemlich relevante Rolle für die Niederlage des Unternehmens Barbarossa gespielt. Müssen wir also das Konzentrationslager-Universum rechtfertigen, das dem sowjetischen Volk und der ganzen Menschheit »einen ausweglosen Horror« erspart hat?

Mit Recht setzt Walzer das von ihm aufgestellte Prinzip rigorosen Einschränkungen aus: es könne nur dann als gültig betrachtet werden, wenn die Gefahr nicht nur »ungewöhnlich und entsetzlich«, sondern auch »imminent« ist.[865] Man könnte sagen, dass zumindest die zweite Anforderung in der Sowjetunion fehlt: Stalin begann mit der Kollektivierung der Landwirtschaft und der forcierten Industrialisierung – was schließlich zu einer furchtbaren Ausdehnung des Konzentrationslager Universums führte – als die Kriegsgefahr noch fern war und Hitler noch nicht einmal die Macht ergriffen hatte. Dem könnte man jedoch entgegenhalten, dass auch Großbritannien mindestens zwei Jahrzehnte vor dem Eintreten des »äußersten Notfalls« die Konstruktion einer für künftige strategische Bombenangriffe geeigneten Luftflotte plant. Dieser Plan nimmt sogar schon während des Ersten Weltkriegs Form an und wird also von einem Kampf um die Hegemonie inspiriert, der zumindest seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Gang war.

Ganz anders das Bild, das sich in dem aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Land bietet. Die u. a. von Marschall Foch kurz nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags angestellte Analyse (»das ist kein Friede, sondern nur ein Waffenstillstand für zwanzig Jahre«[866]) wird in Europa weitgehend geteilt. Sie hat Stalin sehr wohl vor Augen, wenn er die Dringlichkeit erkennt, der im Ersten Weltkrieg demonstrierten Rückständigkeit Russlands Abhilfe zu schaffen. Was die Ostfront betrifft, so hat Wilhelm II. diesen Krieg wiederholt als einen Rassenkrieg interpretiert, in dem das »Dasein« der kämpfenden Völker, »das Sein oder Nichtsein der germanischen Rasse in Europa« auf dem Spiel stehe. Es handelte sich um einen Zusammenstoß, der jede Art Versöhnung bzw. gegenseitige Anerkennung ausschlösse: Der Friede »zwischen Slawen und Germanen ist überhaupt unmöglich«. Vor allem nach Brest Litowsk waren im Wilhelminischen Reich Stimmen laut geworden, die im Osten die Lösung des Problems des Lebensraums erblickten und ein Bündnis mit England ins Auge fassten, um die Zerstückelung Russlands zu realisieren und »durch eine großzügige Kontinentalpolitik (…) die Vorbedingungen für Deutschlands Weltmachtstellung zu schaffen«.[867] Einige Jahre später formulierte Hitler in Mein Kampf klar und deutlich sein Programm zur Errichtung eines deutschen Kontinentalreichs, das in erster Linie auf den Trümmern der Sowjetunion errichtet wer den sollte. Es ist nicht schwierig, die Linie festzuhalten, die von Brest-Litowsk zum Unternehmen Barbarossa führt. Das erklärt zur Genüge die Befürchtungen Stalins. Auf jeden Fall ist die Kategorie Imminenz der Gefahr alles andere als eindeutig: Es gibt keine bestimmte zeitliche Größe, um sie zu messen; imminent ist eine Gefahr, die keinen Aufschub erlaubt, wenn man ihr angemessen entgegentreten will. Wenn wir dann »Imminenz« nicht nur in zeitlichem, sondern auch in räumlichem Sinn verstehen, so war die Sowjetunion eindeutig einer »imminenteren« Gefahr ausgesetzt. Zum Schluss: Ist die systematische Tötung der Zivilbevölkerung durch Bombardements ein Verbrechen an sich, so enden die Kollektivierung der Landwirtschaft und die forcierte Industrialisierung damit, in eine Reihe von Verbrechen einzumünden.

Dogmatisch und heuchlerisch wäre, wer sich nur für die moralischen Dilemmata der angelsächsischen Staatsmänner interessierte. Selbst wenn wir mit Walzer behaupten, dass angesichts des »äußersten Notfalls« ein Staatsmann »hier und jetzt die Last des Verbrechens« auf sich nehmen müsse, ist es schwierig, vom Allgemeinen zum Besonderen überzugehen.

Lesen wir von den einzelnen grässlichen Episoden, deren Opfer die einzelnen Häftlinge des Gulag wurden, die von einem Grauen überwältigt werden, dessen Ursprung und Grund sie nicht einmal verstehen können, so möchten wir mit Petrarca ausrufen: »Arm und nackt gehst du, Philosophie« (Povera et nuda vai filosofia) (Rime, VII, 10). Eine ähnliche Betrachtung gilt auch für die Opfer der strategischen Bombenangriffe. Kann der »äußerste Notfall« wirklich rechtfertigen, was die Chroniken berichten? »Die erste Bombenserie fiel um 9.00 Uhr morgens in von Käuferschlangen angefüllte Straßen und raffte siebenhundert Personen dahin, fast ausschließlich Frauen und Kinder. Jagdbomber verfolgten und beschossen die ostwärts in die Wälder flüchtenden Bürger«. Und in anderen Ortschaften: »Die Jagdbomber nehmen beliebig Fußgänger, Radfahrer, Bahnreisende, Bauern auf dem Acker unter MG Beschuß«. »Die Beerdigungen fanden unter Tieffliegerbeschuß statt; mangels Särgen halfen Tücher«. »Die Bomben fahren in die Häuser, bleiben in den Zwischendecken und gehen noch tagelang im Hellen und Dunkeln mit Getöse hoch, werfen Mauern um, töten Bewohner im Schlaf«. »Die Menschen mußten durch die Flammen fliehen und eilen in ihren Tod. Es sind auch Fälle vorgekommen, dass sie sich das Leben nahmen oder einander in die Flammen stießen«.[868]

Sind diese Aktionen, in jedem Fall kriminell zu einem Zeitpunkt, zu dem sich schon die Niederlage des Dritten Reichs abzeichnete, entschuldbar, wenn der äußerste Notfall droht? Offensichtlich wird damit die Schwierigkeit, vom Allgemeinen zum Besonderen überzugehen.

6. Das sowjetische Katyn und das US-amerikanische und südkoreanische ›Katyn‹

Im Gegensatz zur Kollektivierung der Landwirtschaft und zur forcierten Industrialisierung war das von der sowjetischen Führung entschiedene und im März/April 1940 in Katyn ausgeführte Massaker an den polnischen Offizieren ein Verbrechen an sich. Die Kraftprobe mit Finnland wirkte noch nach: Nach einem vergeblichen Versuch, zu einem einvernehmlichen Gebietsaustausch zu gelangen, den Stalin unternommen hatte, um der Verteidigung Leningrads (der Stadt, die später Protagonist eines epischen Widerstands gegen die nazistische Aggression wurde) ein Minimum an territorialem Hinterland zu geben, bestand jetzt die Gefahr, dass der Krieg sich ausweitete und verallgemeinerte. Wie hätten in diesem Fall die polnischen Offiziere reagiert, die von der Roten Armee nach der Zerstückelung Polens gefangengenommen worden waren? Seitens Moskaus hatte man vergeblich versucht, sie von ihren stolzen antisowjetischen Positionen abzubringen, einem Erbe des Konflikts, der mit dem Zusammenbruch des Zarenreichs begonnen hatte und die brutalen Merkmale eines Bürgerkriegs anzunehmen tendierte. Die Lage war recht schwierig geworden: Es drohte die Gefahr, dass die UdSSR als Ganze vom Krieg verschlungen wurde, und es gab westliche Kreise, die an einen Umsturz des Stalin-Regimes dachten (vgl. oben, Kap. 2, § 10). Dieses »schwere Sicherheitsproblem« war es, das die »schreckliche Entscheidung« fallen ließ, die Stalin später »wegen der nachfolgenden Verlegenheit und der Komplikationen bitter bereut« haben dürfte.[869] D. h. auch im Fall der Exekutionen von Katyn fehlen nicht die moralischen Dilemmata, auf die Walzer aufmerksam macht. Dennoch wäre es falsch, sich auch hier auf den »äußersten Notfall« zu berufen und damit ein Kriterium noch mehr auszuweiten, das schon an sich Gefahr läuft, zu weitmaschig zu sein.

Auch wenn es unentschuldbar ist, verweist das Verbrechen, mit dem wir uns hier auseinandersetzen, nicht auf die eigentümlichen Charakteristika der Person Stalins oder des von ihm geführten Regimes. Man denke an das Verbrechen, das der US-amerikanische General Patton beging, als er nach der Landung in Sizilien die Tötung der italienischen Soldaten befiehlt, die sich nach einem harten Widerstand ergeben haben.[870] Selbst wenn es sich hier um eine Schandtat geringeren Ausmaßes handelt, sollte man berücksichtigen, dass sie nicht von einer wirklichen Sorge um die Sicherheit des Landes, sondern vom Rachegeist und vielleicht auch von der rassischen Verachtung diktiert war. Es handelt sich also in diesem Fall um ein niederträchtiges Verbrechen.

Doch wenn wir etwas wirklich mit Katyn Vergleichbares suchen wollen, müssen wir an andere Tragödien und Gräuel denken. Zehn Jahre nach dem sowjetischen Katyn ereignet sich, was wir das US amerikanische und südkoreanische ›Katyn‹ nennen könnten. Wir sind im Koreakrieg. Aus dem grausam bombardierten Norden dringt eine Masse von Flüchtlingen in den Süden. Wie werden sie empfangen? »Das US-amerikanische Heer verfolgte die Politik, die Zivilpersonen zu töten, die sich Südkorea näherten«: Die Opfer waren »hauptsächlich Frauen und Kinder«, aber man befürchtete, dass sich unter ihnen nordkoreanische Infiltranten befänden, auch wenn bei der Untersuchung eines der am besten dokumentierten Fälle (die Tötungen die in No Gun Ri stattfanden) »kein Beweis für infiltrierte Feinde gefunden wurde«.[871] Hier haben wir es nicht mit den Befehlen eines einzelnen, wenn auch brillanten und bedeutenden Generals wie Patton zu tun, sondern mit der von der höchsten US-amerikanischen militärischen (und politischen) Führung sanktionierten Politik. Gerade dieser Umstand lässt uns an Katyn denken, und zwar besonders, weil in beiden Fällen die Sicherheit auf dem Spiel steht.

Um sie zu gewährleisten, beschränken sich die USA und ihre Verbündeten nicht darauf, die Flüchtlinge zu töten. Sie halten auch die Liquidierung der potenziellen fünften Kolonne für notwendig. Zum Beispiel wurde »in der Stadt Taejon im Juli 1950 1.700 Koreanern, die beschuldigt wurden, Kommunisten zu sein, von der Polizei befohlen, ihr Grab zu schaufeln, und danach wurden sie standrechtlich erschossen«. Ein Zeuge berichtet:

An einem Sonntagmorgen sah ich im Morgengrauen in der scheinbar leeren Stadt Chochiwon eine Prozession von Männern und Frauen, die mit den Händen hinter dem Rücken aneinander gefesselt waren und die geschlagen und verprügelt wurden, während sie sich vom Polizeikommissariat zu den Lastwagen hin bewegten, auf die sie aufgeladen wurden. Dann hat man sie erschossen und sie zwei Meilen entfernt unbeerdigt liegen lassen«.[872]

Es handelte sich um eine breit angelegte Operation:

In einer Kobaltmine in der Nähe von Daegu, im Süden des Landes haben die Nachforscher bis jetzt die Reste von 240 Personen gefunden. Dies ist nur ein kleiner Teil der wahrscheinlich 3.500 Gefangenen oder des Kommunismus Verdächtigten, die zwischen Juli und September 1950 aus ihren Zellen bzw. aus ihren Häusern geholt, standrechtlich erschossen und dann in die Grube der Mine geworfen wurden.

Manchmal wurden auch »Frauen und Kinder« Opfer von »Massenhinrichtungen«:[873] Wahrscheinlich ist in diesen Fällen nicht einmal die Familie des verdächtigten Kommunisten ausgespart worden. Das verbissene Bestehen auf Sicherheit betrifft nicht nur das Hinterland, sondern auch die gerade eroberten oder wieder eroberten Städte. Folgendes geschieht in einer von diesen: »Sie sagten, wir sollten unsere Zigaretten anzünden. Danach begannen sie, ihre Gewehre und Maschinengewehre zu entladen. Nach einer Pause schrie ein Offizier: ›Wer von euch noch am Leben ist, kann aufstehen und nach Hause gehen‹. Diejenigen, die das taten, wurden erneut beschossen«.

Wie zahlreich sind die Opfer dieser beiden Praktiken, die Tötung der Flüchtlinge und die Liquidierung der des Kommunismus Verdächtigten? Tatsächlich ist der Umfang dessen, was die »Familien angehörigen die koreanischen Todeslager« nennen, noch nicht voll und ganz erfasst worden. Derzeit kann man eine provisorische Bilanz aufstellen: »Die Nachforschungen haben bis jetzt 1.222 wahrscheinliche Fälle von Massentötungen ergeben (…). Hier eingeschlossen sind 215 Vorfälle, von denen die Überlebenden behaupten, dass Flugzeuge und amerikanische Bodentruppen wehrlose Flüchtlinge erschossen haben«.[874]

Das US-amerikanische und südkoreanische ›Katyn‹ scheint nicht von geringerem Umfang als das sowjetische zu sein, aber es zeigt einen Überschuss an Rücksichtslosigkeit (für einen tausende von Kilometern von ihrem Land entfernten Krieg hätten sich die Führer Washingtons nicht einmal auf den Schatten des »äußersten Notfalls« berufen können). Es geht hier aber nicht darum, eine Rangordnung zweier unentschuldbarer Verbrechen festzulegen, sondern darum, die Unangemessenheit des moralisch-manichäischen Ansatzes zum Verständnis Stalins und des von ihm geleiteten Landes zur Kenntnis zu nehmen.

7. Unumgänglichkeit und Komplexität des moralischen Urteils

Ist das moralische Urteil einerseits unumgänglich, so erwiese es sich als oberflächlich und heuchlerisch, würde es ohne Berücksichtigung des historischen Kontexts formuliert. Daher sein komplexer und problematischer Charakter. Man muss gleichzeitig die Verknüpfung zwischen objektiven Umständen und subjektiver Verantwortung entwirren und vor Augen haben und in Bezug auf Letztere unterscheiden zwischen einer Verantwortung, die die ganze Führungsgruppe betrifft, und einer solchen, die einzelne Individuen angeht. Was die Führungsgruppe Sowjetrusslands betrifft, kommt sie in einer Zeit an die Macht, in der – um es mit einem der Wende von 1917 wohlgesinnten christlichen Zeugen zu sagen – »das Mitleid von der Allgegenwart des Todes vernichtet worden ist«,[875] und sie ist gezwungen, einen sehr lange andauernden Ausnahmezustand zu bewältigen; all das in einer Situation, die – um die Analyse eines der Autoren des Schwarzbuchs des Kommunismus wieder aufzugreifen – von einer »unerhörten Brutalisierung« gekennzeichnet ist, die allgemein herrscht und keine »möglichen Vergleichsbedingungen mit den von den westlichen Gesellschaften her bekannten« kennt. Wenn also die Protagonisten des 20. Jahrhunderts gezwungen waren, den verheerenden Konflikten und moralischen Dilemmata entgegenzutreten, die den Zweiten Dreißigjährigen Krieg charakterisieren, musste Stalin sich außerdem mit den besonderen Konflikten und moralischen Dilemmata der russischen Geschichte und der Zweiten Periode der Unruhen messen. Man könnte sagen, der »äußerste Notfall« habe die dreißig Jahre überschattet, in der er die Macht ausgeübt hat.

Man darf allerdings nicht aus den Augen verlieren, dass nicht nur die objektiven Bedingungen den Übergang vom Ausnahmezustand zur normalen Situation schwer behindert oder unmöglich gemacht haben. Dazu hat auch der Messianismus beigetragen, der sicher stark von dem Grauen der Ersten Weltkriegs inspiriert wurde, aber auch einer Anschauung innewohnt, die sich das Verschwinden des Marktes, des Geldes, des Staates, der Rechtsnorm erhofft. Die Enttäuschung und Entrüstung über das Ausbleiben all dessen fördert noch den Konflikt, und diesen kann man nicht durch rein »formelle« Rechtsnormen lösen, weil diese ebenfalls zu verschwinden bestimmt sind. Daraus entsteht ein Überschuss an Gewalt, den man nicht mit dem Verweis auf den Ausnahmezustand bzw. den »äußersten Notfall« rechtfertigen kann. In diesem Sinn stimmt das moralische mit dem politischen Urteil überein.

Dies gilt auch für den liberalen Westen. Hinsichtlich des Leiters der strategischen Bombenangriffe auf Deutschland ist angemerkt worden:

Harris hatte das Zivilbombardement als junger Pilot auf rebellische Inder angewandt. Auch seine Schockpsychologie war ursprünglich erprobt worden als Kulturschock. Primitive Stämme in Schilfhütten, mit dem Waffenarsenal des Industrieimperiums konfrontiert, werfen sich geblendet auf ihr Antlitz.[876]

Diese Art Krieg ist übrigens vor allem von Churchill propagiert worden, der bekanntlich empfiehlt, die »widerspenstigen Eingeborenen« im Irak mit Bombardements auf der Grundlage »von Gas- und vor allem Senfgasgeschossen« zu schlagen, und der die Deutschen mit »bösartigen Hunnen« vergleicht. Wir kennen auch die Bedeutung der Rassenideologie im US-amerikanischen Krieg gegen Japan (vgl. oben, Kap. 6, § 4), das nicht umsonst am Ende die atomare Bombardierung erlitt. Hier taucht erneut ein Überschuss an Gewalt auf, der nicht mit dem »äußersten Notfall« gerechtfertigt werden kann, sondern vielmehr auf die koloniale Ideologie verweist, die vom liberalen Westen und von Deutschland geteilt wird. Stellt das Dritte Reich die »Eingeborenen« Osteuropas mit den zu dezimierenden Rothäuten und den zu versklavenden Schwarzen gleich, so behandeln England und die Vereinigten Staaten Deutsche und Japaner schließlich wie Kolonialvölker, die zum Gehorsam gebracht werden müssen.

8. Stalin, Peter der Große und der »neue Lincoln«

Unter Bezugnahme vor allem auf die Rolle, die er in der Zweiten Periode der Unruhen gespielt hat, haben nicht wenige Wissenschaftler einen schon bei Churchill vorhandenen Gedanken wieder aufgenommen und Stalin mit Peter dem Großen verglichen.[877] Auch der diesbezüglich erhobene Einwand (»Peter blickte im Gegensatz zu Stalin auf den Westen und wollte ihm seinen Staat öffnen«[878]) scheint mir nicht über zeugend zu sein. Die Verurteilung der »asiatischen Anordnungen«, der »asiatisch-barbarischen Schritte« und der »asiatischen Verfügungen«, für die die Regierung und die Bourgeoisie des zaristischen Russland verantwortlich seien, ist ein wesentliches Moment der revolutionären Agitation Stalins.[879] Zumindest bis zum Oktober 1917 hegt er keinen Zweifel daran, dass sein Land auf allen Ebenen rückständiger ist als die westlichen Demokratien, wo die antijüdischen blutigen Pogrome nicht stattfänden, die in einem »halbasiatischen« Land wüteten (vgl. oben, Kap. 5, § 9). Nach der Machteroberung besteht Stalin nicht nur auf der Notwendigkeit der Assimilierung der westlichen Technologie, sondern erklärt auch, dass die bolschewistischen Funktionäre, wenn sie wirklich auf der Höhe der »Grundlagen des Leninismus« sein wollten, den »russischen revolutionären Schwung« mit der »amerikanischen Sachlichkeit in der Arbeit« verbinden müssten. Im Jahre 1932 lobt er, immer in Bezug auf die Vereinigten Staaten, »die Gepflogenheiten in der Industrie, die Gebräuche in der Produktionspraxis«: sie hätten »etwas von Demokratismus«.[880]

Umso überzeugender erscheint der Verweis auf Peter den Großen zur Erklärung der Geschichte Sowjetrusslands, als Lenin (schon im Mai 1918) und vor allem Stalin sich ausdrücklich auf denselben berufen haben und Stalin scheint den großen Zaren manchmal zum Vorbild zu nehmen.[881] Sogar Trotzki schreibt, wenngleich er den »Verrat« der Revolution brandmarkt: »Bezogen auf eine Reihe von Gebieten und Völkern vollbringt die Sowjetmacht ein historisches Werk von ähnlicher Bedeutung wie dasjenige, das Peter I. und seine Gefolgsleute in Bezug auf das alte Moskowien vollbrachten – allerdings in größerem Maßstab und in schnellerem Tempo«.[882] Es ist außerdem interessant anzumerken, dass ein großer Philosoph wie Benjamin am Ende seiner Reise in die Sowjetunion im Jahre 1927 mit zustimmendem Interesse die These einiger »Literaten« wiedergibt, »welche im Bolschewismus die Krönung des Werkes Peters des Großen sehen«.[883] Schließlich könnte man weiter zurückgehen und an eine Vorausschau von Marx erinnern: Er weist zunächst auf die Umwälzungen von unerhörter Gewalt hin, die die jahrhundertelangen Widersprüche des zaristischen Russland hervor gerufen hatten, um dann den Schluss zu ziehen: »Das russische 1793 (…) wird der zweite Wendepunkt in der russischen Geschichte sein und schließlich eine wirkliche und allgemeine Zivilisation an die Stelle der trügerischen und unechten Zivilisation setzen, welche Peter der Große eingeführt hatte«.[884]

Der fragliche Vergleich kann zwar teilweise dazu dienen, den Zusammenhang mit der Geschichte Russlands und mit der Zweiten Periode der Unruhen zu erhellen, lässt jedoch den Zweiten Dreißig jährigen Krieg und den außerordentlichen Einfluss im Dunkeln, den Stalin weltweit ausgeübt hat. Die von 1924 stammende Verurteilung des vom Imperialismus theoretisch begründeten und aufgezwungenen »schreienden Mißverhältnisses« unter den Nationen und der Appell, »die Scheidewand zwischen Weißen und Farbigen«, zwischen als »zivilisiert« betrachteten Völkern und Völkern, die aus dieser Würde ausgeschlossen waren, niederzureißen (vgl. oben, Kap. 5, § 7); die Verabschiedung einer »zutiefst internationalen« Verfassung – wie Stalin bei der Vorstellung des Verfassungsentwurfs von 1936 unterstreicht –, die davon ausgehe, »dass alle Nationen und Rassen gleichberechtigt sind«, unabhängig von der »Hautfarbe«, der Sprache und dem wirtschaftlichen und militärischen Entwicklungsstand einer jeden von ihnen:[885] All das fand ein enormes Echo nicht nur in den Kolonien, sondern auch bei den Völkern kolonialen Ursprungs, die im Herzen des Westens lebten. Im Süden der USA, wo noch das Regime der white supremacy herrschte, verbreitete sich ein neues Klima: Voller Hoffnung blickt man auf die Sowjetunion und auf Stalin als den »neuen Lincoln«, einen Lincoln, der diesmal konkret und endgültig der Sklaverei der Schwarzen, der Unterdrückung, der Degradierung, den Demütigungen, der Gewalt und den Lynchmorden, die sie immer noch erlitten, ein Ende bereiten würde.[886]

Während Stalins UdSSR auf die Autokratie zugeht, beeinflusst sie stark den Kampf der Afroamerikaner (und der Kolonialvölker) gegen den Rassendespotismus. Im Süden der Vereinigten Staaten wohnt man einem neuen und aus der Sichtweise der herrschenden Kaste besorgniserregenden Phänomen bei, nämlich der wachsenden ›Unverschämtheit‹ der jungen Schwarzen. Dank der Kommunisten beginnen sie in der Tat zu empfangen, was die Machthaber ihnen hartnäckig vorenthielten: Eine Kultur, die weit über die elementare Bildung hinausging, die traditionell denen zuteil wurde, die dazu bestimmt waren, halb sklavische Arbeit im Dienste der Herrenrasse zu leisten. Jetzt lernen die Schwarzen in den von der Kommunistischen Partei organisierten Schulen im Norden der USA oder in den Schulen Moskaus, in Stalins UdSSR, und sie studieren Ökonomie, Politik, Weltgeschichte; sie ziehen diese Disziplinen auch zurate, um die Ursachen des harten Schicksals zu verstehen, das ihnen in einem Land vorbehalten ist, welches sich als Verfechter der Freiheit aufspielt. Bei denen, die diese Schulen besuchen, findet eine tiefe Veränderung statt: Die ihnen vom Regime der white supremacy vorgeworfene ›Unverschämtheit‹ ist in Wahrheit ein Selbstwertgefühl, das ihnen bisher verwehrt und mit Füßen getreten wurde. Eine Schwarze, Delegierte auf dem internationalen Kongress der Frauen gegen Krieg und Faschismus, der 1934 in Paris stattfand, ist außerordentlich beeindruckt von den Beziehungen der Gleichheit und der Brüderlichkeit, die sich trotz der Sprachen- und Rassenunterschiede unter den Teilnehmern dieser von den Kommunisten organisierten Initiative herausbilden: »Es war das Paradies auf Erden«. Jene, die nach Moskau kommen – räumt ein zeitgenössischer US-amerikanischer Historiker ein – »erfahren ein im Süden unerhörtes Freiheitsgefühl«. Ein Schwarzer verliebt sich in eine weiße russische Frau und heiratet sie, auch wenn er sie bei der Rückkehr in die Heimat nicht mitnehmen kann, da er das Schicksal zu gut kennt, das im Süden diejenigen erwartet, die sich der miscegenation und rassischen Bastardisierung schuldig machen.[887]

Die Hoffnungen, die die Afroamerikaner auf den »neuen Lincoln« setzten, waren nicht so naiv, wie es scheinen könnte. Denken wir über die Zeiten und die Modalitäten nach, die das Ende des Regimes der white supremacy kennzeichnen. Im Dezember 1952 schickt der US-amerikanische Justizminister einen vielsagenden Brief an den Obersten Gerichtshof, der sich mit dem Problem der Integration an den öffentlichen Schulen beschäftigt: »Die Rassendiskriminierung ist Wasser auf die Mühlen der kommunistischen Propaganda und weckt auch bei den befreundeten Nationen Zweifel über die Intensität unserer Hingabe an den demokratischen Glauben«. Washington – bemerkt der US-amerikanische Historiker, der dieses Geschehen rekonstruiert – lief Gefahr, sich die »farbigen Rassen« nicht nur im Osten und in der Dritten Welt, sondern auch im Herzen der Vereinigten Staaten zu entfremden: Auch hier verzeichnete die kommunistische Propaganda beträchtlichen Er folg bei ihrem Versuch, die Schwarzen für die »revolutionäre Sache« zu gewinnen, indem sie ihren »Glauben an die amerikanischen Institutionen« erschütterte.[888] Eine wesentliche Rolle hat bei dieser Angelegenheit zweifellos die Sorge um die Herausforderung gespielt, die objektiv die UdSSR und der von ihr auf die Kolonialvölker und die Völker kolonialen Ursprungs ausgeübte Einfluss darstellte.

Stalin hat indirekt sogar die Gestaltung der Demokratie im Westen beeinflusst, und das nicht nur wegen des Ansporns, den er in gewisser Weise dem Prozess der Emanzipation der Afroamerikaner gegeben hat. Der Bericht über den Entwurf einer neuen sowjetischen Verfassung verurteilt in Bausch und Bogen die drei großen Diskriminierungen, die die Geschichte des liberalen Westens gekennzeichnet haben: »Nicht die Vermögenslage, nicht die nationale Herkunft, nicht das Geschlecht« sollen die politische und gesellschaftliche Stellung bestimmen, sondern nur »die persönlichen Fähigkeiten und die persönliche Arbeit jedes Bürgers«.[889] Als Stalin sich so ausdrückt, sind die drei großen Diskriminierungen in verschiedener Form und in verschiedenem Ausmaß in dem einen oder anderen Land des liberalen Westens noch vorhanden. Wenn er sich für die Überwindung dieser drei großen Diskriminierungen ausspricht, erklärt Stalin außerdem, dass die neue Verfassung dazu aufgerufen sei, »das Recht auf Arbeit, das Recht auf Erholung, das Recht auf Bildung« zu gewährleisten und »die besten materiellen und kulturellen Bedingungen« sicherzustellen, das alles im Bereich der Realisierung des »sozialistischen Demokratismus«.[890] Dies ist die theoretische Begründung der »wirtschaftlichen und sozialen Rechte«, die Hayek zufolge das verheerende Vermächtnis der »russischen marxistischen Revolution« darstellt und die Forderung des Sozialstaates im Westen tief beeinflusst.[891]

Kehren wir nach Russland zurück. Der Leser wird schon bemerkt haben, dass ich, wenn ich von ›Stalinismus‹ rede, Anführungszeichen setze. Von den heutigen Anhängern Trotzkis wird der Begriff für die verschiedensten politischen Realitäten benutzt, zum Beispiel, um die Führungsspitze des post-maoistischen China abzustempeln. Doch selbst wenn man ausschließlich auf die UdSSR verweisen möchte, ist die Kategorie ›Stalinismus‹ nicht überzeugend: Sie scheint eine homogene Gesamtheit von Doktrinen und Verhaltensweisen vorauszusetzen, die es nicht gibt. In den drei Jahrzehnten, in denen Stalin die Macht ausübt, sehen wir ihn mit Mühe ein Regierungsprogramm ausarbeiten und in die Praxis umsetzen. Er nimmt dabei zur Kenntnis, dass die Perspektive des weltweiten Triumphs der sozialistischen Revolution zerronnen ist, und versucht, einen Mittelweg zu finden zwischen der Utopie (die das Vermächtnis einerseits der Marxschen Theorie und andererseits der vom Grauen der Ersten Weltkriegs erweckten messianischen Erwartung einer vollkommen neuen Welt ist) und dem Ausnahmezustand, der in Russland wegen des Zusammentreffens zweier gigantischer Krisen, der Zweiten Periode der Unruhen und des Zweiten Dreißigjährigen Krieges eine außergewöhnliche Dauer und Heftigkeit annimmt. Nicht gewillt, das von der Kommunistischen Partei ausgeübte Machtmonopol zur Diskussion zu stellen, versucht Stalin wiederholt, vom Ausnahme zustand zu einem Zustand relativer Normalität mit der Realisierung einer »sowjetischen Demokratie«, eines »sozialistischen Demokratismus« und eines Sozialismus »ohne Diktatur des Proletariats« überzugehen. Die se Versuche scheitern jedoch. Es ist bezeichnend, wie gleich nach dem Tod Stalins das Problem der Nachfolge ›geregelt‹ wird: Die Liquidierung Berijas ist eine Abrechnung im Mafiastil, ein privater Gewaltakt, der we der auf die staatliche Rechtsordnung noch auf das Parteistatut verweist.

Der Vergleich zwischen Stalin und Peter dem Großen erweist sich also als problematisch. Bei genauerem Hinsehen endet die Zweite Periode der Unruhen nicht einmal mit dem Anbruch der Autokratie. Dieser fällt mit dem Beginn eines neuen, lange andauernden Ausnahmezustands zusammen: Zunächst entflammt ein neuer schrecklicher Weltkrieg und danach ein Kalter Krieg, der jeden Augenblick droht, sich in die nukleare Apokalypse zu verwandeln. Man könnte sagen, dass die Zweite Periode der Unruhen in Wahrheit mit dem Zusammenbruch der UdSSR endet: Wie den Jakobinern gelingt es auch den Bolschewiki nicht, sich dem Verschwinden bzw. der Abschwächung des Ausnahmezustands anzupassen und sie kommen schließlich der Mehrheit der Bevölkerung als obsolet und überflüssig vor. Nachdem es den Bolschewiki gelungen war, die »Krise der ganzen russischen Nation« zu überwinden, werden sie am Ende vom Beginn jener relativen Normalität übermannt, die auch das Resultat ihres Handelns ist.

Auf internationaler Ebene ist der Einfluss der Oktoberrevolution und des Mannes, der drei Jahrzehnte lang Sowjetrussland geführt hat, demgegenüber solider. Natürlich kann man über das wortreiche Pathos einer Verfassung spotten, die nie in Kraft getreten ist, man muss aber berücksichtigen, dass auch rein abstrakte Grundsatzerklärungen eine historische Wirksamkeit haben. Man kann entsetzt vor einer Szene zurückweichen, wo die Demokratie (mit dem Zusammenbruch des rassistischen und kolonialistischen Despotismus und der drei großen Diskriminierungen) und mehr noch die soziale Demokratie im Gefolge einer Herausforderung vorankommt, die von einem diktatorischen und zum Terror neigenden Regime ausgeht. Wenn man sich aber einer Reaktion dieser Art hingibt, so bedeutet das letztlich, vor dem komplexen Charakter des historischen Prozesses zurückzuschrecken. Diejenigen, die lieber eine einfachere Szene vor Augen haben möchten, täten gut daran, über eine Reflexion von Marx nachzudenken: »Die schlechte Seite ist es, welche die Bewegung ins Leben ruft, welche die Geschichte macht«.[892]

Kapitel 7: Das Stalinbild zwischen Geschichte und Mythologie

1. Die verschiedenen historischen Quellen des heutigen Stalinbildes

Der heutigen Historiographie fällt es dennoch schwer, sich von dem Bild Stalins als eines »enormen, finsteren, kapriziösen, degenerierten menschlichen Monsters« zu lösen, das außerdem so wenige intellektuelle und politische Fähigkeiten besitze, dass es sich lächerlich macht. Auch für die Mythologie muss der Ursprung in der Geschichte gesucht werden. Gehen wir von einem Historiker (Deutscher) aus, auf den ich soeben verwiesen habe, der unter anderen Umständen und zu anderen Zeiten einräumt: »Im Gegensatz zu den Jakobinern schleppten die Bolschewisten ihre eigenen Girondisten nicht auf das Schafott«, also die Menschewiki, die sogar »ermutigt wurden, Russland zu verlassen und ihr politisches Zentrum im Ausland einzurichten«.[893] Von dort aus entwickelt sich eine heftige Kampagne gegen das zunächst von Lenin und später über viel längere Zeit hinweg von Stalin geführte Land. Deutscher fährt sofort:

So viel steht fest, dass Stalin über die schrecklichen Vorgänge in der französischen Revolution nachgegrübelt hat und dass diese Erinnerungen ihn mehrere Jahre davon abhielten, zu dem letzten und schärfsten Mittel, der Todesstrafe zu greifen. Er sprach mehr als einmal darüber (…) Im Jahr 1929 entschloß er sich, Trotzki aus Rußland auszuweisen. Damals wäre es noch ein unvorstellbarer Gedanke gewesen, dass man einen Mann wie Trotzki ins Gefängnis gesteckt, gar nicht davon zu reden, dass man ihn an die Wand gestellt und erschossen hätte.[894]

Mit der Ankunft des Oppositionsführers in Konstantinopel formiert sich ein neues und engagierteres politisches Zentrum, jetzt ausschließlich der Entlarvung und Verurteilung eines jeden Aspekts der Persönlichkeit und Aktivität Stalins gewidmet. In den gleichen Kontext kann man Überläufer wie den General Orlow einreihen, der sich nach seiner Ankunft im Westen der Enthüllung der »Kreml-Geheimnisse« widmet, dabei ein »enormes Honorar« erhielt und wahrscheinlich ein umso höheres Honorar je sensationeller die ans Licht gebrachten Geheimnisse waren. Gierig sogar in der Sowjetunion in den Jahren Gorbatschows aufgenommen und heute noch »eine der wichtigsten Quellen« der westlichen Sowjetologie, sind diese Enthüllungen allerdings mit »Lügen« gespickt.[895]

Natürlich darf man nicht das eigentliche westliche politische Zentrum der antistalinschen Agitation aus den Augen verlieren. Ihre Motivationen waren schon im Voraus von Lloyd George geklärt worden, der im Sommer 1919 angemerkt hatte, dass ein geeintes Russland, ob bolschewistisch oder wie auch immer, in jedem Fall eine Gefahrenquelle für das britische Empire darstelle.[896] Eine breite (zunächst englische und später US-amerikanische) öffentliche Meinung erblickt in Stalin die Inkarnation einer doppelten Bedrohung: Die der kommunistischen Agitation in der kapitalistischen Metropole und vor allem in den Kolonien und die einer Großmacht, die jetzt besonders gefährlich und besonders expansionistisch sei, weil sie eine politische Bewegung inspiriere und leite, die überall auf der Welt gegenwärtig ist.

Welches der verschiedenen politischen Zentren war unerbittlicher? Manchmal gewinnt man den Eindruck, einer regelrechten Eskalation beizuwohnen. Gleich nach dem Nichtangriffspakt zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion stößt Trotzki eine Art Triumphschrei aus: Jetzt würden endlich auch die »Berufsapologeten des Kremls« und Stalins, »die ›prosowjetischen‹ Einfaltspinsel jeglicher Couleur« und alle diejenigen verstehen, die sich Illusionen gemacht hatten, auf die Unterstützung Moskaus rechnen zu können, um den Expansionismus Nazideutschlands zu bremsen. Besonders ins Visier genommen wird Neville Chamberlain. Der englische Premierminister, zu diesem Zeit punkt schon von Churchill wegen seiner Appeasement-Politik getadelt, die er Hitler gegenüber verfolge, wird von Trotzki scharf kritisiert, weil er sich Illusionen über … Stalin hingegeben hätte! »Trotz all seiner Abneigung gegenüber dem Sowjetregime« habe der englische konservative Politiker »mit allen Mitteln (versucht), ein Bündnis mit Stalin zu erlangen«: Ein kolossaler Beweis für Naivität! Er, Trotzki, habe seit dem Anbruch des Dritten Reichs wiederholt klargestellt, dass, ungeachtet des Geredes über die antifaschistischen Volksfronten, »das eigentliche Ziel der Außenpolitik Stalins der Abschluß eines Abkommens mit Hitler ist«; jetzt seien alle gezwungen, davon Kenntnis zu nehmen, dass der Kremldiktator »Hitlers Quartiermeister« sei.[897]

Durch den epischen Widerstand der Sowjetunion gegen das Dritte Reich in ernste Schwierigkeiten gebracht, kommt die Eskalation nach dem XX. Parteitag der KPdSU und der Geheimrede erneut in Schwung. Wirft Chruschtschow Stalin vor, von Lenin abgewichen zu sein? In Wahrheit – hakt Orlow sofort in einem in der Zeitschrift ›Life‹ veröffentlichten Artikel nach, der schon im Titel ein »sensationelles Geheimnis« ankündigt – habe die Sowjetunion drei Jahrzehnte lang ein Agent der zaristischen Geheimen Staatspolizei angeführt, der natürlich zu allem bereit gewesen sei, nur um die Unglücklichen zu liquidieren, die über seine nicht eingestehbare Vergangenheit Bescheid wussten. An diese Enthüllung scheint sich heute noch ein russischer Historiker (Rogowin), begeisterter Anhänger Trotzkis, zu halten.[898]

Die Eskalation kann die eigenartigsten Formen annehmen. 1965 denkt Deutscher über die Entwicklung des menschewistischen Führers Dan nach, der, patriotisch geblendet vom Bild Russlands, das »triumphierend aus Armageddon hervorgegangen war und das Dritte Reich niedergeschlagen zu seinen Füßen liegen sah«, zuguterletzt zwar die historischen Gründe für die Oktoberrevolution, aber leider auch die Grün de für den »Stalinismus mit seinen ganzen ideologischen Missbräuchen und Gewalttätigkeiten« anerkannt habe. Es gebe nur einen mildernden Umstand, für diese Nachsicht gegenüber einem »degenerierten« und »korrupten« Bolschewismus: Die Tatsache, »dass der Prostalinismus, als Dan einen Teil dieser Seiten schrieb, in den alliierten Ländern und vor allem in den Vereinigten Staaten der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr stark war«![899] Zum Glück seien die Naiven und die Dummköpfe, die irgendwie von der Moskauer Propaganda eingewickelt worden waren, von den Informationen widerlegt und lächerlich gemacht worden, die gerade aus der Hauptstadt der Sowjetunion und sogar aus dem Inneren der Kommunistischen Partei jenes Landes herrührten. Nur dank dieser Konvergenz heterogener Interessen kann man das Paradoxon einer Historiographie erklären, die zwar unermüdlich die von Stalin in Moskau geführten Prozesse als Farce denunzierte, aber ohne mit der Wimper zu zucken, den zunächst von Trotzki und später von Chruschtschow in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Zielen gegen Stalin angestrengten Prozess für bare Münze nahm.

2. Die Wechselfälle des Stalinbildes

So weit verbreitet ist heutzutage das Bild des »enormen, finsteren, kapriziösen, degenerierten menschlichen Monsters«, dass man die widersprüchliche Geschichte vergessen hat, die der Durchsetzung dieses Bildes vorausgeht. Wir sprachen schon von der Anerkennung, die viele Staatsmänner, Diplomaten und Intellektuelle seinerzeit Stalin erwiesen hatten. Auch die dreißig Jahre seiner Regierung, die heute ganz einfach als monströs betrachtet werden, sind in der Vergangenheit ganz anders gelesen worden.

Heute ist es ein Gemeinplatz, die Revolution von oben, die das Wesen der Landwirtschaft in der Sowjetunion radikal geändert hat, nur als eine Folge von ideologischem Fanatismus hinzustellen. Aber 1944 gab De Gasperi, selbst wenn er die furchtbare Zahl der Opfer hervorhob, ein im Grunde genommen positives Urteil auch über das »große wirtschaftliche Unternehmen« der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Industrialisierung ab, das die Kriegsgefahr und die »von Mein Kampf ausgesprochene Drohung« notwendig werden ließen.[900]

Gegenwärtig wagen es nur wenige, die These infrage zu stellen, dass die von Stalin organisierte blutige und ausgedehnte Repression nur und ausschließlich Folge seiner libido dominandi bzw. seiner Paranoia gewesen sei. Doch zwischen Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre sprach Malaparte problemlos von den Vorbereitungen zu einem Staatsstreich in Moskau und von Stalins Unschlüssigkeit zuzuschlagen (vgl. oben, Kap. 2, § 7); noch weiter ging ein wichtiges deutsches Presseorgan (»Hamburger Nachrichten« vom 9. Februar 1929), das über die Naivität des Kremldiktators spottete, weil er »Trotzki und das Trotzkigesindel nicht ins Jenseits befördert hat«.[901] Zirka zwanzig Jahre später unterstützte Churchill persönlich zumindest indirekt die Prozesse gegen Tuchatschewski und andere hohe Militärs (es habe sich »um eine unerbittliche, aber vielleicht nicht unnütze politisch-militärische Säuberung gehandelt«, die »alle deutschfreundlichen Elemente« eliminiert habe) und gewissermaßen sogar die Moskauer Prozesse schlechthin (auf der Anklagebank hätten Sowjetführer »voller Eifer sucht auf Stalin« gesessen, »der sie entmachtet hatte«).[902] Diese Stellungnahme des englischen Staatsmannes, Verfechter des Kampfs bis aufs Äußerste gegen Hitlerdeutschland, ist umso bezeichnender, als sie in Polemik gegen Chamberlain, den Protagonisten der Appeasement-Politik formuliert ist. Noch radikaler und noch deutlicher als Churchill war der US-Botschafter in Moskau, Joseph Davies, der »ständig behauptete, dass es wirklich eine Verschwörung gegeben habe, dass die Prozesse gerecht geführt worden seien und dass die Sowjetmacht folglich gestärkt daraus hervorgegangen sei«.[903] Vermutlich der gleichen Überzeugung war in Italien auch De Gasperi, der 1944 unterstrich, dass die Glaubwürdigkeit der Anklagen gegen die antistalinistische Opposition durch »objektive amerikanische Informationen« bestätigt würde.[904]

Später kam es zu einer radikalen Wende, doch die Hinfälligkeit und die Unhaltbarkeit des Stalinbildes, das uns zunächst vom Kalten Krieg und später von der Geheimrede übermittelt wird, beginnen sich aus den Untersuchungen einer wachsenden Zahl von Forschern zu ergeben. In gewisser Hinsicht hat man es sogar mit einer verblüffenden Umkehrung zu tun. Man denke an den Großen Terror. Zusammen mit hochrangigen politischen Persönlichkeiten hält 1948 ein begeisterter Anhänger Trotzkis, nämlich Deutscher, die Moskauer Prozesse für mehr oder weniger glaubwürdig. Für ihn war die Ermordung Kirows keineswegs eine Inszenierung des Regimes. Die lange Tradition, die im zaristischen Russland »die Autokratie mit Bomben und Revolvern an gegriffen hatte«, habe die jungen Kommunisten aufs Neue beeinflusst: »War nicht Lenins Bruder unter den Verschwörern gewesen, die einen Anschlag auf das Leben des Zaren Alexander III. versucht hatten? In den Schulbüchern waren diese Märtyrer mit dem Heiligenschein des romantischen Helden geschmückt. So schien es, als legten die geheiligten Schatten der Toten jetzt aufs neue den Revolver und die Handgranate in die Hände einiger ungeduldiger antistalinistischer Komsomolzen«. Die »Gedanken über die Zulässigkeit des revolutionären Terrors« hatten sich so ausgeweitet, dass »eine solche Stimmung sich unter der Jugend ziemlich weit verbreitet hatte« und die Hand des Mörders von Kirow führte.[905] Eine gewisse »psychologische Wahrheit« gestand immer noch 1948 Deutscher den Moskauer Prozessen im Allgemeinen zu und eine auch effektive Wahrheit, was die Hinrichtung Tuchatschewskis im Besonderen betrifft: Sprechen bestimmte Quellen in Bezug auf die letztgenannte Angelegenheit von einer Intrige der Hitlerschen Geheimdienste, so »sind alle nichtstalinistischen Darlegungen dieser Affäre in folgendem einig: Es ist richtig, dass die Generale einen Staatsstreich planten«;[906] im einen wie im anderen Fall hatte Stalins Paranoia bzw. libido dominandi keine Rolle gespielt.

Hinzuzufügen ist, dass einige Jahre später ein US-amerikanischer Historiker mit einer gewissen Sympathie für die antistalinistische Opposition, die er »das Gewissen der Revolution« nennt, ohne sich von der Geheimrede beeindrucken zu lassen, schrieb: »Die Wahl, die Bucharin bei seinen Schuldbekenntnissen getroffen hat, und das, was man aus anderen Quellen weiß, lässt einen guten Teil dessen, was im Prozess enthüllt worden ist, trotz des von der Natur dieser Prozesse erweckten Verdachts, plausibel erscheinen«.[907]

Heute lenken sogar Historiker trotzkistischer Orientierung die Aufmerksamkeit auf den Bürgerkrieg, der innerhalb der sowjetischen Führung ausgebrochen sei, und machen die Verdienste der Opposition geltend, weil sie mit allen Mitteln den Sturz des von den Verrätern der Revolution aufgezwungenen thermidorianischen Regimes vorangetrieben hätten. Es ist bezeichnend, dass die Wende auch das Lager der Trotzki-Anhänger miteinbezieht, wo doch gerade Trotzki sich seinerzeit mehr als alle anderen dafür eingesetzt hatte, die Moskauer Prozesse als bloße Farce zu verurteilen.

Im Hinblick auf die Führung der UdSSR am Vorabend und im Ver lauf des Zweiten Weltkriegs ist die Entwicklung Deutschers besonders komplex und bezeichnend. Wir kennen schon das recht schmeichelhafte Bild Stalins als Führer im Krieg, das er im Jahre 1948 skizziert hat (vgl. oben, Vorwort). Im Jahre 1956 schreibt Deutscher unter dem unmittelbaren Eindruck der Geheimrede und schenkt mühelos den »Enthüllungen« Glauben, wonach Stalin sich in den ersten Tagen nach der Entfesselung des Unternehmens Barbarossa »finster und mürrisch« in sein Zelt zurückgezogen hätte, um dann auf die Aufforderungen und Bitten seiner Mitarbeiter hin an die Spitze des Landes zurückzukehren und den Krieg zu führen, »indem er auf einem Tisch-Globus die Fronten und die Angriffslinien aufzeichnete«. Deutscher macht Chruschtschow und seinem Kreis nur den Vorwurf, nicht die von Trotzki schon 1927 formulierte Empfehlung befolgt, d. h. nicht die »Pflicht« verspürt zu haben, »Stalin zu stürzen, um den Krieg wirksamer führen zu können und den Endsieg zu gewährleisten«![908] Als Deutscher zehn Jahre später zu diesem Argument zurückkehrt, schreibt er: »Ich fühle mich nicht imstande, vorbehaltslos die so genannten ›Enthüllungen‹ Chruschtschows zu akzeptieren, besonders seine Behauptung, Stalin hätte im Zweiten Weltkrieg (und beim Sieg über das Dritte Reich) eine praktisch unbedeutende Rolle gespielt«.[909] Es muss kaum darauf hingewiesen werden, dass die neueste historische Forschung weit über diese partielle und zaghafte Meinungsänderung hinausgeht.

Was ansonsten die These von der Unterdrückung der Nationen betrifft, kennen wir schon die radikale und positive Neuheit der affirmative action, die in der UdSSR zugunsten der nationalen Minderheiten eingeführt wurde (vgl. oben, Kap. 4, § 9). Diesbezüglich sollte man die Bilanz lesen, die vor kurzem ein anderer US-amerikanischer Historiker gezogen hat:

Ein neuer Konsens bildet sich heraus: Die sowjetische Regierung, weit entfernt, die »Mörderin der Nationen« zu sein, wie es der vorhergehen den westlichen und nationalistischen Geschichte vertraut war, unter nahm eine ehrgeizige, komplexe und lang andauernde Anstrengung, um ethnisch definierte Nationen innerhalb eines auf politischer und ökonomischer Ebene einheitlichen Staates aufzubauen. Um diesen »Frühling der sowjetischen Nationen« anzuregen, ließ der sowjetische Staat den Völkern des ehemaligen Imperiums rechtliche und politische Gleichheit mit den Russen zuteil werden (…). In diesen neuen nationalen Territorien behielt er den Sprachen der nationalen Minderheiten einen privilegierten Platz sogar dann vor, wenn die sowjetischen Ethnographen ein Alphabet für die lokalen Dialekte erfinden mussten, weil diese noch nie eine schriftliche Form angenommen hatten. Diese Politik der Förderung einer selbstständigen nationalen Kultur ging so weit, eine Assimilierung der Russen zu versuchen; die sowjetischen Funktionäre und Manager waren dazu angehalten, die Sprache der Nationen, in denen sie arbeiteten, zu erlernen.[910]

Zum gleichen Schluss gelangt ein französischer Erforscher Zentralasiens, Olivier Roy, der zustimmend in einer in ›The New York Review of Books‹ veröffentlichten Abhandlung zitiert wird, die folgendermaßen den heutigen Blick auf dieses Gebiet zusammenfasst: Solide und gut funktionierende Staaten könnten sich durchsetzen, wenn man sich »auf intelligente Weise« das sowjetische »Erbe« zunutze machte. »Die Moskauer Verantwortlichen für die Nationalitätenpolitik (…) kodifizierten die Sprachen (indem sie manchmal neue Alphabete für sie erfanden), errichteten nationale Parlamente, Nationalbibliotheken und führten die Politik der affirmative action zugunsten der ›lokalen Funktionäre‹ ein«. Unter den Verfechtern dieser aufgeklärten Politik habe sich »in erster Linie und vor allem Stalin« ausgezeichnet. Wie weit entfernt sind wir von der im Kalten Krieg von Arendt formulierten These, wonach Stalin absichtlich die »Nationalitäten« desorganisiert und zersetzt hätte, um günstige Bedingungen für den Triumph des Totalitarismus zu schaffen! In Anerkennung der Sowjetunion (und Stalins) hinsichtlich der Nationalitätenpolitik, äußert sich ein Autor entschieden emphatisch, der seiner zeit ein Anführer des antisowjetischen ›Dissidententums‹ gewesen ist: »In den Jahrzehnten der Sowjetmacht ist für die Lösung der nationalen Probleme so viel Positives getan worden, dass sich in der Menschheitsgeschichte kaum ein anderes vergleichbares Beispiel finden lässt«.[911]

Die zunächst von Trotzki und später von Chruschtschow gelieferte karikaturistische Darstellung Stalins genießt im Ganzen keinen guten Ruf mehr. Aus den Forschungen bedeutender Historiker, die nicht der Nachsicht mit dem ›Personenkult‹ verdächtigt werden können, geht heute das Bild Stalins als eines Politikers hervor, der aufsteigt und sich an der Spitze der UdSSR durchsetzt, weil er »all seine Mitstreiter um ein Vielfaches überragte«, was die Einsicht in das Funktionieren des sowjetischen Systems betraf;[912] ein Führer von »außergewöhnlichem politischen Talent« und »enorm begabt«;[913] ein Staatsmann, der die russische Nation vor der Dezimierung und Versklavung rettete, zu der das Dritte Reich sie bestimmt hatte, und das nicht nur dank seiner umsichtigen militärischen Strategie, sondern auch dank seiner »meisterhaften« Kriegsreden, manchmal wirkliche »Bravourstücke«, die es in tragischen und entscheidenden Augenblicken fertig brachten, den nationalen Widerstand anzuspornen;[914] eine Persönlichkeit, der es auch auf theoretischer Ebene nicht an Begabung fehlte, wie es u. a. der »Scharfsinn«, mit der er die nationale Frage in der Abhandlung von 1913 behandelt, und die »positive Wirkung« seines »Beitrags« über die Linguistik bewiesen.[915]

Gewiss wird gleichzeitig und mit Recht betont, dass diese Anerkennung kein freisprechendes moralisches Urteil sei, doch es stellt sich heraus, dass die Geheimrede vollkommen unzuverlässig ist. Es gibt darin kein Detail, das heute nicht beanstandet würde. Man denke an den Bericht über den angeblichen psychologischen Zusammenbruch Stalins in den ersten Tagen nach dem Beginn des Unternehmens Barbarossa: Nach der schon zitierten Analyse zweier russischer Historiker (eindeutig antistalinistischer Orientierung) handelt es sich um eine »Episode« die »vollkommen erfunden« sei (vgl. oben, Kap. 1, § 2) und die – so hakt ein französischer Historiker nach – in »vollem Widerspruch« zu den Zeugnissen und Dokumenten stehe, die nach und nach auftauchen.[916] Doch es handelt sich nicht nur um eine, wenn auch recht bezeichnende »Episode«. Auch was die so genannte Verschwörung der Ärzte betrifft: »Chruschtschow verdrehte grob und vorsätzlich die Tatsachen«.[917] Es stimmt, »mit der Wahrheit hat er sich nicht wenige Freiheiten herausgenommen«.[918] Die (von dem schon mehrmals zitierten englischen Historiker) gemachte Beobachtung hinsichtlich der »Kriegsführung Stalins« hat allgemeinen Wert: »Um die Wahrheit zu begreifen, muss man sowohl über die westlichen Polemiken des Kalten Krieges als auch über die Umstände der Entstalinisierung in der Sowjetunion hinaus blicken«.[919]

3. Widersprüchliche Motive bei der Dämonisierung Stalins

Unwidersprochen vorgeherrscht hat und unkritisch wiederholt wurde lange Zeit im Westen die von Arendt formulierte These, die folgen dermaßen die unwiderstehliche Anziehung beweist, die trotz allem zwischen kommunistischem und nazistischem ›Totalitarismus‹ bestanden habe: »›Unbedingten Respekt‹ hatte Hitler nur für den ›genialen Stalin‹«; im Übrigen »erfahren wir aus der Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag, dass Stalin nur einem Mann vertraute, und das war Hitler«. Dafür spreche jedenfalls, dass er sich bis zuletzt »geweigert hat zu glauben, dass Hitler den Pakt brechen würde«: Zur Bestätigung dafür zitiert Arendt erneut die Geheimrede oder genauer gesagt, »Chruschtschows Rede in dem vom amerikanischen State Department herausgegebenen Text«.[920] Dieser Behauptung, die auf einem unmittelbar politischen Diskurs beruht und sich nicht um die historische Genauigkeit sorgt, könnte man die gut dokumentierte Analyse entgegenhalten, derzufolge Stalin in Ungarn und in Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg »nur« den Kadern jüdischer Herkunft »traute«, die in der Tat berufen werden, das Gerüst des neuen Staatsapparats zu bilden (vgl. oben, Kap. 5, § 10). Wie man sieht, könnte der Gegensatz zu Hitler nicht deutlicher sein.

Doch bleiben wir noch bei der Inkonsistenz des ideologischen Motivs, auf das Arendt und die herrschende Ideologie viel geben. In letzter Zeit erlebt man eine Umkehr der Positionen. Seit einigen Jahren bestehen bedeutende Wissenschaftler und unermüdliche antikommunistische Ideologen darauf, Stalin als unersättlichen Expansionisten hinzu stellen, der zur gegebenen Zeit bereit gewesen wäre, sogar Deutschland anzugreifen, mit dem er durch einen Nichtangriffspakt verbunden war. Diesbezüglich wird vor allem die Rede Stalins an die Absolventen der Militärakademie angeführt, die ich hier, um es kurz zu machen, nach der Synthese zitiere die im Tagebuch Dimitroffs enthalten ist: »Unsere Politik des Friedens und der Sicherheit ist gleichzeitig eine Politik der Kriegsvorbereitung. Es gibt keine Verteidigung ohne Angriff. Man muß die Armee im Geist des Angriffs erziehen. Man muß sich auf den Krieg vorbereiten«.[921] Es ist der 5. Mai 1941, der gleiche Tag, an dem Stalin, eindeutig in Vorhersehung des frontalen Zusammenstoßes mit dem Dritten Reich, persönlich die höchsten Ämter der Partei und des Staates übernimmt. Die imposante Entwicklung der sowjetischen Aufrüstung wäre von Stalin in Erwartung eines Angriffskrieges vorangetrieben worden, gegen den Hitler Abhilfe zu schaffen versucht habe.[922] Diese heute vom historischen Revisionismus pausenlos vorgebrachte These ist leicht zu widerlegen, wenn man anführt, was ein Autor zitiert, der immerhin zu den wichtigsten Vertretern dieser historiographischen und ideologischen Richtung zählt: Schon Anfang Mai 1941 in formiert General Antonescu, der seit kurzem die Macht in Rumänien übernommen hatte, seine deutschen Verbündeten, dass »Fabriken im Raume von Moskau Befehl erhalten hätten, ihre Einrichtungen in das Landesinnere zu verlegen«.[923] Im Übrigen waren die Nazis verzweifelt auf der Suche nach einem casus belli. Der Leiter der Abwehr-Abteilung, Admiral Canaris, trägt in sein Tagebuch ein: heute »eröffnete mir General Jodl in einer Besprechung, dass man in großer Sorge über die weiche und nachgiebige Haltung der Russen sei, und meinte halb im Scherz (…) ›Wenn die Kerle (Sowjet-Russen) weiterhin so nachgiebig sind und auf nichts reagieren, werden Sie die Voraussetzungen für diesen Krieg schaffen müssen‹«.[924] Zunächst heben diese Zeugnisse die revisionistischen Historiker aus ihrem Sattel und beweisen unmissverständlich, wer der Angreifer ist. Außerdem klären sie, dass gerade jene Haltung das Dritte Reich nervös macht, die Chruschtschow Stalin vor wirft.

Tatsache bleibt, dass der neue Anklagepunkt gegen Stalin sogleich in der großen Informationspresse besiegelt wird, die, um sie noch zu bestätigen, nicht davor zurückschreckte, die Rede vom 19. August 1939 wieder hervorzuholen, die von einem renommierten Slawisten mit routinierter Entrüstung kommentiert wird: Während Stalin sich anschickte, seinen getreuen Molotow nach Berlin zu schicken, um den Nichtangriffspakt abzuschließen, habe er mit abstoßendem Zynismus schon einen Plan ausgearbeitet, um zum gegebenen Zeitpunkt ganz Europa, Deutschland inbegriffen, anzugreifen und zu sowjetisieren.[925] Es handelt sich in Wahrheit um eine grobe historische Fälschung (vgl. oben, Kap. 1, § 3). Doch das ist nicht der wichtigste Punkt. Die Enthüllung der neuen Schandtat hätte die Gelegenheit bieten können, die von Arendt, auch dank der Geheimrede Chruschtschows entwickelte These von den Beziehungen zwischen den beiden wichtigsten Inkarnationen des ›Totalitarismus‹ neu zu diskutieren. Aber nichts von alledem!

Die Historiker des Konzentrationslager-Universums kritisieren mit Recht die weitere Verschärfung der Lage im Gulag und die »über mäßige Ausbeutung der Häftlinge«, die ihren furchtbaren Höhepunkt nach der »rasanten Steigerung der Wirtschaftspläne in den Jahren 1940/41« (also in den Jahren des Nichtangriffspakts) erreichte; in Vorhersehung des Krieges nimmt die sowjetische Führung keine Rück sichten mehr, nur um die Realisierung der Pläne »großer strategischer und ökonomischer Relevanz« extrem zu beschleunigen, wie zum Beispiel den Bau von Flughäfen, Fabriken, Flugzeugen und von Industrien, die für die Kriegsanstrengung notwendig waren.[926] Grotesker denn je erscheint angesichts dieser Anschuldigungen der von Arendt bestätigte Gemeinplatz, der dennoch weiter hartnäckig kolportiert wird: man muss auf jeden Fall beweisen, dass Stalin Hitler blind vertraute! Die herrschende Ideologie bemüht, ohne mit der Wimper zu zucken, die widersprüchlichsten Behauptungen und Anklagen: Wichtig ist nur, dass sie Stalin mit Schande bedecken, und so zeigt sich klar die Tendenz, von der Geschichtsschreibung in die politische Mythologie abzugleiten.

Das Bedürfnis der wie auch immer begründeten Dämonisierung findet sich auch auf anderen Gebieten. Heute ist die schwarze Legende vom Antisemitismus Stalins unumstritten. Aber es fehlt auch nicht die diametral entgegengesetzte Sichtweise. Hier die Untersuchung eines US-amerikanischen und jüdischen Journalisten, die von der »Vorliebe (fondness) Stalins für die Juden« berichtet, denen er die Leitung der Konzentrationslager anvertraut, in denen die Deutschen eingesperrt sind, die aus Polen ausgewiesen werden sollen. So können die der »Endlösung« Entgangenen eine fürchterliche Rache nehmen und die Peiniger ihrer Peiniger werden, all das dank der List und der Bosheit des sowjetischen Diktators.[927] Letzterer wird – in einem Buch, das ein den militärischen Kreisen der Bundesrepublik nahestehender Autor geschrieben hat – beschuldigt, die »Kriegspropaganda« von den Gaskammern und dem Plan der totalen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch das Dritte Reich in Umlauf gebracht zu haben, um seine Feinde in schlechten Ruf zu bringen.[928] Offensichtlich und total ist der Widerspruch zur Vorstellung eines antisemitischen Stalin, die sich jedoch immer noch eines unerhört großen Erfolges erfreut.

Schließlich lohnt es sich, darauf hinzuweisen, wie auch das Thema der ›Paranoia‹ Stalins oft ganz widersprüchlich behandelt wird. Die absolute Selbstsicherheit mit der er diese Krankheit diagnostiziert, zeichnet einen Historiker aus, der gleichzeitig die Rolle hervorhebt, die Berija beim Tod des sowjetischen Führers gespielt hätte.[929] Man könnte natürlich sagen, dass Stalin am Ende Opfer des Klimas wurde, das er selbst geschaffen hatte; es bleibt allerdings die Tatsache, dass zumindest von einem bestimmten Zeitpunkt an die Gefahr wirklich bestand und nicht etwa das Ergebnis einer krankhaften Phantasie war. Paranoia diagnostizieren bei Stalin auch manchmal Persönlichkeiten und Autoren, die ihn, ohne Beweise dafür zu erbringen, als verantwortlich für den Tod seiner engen Mitstreiter wie Kirow und Schdanow hinstellen. Nimmt man hier nicht dieselbe Haltung ein, die man dem Diktator vorwirft? Doch diese Fragen und diese Probleme tauchen noch nicht einmal auf: Wichtig ist auf jeden Fall, die Schändlichkeit des kommunistischen und orientalischen Despoten zu bekräftigen.

4. Politischer Kampf und Mythologie zwischen französischer Revolution und Oktoberrevolution

Im Juni 1956 schreibt Deutscher unter dem ersten Eindruck der Lektüre der Geheimrede Chruschtschows: »Mehr als ein Vierteljahrhundert lang haben die Kommunisten sich auf die Knie geworfen« vor einem sowohl auf moralischer als auch auf intellektueller Ebene monströsen und abstoßenden Tyrannen; nun gut, wie konnte das alles geschehen?.[930] Dann hätte er aber gleich eine andere Frage stellen können: Was hat berühmte Philosophen und westliche Staatsmänner dazu gebracht, diesem Monster Hochachtung und Respekt und in gewissen Fällen sogar Bewunderung entgegenzubringen? Diese Fragen sind gerechtfertigt und sogar unausweichlich, aber vielleicht sollten sie durch eine weitere ergänzt werden: Wie konnte es geschehen, dass auch Deutscher sich von der Haltung hat anstecken lassen, die er 1956 so scharf verurteilt? Denn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und anlässlich des Todes Stalins hatte er dem Staatsmann gehuldigt, der entscheidend zur Niederlage des Dritten Reichs beigetragen und den Sozialismus in der UdSSR errichtet hatte. Damals war das Monster an Niederträchtigkeit und Blödheit noch nicht zum Vorschein gekommen, und damit war noch nicht die Frage nach dem enormen Ansehen auf getaucht, das es trotz allem lange Zeit genossen hatte. Aber vielleicht hätte Deutscher, als er 1956 die Geheimrede Chruschtschows las, besser daran getan, sich eine ganz andere Frage zu stellen: Wie hatte es die Sowjetunion, von einem so lächerlichen »Generalissimus« und Spitzenpolitiker angeführt, geschafft, die fürchterliche nazistische Kriegsmaschine zu schlagen, die so schnell den Rest Kontinentaleuropas unterjocht hatte? Und wie hatte es die Sowjetunion, die von einer extrem schwachen Position ausging, angestellt, eine militärische und industrielle Supermacht zu werden?

Genauer gesagt, ist es ein halbes Jahrhundert nach Stalins Tod und nach der Aufsehen erregenden Entstalinisierung opportun, die von Deutscher formulierte Frage wieder aufzunehmen, um sie radikal umzukehren: Wie konnte ein so groteskes und karikaturistisches Bild, wie es Chruschtschow gezeichnet hat, zur Würde eines historiograpischen und politischen Dogmas emporsteigen? Ja, dieses Dogma ist sogar nach und nach durch neue, immer phantasievollere Einzelheiten bereichert worden. Sich auf die ›Enthüllungen‹ der Geheimrede Chruschtschows stützend, die Stalin ein blindes Vertrauen auf Hitlers Respektierung des Nichtangriffspakts zuschrieben, hat Arendt in den verschiedenen Auflagen der Origins of Totalitarianism das Theorem der Wahlverwandtschaft zwischen den beiden Diktatoren konstruiert; dieses Theorem hat nach und nach neue Berührungspunkte und neue Symmetrien entdeckt, bis die beiden Monster in jedem Aspekt ihres politischen Handelns und ihrer Ideologie, jeweils eines Holocausts und den Judenhass inbegriffen, perfekt gleichwertig geworden sind.

Der Schlüssel zur Erklärung dieses ungewöhnlichen Phänomens kann in der Geschichte der politischen Mythologien aufgefunden wer den. Nach dem Thermidor werden die Jakobiner auch moralisch der Guillotine ausgeliefert. Sie werden zu »jenen Sultanen«, »jenen Satyrn«, die überall »Vergnügungsstätten«, »Örtlichkeiten für Orgien« eingerichtet hatten, wo »sie sich allen Exzessen hingaben«.[931] Zusammen mit der sexuellen Libido wurde Robespierre vor allem von der libido dominandi verzehrt: Er schickte sich an, »die Tochter Capets zu heiraten«, um den französischen Thron besteigen zu können.[932] Zweifellos war die Anklage sensationell, doch an Beweisen fehlte es nicht, sie waren so gar im Überfluss vorhanden: »Der Ehevertrag« war schon unterzeichnet; außerdem war im Haus des soeben hingerichteten Tyrannen das »Siegel mit der Lilie Frankreichs«, d. h. das Siegel der bourbonischen Dynastie gefunden worden.[933] Die Exekution bzw. die Ermordung Ludwigs XVI. erschien daher in einem neuen Licht: Vielleicht hatte sich der Verantwortliche für diese Tat nur vorgenommen, einen Rivalen loszuwerden, er wollte das Hindernis wegräumen, das ihm die Thronbesteigung verwehrte.

Mit der moralischen Enthauptung Robespierres verband sich die im eigentlichen Sinn intellektuelle Enthauptung. Während der Jakobiner zeit war es zu nicht von oben geförderten, vom Volk ausgehenden Episoden von Vandalismus und revolutionärer Bilderstürmerei gekommen, die die Symbole des Ancien Régime trafen. Solche Episoden haben sich noch im Thermidor ereignet und jetzt nahmen sie alles ins Visier, was an den Terror erinnerte. So stellen die neuen Regieren den die Jakobiner unter Anklage: Wegen ihres Hasses auf die Kultur, die ihnen vollkommen abging, hätten sie geplant, die Bibliotheken in Brand zu stecken, ja sie hätten dieses wahnwitzige Projekt schon in die Tat umgesetzt. Stufenweise dehnt die Anschuldigung sich immer weiter aus und verwandelt sich in einen Tatbestand, der umso unbestreitbarer wird, je mehr er jeden Kontakt mit der Realität verliert. So kann Boissy d’Anglas die Jakobiner zum Gespött der Leute machen:

Diese schrecklichen Feinde der Menschheit willigten zweifellos ein, ihre Missetaten momentan nur vom Lichte der angezündeten Bibliotheken er leuchten zu lassen, weil sie hofften, dass die Finsternis der Ignoranz sich noch verdichten würde. Barbaren! Sie haben den Geist um viele Jahrhunderte zurückgeworfen.[934]

Die Jakobiner hatten die Schulpflicht eingeführt, und die konterrevolutionäre Publizistik verurteilte sie und die französische Revolution schlechthin unermüdlich wegen ihrer Hybris der Vernunft und rühmte im Gegensatz dazu die wohltuende Funktion des ›Vorurteils‹. Im ideologischen und politischen Klima des Thermidors werden Robespierre und seine Mitstreiter jedoch beschuldigt, die »Finsternis der Ignoranz« verbreiten zu wollen. Und der neue Vorwurf wird breitgetreten, ohne dass man sich darum bemüht, dem vorausgegangenen Rechnung zu tragen: logische Konsequenz ist die letzte Sorge.

Auch hinsichtlich der Zahl der Opfer des Terrors haben wir es mit einem Prozess zu tun, der dem der Bibliotheken ähnelt. Erteilen wir weiter dem bedeutenden Wissenschaftler das Wort, dem wir hier folgen: »Man knausert nicht mit Zahlen: Zehntausende, Hunderttausende, man spricht auch von Millionen«. Es handelt sich also um einen Genozid, wie die jeunesse dorée beklagt, die in ihrer Gegen-Marseillaise gegen die »Menschenbluttrinker«, »diese Menschenfresserhorde«, »diese abscheulichen Kannibalen« tönt.[935] Diese Anschuldigung wird links wieder aufgenommen und radikalisiert. Gleich nach dem Thermidor spricht Babeuf von einem »System der Entvölkerung« (dépopulation), das in der Vendée von Robespierre angewandt worden sei, der sogar das »infame, unerhörte politische Ziel« verfolgt habe, »die Menschenrasse auszurotten«.[936] So wohnen wir einer Übereinstimmung zwischen der Rechten und der extremen Linken im politischen Lager bei, die beide übereinstimmend Robespierre als genozidales Monster hinstellen. Doch dieses Paradoxon dauert nur kurze Zeit. Babeuf versteht recht bald die wirkliche Bedeutung des Thermidors: Vor den Richtern, die sich anschicken, ihn zum Tode zu verurteilen, kritisiert er scharf die verzweifelte Lage, zu der inzwischen die Volksmassen verdammt sei en, und beruft sich dabei einerseits auf Saint-Just und dessen Idee von »Glück« und von Überwindung der Armut für alle, andererseits äußert er seine Empörung über das »Hungersystem«, das die neuen Regierenden verwirklicht hätten, und stempelt den Thermidorianer Boissy d’Anglas als »Völkermörder« (populicide) ab.[937] Die Genozid-Anklage erlebt so eine radikale Umkehrung: Sie trifft nicht mehr Robespierre, sondern seine siegreichen Feinde.

Es wäre interessant, eine vergleichende Analyse der Mythologien vorzunehmen, die nach den großen Revolutionen aufgetaucht sind. Nach dem Oktober 1917 folgen auf die Jakobiner als »Menschenbluttrinker« die Bolschewiki. Sie hätten, wie Flüchtlinge aus Sowjetrussland in den USA berichteten, eine elektrische Guillotine erfunden und setzten sie frenetisch ein, die in der Lage sei, fünfhundert Menschen in der Stunde zu töten. Wir wissen schon, dass die Jakobiner als Besucher von »Vergnügungsstätten« und als Organisatoren von »Orgien« gebrandmarkt wurden. Im Herbst 1919 wird der ungarische Kommunistenführer Béla Kun beschuldigt, einen »prächtig ausgestatteten Harem« eingerichtet zu haben, wo es »zur dutzendweisen Vergewaltigung und Schändung ehrbarer christlicher Jungfrauen« durch den heimtückischen und unersättlichen Juden gekommen sei.[938] Auf diese Schandtat macht eine Zeitung aufmerksam, die später zum Organ der Hitlerpartei wird, die aber damals eine in der westlichen öffentlichen Meinung beiderseits des Atlantiks weit verbreitete Einstellung teilte, wenn sie ihren Abscheu vor der Entwicklung in Osteuropa zum Ausdruck bringt. Auch in den USA werden die Bolschewiki mit Ausschweifung und moralischer Verkommenheit gleichgesetzt: In Russland hätten sie die Nationalisierung der Frauen eingeführt, wie Dokumente enthüllen, die mit der Genehmigung Präsident Wilsons veröffentlicht worden sind, und wie mit einer Fülle von Einzelheiten eine renommierte Zeitung wie ›The New York Times‹ berichtet: Jedes Mädchen, das das achtzehnte Lebensjahr erreicht hat, müsse sich in einem »Büro der freien Liebe« registrieren lassen, das dann die Unglückselige einem willkürlich ausgewählten Mann zuweist, gezwungen mit ihrem Körper und ihrem Geist den Zwang der Regierungseinrichtung zu ertragen.[939]

Sind schon die Jakobiner ›Barbaren‹, dann noch mehr die Protagonisten der Oktoberrevolution: Zuerst werden sie als Agenten des kaiserlichen Deutschland (bzw. der »Hunnen« und »Vandalen«, wie die Deutschen von der Propaganda der Entente im Ersten Weltkrieg genannt wurden) und später als Agenten des internationalen Judentums abgestempelt, das sowohl wegen seiner geographischen Herkunft als auch wegen seines Beitrags zur Revolte der Kolonien und der farbigen Völker der echten Zivilisation doppelt fernstehe, wie die Nazipropaganda unermüdlich wiederholt. Wenn schließlich Robespierre eine Zeit lang von Babeuf beschuldigt wurde, er habe die ganze »Menschenrasse ausrotten« wollen, so gibt sich Conquest damit zufrieden, Stalin den geplanten Hungertod des ukrainischen Volkes vorzuwerfen.

Die hier angedeuteten Themen verstehen sich nur als bescheidene Anregungen für den zukünftigen Historiker. In Erwartung der wünschenswerten Komparatistik der politischen Mythologien sollte man jedenfalls darauf hinweisen, dass Stalin ein schlimmeres Schicksal traf als Robespierre: Es gibt nämlich im heutigen Russland Volksdemonstrationen, die sein Bild hochhalten, und die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung äußert sich positiv über Stalin und erblickt in ihm den »energischen Führer«, den das Land in so unheilvollen Zeiten brauchte. Einer der ehemaligen ›Dissidenten‹, Alexander Sinowjew, verurteilt Jelzin als den Anführer einer »kriminellen Konterrevolution« und einer »kolonialen Demokratie« und zieht eine überraschende Bilanz der Geschichte der Sowjetunion im Ganzen, die drei Jahrzehnte der Stalin-Ära eingeschlossen: »Gerade dank des Kommunismus konnte Russland noch viel Schlimmeres vermeiden« und »unter äußerst schwierigen historischen Bedingungen« Fortschritte realisieren, die »nur eine zynische Kanaille abstreiten kann«.[940] Im Westen trifft indes auch in der Linken der ›Stalinismus‹-Vorwurf jeden, der es wagt, ein paar Zweifel zu formulieren oder ein paar Fragen aufzuwerfen. Höchstens im ›bürgerlichen‹ Lager kann man einige schüchterne Signale der Sinnesänderung erkennen. Schon wenige Monate nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion berichtete eine renommierte italienische Tageszeitung: »Eineinhalb Millionen Menschen laufen Gefahr, wegen des Mangels an Lebensmitteln und Medikamenten in der ganzen UdSSR, den Winter nicht zu überleben: Das behauptet ein Bericht des Internationalen Roten Kreuzes«.[941] Einige Zeit später wies ein berühmter Politologe, Maurice Duverger, ebenfalls Jelzins Russland untersuchend, auf den »Absturz der mittleren Lebenserwartung« hin, für den die wenigen Privilegierten verantwortlich seien, denen es gelungen war, »enorme Reichtümer anzusammeln«, und zwar spekulativer und parasitärer, wenn nicht offen illegaler Herkunft; außerdem beklagte er den »regelrechten Genozid an den Alten«.[942] Wenn nicht eine Umkehrung, so erfährt der Genozid-Vorwurf hier jedenfalls eine alles umgreifende Anwendung: Er verurteilt nämlich einen Helden des Westens (Jelzin) und mit ihm den ganzen Westen. Sie werden für eine Tragödie verantwortlich gemacht, die sich nicht im Verlauf einer akuten politischen und wirtschaftlichen Krise abspielt, sondern sogar nach dem Ende des Kalten Krieges, zu einer Zeit, in der zumindest in den fortgeschrittensten Ländern das Hungern nur noch eine ferne Erinnerung ist.

Da kommt einem die Bilanz in den Sinn, die seinerzeit Edgar Quinet hinsichtlich der französischen Revolution gezogen hat: »Der Terror ist das erste Unheil gewesen; das zweite Unheil, das die Republik ruinierte, war der Prozess, den man dem Terror gemacht hat«.[943]

Kapitel 8: Dämonisierung und Hagiographie in der Deutung der zeitgenössischen Welt

1. Von der Verdrängung der Zweiten Periode der Unruhen in Russland zur Verdrängung des Jahrhunderts der Demütigungen in China

Vor allem nach dem Ausbruch des Kalten Krieges hat sich die antikommunistische Kampagne im Westen jahrzehntelang um die Dämonisierung Stalins gedreht. Bis zur Niederlage der Sowjetunion war es nicht angebracht, die Polemik gegen Mao und nicht einmal die gegen Pol Pot, welcher bis zuletzt von Washington gegen die vietnamesischen Invasoren und ihre sowjetischen Beschützer unterstützt worden ist, zu überziehen. Nur einer war das Zwillingsmonster von Hitler: Es hatte dreißig Jahre lang in Moskau gewütet und lastete immer noch unheilvoll und massiv auf dem Land, das es gewagt hat, der Hegemonie der USA zu trotzen.

Mit dem außerordentlichen Aufstieg Chinas musste sich das Bild unbedingt ändern: Jetzt soll das große asiatische Land bedrängt werden, bis es seine Identität und sein Selbstwertgefühl verliert. Abgesehen von Stalin ist die herrschende Ideologie bemüht, andere Zwillingsmonster Hitlers auszumachen. So kommt es, dass ein Buch großen internationalen Erfolg erntet, das Mao Zedong als den größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts und vielleicht aller Zeiten hinstellt.[944]

Die ›Beweisführung‹ ist die, die wir schon kennen: Man geht von der Kindheit des ›Monsters‹, statt von der Geschichte Chinas aus. Man sollte also versuchen, diese Lücke aufzufüllen. Mit einer langen Ge schichte im Hintergrund, in der China eine eminente Stellung in der Entwicklung der Kultur und Zivilisation eingenommen hatte, konnte es noch im Jahre 1820 ein BIP vorweisen, das sich auf 32,4% des Welt-Bruttoinlandsprodukts belief; bei ihrer Gründung im Jahre 1949 war die Volksrepublik China das ärmste oder eines der ärmsten Länder der Welt.[945] Hervorgerufen wurde dieser Zusammenbruch von der kolonialistischen und imperialistischen Aggression, die mit den Opium kriegen begann. Auch von den berühmtesten Vertretern des liberalen Westens (man denke an Tocqueville und John Stuart Mill) emphatisch gefeiert, eröffnen diese infamen Kriege ein entschieden tragisches Kapitel für das große asiatische Land. Das vom Sieg der »britischen narcotraficantes« hervorgerufene Defizit der chinesischen Handelsbilanz, die furchtbare Demütigung (»Anbiederung und Vergewaltigung chinesischer Frauen« seitens der Invasoren. »Die Gräber werden im Namen der wissenschaftlichen Neugier geschändet. Der winzige ein geschnürte Fuß einer Frau wird aus ihrem Grab entwendet«) und die Krise, die von der Unfähigkeit des Landes ausgelöst wird, sich gegen die äußeren Aggressionen zu verteidigen, spielen eine Rolle ersten Ranges für den Ausbruch der Revolte der Taiping (1851-64), die sich den Kampf gegen das Opium zum Ziel setzen. »Es handelt sich um den blutigsten Bürgerkrieg in der Weltgeschichte mit schätzungsweise zwanzig bis dreißig Millionen Toten«.[946] Nachdem der Westen kräftig zum Ausbruch der Krise beigetragen hatte, wird er ihr Nutznießer, da er jetzt seine Kontrolle über ein Land ausdehnen kann, das von einer immer tieferen Krise erschüttert und immer wehrloser wird. Die historische Epoche eines »gekreuzigten China« beginnt (den westlichen Peinigern haben sich inzwischen Russland und Japan hinzugesellt). Es stimmt:

Je mehr man sich dem Ende des 19. Jahrhunderts nähert, scheint China das Opfer eines Schicksals zu werden, gegen das es nicht mehr ankämpfen kann. Eine allgemeine Verschwörung der Menschen und der Naturgewalten. Das China der Jahre 1850-1950, das der furchtbarsten Aufstände der Geschichte, die Zielscheibe der feindlichen Kanonen, das Land der Invasionen und Bürgerkriege ist auch das Land der großen Naturkatastrophen. Zweifellos ist die Anzahl der Opfer in der Weltgeschichte nie so hoch gewesen.

Das allgemeine und drastische Sinken des Lebensstandards, die Zersetzung des Staats- und Regierungsapparats, dazu noch seine Unfähigkeit, Korruption und wachsende Subalternität und Unterwerfung unter den Fremden, all das lässt den Zusammenprall mit Überschwemmungen und Hungersnot noch verheerender werden: »Der große Hunger in Nordchina in den Jahren 1877/78 (…) tötet mehr als neun Millionen Menschen«.[947] Es ist eine Tragödie, die sich praktisch periodisch ereignet: Im Jahre 1928 belaufen sich die Toten auf »fast drei Millionen nur in der Provinz Shansi«.[948] Weder aus dem Hunger noch aus der Kälte gibt es einen Ausweg: »Man verbrennt die Balken der Häuser, um sich wärmen zu können«.[949]

Es handelt sich nicht nur um eine verheerende Wirtschaftskrise: »Der Staat ist fast zerstört«. Eine Tatsache spricht schon für sich selbst: »Zwischen 1911 und 1928 finden 130 Kriege zwischen 1.300 Provinz Generalen statt«; die entgegengesetzten »Militärcliquen« werden manchmal von der einen oder anderen ausländischen Macht unter stützt. Im Übrigen »können die wiederholten Bürgerkriege zwischen 1919 und 1925 als neue Kriege um das Opium betrachtet werden. Auf dem Spiel steht die Kontrolle seiner Produktion und seines Transports«.[950] Abgesehen von den Truppen der Provinz-Generale breitet sich das Banditentum im eigentlichen Sinn aus, dessen Reihen von den Deserteuren des Heeres und mit den von den Soldaten verkauften Waffen aufgefüllt werden. »Man schätzt, dass sich um das Jahr 1930 die Banditen in China auf 20 Millionen belaufen, 10% der gesamten männlichen Bevölkerung«.[951] Auf der anderen Seite kann man sich leicht das Schicksal vorstellen, das die Frauen erwartet. Im Ganzen haben wir es mit der Auflösung jeder sozialen Bindung zu tun: »Manchmal verkauft der Bauer seine Frau und seine Kinder. Die Presse beschreibt die Kolonnen der so verkauften jungen Frauen, die, von den Menschenhändlern in Reih und Glied gebracht, durch die Straßen des vom Hunger des Jahres 1928 verwüsteten Shansi laufen. Sie werden zu Haussklaven oder zu Prostituierten«. Allein in Schanghai gibt es »ungefähr 50.000 reguläre Prostituierte«. Und sowohl das Räuberwesen als auch die Organisation der Prostitution können auf die Unterstützung und die Beteiligung der westlichen Konzessionen zählen, die diesbezüglich »einträgliche Aktivitäten« entwickeln.[952] Das Leben der Chinesen gilt inzwischen ziemlich wenig, und die Unterdrückten neigen dazu, diese Sichtweise mit den Unterdrückern zu teilen. 1938 lässt die Luftwaffe Tschiang Kai-scheks bei ihrem Versuch, die japanische Invasion aufzuhalten, die Talsperren des Gelben Flusses sprengen: 900.000 Bauern ertrinken und weitere vier Millionen sind zur Flucht gezwungen.[953] Etwa fünfzehn Jahre zuvor hatte Sun Yat-Sen die Befürchtung geäußert, man könne »bis zur Auslöschung der Nation und zur Vernichtung der Rasse« gelangen; vielleicht seien die Chinesen dabei, das den »Rothäuten« auf dem amerikanischen Kontinent zugedachte Ende zu erleiden.[954]

Diese tragische Geschichte im Hintergrund der Revolution verschwindet in der Historiographie und in der Publizistik, die sich um den negativen Heroenkult drehen. Wird bei der Interpretation der Geschichte Russlands die Zweite Periode der Unruhen verdrängt, so übergeht man hinsichtlich des großen asiatischen Landes das Jahrhundert der Demütigungen (die Zeit, die vom Ersten Opiumkrieg bis zur kommunistischen Eroberung der Macht reicht). Wie in Russland so wird auch in China die Nation und sogar der Staat letztlich von der Revolution gerettet, die von der Kommunistischen Partei angeführt wird. In der schon zitierten Mao-Zedong-Biographie wird nicht nur der hier summarisch rekonstruierte historische Hintergrund ignoriert, sondern es wird das Horror-Primat des chinesischen kommunistischen Führers erzielt, indem man ihm die Opfer in die Schuhe schiebt, die die China heimsuchenden Hungersnöte gefordert haben. Rigoros verschwiegen wird das Embargo, das gleich nach der Machtübernahme durch die Kommunisten über das große asiatische Land verhängt wurde.

Bezüglich des letzten Punktes sollte man das Buch eines US-amerikanischen Autors konsultieren, der zustimmend die erstrangige Rolle beschreibt, die die Politik der Einkreisung und der wirtschaftlichen Abwürgung gespielt hat, die Washington im Kalten Krieg gegen die Volksrepublik China durchgeführt hat. Diese befindet sich im Herbst 1949 in einer verzweifelten Lage. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Bürgerkrieg keineswegs beendet ist: Der Großteil des Guomindang-Heeres ist nach Taiwan geflüchtet und von dort aus bedroht er weiterhin die neue Macht mit Luftangriffen und Einfällen, zumal noch Widerstandsnester auf dem Kontinent agieren. Das ist aber nicht der wichtigste Punkt: »Nach Jahrzehnten der internationalen und Bürgerkriege befand sich die nationale Wirtschaft am Rande des totalen Zusammenbruchs«. Mit dem Zusammenbruch der Agrar- und Industrieproduktion verknüpft sich die Inflation. Und das ist noch nicht alles: »In jenem Jahr hatten schwere Überschwemmungen einen großen Teil des Lan des verwüstet, und mehr als 40 Millionen Personen waren von dieser Naturkatastrophe betroffen«.[955]

Das im richtigen Augenblick von den USA verhängte Embargo lässt die schwere ökonomische und humanitäre Krise noch katastrophaler werden. Was dieses Embargo zum Ziel hat, geht deutlich aus den Untersuchungen und Plänen der Truman-Administration und aus den Eingeständnissen bzw. Erklärungen ihrer Führer hervor: Bewirken, dass China »die Plage eines allgemeinen Lebensstandards um oder unterhalb der Überlebensgrenze erleidet«; »wirtschaftliche Rückständigkeit«, »kulturellen Rückschritt«, eine »primitive und unkontrollierte Geburtenrate«, »Volksunruhen« hervorrufen; »der ganzen gesellschaftlichen Struktur einen schweren und sehr lang andauernden Schlag« zu fügen und letztendlich »einen chaotischen Zustand« herstellen.[956] Dieser Begriff wird zwanghaft wiederholt: man müsse ein Land mit »verzweifelten Bedürfnissen« in eine »katastrophale ökonomische Lage«, zu einem »Desaster« und zum »Zusammenbruch« führen.[957] Mörderisch ist diese auf ein übervölkertes Land zielende »ökonomische Pistole«, aber der CIA genügt das noch nicht: Die von »den Maßnahmen des Wirtschaftskriegs und von der Seeblockade« hervorgerufene Lage könnte durch »Bombardements der Luftwaffe und der Marine gegen ausgewählte Häfen, Eisenbahnknotenpunkte, Industrieanlagen und Lagerstätten« noch verschlimmert werden; auf jeden Fall gehen mit Hilfe der USA die Luftangriffe der Guomindang auf die Industriestädte Kontinentalchinas, Schanghai inbegriffen, weiter.[958]

Im Weißen Haus folgt ein Präsident auf den anderen, aber das Embargo bleibt und es schließt Medikamente, Traktoren und Düngemittel ein.[959] Anfang der 1960er Jahre weist ein Mitarbeiter der Kennedy-Administration, Walt W. Rostow, darauf hin, dass dank dieser Politik die ökonomische Entwicklung Chinas zumindest »jahrzehntelang« aufgehalten worden sei, während die CIA-Berichte »die ernste landwirtschaftliche Lage im kommunistischen China« hervorheben, das inzwischen durch »Arbeitsüberlastung und Unterernährung« (overwork and malnutrition) schwer geschwächt sei.[960] Sollte man deshalb den Druck auf ein Volk abschwächen, das Hunger leidet? Nein, man dürfe im Gegenteil das Embargo »nicht einmal für eine humanitäre Erleichterung« lockern. Wenn man auch die Tatsache ausnutzt, dass es China »an wesentlichen natürlichen Reichtümern, insbesondere an Erdöl und Ackerland fehlt«, und wenn man außerdem die schwere Krise ausnutzt, die inzwischen in den Beziehungen zwischen China und der UdSSR eingetreten ist, kann man den endgültigen Stoß versuchen: Es gehe da rum, »die Möglichkeit eines totalen westlichen Embargos gegen China zu erkunden« und den Verkauf von Erdöl und Getreide möglichst weit gehend zu blockieren.[961]

Ist es daher sinnvoll, Mao die ausschließliche oder Hauptverantwortung für die wirtschaftliche Katastrophe zuzuschreiben, die China lange Zeit heimgesucht hat und die von Washington klar und unerbittlich schon vom Herbst 1949 an geplant war? Da sie bemüht sind, ein grauenhaftes Bild von Mao zu malen und seine wahnwitzigen Experimente zu verurteilen, stellen sich die Autoren der erfolgreichen Monographie dieser Frage überhaupt nicht. Und dennoch wusste die US-amerikanische Führung, als sie das Embargo verhängte, sehr wohl, dass dieses we gen der »kommunistischen Unerfahrenheit auf dem Gebiet der städtischen Wirtschaft« besonders verheerend war.[962] Nicht umsonst sprach sie ausdrücklich von »Wirtschaftskrieg« und »ökonomischer Pistole«.

Diese Praxis geht auch nach dem Ende des Kalten Krieges weiter. Ein paar Jahre vor der Aufnahme Chinas in die WTO beschrieb ein US-amerikanischer Journalist 1996 das Verhalten Washingtons: »Die amerikanischen Führer holen eine der schwersten Waffen aus ihrem Handels-Arsenal hervor und zielen herausfordernd auf China; darauf hin diskutieren sie heftig darüber, ob sie abdrücken sollen oder nicht«. Einmal in die Tat umgesetzt, wäre die von ihnen angedrohte Abschaffung der normalen Handelsbeziehungen »in Dollar ausgedrückt die größte Handelssanktion in der Geschichte der Vereinigten Staaten, ab gesehen von den beiden Weltkriegen« und »gleichbedeutend mit einem Atomangriff auf Handelsebene« gewesen.[963] Dies war auch die Meinung des berühmten US-amerikanischen Politologen Edward Luttwak: »Mit einer Metapher könnte man behaupten, dass die Einfuhrsperre für chinesische Waren die Atomwaffe ist, die Amerika auf China richtet«.[964] In den 1990er Jahren als Drohung benutzt, ist die ökonomische »Atomwaffe« im Kalten Krieg systematisch gegen das große asiatische Land eingesetzt worden, während Washington sich ausdrücklich und wieder holt das Recht vorbehielt, auch die wirkliche Atombombe einzusetzen.

Als Mao die Macht erobert hat, ist er sich klar darüber, dass ihn die »äußerst schwierige Aufgabe des wirtschaftlichen Wiederaufbaus« erwartet: Es sei notwendig, »die Arbeit auf industriellem und ökonomischem Gebiet zu erlernen« und von »jedem Experten (wer auch immer er sei) zu lernen«.[965] In diesem Kontext erscheint der ›Große Sprung nach vorn‹ als der verzweifelte und katastrophale Versuch, dem Embargo entgegenzutreten.[966] Dies gilt zum Teil sogar für die Kulturrevolution, die sich ebenfalls durch die Illusion auszeichnete, man könne eine rasche ökonomische Entwicklung voranbringen, indem man zur Massenmobilisierung und zu den Methoden aufruft, die im militärischen Kampf mit Erfolg angewandt worden sind. Das Ganze immer in der Hoffnung, ein für alle Mal den Verwüstungen des »Wirtschaftskriegs« ein Ende zu setzen, hinter dem man die Drohung eines noch totaleren Krieges ahnt. Auch was die Haltung eines orientalischen Despoten an betrifft, die Mao vor allem während der Kulturrevolution eingenommen habe, sorgten sicher die Geschichte Chinas und die Ideologie und Persönlichkeit dessen, der die Macht ausübt, dafür, diese Haltung zu erklären. Tatsache bleibt, dass man noch nie ein Land gesehen hat, das den Weg der Demokratisierung einschlägt, während es auf ökonomischer Ebene stark angegriffen, auf diplomatischer Ebene isoliert und auf militärischer Ebene einer furchtbaren und ständigen Drohung aus gesetzt wird. Unter diesen Umständen ist es doppelt grotesk, »mehr als siebzig Millionen Menschen (…) die in Friedenszeiten wegen seiner Misswirtschaft gestorben sind«, ausschließlich Mao zur Last zu legen.[967]

»Außerordentlich« sind indes »die sozialen Errungenschaften in der Ära Maos« gewesen, mit einer deutlichen Verbesserung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen und einem starken An stieg der »Lebenserwartung« des chinesischen Volkes. Ohne diese Voraussetzungen kann man die erstaunliche wirtschaftliche Entwicklung nicht verstehen, die später mehrere hundert Millionen Menschen vom Hunger und sogar vom Hungertod befreit hat.[968] Doch in der herrschenden Ideologie haben wir es mit einer regelrechten Umkehrung der Verantwortung zu tun: Die Führungsgruppe, die dem Jahrhundert der Demütigungen ein Ende gesetzt hat, wird zu einer Verbrecherbande, während die Verantwortlichen für diese schreckliche Jahrhunderttragödie und diejenigen, die alles darangesetzt haben, sie mit dem Embargo weiter zu verlängern, sich als Verfechter der Freiheit und der Zivilisation ausgeben. Wir wissen schon, dass Goebbels 1929 Trotzki als denjenigen apostrophierte, der »vielleicht« als der größte Verbrecher aller Zeiten betrachtet werden könne (vgl. oben, Kap. 5, § 15); in späteren Jahren hat Goebbels möglicherweise Stalin das Primat der Kriminalität zuerkannt. Die Argumentationsweise des Chefs des Propaganda- und Manipulationsapparats des Dritten Reichs muss den Autoren der im Westen gefeierten Mao-Biographie wohl als zu problematisch erschienen sein. Sie haben keine Zweifel: Das absolute Primat der Kriminalität in der Weltgeschichte ist nunmehr auf den chinesischen Führer übergegangen!

2. Die Verdrängung des Krieges und die Serienproduktion von Hitlers Zwillingsmonstern

Die Verdrängung der Geschichte und vor allem des Kolonialismus und des Krieges ist eine Konstante der Mythologie, die sich bemüht, abgesehen von Stalin, alle Führer der kommunistischen und antikolonialistischen Bewegung mehr oder weniger in Zwillingsmonster Hitlers zu verwandeln. Für Pol Pot ist das ein recht leichtes Vorgehen. Doch gerade bei ihm sollte man sich aufhalten, nicht etwa um ihn zu rehabilitieren oder das Grauen zu verharmlosen, für das er verantwortlich war, sondern um besser zu klären, wie die heute herrschende Mythologie konstruiert wird. Dazu werde ich fast ausschließlich das Buch eines US amerikanischen Asienforschers und vor allem die Monographie über Kambodscha heranziehen, die ein Journalist geschrieben hat, der für die ›Times‹, den ›Economist‹ und die BBC gearbeitet hat. Stellen wir uns eingangs eine Frage: Wann und wie hat eine Tragödie begonnen, die in dem Grauen des Pol-Pot-Regimes gipfelte? Hier eine erste Antwort des US-amerikanischen Wissenschaftlers:

Anfang der 1970er Jahre befahlen Präsident Richard Nixon und sein Sonderberater für nationale Sicherheit und Außenpolitik, Henry Kissinger, über den ländlichen Gebieten Kambodschas mehr Bomben abzuwerfen als insgesamt im Zweiten Weltkrieg über Japan abgeworfen worden sind, und dabei wurden mindestens 750.000 kambodschanische Bauern getötet.[969]

Die Kalkulation der Monographie über das Kambodscha Pol Pots fällt vorsichtiger aus: Sie berichtet von einer »halben Million« Opfern. Tatsache bleibt, dass »die Bomben massenweise und vor allem auf die Zivilbevölkerung fielen«, die dezimiert wurde, wobei die Überlebenden oft furchtbar verunstaltet und jedenfalls von den tagtäglichen terroristischen Bombardements und der Flucht aus den ländlichen (zur »Mondlandschaft« gewordenen) Gebieten in die Städte traumatisiert waren; den von den Regierungstruppen kontrollierten Städten blieb diese Hölle erspart, sie wurden aber immer chaotischer wegen des wachsenden Zustroms an Flüchtlingen, die gezwungen waren, »eine prekäre Existenz an der Grenze des Hungertodes zu führen«. Am Ende des Krieges gab es allein in der Hauptstadt zwei Millionen vom Krieg entwurzelter Kambodschaner, in »elenden Hütten« und »Bidonvilles« zusammengepfercht, die Kranken und Verletzten in Krankenhäusern, doch mit »geringen Überlebenschancen«.[970] All dem muss man die »breit angelegten Massaker« der Truppen Lon Nols hinzufügen, der 1970 mit einem in Washington ausgedachten Staatsstreich an die Macht gekommen war. Hier ein Beispiel, wie das Regime, von den USA mit »mehreren hundert Millionen Dollar« gespickt, das Problem der ethnischen Minderheiten angeht: »In den vietnamesischen Dörfern am Stadtrand im Nor den von Phnom Penh wurden mindestens dreitausend Einwohner, alle über fünfzehn Jahre alte Jungen und Männer gefangen genommen, ans Flussufer gebracht und erschossen. Die zurückgebliebenen Frauen wurden vergewaltigt«. Oder: »In der Papageienschnabel genannten Zone wurden die (vietnamesischen) Gefangenen eines Lagers vor einem bevorstehenden Vietcong-Angriff gewarnt und erhielten den Befehl zu fliehen. Während sie wegliefen, eröffneten die (mit den USA verbündeten bzw. ihnen unterworfenen) kambodschanischen Wächter mit Maschinengewehren das Feuer«. Dies sind nur zwei Beispiele. Maßgebliche Journalistenzeugnisse berichten vom Eindruck, den man von dem Besuch des einen oder anderen solcher Orte gewann: »Es schien ein Schlachthof zu sein und roch auch so«.[971]

Soviel ist sicher: Die Wut der Truppen Lon Nols richtet sich nicht nur gegen die Vietnamesen: »Die gefangen genommenen Kommunisten wurden gewöhnlich umgebracht«; noch dazu lassen sich die Verantwortlichen für diese Morde gerne fotografieren, während sie stolz und lächelnd die abgeschlagenen Köpfe der Guerillakämpfer vorzeigen.[972] Es wäre übrigens falsch, die Grausamkeiten, die in Kambodscha und allgemeiner noch in Indochina begangen werden, ausschließlich den Asiaten zuzuschreiben. Zu denken gibt, was ein US-amerikanischer Dozent in einer Zeitschrift seines Landes über einen Agenten der CIA berichtet, der in Laos »in einem Haus« lebte, das »mit einem Kranz von Ohren geschmückt war, die von den Köpfen toter (indochinesischer) Kommunisten abgerissen worden sind«.[973]

Hier drängt sich eine weitere Frage auf: Gibt es einen Zusammen hang zwischen dem Ersten Akt der kambodschanischen Tragödie und den darauffolgenden? Bei dem Versuch, diesen Zusammenhang her unterzuspielen, ist das von mir benutzte Buch nicht frei von Widersprüchen und Schwankungen: »Es ist möglich, dass die Bombardements dazu beigetragen haben, ein Klima zu schaffen, das zum Extremismus führen würde. Doch der Bodenkrieg hätte das sowieso mit sich gebracht«. War der »Bodenkrieg« ein Verhängnis? »Die Gleichung ›kein Vietnamkrieg, keine Roten Khmer‹ ist zu simpel, spiegelt aber eine unleugbare Wahrheit wider«.[974] Der englische Schriftsteller-Journalist kann es nur schwer zugeben und dennoch entnimmt man seinen verlegenen Formulierungen, dass die Hauptverantwortlichen für die Tragödie in Washington zu suchen sind. Und aus seinem Bericht geht eine Wahrheit hervor, die im Vergleich zur heute beliebten Vulgata noch erschütternder ist. Denn so berichtet die Monographie über Kambodscha von der Eroberung Phnom Penhs durch die Guerillakämpfer: Nach allem, was geschehen war, »hätte es schlimmer, viel schlimmer ausgehen können«.[975] Zumindest was die allererste Phase der Machtausübung betrifft, wird hier Pol Pot eine Mäßigung bescheinigt, die man der Führungsgruppe Washingtons kaum zuerkennen könnte!

Die neue Regierung hatte es im Übrigen mit realen und dramatischen Schwierigkeiten zu tun: Würden die USA erneut zu terroristischen Bombardements übergehen? Und wie sollte, angesichts einer verwüsteten Landwirtschaft, weil die ländlichen Gebiete in eine »Mondlandschaft« verwandelt waren, eine maßlos angewachsene Stadtbevölkerung ernährt werden? Und wie sollte man der Bedrohung durch die CIA entgegentreten, die in den Städten »geheime Radiosender und illegale Spionagezellen eingerichtet hatte«?[976] Gewiss wurde die Entscheidung, die Städte zu evakuieren, auch vom extremistischen und visionären Populismus Pol Pots mitbestimmt, doch dieses Verhalten wird ebenfalls vom Anblick der unbeschreiblich überfüllten Städte angeregt, die der Drohung des Feindes und dem Chaos ausgesetzt waren, mit einer Bevölkerung, die größtenteils nicht die Möglichkeit hatte, eine produktive Tätigkeit auszuüben.

Zum Schluss: Warum sollte das moralische Urteil über Pol Pot strenger als über Nixon und Kissinger (die für den Krieg Verantwortlichen) ausfallen? Selbst der englische Schriftsteller, dem ich hier ständig folge, weist zum einen die Vorsätzlichkeit der Massaker zurück, auf die das Abenteuer Pol Pots hinauslief (»dies, war nie die politische Linie der KPK«, d. h. der Kommunistischen Partei Kambodschas; »das Ziel war nicht die Zerstörung, sondern die Umwandlung«), bemerkt aber zum anderen in Bezug auf die Grausamkeit des US-amerikanischen Krieges: »Die Bombardements waren zu einem Symbol der Männlichkeit geworden«.[977] Es ist hinzuzufügen, dass Pol Pot nach seiner Machtübernahme im Zuge des Konflikts mit Vietnam auf politischer und diplomatischer Ebene von den USA unterstützt wurde. Und dennoch übergeht die herrschende Ideologie stillschweigend die vorrangige und entscheidende Rolle Nixons und Kissingers in der kambodschanischen Tragödie. Das ist ja bekannt: Die Barbaren befinden sich immer außerhalb des Westens, und wenn man schon politische Führer kriminalisieren muss, dann sind es die für die Revolution, niemals die für den Krieg Verantwortlichen. Besonders widerwärtig ist diese Heuchelei, weil Pol Pot nicht mehr peinigt und tötet, während der Krieg der USA seine Wirkung weiterhin heftig verspüren lässt. »In ganz Indochina gibt es Menschen, die an Hunger, an Krankheiten und an nicht explodierten Geschossen sterben«.[978] Zumindest was Vietnam betrifft, sollte man sich die vor einiger Zeit von einer konservativen französischen Zeitung an gestellte Berechnung vor Augen halten, wonach es dreißig Jahre nach dem Ende der Feindseligkeiten noch »vier Millionen« Opfer gab, deren Körper vom »fürchterlichen agent orange« (mit Bezug auf die Farbe des Dioxins, das großzügig von den US-Flugzeugen über ein ganzes Volk ausgeschüttet wurde) verwüstet sind.[979] Und in Kambodscha? Lassen wir die den Körpern zugefügten Verwüstungen beiseite. Wie viele Kambodschaner leiden noch heute an den verheerenden und »irreversiblen« »psychologischen Schäden«, die die Bombardements hervorgerufen haben?[980] Eine Schlussfolgerung drängt sich auf: Sich ausschließlich auf Pol Pot zu konzentrieren, bedeutet, sich mit einer halben Wahrheit zu frieden zu geben, die am Ende zu einer totalen Lüge wird, weil sie die Hauptverantwortlichen für das Grauen mit Stillschweigen übergeht.

3. Sozialismus und Nazismus, Arier und Anglo-Kelten

Die heute herrschende Ideologie stellt die »Monster des Totalitarismus« auf die gleiche Ebene, geht aber noch weiter. Abgesehen von den einzelnen Persönlichkeiten, die ihn verkörpert haben, wäre der Kommunismus als solcher durch Wahlverwandtschaften und freundliche Beziehungen eng mit dem Nazismus verbunden. Besonders engagiert in dieser Richtung ist Conquest, der seine »Beweisführung« beginnt, indem er in Bezug auf Hitler behauptet: »Obwohl er den ›jüdischen‹ Kommunismus hasste, hasste er nicht die Kommunisten«.[981] Die Feindseligkeit zwischen den beiden politischen Bewegungen sei nur eine Täuschung. Was soll man zu diesem neuen Theorem sagen?

Gleich nach seiner Machtübernahme erklärt der Führer vor Befehlshabern der Reichswehr und der Reichsmarine, dass er in erster Linie das »Gift« des »Pazifismus, Marxismus, Bolschewismus« liquidieren wolle.[982] Ein paar Tage später stellt Göring noch deutlicher das Kampfprogramm der neuen Regierung gegen den Marxismus (und den Bolschewismus) klar: »Nicht nur ausrotten werden wir diese Pest, wir werden auch das Wort Marxismus aus jedem Buch herausreißen. In fünfzig Jahren darf ein Mensch in Deutschland überhaupt nicht mehr wissen, was das Wort bedeutet«.[983] Am Vorabend des Unternehmens Barbarossa notiert Goebbels in sein Tagebuch:

Der Bolschewismus ist gewesen. Damit erfüllen wir auch wieder unsere eigentliche große Aufgabe vor der Geschichte (…). Das bolschewistische Gift muß aus Europa heraus. Dagegen kann wohl auch Churchill oder Roosevelt nur wenig sagen. Evtl. treten wir auch an den deutschen Episkopat beiderlei Bekenntnisse heran, diesen Krieg als einen gottwohlgefälligen zu sehen (…). Wogegen wir unser ganzes Leben gekämpft haben, das vernichten wir nun auch. Ich sage das dem Führer und er stimmt mir vollkommen zu.[984]

Es handelt sich nicht bloß um Worte, wie die systematische Vernichtung der kommunistischen Kader beweist, die Hitler am Vorabend des Unternehmens Barbarossa entschieden hat. Mehr noch: »Ende 1941 hatten die Deutschen drei Millionen Sowjetrussen gefangen genommen. Im Februar 1942 waren zwei Millionen von diesen Gefangenen gestorben, vor allem an Hunger, an Krankheiten und infolge von Misshandlungen. Noch dazu haben die Deutschen die Gefangenen, die im Verdacht standen, Kommunisten zu sein, direkt erschossen«.[985] Schon in den allerersten Monaten des Unternehmens Barbarossa töten die Deutschen mehr als zwei Millionen Sowjetrussen bzw. führen deren Tod herbei und nehmen dabei vor allem die Kommunisten ins Visier. Und das ist noch nicht alles. Klemperer, der berühmte deutsche Intellektuelle jüdischer Herkunft, den wir schon kennen und der sich verstecken muss, um der »Endlösung« zu entgehen, schreibt eine Tagebuchnotiz, die zu denken gibt. Wir sind im August 1942, und die Firma Zeiss-Ikon beschäftigt polnische, französische, dänische, jüdische und russische Zwangsarbeiterinnen; besonders hart ist die Lage der Russinnen: »Sie hungern so, dass ihnen die jüdischen Kameraden zu Hilfe kommen. Das ist verboten; aber man läßt eine Schnitte unter den Tisch fallen, nach einer Weile bückt sich die Russin und verschwindet dann mit dem Brot aufs Klosett«.[986] Diesem Zeugnis zufolge war die Lage der russischen (oder sowjetischen) Sklavinnen manchmal sogar noch schlimmer als die der jüdischen.

Mit seinen kategorischen Behauptungen bleibt Conquest nicht auf halbem Wege stehen. Es geht darum, das Theorem der Wahlverwandtschaft zwischen Kommunismus und Nazismus weit über die Persönlichkeit Stalins und die Grenzen der Sowjetunion hinaus zu beweisen. Folglich: Die »lange und gegenseitige Feindschaft« zwischen den »totalitären Parteien« ist bloßer Schein. Die Wirklichkeit sei anders und entgegengesetzt: »Gramsci war zum Beispiel einer der engsten Mitstreiter Mussolinis«.[987] Und doch dürften alle wissen, dass der Kommunistenführer in den faschistischen Gefängnissen dahinsiechte, während sein Verfolger von wichtigen Vertretern der liberalen Welt mit Ehrerbietung behandelt wurde. Man denke besonders an Churchill, der 1933 mit Bezug auf den Duce erklärt: »Der von Mussolini verkörperte römische Genius, der größte heute lebende Gesetzgeber, hat vielen Nationen gezeigt, wie man dem drohenden Sozialismus entgegentreten kann; und er hat den Weg gezeigt, dem eine mutig geführte Nation folgen kann«.[988] Vier Jahre später – das faschistische Italien hat inzwischen mit barbarischen Methoden die Eroberung Äthiopiens zu Ende geführt und engagiert sich stark für den Sturz der spanischen Republik – bekräftigt der englische Staatsmann sein Urteil noch: »Es wäre eine gefährliche Torheit für das britische Volk, die dauerhafte Stellung, die Mussolini in der Weltgeschichte einnehmen wird oder die erstaunlichen Qualitäten wie Mut, Intelligenz, Selbstkontrolle und Beharrlichkeit, die er verkörpert, unterzubewerten«.[989]

Vor allem lohnt es sich, die Bilanz zu lesen, die Croce gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zieht. Gegenstand seiner Kritik ist »die nachgiebige Haltung der Konservativen Englands gegenüber den Führern Deutschlands, Italiens und Spaniens«.[990] Zumindest was den italienischen Faschismus betrifft, sei England sogar noch weiter gegangen: »Seine Politiker, und zwar einige der wichtigsten, huldigten und schmeichelten dem Faschismus und besuchten dessen Oberhaupt und manch einer schmückte sich sogar mit den faschistischen Abzeichen«.[991] Ja, Mussolini »wurde die Ehrerbietung der ganzen Welt und in erster Linie der englischen Politiker zuteil, und (…), was mir von Personen bestätigt wird, die in England leben, wird er immer noch von der englischen öffentlichen Meinung als großer Mann geschätzt«.[992] Die profaschistische Haltung des Westens wird sogar auf philosophischer Ebene besiegelt. Man denke an einen Autor wie Ludwig Mises, der heute noch als ein Hauptvertreter des Liberalismus betrachtet wird und 1927 dem Staatsstreich Mussolinis huldigt, der die kommunistische Gefahr abgewandt und die Zivilisation gerettet habe: »Das Verdienst, das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewig fortleben«.[993]

Auch Hitler wird im Jahre 1937 von Churchill mit schmeichelhaften Worten geschildert. Dieser schätzt an jenem nicht nur den »äußerst kompetenten« Politiker, sondern auch die »freundlichen Umgangsformen«, das »entwaffnende Lächeln« und die »subtile persönliche Anziehungskraft«, der man sich nur schwer entziehen könne.[994] Noch emphatischer ist der ehemalige Premierminister David Lloyd George, der vom Führer als von einem »großen Menschen« redet, während noch am Vorabend der Entfesselung des Krieges das in Mein Kampf angekündigte Programm der Unterwerfung und Versklavung der Slawen vom britischen Botschafter in Berlin für akzeptabel gehalten wird, unter der Bedingung, versteht sich, dass es sich nicht »gleichzeitig gegen das britische Empire richte«.[995] Unabhängig vom Urteil über Hitler müsse man jedenfalls, wie der US-amerikanische Botschafter in Paris 1938 geäußert hat, alles tun, um eine gemeinsame Front gegen den »asiatischen Despotismus« zu bilden, um die »europäische Zivilisation« zu retten (vgl. oben, Kap. 5, § 3). In den Gefängnisheften schreibt Gramsci indes 1935: »Nach den Manifestationen der Brutalität und Schändlichkeit der vom ›Hitlerismus‹ beherrschten deutschen ›Kultur‹«, sei es an der Zeit, dass alle davon Kenntnis nähmen, wie »fragil die moderne Kultur« ist.[996]

Wenn Conquest schließlich seinen Kreuzzug zu Ende führt, der nicht nur den Kommunismus, sondern auch die in gewisser Weise vom Sozialismus beeinflussten Strömungen ins Visier nimmt, urteilt er kategorisch: »Die Eugenik war mit allen ihren rassistischen Implikationen auch bei den Fabiern Mode«.[997] Jetzt ist die tour de force zu ihrem Abschluss gekommen, und es genügt eine vage reformistische Anwandlung hinsichtlich der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft, um als Gleichgesinnte bzw. Zwillinge Hitlers abgestempelt zu werden. Wenn man so argumentiert, darf man sich natürlich nicht von der empirischen historischen Forschung behindern lassen; schon der Terminus Eugenik entsteht noch vor der eigentlichen ›Wissenschaft‹ im liberalen England und erlebt sogleich großen Erfolg in den Vereinigten Saaten. Auf die nordamerikanische Republik berufen sich ausdrücklich die österreichischen und deutschen Autoren, die schon vor Hitler die »Rassenhygiene« empfehlen: Wie jenseits des Atlantiks, gehe es auch in Österreich und Deutschland darum, Normen einzuführen, die sexuelle und eheliche Beziehungen zwischen verschiedenen und nicht gleichwertigen Rassen verbieten. Nicht umsonst ist das Schlüsselwort des eugenischen und rassischen Programms des Dritten Reichs ›Untermensch‹ bloß die Übersetzung des US-amerikanischen Under Man, des Neologismus, den Lothrop Stoddard geprägt hat, der sowohl in den USA als auch in Deutschland gefeierte Autor, dessen Ruhm von der Hommage zweier US-Präsidenten (Harding und Hoover) und auch des Führers des Dritten Reichs, der ihn persönlich mit allen Ehren empfängt, besiegelt wird.[998] Es lohnt sich, darauf hinzuweisen, dass diese Denkrichtung, die die weiße und nordische Vorherrschaft verherrlicht und auch auf eugenischer Ebene verteidigt, gerade von Antonio Gramsci kritisiert wird, von jenem kommunistischen Führer und Theoretiker, der von Conquest besonders attackiert wird.[999]

Diesem Autor, der die fixe Idee hat, an den entferntesten und unvermutetsten Orten Bewegungen und Persönlichkeiten zu entdecken, die ideologische Verwandtschaften mit dem Nazismus aufweisen, möchte ich einen Rat geben: Er könnte versuchen, seine Bücher der gleichen Behandlung zu unterziehen, die er den auch nur vage sozialistisch orientierten Schriften vorbehalten hat. Die in einem der letzten Bücher Conquests formulierte These gibt zu denken: Die echte Kultur finde ihren vollendetsten Ausdruck in der »Englisch sprechenden Gemeinschaft«, und das Primat dieser Gemeinschaft habe seine präzise ethnische Grundlage in den »Anglo-Kelten« (Anglo-Celtic culture).[1000] Die hier skizzierte anglo-keltische beschwört die arische Mythologie unglückseligen Angedenkens herauf. Nur eine Klarstellung ist vonnöten. Die arische Mythologie, die einer langen Tradition teuer ist, die sich beiderseits des Atlantiks entwickelt hat und später in den Nazismus mündete, tendierte dazu, sich mit der weißen Mythologie zu identifizieren; jeden falls ehrte sie die nordischen Völker und alle Völker, die vom germanischen Boden ausgegangen waren, Engländer und US-Amerikaner also inbegriffen. Die anglo-keltische Gemeinschaft wird indes nicht nur im Gegensatz zu den dem Westen völlig fremden Barbaren, sondern auch im Gegensatz zu Kontinentaleuropa definiert. Der Klub der wirklich zivilen Völker, den Conquest so schätzt, ist zweifellos exklusiver.

4. Das antikommunistische Nürnberg und die Verneinung des Prinzips des tu quoque

Die Tendenz ist nunmehr klar. Im Lager der Sieger haben sich nicht wenige Stimmen erhoben, die eine Art antikommunistisches Nürnberg empfehlen bzw. fordern; dies ist die Orientierung, die die herrschende Ideologie und Historiographie inspiriert. Bekanntlich wurde im Nürnberger Prozess den Angeklagten die Möglichkeit verweigert, vom Prinzip des tu quoque Gebrauch zu machen, d. h. von den ihnen vorgeworfenen Verbrechen auszugehen, um auf ähnliche Verbrechen aufmerksam zu machen, die von ihren Anklägern begangen worden sind. Genauso lief der Tokioter Prozess ab. Gewiss, das ist die Justiz des Siegers. Nach Abschluss eines gigantischen Konflikts, der sich auch als ein internationaler Bürgerkrieg und weltweiter Zusammen stoß zwischen Revolution und Konterrevolution abgespielt hatte (man denke an die Nazi-Theorie vom Recht der Herrenrasse, die ›niederen Rassen‹ zu versklaven, ein wesentlicher und erschreckender Rück schritt im Vergleich zum Prozess der Abschaffung der kolonialen Sklaverei), treten in verschiedenen Ländern (man denke an Italien) revolutionäre Tribunale auf, die im Fall Deutschlands und Japans (wo die innere Front bis zum Schluss gehalten hat) von oben und von außen aufgezwungen werden. Die heutigen historiographischen Prozesse des antikommunistischen Nürnberg sind die Farce-Replik einer großen Tragödie. Es ist klar, dass ein historisches Urteil ohne die Rekonstruktion des damaligen Klimas undenkbar ist: Komparatistik und Rekurs auf das Prinzip tu quoque sind absolut unausweichlich. Mit Hilfe dieser Kriterien möchte ich die übliche Kriminalisierung der mit der Oktoberrevolution und besonders mit Stalin begonnenen Ereignisse untersuchen.

Über dessen terroristische Machtausübung gibt es keine Zweifel. Führen wir aber das Prinzip des tu quoque ein: Wir sprachen schon von den mehreren hunderttausend Opfern, die die US-amerikanischen Bombardements in Kambodscha gefordert haben. Hier möchte ich die Aufmerksamkeit vor allem auf einen besonderen Aspekt lenken:

Die Bauern wurden von einem blinden Terror gepackt. »Ihr Verstand blockierte sich und sie streunten stumm umher und sprachen drei oder vier Tage lang nicht«, erinnert sich ein junger Dorfbewohner. »Ihr Gehirn war vollkommen desorientiert (…) es gelang ihnen noch nicht einmal ein Essen herunterzuschlucken«.

Und vielen »vom Terror halb verrückt gewordenen Menschen« gelang es nie wieder, sich zu erholen.[1001]

Nicht immer wird der Terror ›aseptisch‹ durch Bombardements aus der Luft ausgeübt. Was die USA betrifft, so sind, während das 20. Jahrhundert beginnt, noch die Guerillakämpfe auf den Philippinen im Gang, die – berichtet ein US-amerikanischer Historiker – mit dem »Massaker ganzer Dörfer« und mit der Hinrichtung aller über 10 Jahre alten Knaben und Männer niedergeschlagen werden.[1002]

Bei anderer Gelegenheit wird der Terror durch Übertragung der schmutzigsten Arbeit an Dritte ausgeübt, denen allerdings Beistand geleistet wird. Sehen wir uns an, wie sich die USA ihrer politischen Gegner in Indonesien entledigten: Hunderttausende Kommunisten werden im Gefolge des Staatsstreichs von 1965 ermordet, der von Washington organisiert und unterstützt wurde. Systematisch werden Terror und so gar Sadismus angewandt:

Die Massentötungen hatten im Oktober 1965 begonnen (…). Die Militärs hatten Listen von ›Kommunisten‹ erstellt und an rechtsgerichtete muslimische Gruppen verteilt, die mit parangs bewaffnet waren und auf Last wagen in die Dörfer gebracht wurden, wo sie die Bewohner töteten und verstümmelten. Die Schulkinder wurden aufgefordert die ›Kommunisten‹ aufzuzeigen, von denen viele an Ort und Stelle mit der ganzen Familie getötet wurden. Viele Leute wurden nach persönlichen Streitereien an gezeigt und »es genügte ein Wort oder mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, damit sie fortgebracht und erschossen wurden«. So hoch war die Zahl der Opfer, dass sanitäre Probleme im Osten Javas und im Norden Sumatras auftauchten, wo die verwesenden Körper die Luft verpesteten und die Flussschifffahrt behinderten (…). 1968 hatten die Massenexekutionen wieder begonnen, und bei einer einzigen Gelegenheit hätten das Heer und die Zivilgarde im Zentrum Javas »3.500 angebliche Anhänger der PKI mit Eisenstangenschlägen auf den Nacken« getötet (…). Amnesty International zufolge »konnten noch nicht einmal dreizehnjährige Mädchen, Alte, schwache und kranke Personen der Folter entrinnen, die nicht nur bei den Verhören, sondern auch als Strafe oder aus reinem Sadismus angewandt wurde.[1003]

Handelt es sich um einen Terror, den die Länder des liberalen Westens nur außerhalb ihrer nationalen Grenzen ausüben? Dem ist nicht so; man denke nur an die Gewalt, die noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gegen die Schwarzen wütete und die oft als pädagogisches Massenschauspiel inszeniert wurde:

Nachrichten über geplante Lynchmorde wurden in den Lokalblättern veröffentlicht, und den Zügen wurden zusätzliche Waggons für die Zuschauer, manchmal Tausende, angehängt, die aus kilometerweit entfernten Orten kamen. Um dem Lynchmord beizuwohnen, konnten die Schulkinder einen freien Tag bekommen. Das Schauspiel konnte die Kastration, das Häuten, die Röstung, das Erhängen, das Erschießen umfassen. Zu den käuflichen Souvenirs konnten Finger und Zehen, Zähne, Knochen und sogar die Genitalien des Opfers sowie Ansichtskarten des Ereignisses gehören.[1004]

Im Übrigen geht in Kanada »die Endlösung unserer Indianerfrage« auch noch nach der Erlangung der Unabhängigkeit weiter.

Doch konzentrieren wir uns auf die 1930er Jahre, die Jahre, in denen sich in der UdSSR der Stalinsche Terror ausbreitet. In den USA sagen schon die Schlagzeilen und Berichte der Lokalzeitungen an und für sich genug. »Große Vorbereitungen für das Lynchen heute abend«. Kein Detail darf vernachlässigt werden: »Man fürchtet, dass auf den Neger gerichtete Schüsse das Ziel verfehlen und unschuldige Zuschauer treffen könnten, zu denen auch Frauen mit ihren Kindern im Arm gehören«; doch wenn sich alle an die Regeln halten, »wird niemand enttäuscht bleiben«. Weitere Titel: »Die Lynchjustiz, praktisch wie in der Werbeanzeige angekündigt (advertised), ausgeführt«; »die Menge applaudiert und lacht über den fürchterlichen Tod eines Negers«; »Herz und Genitalien vom Leichnam eines Negers abgetrennt«.[1005] Es ist gerechtfertigt von Terror zu sprechen, und nicht nur in Anbetracht der Wirkungen, die das Schauspiel einer so grausamen Gewalt und so freudig in einer Art Werbe-Spot angekündigt auf die schwarze Gemeinschaft ausübte. Mehr noch. Lynchmord erlitten nicht nur die der ›Vergewaltigung‹ schuldig befundenen, wobei es sich meistens um konsensuale sexuelle Beziehungen zu einer weißen Frau handelte. Es reichte viel weniger, um zum Tode verurteilt zu werden. Die Zeitung ›Atlanta Constitution‹ vom 11. Juli 1934 berichtete von der erfolgten Exekution eines fünfundzwanzigjährigen Schwarzen, »der beschuldigt wurde, einen ›unanständigen und beleidigenden Brief‹ an ein junges weißes Mädchen von Hinds County geschrieben zu haben«; in diesem Fall hatte sich eine »Menge bewaffneter Bürger« damit begnügt, den Körper des Unglücklichen mit Kugeln zu spicken.[1006] Die mehr oder weniger sadistische Ermordung drohte außerdem nicht nur ›Schuldigen‹, sondern auch Verdächtigten. Blättern wir weiter die damaligen Zeitungen durch und lesen die Schlagzeilen: »Vom Schwurgericht freigesprochen, danach gelyncht«; »Verdächtiger an einer Eiche auf dem öffentlichen Platz in Bastrop aufgehängt«; »Der falsche Mann gelyncht«.[1007] Die Gewalt beschränkt sich schließlich nicht darauf, den Verantwortlichen oder Verdächtigen zu strafen: es kommt vor, dass vor seinem Lynchen seine Hütte, in der er mit seiner Familie wohnt, angezündet und voll kommen niedergebrannt wird.[1008]

Abgesehen von den Schwarzen trifft der Terror auch jene Weißen, die mit diesen übermäßig vertraut sind und damit zu Verrätern ihrer Rasse werden. Dies resultiert schon aus dem Titel eines Artikels in der ›Galveston (Texas) Tribune‹ vom 21. Juni 1934: »Ein weißes Mädchen sitzt im Gefängnis, ihr Negerfreund wird gelyncht«. Tatsache ist – kommentiert ein paar Tage später ein Leitartikel der Zeitung ›Chicago Defender‹ –, dass »im Staat Texas eine weiße Frau sich anstandsloser mit einem Hund paaren kann als mit einem Neger«.[1009] Und wenn sie das nicht berücksichtigt, straft sie das terroristische Regime der white supremacy zweifach: es beraubt sie ihrer persönlichen Freiheit und trifft sie schwer in ihren Gefühlen. Der Terror trifft also auch (schwarze und weiße) Bürger, die keiner politischen Tätigkeit nachgehen, aber für schuldig befunden werden, ein Privatleben zu führen, das nicht den Normen der Gesellschaft gehorcht.

Der ›Verrat‹ an der weißen Rasse kann noch schwerere Formen an nehmen. Als »Neger-Liebhaber« (nigger lovers) werden die Kommunisten apostrophiert, die eine Kampagne gegen die Praxis des Lynchens organisieren und deshalb ebenfalls vom Terror des Regimes der white supremacy heimgesucht werden. Sie sind gezwungen, »die Eventualität des Gefängnisses, der Prügel, des Menschenraubs und sogar des Todes in Kauf zu nehmen«.[1010] Und wiederum sind die damaligen Zeitungsberichte erhellend: »›Die Angst vor dem Kommunismus‹ als Beweggrund für die Lynchjustiz angegeben«.[1011]

Kehren wir in die UdSSR Stalins zurück. Zweifellos hat das Kon zentrationslager-Universum, das gleich nach der Oktoberrevolution Form anzunehmen begonnen hatte, vor allem mit der Kollektivierung der Landwirtschaft eine furchterregende Ausdehnung erlebt. Machen wir jedoch auch in diesem Fall das Prinzip tu quoque geltend. Übergehen wir das uns schon bekannte Konzentrationslager-Universum, das in den Südstaaten der USA Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts waltete, und betrachten wir, was um die Mitte des letzten Jahrhunderts geschah. Zwischen 1952 und 1959 brach in Kenia der Aufstand der Mau Mau aus. Folgendermaßen hielt London die Ordnung in seiner Kolonie aufrecht: Im Konzentrationslager Kamiti wurden die Frauen

verhört, geschlagen, dem Hunger ausgesetzt (starved), harter Arbeit unterworfen, die auch darin bestand, Massengräber mit den Leichnamen aus anderen Konzentrationslagern zu füllen. Mehrere brachten Kinder auf die Welt in Kamiti, doch die Sterblichkeitsrate unter den Neugeborenen war überwältigend. Die Frauen begruben ihre Kinder jeweils sechs auf ein mal.[1012]

Auch was besonders hemmungslose Völkermord-Praktiken betrifft, lässt die Anklage das Prinzip tu quoque nicht walten. Ich weiß nicht, ob man das (von der CIA organisierte bzw. geförderte) Massaker an den Kommunisten in Indonesien als »den zweitgrößten Holocaust des 20. Jahrhunderts« bezeichnen kann. Auf jeden Fall hat es sich um ein Massaker gehandelt, das ohne die industrielle Effizienz des Nazis und daher mit einem Überschuss an Sadismus ausgeführt wurde. Es sollte jedoch allen bekannt sein, dass noch nach dem Ende des Dritten Reichs das Eingreifen des liberalen Westens in den Kolonien oder Halbkolonien nicht nur zur Errichtung schrecklicher Diktaturen, sondern auch zur Beihilfe zu »Genozidhandlungen« geführt hat: Dies unterstreicht in Guatemala die »Wahrheitskommission«, die auf das Schicksal der Maya-Indianer Bezug nimmt, die beschuldigt wurden, mit den Gegnern des Washington-freundlichen Regimes sympathisiert zu haben.[1013]

Zum Schluss. Für die thermidorianische Bourgeoisie waren die Jakobiner »fürchterliche Kannibalen«; später wird jedoch die Pariser Kommune die »kannibalischen Taten der Versailler Banditen« an prangern, die gerade die Nachfahren jener Bourgeoisie sind.[1014] Während der Bürgerkrieg wütet, rufen im 20. Jahrhundert die Bolschewiki zum Kampf gegen den »bürgerlichen Kannibalismus« auf;[1015] später wird bekanntlich Stalin den antisemitischen Rassismus als Ausdruck von »Kannibalismus« verurteilen. Doch heutzutage nimmt man die Tragödie und das Grauen der Insel Nazino, wo es zu Fällen von Kannibalismus im Wortsinn gekommen war, zum Anlass, um die mit der Oktoberrevolution begonnene Entwicklung auf bloße Barbarei zu reduzieren und den »roten Kannibalismus« zu verurteilen.[1016]

Um bei der Wahrheit zu bleiben, war es schon früher zu Episoden von Kannibalismus gekommen: Im Jahr 1921 war die Hungersnot in Sowjetrussland so furchtbar, »dass sie zu Fällen von Anthropophagie führte«.[1017] Ein Jahr später bemerkt der liberale italienische Philosoph Guido De Ruggiero:

Die Blockade der Entente, die den Bolschewismus vernichten wollte, tötete indes russische Männer, Frauen und Kinder; konnten die hungernden Armen wohl in gewählten demokratischen Redewendungen mit den sie aushungernden Vertretern der Entente plaudern? Wie es natürlich ist, haben sie sich um ihre Regierung geschart, haben in deren Feinden ihre eigenen Feinde erblickt.[1018]

Wie man sieht, ruft der liberale Philosoph die Entente und nicht die Sowjetmacht auf den Plan. Auch die »bezeugten Fälle von Anthropophagie« in bestimmten Gebieten Chinas im Jahre 1928[1019] können nur schwerlich den Kommunisten zur Last gelegt werden, die mehr als zwanzig Jahre später an die Macht kommen; sie rufen höchstens den Westen auf den Plan, der vom Opiumkrieg an das große asiatische Land in den Abgrund gestürzt hatte. Doch kehren wir zu den 1930er Jahren zurück und gehen von der Sowjetunion Stalins zu den Ver einigten Staaten Franklin D. Roosevelts über. So grausam geht etwa in Alabama eine Menge von Gewalttätern gegen einen Schwarzen vor:

Als Erstes schnitten sie seinen Penis ab und zwangen ihn, diesen zu essen. Dann schnitten sie seine Hoden ab und zwangen ihn, diese zu essen und zu sagen, dass es ihm schmeckte.

Daraufhin schnitten sie mit Messern seine Hüften und den Magen in Scheiben und jeder, einer nach dem anderen, konnte einen Finger oder eine Zehe abschneiden. Glühende Eisenstangen wurden benutzt, um den Neger von oben bis unten zu verbrennen. Während der Tortur wurde immer wieder ein Strick um den Hals von Neal gelegt, und er wurde von einem Podium heruntergeschubst, bis er fast erdrosselt war; aber dann begann die Tortur stets von Neuem. Nach mehreren Stunden dieser Bestrafung, entschieden sie sich, ihn zu töten.

Der Leichnam Neals wurde mit einem Strick an ein Autoheck gebunden und bis zum Haus Cannidys geschleift. Die Ankunft wurde von einer Menge von 3.000 bis 7.000 Personen, die aus verschiedenen Südstaaten angereist waren, erregt erwartet.

Noch lange vergnügt man sich mit dem Leichnam, und zum Schluss werden Fotos für »fünfzig cent« verkauft77; aber hier hören wir auf. Tatsache bleibt, dass uns die Anwendung des Prinzips des tu quoque dazu geführt hat, in den USA F. D. Roosevelts einen Fall von Anthropophagie zu finden, der nicht von allgemeiner Not, von Desorganisation oder von Hunger ausgelöst wurde, sondern von erzwungenem Selbst-Kannibalismus, organisiert als Massenschauspiel in einer Gesellschaft, die im Übrigen im Wohlstand lebte.

Die übliche Gegenüberstellung von kommunistischer Bewegung und liberalem Westen abstrahiert hinsichtlich des Westens von dem Schicksal, das den Kolonialvölkern und den Völkern kolonialen Ursprungs vorbehalten war und von den Maßnahmen, die in mehr oder weniger akuten Krisensituationen getroffen wurden. Der Manichäismus ist das Ergebnis des Vergleichs zwischen zwei heterogenen Größen: Eine ausschließlich in ihrem heiligen Raum und in ihren normalen Zeiten analysierte Welt wird triumphalistisch einer Welt gegenübergestellt, die, während sie die Barriere zwischen heiligem und profanem Raum, zwischen Zivilisierten und Barbaren in Frage stellt, gezwungen ist, sich mit einem langwährenden Ausnahmezustand und der unerschütterlichen Feindseligkeit der Wächter des exklusiven heiligen Raums zu messen.

5. Dämonisierung und Hagiographie: Das Beispiel des »größten lebenden modernen Historikers«

Conquest zufolge beginnt die Katastrophe des 20. Jahrhunderts in Wirklichkeit mit dem Einbruch des Manifests der Kommunistischen Partei in die »bürgerliche und demokratische Ordnung« des Westens: Die von Marx und Engels dargelegten Ideen »haben in der ganzen Welt für gut fünf Generationen beträchtliche Probleme verursacht«.[1020] Wie war also die Lage in der Welt im Jahre 1848, dem Erscheinungsjahr des fatalen Manifests? Beginnen wir bei Großbritannien, das für Conquest eines der beiden Zentren der exklusiven und höheren »anglo-keltischen« Gemeinschaft und damit der echten Zivilisation ist. Nun gut, Mitte des 19. Jahrhunderts sind in den Augen Tocquevilles das Industriegebiet von Manchester und die Arbeiterviertel ein »verpestetes Labyrinth«, eine »Hölle«: Die ärmlichen Hütten sind wie »das letzte Obdach, das ein Mensch zwischen Armut und Tod finden kann«. Und dennoch: »Die unglücklichen Wesen, die diese Höhlen bewohnen, werden von einigen Ihresgleichen beneidet«. Gehen wir nun zu den Arbeitshäusern über und erteilen stets dem französischen Liberalen das Wort: Das Schauspiel, das sie bieten, sei »das abscheulichste und abstoßendste der Armut«; auf der einen Seite die zur Arbeit untauglichen Kranken, die auf den Tod warten, auf der anderen Seite sind Frauen und Kinder kunterbunt angehäuft »wie Schweine im Schlamm des Schweinestalls; man hat Mühe, nicht auf einen halbnackten Körper zu treten«.

In Frankreich finden sich die Volksklassen nicht mit dieser Lage ab. Und hier sehen wir, wie Tocqueville dazu aufruft, der Revolte vom Juni 1848 entgegenzutreten: Jeder, der in »Verteidigungshaltung« an getroffen wird, müsse standrechtlich erschossen werden. Ansonsten dürfe man sich nicht mit »Palliativen« zufriedengeben: Um nicht nur den Berg jakobinischer Inspiration, sondern auch »alle umherliegenden Hügel« aus dem Weg zu räumen, müsse man ein für alle Mal alle subversiven Zentren vernichten; man dürfe auch nicht vor »einem heroischen (…) Mittel zurückschrecken«.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts ist Großbritannien auch Irland einverleibt, wo ein »Eichmann-Vorläufer« Hunderttausende zum Hungertod verurteilt hat, wie wir wissen. In den anderen Kolonien des Ver einigten Königreichs ist die Lage nicht besser. Im Jahre 1835 berichtete der Vizekönig nach London über die Folgen der Zerstörung des lokalen Textilhandwerks, das von der englischen Großindustrie hinweggefegt worden ist: »Das Elend findet kaum eine Parallele in der Geschichte des Handels. Die Knochen der Baumwollweber bleichen die Ebenen Indiens«. Und die Tragödie ist noch nicht zu Ende. Zwei Jahre später kam es in bestimmten Regionen zu einer so fürchterlichen Hungersnot, dass – konstatiert treuherzig eine andere britische Quelle, die voll darum bemüht ist, das Empire zu glorifizieren – »die armen englischen Beamten ihre übliche allabendliche Lustfahrt hätten einstellen müssen wegen des fürchterlichen Gestanks der Leichen, die zu zahlreich waren, um bestattet zu werden«. Es schien auch keine besseren Aussichten für die allabendlichen Lustfahrten zu geben: »Cholera und Pocken, die später auftraten, haben eine Unzahl Menschen dahingerafft, die die Hungersnot überlebt hatten«.[1021] Das Massensterben ist nicht nur das Ergebnis »objektiver« ökonomischer Prozesse: In Neuseeland – schreibt die ›Times‹ 1864 – seien die Siedler mit der Unterstützung der Regierung in London dabei, die »Ausrottung der Eingeborenen« zu Ende zu bringen.

Und was geschieht im anderen Zentrum der »anglo-keltischen« Gemeinschaft und der echten Zivilisation? Als in Europa das Manifest der Kommunistischen Partei wie ein Verhängnis hereinbricht, ist in den Ver einigten Staaten die Sklaverei in voller Blüte. Diese führten sie in Texas, das sie Mexiko mit Waffengewalt entrissen hatten, wieder ein und hatten noch zuvor mit Jefferson erklärt, das Volk von San Domingo-Haitians »Hungertuch« bringen zu wollen, weil es die Ketten der Sklaverei gesprengt hatte. Zur Tragödie der Schwarzen gesellt sich in den USA die der Indianer. Was Letztere betrifft, deuten wir hier nur auf ein Kapitel hin, das ein US-amerikanischer Historiker so zusammengefasst hat: »Die Degradierung und Vernichtung der Indianer Kaliforniens stellen eine der übelsten Seiten der amerikanischen Geschichte dar, eine unauslöschliche Schande für die Ehre und die Intelligenz der Vereinigten Staaten. Es hat sich nicht um einen Krieg, sondern um eine Art Volkssport gehandelt«.

Bei der Behandlung der Kolonialvölker bzw. der Völker kolonialen Ursprungs wird die Brutalität der westlichen »bürgerlichen und demokratischen Ordnung« nicht nur angewandt, sondern auch ausdrücklich von Autoren theoretisch gerechtfertigt, die doch problemlos in das liberale Pantheon aufgenommen worden sind. Tocqueville fordert seine Landsleute auf, sich nicht von letzten moralischen Skrupeln behindern zu lassen, sondern vielmehr von der Realität Kenntnis zu nehmen: Zur Vervollständigung der Eroberung Algeriens, auf die man auf keinen Fall verzichten dürfe, sei es unvermeidlich, »dass man die Ernten verbrennt, die Speicher leert und sich schließlich unbewaffneter Männer, Frauen und Kinder bemächtigt«. Man müsse sogar noch weiter gehen, wie aus einer fürchterlichen Parole hervorgeht: »Alles zerstören, was einer permanenten Ansammlung von Bevölkerung oder, in anderen Worten, einer Stadt ähnelt (…). In den von Abd el-Kader (dem Führer des Widerstands) beherrschten Regionen keine einzige Stadt bestehen oder entstehen lassen«.[1022]

Das rosarote Bild, das Conquest von der Welt vor dem Erscheinen des Manifests der Kommunistischen Partei zeichnet, kann dem ähnlich kitschigen Bild an die Seite gestellt werden, das am Anfang des 19. Jahrhunderts ein Kritiker des Abolitionismus von der Sklavengesellschaft liefert:

Vor den Widerwärtigkeiten des Lebens geschützt, von Bequemlichkeiten umgeben, die den meisten Ländern Europas unbekannt sind, des Genusses ihres Eigentums sicher (denn sie hatten ein Eigentum und das war heilig), im Krankheitsfall mit Aufmerksamkeiten und Ausgaben bedacht, die Ihr umsonst in den so gerühmten Krankenhäusern Englands suchen würdet, beschützt und in der Gebrechlichkeit des Alters geachtet, im Frieden mit ihren Kindern und ihren Familien (…), in die Freiheit entlassen, wenn sie wichtige Dienste geleistet hatten: Dies ist das authentische und nicht beschönigte Bild der Verwaltung unserer Neger (…). Das aufrichtigste Gefühl verband den Herrn mit dem Sklaven; wir schliefen sicher inmitten dieser Menschen, die unsere Kinder geworden sind, und viele von uns hatten weder Schlösser noch Absperrungen an den Türen.[1023]

Und doch wird Conquest, der »Veteran des Kalten Krieges«, allerdings von einem weiteren Hof-Historiker, als der »größte lebende moderne Historiker« gefeiert.[1024] So viel ist klar: Die reductio ad Hitlerum des mit der Oktoberrevolution begonnenen Geschehens und vor allem der Persönlichkeit, die länger als alle anderen die Sowjetunion angeführt hat, ist nur die Kehrseite der Medaille der abgeschmackten Hagiographie der Welt vor 1917 und sogar vor der Veröffentlichung des Manifests der Kommunistischen Partei.

6. Abolitionistische Revolutionen und Dämonisierung der »Weißenfresser« und der Barbaren

Zur Erklärung der Logik, die diesen ideologischen Prozessen zugrunde liegt, kann noch einmal die Komparatistik hilfreich sein. Drei große revolutionäre Bewegungen sind es, die auf verschiedene Weise die Sklaverei bzw. die Halbsklaverei der Kolonialvölker und das rassistische Regime der weißen Vorherrschaft radikal infrage gestellt haben. In erster Linie müssen wir an die große Revolution der schwarzen Sklaven denken, die in San Domingo auf der Woge der französischen Revolution ausbricht: Von Toussaint Louverture, dem »schwarzen Jakobiner« geleitet, führt sie zur Proklamation der Unabhängigkeit San Domingo Haitis, des ersten Landes auf dem amerikanischen Kontinent, das die Sklaverei abschüttelt. Die zweite große revolutionäre Bewegung ist die, die in den USA, von der abolitionistischen Agitation und vom Sezessionskrieg ausgehend, eine kurze Zeit lang (die Jahre der Reconstruction) zur Errichtung einer multirassischen Gesellschaft führt, in der die inzwischen befreiten Schwarzen den vollen Besitz nicht nur der bürgerlichen, sondern auch der politischen Rechte genießen. Schließlich müssen wir an die Oktoberrevolution erinnern, die die Sklaven in den Kolonien auffordert, ihre Ketten zu sprengen, und alle bislang als »niedrig« ein gestuften Rassen energisch zum Kampf für die Entkolonisierung und die Emanzipation aufruft.

Diese drei großen Bewegungen haben eine oberflächliche Liquidierung bzw. eine Ausgrenzung in das Dunkle oder Halbdunkle der Geschichte erfahren und erfahren sie z. T. noch heute. Nehmen wir die von Toussaint Louverture geleitete Revolution. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden diejenigen, die sie voller Sympathie betrachteten, als »Weißenfresser und Mörder« hingestellt.[1025] In Bezug auf San Domingo beschränkt Tocqueville sich dar auf, auf die »blutige Katastrophe« hinzuweisen, »die seiner Existenz ein Ende bereitet hat«. Paradoxerweise hört die Insel genau dann zu existieren auf, als sie zum ersten Mal auf dem amerikanischen Kontinent die Sklaverei abgeschafft hat! Aber um das damalige Klima zu beschreiben, sollte man vielleicht vor allem eine berühmte Novelle von Heinrich von Kleist, (Die Verlobung in St. Domingo) zitieren, die am Anfang des 19. Jahrhunderts spielt, »als die Schwarzen die Weißen ermordeten« und es sogar zum »Gemetzel an den Weißen« unter dem Vorzeichen eines »allgemeinen Taumels der Rache« kam. Diese Kriminalisierung einer großen Revolution hat noch lange Zeit unangefochten vorgeherrscht. Man findet sie am Anfang des 20. Jahrhunderts bei Lothrop Stoddard wieder: Mit der Revolution der schwarzen Sklaven von San Domingo verurteilt der Theoretiker der white supremacy auch die zweite und dritte Etappe des antirassistischen und gegen die Sklaverei gerichteten Kampfes und konsequent verurteilt er als Verräter der weißen Rasse sowohl die französischen Jakobiner als auch die US-amerikanischen Verfechter des radikalen Abolutionismus und der rassischen Gleichheit und die Bolschewiki.

Was die so genannte Reconstruction betrifft, sollte man die Warnung eines bedeutenden US-amerikanischen Historikers zur Kenntnis nehmen: »Trotz seiner militärischen Niederlage ist der Süden lange Zeit Sieger im ideologischen Bürgerkrieg geblieben«.[1026] Es könnte so aus sehen, als müsste es zumindest in diesem Fall keine Zweifel geben: Mit Jahrhunderten wirklicher Sklaverei im Hintergrund, ist die Reconstruction dann gezwungen, einem Terrorregime zu weichen, das so furchtbar ist, dass es als die tragischste Zeit in der Geschichte der Afroamerikaner bezeichnet werden kann. Und doch können wir sehen, wie Wilson diese historische Periode synthetisch zusammenfasst: »Die Haussklaven wurden fast immer nachsichtig und sogar liebevoll von ihren Herren behandelt«. Auf der Welle der Emanzipation entsteht dann die Reconstruction, mit der sich im Süden Mehrheiten bilden, die sich auf die Schwarzen stützen: Ein »außergewöhnlicher Karneval öffentlichen Verbrechens«, dem zum Glück »der natürliche und unvermeidliche Aufstieg der Weißen« ein Ende bereitet.[1027] Eine Persönlichkeit, die in das Pantheon der USA und des Westens Eingang gefunden hat, findet nicht die Zeit grauenhaft, in der der Sklavenhalter die absolute Macht über sein Menschen-Vieh ausübte, und auch nicht die Zeit, in der das Regime der weißen Vorherrschaft das Lynchen und das langsame Martyrium der ehemaligen Sklaven als Massenschauspiel organisierte; nein, synonym mit »öffentlichem Verbrechen« ist die kurze Periode gleich nach dem Sezessionskrieg, in der man sich trotz allem darum bemüht, die Menschenrechte der Afroamerikaner ernst zu nehmen.

Über lange Zeit hinweg ist die black Reconstruction bzw. die radical Reconstruction als gleichbedeutend mit »Totalitarismus« oder als ein dem »Faschismus und Nazismus« vorausgehendes Phänomen hingestellt worden: Sie hatte sich nach dem Ende eines Krieges durchgesetzt, der dem »totalen Krieg der Nazis« ziemlich ähnelte, und den Anspruch er hoben, mit Gewalt das Prinzip der Gleichheit und der Rassenmischung zu realisieren, wobei sie den Willen der Mehrheit der (weißen) Bevölkerung unbeachtet ließ und sich an wilde Bevölkerungen wandte, was zur Folge hatte, dass »dank der Körperkraft die Zivilisation von der Barbarei überwältigt wurde«. Zum Glück gab es den Ku Klux Klan, der gegen dieses Grauen protestierte und es in Grenzen hielt, diese Ritter ohne Furcht und Tadel, eine Organisation, in der weiterhin die »ritterliche Ordnung« herrschte, die über lange Zeit den Süden der USA aus gezeichnet hatte! Dies sind die Leitgedanken einer Historiographie, die ihren Einfluss noch weit über den Zusammenbruch des Dritten Reichs hinaus verspüren lässt.[1028]

Schließlich die mit der Oktoberrevolution begonnene Epoche, die die Sklaven der Kolonien aufrief, ihre Ketten zu sprengen, und die in der Autokratie Stalins gipfelte.

Es geht natürlich keineswegs darum, die Protagonisten dieser drei großen Emanzipationskämpfe zu idealisieren. Ein bedeutender Historiker der Revolution der schwarzen Sklaven in San Domingo polemisiert gegen »die landläufige Legende, wonach die Abschaffung der Sklaverei zur Ausrottung der Weißen geführt hätte«;[1029] es ist jedoch unbestreitbar, dass es auf der einen wie auf der anderen Seite zu Massakern gekommen ist. Es gibt auch keine Zweifel über die bis dahin unerhörte Brutalität, mit der der Bürgerkrieg in den USA vom Norden und besonders von Sherman geführt worden ist, der sich ausdrücklich zum Ziel setzte, die Zivilbevölkerung zu schlagen und »Georgia heulen zu lassen«[1030] und den Hitler zum Vorbild zu nehmen scheint. Außer Frage steht schließlich der unerbittliche Charakter der zunächst von Lenin und später noch unerbittlicher von Stalin ausgeübten Diktatur. Zumindest der zweite, der hier beschworenen Konflikte scheint jetzt auch auf historiographischem Gebiet vom Sklavenhalter-Süden verloren zu sein: Es ist nicht mehr politisch korrekt, der Sklaverei bzw. dem Regime der white supremacy nachzutrauern. Ein Gemeinplatz ist es indes geworden, den »Stalinismus« (und die mit der Oktoberrevolution begonnenen Ereignisse) rein kriminell zu interpretieren und Stalin mit demjenigen gleichzusetzen, der die koloniale Tradition übernommen und radikalisiert hat und ausdrücklich das Recht der »Herrenrasse« beansprucht, die »niederen Rassen« zu dezimieren und zu versklaven: Dies ist das Zeichen dafür, dass die laudatores des Kolonialismus die Schlacht weder auf politischer und noch weniger auf historiographischer Ebene verloren haben.

7. Die Weltgeschichte als »groteske Angelegenheit von Monstern« und als »Teratologie«

Zur damnatio memoriae wird die historische Bewegung verurteilt, die radikaler als alle anderen die Arroganz der »Herrenrasse« infrage gestellt hat, die jahrhundertelang, von der klassischen kolonialen Tradition bis hin zum Versuch des Dritten Reichs, sie zu radikalisieren und sogar innerhalb Europas geltend zu machen, gewütet hat.

Doch gibt es keine historische Bewegung, die man nicht einer ähnlichen Kriminalisierung aussetzen könnte. Man denke an den Liberalismus. Wenn man die von ihm geschriebenen edlen Seiten beiseite lässt (die Betonung der Notwendigkeit der Einschränkung der Macht, der rule of law, die Einsicht, dass die Entwicklung der Produktivkräfte und des gesellschaftlichen Reichtums vom Markt, von der Konkurrenz und vom individuellen Wetteifer stark gefördert wird) und sich ausschließlich auf das Schicksal konzentriert, das er den Kolonialvölkern bzw. den Völkern kolonialen Ursprungs auferlegt hat, die jahrhundertelang der Versklavung, mehr oder weniger brutalen Formen der Zwangsarbeit, genozidalen Praktiken und sogar (wie es mehrmals von Historikern ausgedrückt wird) Holocausts unterworfen waren, so kann auch er als mehr oder weniger kriminell interpretiert werden.

Beim heutigen »Krieg dem Terror«-Klima fehlt es sicher nicht an Büchern, die, ausgehend von den Selbstmordattentaten, z. B. von dem Grauen von Beslan im Jahre 2004 in Russland (als eine blinde grenzenlose Gewalt auch die Kinder ins Visier nahm), die Ausbreitung des Islams als die Geschichte einer blutigen und unbarmherzigen Eroberung zu rekonstruieren, die grausam gegen die Besiegten vorgeht und nur eine riesige Blutspur hinterlässt. Vergessen und verdrängt wird so die Rolle des Islams bei der Errichtung einer multiethnischen und multikulturellen Zivilisation, die Spanien vor der christlichen Rückeroberung kennzeichnete, seine Rolle bei der radikalen Infragestellung der Kastengesellschaft in Indien, allgemeiner noch seine Rolle bei der Förderung des Emanzipationskampfs der Kolonialvölker schon im 19. Jahrhundert.

Auf der Gegenseite können wir allerdings die Veröffentlichung einer monumentalen Kriminalgeschichte des Christentums verzeichnen: Im Mittelpunkt stehen hier die Verurteilung der Intoleranz und der Gewalt, die schon dem Anspruch innewohne, den einzigen wahren Gott zu kennen, die empörte Verurteilung der Ausrottungs-Kreuzzüge (die gegen die Ungläubigen in der Fremde und die Häretiker im Inneren ausgerufen wurden), der Religionskriege, der Inquisition, der Hexenjagd, der Legitimierung des kolonialen Expansionismus des Westens mit seinen Gräueln, der noch im 20. Jahrhundert tyrannischen und blutgierigen Regimen geleisteten Unterstützung.[1031] Und erneut verbindet sich Oberflächlichkeit mit Verdrängung: Indem nämlich das Christentum die Idee der Gleichheit unter den Menschen predigt und noch im 18. und 19. Jahrhundert die abolitionistische Bewegung gegen die Sklaverei anführt, stellt es ein wesentliches Kapitel des Prozesses der Herausbildung der demokratischen Gesellschaft dar.

Das hat mit seinem unverblümten Hass Nietzsche gut verstanden, der jedoch gerade davon ausgehend den gewalttätigen und kriminellen Elan brandmarken kann, der, trotz des Anscheins, zutiefst das Christentum und zuvor noch das Judentum der Propheten kennzeichne: Weil sie die Idee der Gleichheit vertreten und Schuldgefühle für den Reichtum, die Macht und das gut situierte Leben im Allgemeinen wecken, seien die jüdischen Propheten die Hauptverantwortlichen für das Gemetzel im Bauernkrieg, für die puritanische Revolution, für die französische Revolution und für die Pariser Kommune gewesen. Eine Kontinuität, die später der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts und Hitler bis zur kommunistischen Bewegung zur ›jüdisch-bolschewistischen‹ Revolution vom Oktober 1917 ausdehnen.

Im Übrigen ist die kommunistische Bewegung oft mit dem Urchristentum bzw. mit dem Islam verglichen worden: So wird das Bild der Weltgeschichte als Weltgeschichte des Verbrechens fast vervollständigt. In dieser Aufeinanderfolge von Verbrechen verflüchtigen sich die Motive sowie die Gründe ihrer ununterbrochenen Dauer, sodass die Geschichte sich im Ganzen, um es mit Hegel zu sagen, als eine »Schlachtbank« weltweiten Ausmaßes[1032] oder als ein unermessliches, unergründbares mysterium iniquitatis präsentiert. Jetzt können wir mit Gramsci sagen, dass uns die »Vergangenheit« als solche »irrational« und »ungeheuerlich« erscheint: Die ganze Geschichte gestaltet sich als eine »groteske Angelegenheit von Monstern«, als »Teratologie«.[1033] Autoren und Persönlichkeiten, die sich bemühen, in gewisser Weise die Ehre des Kommunismus zu verteidigen, reagieren manchmal auf die Reduktion der mit der Oktoberrevolution begonnenen Ereignisse auf Verbrechen oder verbrecherischen Wahnsinn, indem sie sich von den dunkelsten Episoden der Geschichte dieser Bewegung distanzieren und sie als Verrat oder Degeneration der ursprünglichen Ideale der bolschewistischen Revolution bzw. der Lehren Lenins oder von Marx abstempeln. Bei genauerem Hinsehen bringt schließlich auch dieser Ansatz kein wesentlich anderes Resultat als der zuvor unter suchte. Sind alle von der uns schon bekannten Kriminalgeschichte des Christentums unbarmherzig beschriebenen Begebenheiten ein ›Verrat‹ bzw. eine ›Degeneration‹ des Christentums? Sind die Regime, die sich später auf dem Boden des Protestantismus durchsetzen, eine ›Degeneration‹ der Reformation (und des von Luther feierlich proklamierten Prinzips der Freiheit des Christen)? Wenn wir so weitergehen, ist Cromwell ein ›Degenerierter‹ im Vergleich zu den anfänglichen Protagonisten der puritanischen Revolution, und der jakobinische Terror ist eine ›Degeneration‹ der Ideen von 1789. Ist auch der heutige islamische Fundamentalismus eine ›Degeneration‹ im Vergleich zum Koran und zur Lehre Mohammeds? In Übereinstimmung mit diesem Ansatz kann, wer möchte, die Versklavung und Ausrottung der Kolonialvölker durch den liberalen Westen als eine ›Degeneration‹ des Liberalismus betrachten. ›Verräter‹ wären also Washington, Jefferson, Madison, alle Sklavenhalter oder auch Franklin, demzufolge »es in die Pläne der Vorsehung gehört, diese Wilden (die Rothäute) auszurotten, um den Ackerbauern Platz zu machen«. Als Verräter des Liberalismus müsste dann auch Locke hingestellt werden, der doch im Allgemeinen als Vater dieser Denkrichtung ausgegeben wird und dennoch nicht nur die Enteignung (und die Deportation) der Indianer legitimiert, sondern auch, wie ein wichtiger Historiker (David B. Davis) eingeräumt hat, »der letzte große Philosoph ist, der versucht hat, die absolute und ewige Sklaverei zu rechtfertigen«. Auf diese Weise verwandeln wir jedoch das Pantheon der großen Geister des Liberalismus in eine Galerie von verwerflichen Verrätern.

Diese Argumentationsweise wird besonders fragwürdig, wenn man darüber nachdenkt, dass für einen berühmten liberalen Theoretiker der Sklaverei wie John C. Calhoun gerade die Abolitionisten mit ihrem gegen die Sklaverei protestierenden Jakobinismus und Fanatismus die liberalen Ideale der Toleranz und Anerkennung der Eigentumsrechte in allen ihren Formen verrieten. Dieser Ansatz wird nicht überzeugender, wenn wir ihn für die Geschichte des Marxismus und des Kommunismus geltend machen. Vor allem seit dem XX. Partei tag der KPdSU ist Stalin der Verbrecher und Verräter schlechthin. Man sollte aber nicht vergessen, dass der Führung der chinesischen oder albanischen kommunistischen Partei zufolge gerade die Verfechter der Entstalinisierung sich des Verrats und des ›Revisionismus‹ schuldig machten. In unseren Tagen betrifft die Kriminalisierung auch Lenin, Mao Zedong, Tito um von Pol Pot ganz zu schweigen, und sie verschont nicht einmal Ho Chi Minh und Fidel Castro. Wenn man sich auf die Kategorie Verrat stützt, erzielt man ein recht dürftiges Ergebnis. Die von der herrschenden Ideologie schwülstig umrisse ne Geschichte der kommunistischen Bewegung als Verbrechen wird von denen, die Mühe haben, sich mit der herrschenden Ideologie zu identifizieren, bloß umgetauft in eine Geschichte des Verrats der ursprünglichen Ideale. Zu nicht unähnlichen Resultaten würde man bei der Deutung des Liberalismus oder des Christentums gelangen, wollte man die schwärzesten Seiten des einen oder des anderen als Ausdruck des Verrats an den ursprünglichen Idealen beschreiben. Der hier kritisierte Ansatz hat also den Nachteil, die wirkliche und profane Geschichte verschwinden zu lassen und sie durch die Geschichte einer verhängnisvollen und mysteriösen Entstellung und Verzerrung von Doktrinen zu ersetzen, welche a priori in den Himmel der Reinheit und der Heiligkeit erhoben werden.

Die Theorie ist jedoch nie unschuldig. Die Interpretation der Geschichte Sowjetrusslands unter dem Vorzeichen des ›Verrats‹ und der ›Degeneration‹ der edlen ursprünglichen Ideale wird von der heutigen Historiographie meist verächtlich abgelehnt, weil diese sich sehr darum bemüht, nicht nur die Bolschewiki im Ganzen zu kriminalisieren, sondern auch schon bei den Autoren, auf die die Bolschewiki sich beriefen, die theoretischen Voraussetzungen des Terrors und des Gulag aufzuspüren. Zwar sollte man vermeiden, unerschütterliche Kontinuitätslinien zu ziehen und ganz unterschiedliche Verantwortungsgrade miteinander zu verwechseln, so ist es doch zulässig und sogar gebührend, sich nach der (indirekten und vermittelten) Rolle zu fragen, die Marx und Engels spielten. Dabei sollte man den Mythos der Unschuld der von ihnen ausgearbeiteten Theorie zurückweisen und die reale Geschichte ihres Erfolgs und die Gründe für diesen Er folg untersuchen. Ähnlich sollte man dann aber für alle großen Intellektuellen vorgehen, auch für die, die in einer anderen und entgegen gesetzten Denktradition stehen. Man denke an Locke. Gibt es einen Zusammenhang zwischen seiner Weigerung, die Toleranz und sogar das »Mitleid« auf die »Papisten« auszudehnen, und dem Blutbad, das in Irland unter den Katholiken angerichtet wurde? Und welche Verbindung gibt es zwischen seiner theoretischen Rechtfertigung der Sklaverei in den Kolonien und dem Sklavenhandel und der Tragödie der Schwarzen, die die heutigen afroamerikanischen Aktivisten oft als Black Holocaust bezeichnen? Oder nehmen wir Bezug auf die historische Epoche von Marx und Engels: Ist ein Theoretiker des »Despotismus« des Westens über die »minderjährigen« Rassen (die zu einem »absoluten Gehorsam« verpflichtet seien) und der wohltuen den Wirkung der Sklaverei auf die »wilden Stämme«, die Arbeit und Disziplin nicht duldeten, wie John Stuart Mill als mitverantwortlich für den Terror und die Massaker zu betrachten, die den kolonialen Expansionismus begleiten?

Diesen Fragestellungen kann sich keine Bewegung und keine Persönlichkeit entziehen. Wir haben gesehen, dass Nietzsche von den hitzigen Kampfreden der jüdischen Propheten und der Kirchenväter gegen die Macht und den Reichtum ausgeht, um den verheerenden und blutgierigen Charakter des revolutionären Zyklus zu erklären. Auf der Gegenseite täten diejenigen, die die Organisatoren der Kreuzzüge als Verräter des Christentums verurteilen, gut daran, ein normalerweise vernachlässigtes Detail nicht aus den Augen zu verlieren: Integraler Bestandteil dieser Religion ist das Alte Testament, das die ›Kriege des Herrn‹ auch in ihren grausamsten Formen legitimiert und verherrlicht. Auch in diesem Fall ist es irreführend, die Mittelmäßigkeit und Grausamkeit der realen Geschichte und die Vortrefflichkeit der edlen ursprünglichen Ideale einander entgegenzusetzen.

Hat man erst einmal die Nicht-Unschuld der Theorie bekräftigt, dann geht es darum, die Verantwortungsgrade zu unterscheiden. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden die Körper nicht weniger Sklaven mit dem Zeichen RAC gebrandmarkt, das sind die Anfangsbuchstaben der Royal African Company (der Gesellschaft, die den Sklavenhandel leitete), deren Aktionär Locke war. Man muss zumindest zugeben, dass die Autoren des Manifests der Kommunistischen Partei keinen Nutzen aus der Zwangsarbeit gezogen haben, die Jahrzehnte nach ihrem Tod den Gulag kennzeichnet. Marx und Engels können beschuldigt werden, im Voraus eine Gewalt legitimiert zu haben, die jedoch erst nach ihrem Tod und Jahrzehnte später in die Tat umgesetzt wird. Milllegitimiert indes mit ihm zeitgleiche Praktiken; ähnlich können wir bei Tocqueville die ausdrückliche Empfehlung mehr oder weniger genozidaler kolonialer Vorgehensweisen (die systematische Zerstörung der Städte innerhalb des von den Rebellen kontrollierten Gebietes) nachlesen, die nicht auf die Zukunft, sondern auf die unmittelbare Gegenwart verweisen.[1034] Das heißt, für die Schandtaten des Kolonialismus, die sich unter ihren Au gen abspielen, tragen die hier zitierten Exponenten der liberalen Tradition eine viel direktere Verantwortung als sie Marx und Engels für die Schandtaten des Sowjetregimes und für den ›Stalinismus‹ zugeschrieben wird. Ist der Weg, der von Marx zu Stalin und zum Gulag führt, holprig und problematisch und jedenfalls durch vollkommen unvorhersehbare Ereignisse wie den Weltkrieg und den permanenten Ausnahmezustand vermittelt, so ist die Linie, die Locke mit dem Sklavenhandel oder Mill und Tocqueville mit der Zwangsarbeit für die Eingeborenen und mit den kolonialen Massakern verbindet, unmittelbar augenfällig.

Ebenso wie die Theorie kann auch die Utopie keine Unschuld für sich beanspruchen. Diesbezüglich haben die Liberalen Recht, auch wenn sie dieses Argument leider dogmatisch benutzen, weil sie es nur für ihre Gegner und nicht für sich selber geltend machen: Welche furchtbaren sozialen und Menschenopfer hat die Utopie eines sich selbst regelnden Marktes, also die Ablehnung eines jeglichen staatlichen Eingreifens, mit sich gebracht, eine Utopie, der England auch dann noch treu geblieben ist, als um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Schädling die Kartoffelernte zerstörte und die darauffolgende Hungers not viele Hunderttausende von Iren dahinraffte? Oder, um ein neueres Beispiel zu nennen: Wie viele Katastrophen hat die (von Wilson schon vor Bush jr. und außerdem von berühmten zeitgenössischen Philosophen wie Popper geschätzte) Utopie hervorgerufen und ruft sie noch hervor, die den ewigen Frieden mit der weltweiten bewaffneten Verbreitung der Demokratie realisieren will? Gerade um zu vermeiden, in Dogmatismus zu verfallen, muss eine ähnliche Frage auch in Bezug auf die Geschichte der Sowjetunion formuliert werden. Es gibt nicht Wenige, die die Geschichte des aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Landes als fortschreitenden ›Verrat‹ an den von Marx und Engels ausgearbeiteten Ideen interpretieren und beklagen; in Wahrheit sind es gewissermaßen gerade diese ›ursprünglichen‹ Ideen (die messianische Erwartung einer Gesellschaft ohne Staat und Rechtsnormen, ohne nationale Grenzen, ohne Markt und ohne Geld, letztendlich ohne jeden wirklichen Konflikt), die eine unglückselige Rolle gespielt haben, weil sie den Übergang zu einem Zustand der Normalität behindert und den Ausnahmezustand verlängert und verschärft haben, der von der Krise des Ancien Régime, vom Krieg und von den darauffolgenden Aggressionen ausgelöst worden war.

Die beiden hier kritisierten Ansätze, die die Kategorie Verbrechen (oder verbrecherischer Wahnsinn) bzw. Verrat heranziehen, unterscheiden sich zwar voneinander, haben aber ein gemeinsames Merkmal: Sie haben die Tendenz, die Aufmerksamkeit auf die kriminelle bzw. verräterische Natur einzelner Individuen zu konzentrieren. De facto verzichten sie darauf, die wirkliche historische Entwicklung und die historische Wirksamkeit sozialer, politischer und religiöser Bewegungen zu verstehen, die eine weltweite Anziehungskraft ausgeübt haben und deren Einfluss sich über einen recht langen Zeitraum erstreckt.

Diese Vorgehensweise ist folgewidrig und irreführend auch in Bezug auf das Dritte Reich (das nur knapp 12 Jahre lang währte und nur innerhalb der »Herrenrasse« Anziehungskraft ausübte). Es ist zu billig, die Schandtaten des Nazismus ausschließlich Hitler zur Last zu legen und dabei die Tatsache zu verdrängen, dass er die beiden zentralen Elemente seiner Ideologie der vor ihm bestehenden Welt entnommen und radikalisiert hat: Die Verherrlichung der kolonisatorischen Mission der weißen Rasse und des Westens, die jetzt dazu aufgerufen sind, ihre Herrschaft auch auf Osteuropa auszudehnen; die Deutung der Oktoberrevolution als jüdisch-bolschewistische Verschwörung, die die Revolte der Kolonialvölker angefacht und die natürliche Rangordnung der Rassen unterminiert und, allgemeiner noch, wie ein Krankheitserreger den Organismus der Gesellschaft infiziert habe und die damit zu einer schrecklichen Gefahr für die Zivilisation werde, der mit allen Mitteln, die »Endlösung« inbegriffen, entgegengetreten werden müsse. Zum Verständnis der Entstehung des Grauens des Dritten Reichs geht es also nicht darum, die Kindheit oder die Jugend Hitlers zu rekonstruieren; genauso wenig Sinn ergibt es, von den Anfängen Stalins aus zugehen, um eine Institution (den Gulag) zu untersuchen, die zutiefst in der Geschichte des zaristischen Russland wurzelt und auf die, auf jeweils unterschiedliche Weise, auch die Länder des liberalen Westens zurückgegriffen haben, und zwar sowohl bei ihrer kolonialen Expansion als auch anlässlich des vom Zweiten Dreißigjährigen Krieg hervorgerufenen Ausnahmezustands. Ähnlich irreführend wäre es, die Versklavung, Dezimierung und Ausrottung der Indianer in erster Linie von den individuellen Merkmalen der Gründerväter der USA ableiten zu wollen oder die strategischen oder atomaren Bombenangriffe auf deutsche und japanische Städte mit dem Verweis auf die perverse Natur Churchills, F. D. Roosevelts und Trumans erklären zu wollen. Unsinnig wäre es außerdem, die Gräuel von Guantánamo und Abu Ghraib begreiflich machen zu wollen, indem man bei der Kindheit oder Jugend von Bush jr. anfängt.

Kehren wir jedoch zu Stalin zurück. Ist es gleichbedeutend mit moralischer Abstumpfung, wenn man den Ansatz ablehnt, der alles als Ver brechen oder als verbrecherischen Wahnsinn bzw. als Verrat an den ursprünglichen Idealen interpretiert? Die heutigen Historiker diskutieren noch immer über Persönlichkeiten und Ereignisse, die fast zweitausend Jahre zurückliegen: Sollten wir ohne Zögern das so düster gezeichnete Bild Neros gutheißen, zu dem sowohl die Senatsaristokratie als auch die Christen beigetragen haben? Insbesondere: Sollten wir die christliche Propaganda, die den römischen Kaiser verdächtigte, Rom in Brand gesteckt zu haben, um die unschuldigen Anhänger der neuen Religion beschuldigen und verfolgen zu können, für bare Münze nehmen? Oder gab es, wie einige Forscher nahe legen, im Urchristentum wirklich apokalyptische und fundamentalistische Strömungen, die danach strebten, den Ort des Aberglaubens und der Sünde schlechthin in Asche versinken zu sehen und die Erfüllung ihrer eschatologischen Erwartungen zu beschleunigen?[1035] Überspringen wir ein paar Jahrhunderte. Was die von Diokletian entfesselte große Christenverfolgung betrifft, fragen sich die Historiker immer noch: War sie nur das Resultat eines den römischen Traditionen fremden und damit unerklärlichen theologischen Hasses? Oder hat die reale Sorge um das Schicksal des Staates, dessen militärische Stärke von der pazifistischen christlichen Agitation gerade dann unterminiert wurde, als die Gefahr der barbarischen Invasionen immer bedrohlicher wurde, eine wichtige Rolle gespielt? Die Historiker, die sich diese Fragen stellen, werden kaum beschuldigt, die von den Christen erlittene Verfolgung bagatellisieren und diese erneut den wilden Tieren und den fürchterlichsten Qualen aussetzen zu wollen.

Unglücklicherweise ist es problemloser, die heilige Geschichte des Christentums kritisch zu analysieren, als Zweifel an der Aura der Heiligkeit zu formulieren, die tendenziell die Geschichte des Westens und seines Führungslandes umgibt. Der viel größere zeitliche Abstand und der geringere Zusammenprall mit den Interessen und Leidenschaften der Gegenwart macht es leichter, die Beweggründe derer zu verstehen, die vom Christentum überwältigt worden sind, als eine Erklärung für die Beweggründe jener zu suchen, deren Niederlage dem Triumph des »amerikanischen Jahrhunderts« den Weg bereitet hat. Dies erklärt die Relevanz, die Dämonisierung und Hagiographie für die Interpretation des 20. Jahrhunderts immer noch haben, und den anhaltenden Erfolg des negativen Heldenkults.

Literaturverzeichnis

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  115. Vgl. Losurdo, 2007, Kap. 4, § 2 (für Nolte) u. Kap. 4, § 5 (für F. D. Roosevelt und die »Kastration« der Deutschen).
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  144. Stalin, 1971-73, Bd. 4, S. 202, 199 u. 208.
  145. Stalin, 1971-73, Bd. 4, S. 286 u. 293.
  146. Stalin, 1971-73, Bd. 11, S. 308.
  147. Trotzki, 1988, S. 905f.
  148. Trotzki, 1997-2001, Bd. 3, S. 476, 554 u. 566.
  149. Trotzki, 1988, S. 1001 u. 1333.
  150. Figes, 1997, S. 771.
  151. In: Flores, 1990, S. 29.
  152. Furet/Richet, 2003, S. 80; Figes, 1997, S. 352.
  153. In: Furet, 1995, S. 131.
  154. Marx/Engels, 1955-89, Bd. 4, S. 484 u. 489.
  155. In: Figes, 1997, S. 771.
  156. Losurdo, 2000b, Kap. 2, § 10.
  157. Hegel, 1969-79, Bd. 3, S. 318; Marx/Engels, 1955-89, Bd. 19, S. 20f.
  158. Hegel, 1969-79, Bd. 3, S. 318; Marx/Engels, 1955-89, Bd. 19, S. 20f.
  159. Marx/Engels, 1955-89, Bd. 17, S. 339.
  160. Stalin, 1971-76, Bd. 13, S. 314f.
  161. Stalin, 1971-73, Bd. 13, S. 316f.
  162. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 33.
  163. Stalin, 1971-73, Bd. 13, S. 317-319.
  164. Losurdo, 2000a, Kap. 10, § 2.
  165. Stalin, 1971-73, Bd. 13, S. 319 u. 317.
  166. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 31 u. 46.
  167. Trotzki, 1988, S. 957.
  168. Trotzki, 1971, Bd. 2, S. 237.
  169. Trotzki, 1988, 972f u. 969.
  170. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 34.
  171. Trotzki, 1988, S. 941.
  172. Trotzki, 1988, S. 946.
  173. Stalin, 1971-73, Bd. 13, S. 303f.
  174. Trotzki, 1988, S. 763 u 768f.
  175. Trotzki, 1988, S. 757f.
  176. In: Carr, 1968-69, Bd. 1, S. 32.
  177. Carr, 1968-69, S. 30f.
  178. Marcucci, 1997, S. 143.
  179. Trotzki, 1988, S. 957.
  180. Trotzki, 1988, S. 843f.
  181. Trotzki, 1988, S. 846.
  182. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 87.
  183. Trotzki, 1988, S. 846.
  184. Trotzki, 1988, S. 850.
  185. Lenin, 1955-71, Bd. 25, S. 415 u. Bd. 33, S. 474-480.
  186. Lenin, 1955-71, Bd. 25, S. 436.
  187. Figes, 1997, S. 730-732.
  188. Gramsci, 1987, S. 56f; der Brief des Anarchisten kann in der Nr. 8 der »Ordi ne Nuovo« nachgelesen werden.
  189. Pannekoek, 1920, S. 36f.
  190. In: Kollontai, 1976, S. 240f.
  191. Gorter, 1920, S. 37.
  192. In: Kollontai, 1976, S. 242.
  193. Kollontai, 1976, S. 199f.
  194. Gorter, 1920, S. 87.
  195. Gorter, 1920, S. 33.
  196. In: Losurdo 2000b, Kap. 2, § 10.
  197. In: Kollontai 1976, S. 240.
  198. In: Carr, 1964, S. 128.
  199. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 70.
  200. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 74.
  201. Trotzki, 1988, S. 966f.
  202. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 228f.
  203. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 229.
  204. Cohen, 1975, S. 344.
  205. Thurston, 1996, S. 20-23.
  206. Kirilina, 1995, S. 223 u. 239.
  207. Kirilina, 1995, S. 193.
  208. Chlewnjuk, 1998, S. 365f.
  209. Kirilina, 1995, 203.
  210. Trotzki, 1988, S. 573 u. 575.
  211. Trotzki, 1988, S. 986.
  212. Trotzki, 1967, S. 50.
  213. Trotzki, 1988, S. 655.
  214. Trotzki, 1988, S. 655.
  215. Trotzki, 1988, S. 854.
  216. Trotzki, 1988, S. 851.
  217. Trotzki, 1967, S. 50.
  218. Kirilina, 1995, S. 67-70.
  219. Trotzki, 1988, S. 857.
  220. Trotzki, 1988, S. 553.
  221. Trotzki, 1988, S. 655.
  222. Trotzki, 1988, S. 856-861.
  223. Trotzki, 1988, S. 986.
  224. Trotzki, 1967, S. 50f.
  225. Souvarine, 1977, S. 376.
  226. Fischer, 1991, Bd. 2, S. 217f.
  227. Fischer, 1991, Bd. 2, S. 256f.
  228. Malaparte, 1992, S. 46, 53 u. 58.
  229. Malaparte, 1992, S. 71f.
  230. Broué, 1988, S. 655.
  231. Broué, 1988, S. 655.
  232. Malaparte, 1992, S. 71.
  233. Stalin, 1971-73, Bd. 2, S. 101-106 u. besonders S. 103.
  234. Broué, 1988, S. 540.
  235. Lenin, 1955-71, Bd. 5, S. 485, Anm.
  236. Mayer, 2000, S. 271f.
  237. Broué, 1988, S. 619.
  238. Malaparte; 1992, S. 71.
  239. Broué, 1988, S. 639.
  240. Thurston, 1996, S. 34.
  241. Fischer, 1991, Bd. 2, S. 250.
  242. Trotzki, 1988, S. 986.
  243. Trotzki, 1967, S. 45, 46 u. 42.
  244. Lenin, 1955-71, Bd. 31, S. 20f u. 40.
  245. Broué, 1988, S. 705.
  246. Chruschtschow, 1990, S. 31.
  247. Humbert-Droz, 1971, S. 379f.
  248. Graziosi, 2007, S. 336; vgl. auch Tucker, 1990, S. 211 u. Mayer, 2000, S. 647.
  249. Humbert-Droz, 1971, S. 379.
  250. Cohen, 1975, S. 285; Tucker, 1974, S. 424f.
  251. Lenin, 1955-71, Bd. 5, S. 370f.
  252. Cohen, 1975, S. 356-360.
  253. Wolkogonow, 1989, S. 295.
  254. Lenin, 1955-71, Bd. 5, S. 371.
  255. Fischer, 1991, Bd. 2, S. 326.
  256. Strong, 2004, Kap. 5.
  257. Chruschtschow, 1990, S. 32 u. 34.
  258. Flores, 1990, S. 215f.
  259. Chlewnjuk, 1998, S. 28.
  260. Trotzki, 1997-2001, Bd. 3, S. 421-425.
  261. Trotzki, 1988, S. 490 (kursiv im Original).
  262. Rogowin, 1998, S. 91 u. 404.
  263. Rogowin, 1998, S. 100.
  264. Rogowin, 1999, S. 288f.
  265. Rogowin, 1999, S. 11f.
  266. Carr, 1964, S. 876; von »Aufstand« redet Daniels, 1970, S. 145; s. auch Mayer, 2000, S. 271.
  267. Broué, 1988, S. 734.
  268. Broué, 1988, S. 742.
  269. Hillgruber, 1988, S. 165.
  270. Trotzki, 1988, S. 117 u. Anm. 85 des Hg.
  271. Trotzki, 1988, S. 1179.
  272. Trotzki, 1988, S. 1253f u. 1179.
  273. Trotzki, 1988, S. 1258f.
  274. Trotzki, 1988, S. 1183.
  275. Trotzki, 1988, S. 1341, 1273 u. 1328.
  276. Trotzki, 1988, S. 1273 u. 1286.
  277. Goebbels, 1996, S. 123.
  278. Goebbels, 1992, S. 1614 u. 1619f.
  279. Goebbels, 1992, S. 1635.
  280. Rogowin, 1999, S. 288f.
  281. Broué, 1988, S. 708.
  282. Trotzki, 1967, S. 42 u. 30.
  283. Trotzki, 1988, S. 1334 u. 1338.
  284. Wolkogonow, 1989, S. 514f.
  285. Mayer, 2000, S. 621, der auch auf Thomas C. Fiddick verweist.
  286. Chlewnjuk, 1998, S. 61.
  287. Trotzki, 1988, S. 297-299.
  288. Deutscher, 1962, S. 520f.
  289. Deutscher, 1962, S. 395.
  290. Dimitroff, 2000, S. 142.
  291. Trotzki, 1988, S. 913 u. 915-928.
  292. Wolkogonow, 1989, S. 415.
  293. Chlewnjuk, 2006, S. 162.
  294. Wolkogonow, 1989, S. 412.
  295. Benesch, 1954, S. 19f u. 47, Anm. 8.
  296. In: Nolte, 1987, S. 306f.
  297. Conquest, 1968, S. 219.
  298. Churchill, 1963, S. 321.
  299. Hitler, 1989, S. 447 (Gespräch vom 21. Juli 1942)
  300. Conquest, 1968, S. 219.
  301. In: Rogowin, 1998 S. 520 u. 531-544.
  302. Schneider, 1994, S. 248 u. 232.
  303. Deutscher, 1962, S. 521.
  304. Roberts, 2006, S. 16.
  305. In: Cohen, 1975, S. 75 u. 268.
  306. In: Cohen, 1975, S. 288 u. 285.
  307. Feuchtwanger, 1993, S. 88.
  308. Maistre, 1984, Bd. 12, S. 59f.
  309. Marx/Engels 1955-89, Bd. 12, S. 682.
  310. In: Werth, 2001, S. 50.
  311. In: Werth, 2001, S. 53, 59f u. 74f.
  312. Schmid, 1974, S. 17 u. 293.
  313. Kerenski, 1989, S. 415.
  314. Kerenski, 1989, S. 340 u. 328 ff.
  315. Figes, 1997, S. 321; Werth, 2007, S. 27.
  316. Figes, 1997, S. 322.
  317. Werth, 2007, S. 28f.
  318. Figes, 1997, S. 394f.
  319. Figes, 1997, S. 394f.
  320. Figes, 1997, S. 379.
  321. Werth, 2007, S. 31.
  322. Werth, 2007, S. 63, 52f u. 55.
  323. Werth, 2007, S. 53 u. 51.
  324. Werth, 2007, S. XV.
  325. Werth, 2007, S. 27 u. 37f.
  326. Werth, 2007, S 38f u. 43.
  327. Lincoln, 1994, S. 147.
  328. Figes, 1997, S. 365.
  329. Figes, 1997, S. 328, 417, 365 u. 399.
  330. Figes, 1997, S. 360.
  331. Figes, 1997, S. 757.
  332. Figes, 1997, S. 752.
  333. Figes, 1997, S. 752.
  334. Figes, 1997, S. 730.
  335. Figes, 1997, S. 86.
  336. Figes, 1997, S. 678f.
  337. Werth, 2007, S. 26.
  338. Werth, 2007, S. 53f.
  339. In: Flores, 1990, S. 41.
  340. Lenin, 1955-71, Bd. 31, S. 71.
  341. Figes, 1997, S. 699f u. 697.
  342. Benjamin, 1955, S. 53.
  343. Vgl. Werth, 2007, S. 51 u. 510, Anm. 43.
  344. Kautsky, 1919, S. 54.
  345. Kautsky, 1919, S. 59.
  346. Kautsky, 1919, S. 50.
  347. Kautsky, 1919, S. 53 u. 55.
  348. Kautsky, 1919, S. 54.
  349. Trotzki, 1988, S. 848.
  350. Kautsky, 1919, S. 58.
  351. Kautsky, 1919, S. 58.
  352. Kautsky, 1919, S. 43.
  353. In: Flores, 1990, S. 41 u. 53.
  354. In: Flores, 1990, S. 32f.
  355. In: Furet, 1995, S. 129.
  356. In: Carr, 1968-69, Bd. 1, S. 31.
  357. Agosti, 1974-79, Bd. 1.1, S. 30.
  358. Dimitroff, 1976, S. 93-164 (das Zitat ist auf S. 152).
  359. Trotzki, 1977, S. 78 u. 123.
  360. Herzen, 1851, S. 160 u. 162.
  361. Stalin, 1971-73, Bd. 13, S. 33 u. 36.
  362. Stalin, 1971-73, Bd. 13, S. 38.
  363. Mao Zedong, 1968-78, Bd. 2, S. 246.
  364. Carr, 1968-69, Bd. 1, S. 31; in: Kollontai, 1976, S. 200.
  365. Hegel, 1969-79, Bd. 3, S. 431-441.
  366. Trotzki, 1988, S. 845f.
  367. Hinsichtlich der Analyse der hier angeführten Stellungnahmen Rosa Luxemburgs verweise ich auf Losurdo, 2000b, Kap. V, § 2.
  368. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 120.
  369. Stalin, 1971-73, Bd. 11, S. 305-311.
  370. Bucharin, 1969a, S. 160 u. 168.
  371. Bucharin, 1969a, S. 159 u. 161.
  372. Bucharin, 1969b, S. 113 u. Bucharin, 1969a, S. 169.
  373. Lenin, 1955-71, Bd. 38, S. 301.
  374. Hegel, 1919-20, S. 896f.
  375. Lenin, 1955-71, Bd. 22, S. 148 u. Bd. 31, S. 82; Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 120.
  376. Stalin, 1971-73, Bd. 11, S. 308.
  377. Stalin, 1971-73, Bd. 15, S. 218.
  378. Stalin, 1971-73, Bd. 15, S. 193, 195 u. 204.
  379. Stalin, 1971-73, Bd. 15, S. 206.
  380. Stalin, 1971-73, Bd. 15, S. 252.
  381. Stalin, 1971-73, Bd. 15, S. 263-270.
  382. Kelsen, 1955, S. 109f; vgl. auch Kelsen, 1949, S. 29.
  383. Trotzki, 1988, S. 853.
  384. Lenin, 1955-71, Bd. 38, S. 91.
  385. Werth, 2007, S. VIII u. XIV.
  386. Tucker, 1990, S. 120; vgl. auch Cohen, 1986, S. 54f.
  387. In: Cohen, 1975, S. 204f.
  388. In: Cohen, 1975, S. 209.
  389. Cohen, 1975, S. 215ff.
  390. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 106, 309 u. 292.
  391. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 110.
  392. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 75.
  393. Stalin, 1071-73, Bd. 7, S. 148f.
  394. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 167f.
  395. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 109 u. 147.
  396. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 158f.
  397. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 108.
  398. Figes, 1997, S. 458.
  399. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 139.
  400. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 139f.
  401. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 139 u. 160.
  402. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 108f; vgl. Marx/Engels, 1955-89, Bd. 17, S. 341.
  403. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 140; kursiv im Original.
  404. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 137f.
  405. Stalin, 1971-73, Bd. 7, S. 329.
  406. Stalin, 1971-73, Bd. 11, S. 219f.
  407. Taylor, 1996, S. 89.
  408. Carr, 1968-69, Bd. 2, S. 265f.
  409. Jedrzejewicz, 1982, S. 93f u. 145f.
  410. Davies, 1989, S. 441f u. 462; Schneider, 1994, S. 197-206; Mayer, 2000, S. 619, 623 u. 625.
  411. Davies, 1989, S. 443-447.
  412. Cohen, 1975, S. 263f.
  413. Cohen, 1975, S. 190.
  414. In: Cohen, 1975, S. 191.
  415. Stalin, 1971-73, Bd. 4, S. 104 u. 131; vgl. hierzu Schneider, 1994, S. 234-237.
  416. Wolkogonow, 1989, S. 506f.
  417. Mayer, 2000, S. 630f.
  418. In: Chlewnjuk, 1998, S. 174.
  419. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 68.
  420. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 74.
  421. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 88.
  422. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 87 u. 89.
  423. Trotzki, 1988, S. 653 u. 664.
  424. Stalin, 1971-73, Bd. 13, S. 61f u. 69.
  425. Stalin, 1971-73, S. 51-55.
  426. Trotzki, 1988, S. 568 u. 570-575.
  427. Trotzki, 1997-2001, Bd. 3, S. 437.
  428. Trotzki, 1988, S. 569.
  429. Trotzki, 1988, S. 930f.
  430. Roberts, 2006, S. 296 u. 231ff.
  431. Roberts, 2006, S. 247-249.
  432. MacDonogh, 2007, S. 215f.
  433. Werth, 2007, S. XIX.
  434. Toynbee, 1953, S. 13-15.
  435. Medvedev/Medvedev, 2003, S. 136.
  436. Sherry, 1995, S. 182.
  437. Kirilina, 1955, S. 52 u. 192f.
  438. Kirilina, 1995, S. 192.
  439. Medvedev / Medvedev, 2003, S. 6-8.
  440. Marcucci, 1997, S. 151f.
  441. Montefiore, 2007, S. 503f.
  442. Cohen, 1975, S. 336.
  443. Kuromiya, 1988, S. 127.
  444. Kennan, 2001.
  445. Mayer, 2000, S. 633.
  446. Vgl. Losurdo, 2007, Kap. 5, § 9.
  447. In: Cohen, 1975, S. 348 u. 301.
  448. Tucker, 1990, S. 331f.
  449. Medvedev, 1977, S. 223f.
  450. Lewin, 2003, S. 389-397.
  451. Tucker, 1990, S. 201, 102 u. 324.
  452. Cohen, 1975, S. 335.
  453. Figes, 1997, S. 114.
  454. Trotzki, 1988, S. 694f.
  455. Trotzki, 1988, S. 863.
  456. Trotzki, 1988, S. 862f.
  457. Trotzki, 1988, S. 856.
  458. Cohen, 1986, S. 68f.
  459. Medvedev, 1977, S. 404.
  460. Schmidt, 1950, S. 446.
  461. Zubkova, 2003, S. 42 und Bildunterschrift zu Foto Nr. 18.
  462. Applebaum, 2003, S. XXXVIII u. 445.
  463. Applebaum, 2003, S. XXII.
  464. Applebaum, 2003, S. 16f, 21f u. 26.
  465. Applebaum, 2003, S. 83f.
  466. Applebaum, 2003, S. 89.
  467. Applebaum, 2003, S. 85.
  468. Applebaum, 2003, S. 75.
  469. Chlewnjuk, 2006, S. 75-79.
  470. Applebaum, 2003, S. 76 u. 93.
  471. Applebaum, 2003, S. 66.
  472. Applebaum, 2003, S. 232f u. 235-237.
  473. Applebaum, 2003, S. 234f.
  474. Applebaum, 2003, S. 103.
  475. Applebaum, 2003; S. 83.
  476. Applebaum, 2003, S. 93, 100 u. 103.
  477. Applebaum, 2003, S. 232.
  478. 478,0 478,1 Applebaum, 2003, S. 240.
  479. Applebaum, 2003, S. XXVIIf u. 415.
  480. Applebaum, 2003, S. 414.
  481. Applebaum, 2003, S. 447f.
  482. Chlewnjuk, 2006, S. 29, 194f u. 215.
  483. Chlewnjuk, 2006, S. 212f.
  484. Chlewnjuk, 2006, S. 250f u. 86.
  485. Conquest, 2006, S. IX.
  486. In: Applebaum, 2003, S. XXIX.
  487. Mayer, 2000, S. 236-238.
  488. Hughes, 1990, S. 212, 226, 230, 244.
  489. Vgl. Losurdo, 2010, bes. Kap. 3, § 5 u. Kap. 7, § 2.
  490. Hughes, 1990, S. 546-552.
  491. Losurdo, 2007, Kap. 5, § 1.
  492. Arendt, 1943.
  493. Losurdo, 2007, Kap. 4, § 5; MacDonogh, 2007, S. 406.
  494. Scotti, 1991.
  495. Chlewnjuk, 2006, S. 103.
  496. Werth, 2006, S; 167; was das Weberzitat betrifft, vgl. Weber, 1985, S. 29.
  497. Goldman, 2007, S. 3f, 80f u. 252.
  498. Goldman, 2007, S. 120, 127f, 146 u. 158f.
  499. Goldman, 2007, S. 128 u. 240.
  500. Goldman, 2007, S. 8, 28, 160 u. 245.
  501. Goldman, 2007, S. 240 u. 243f.
  502. Furet/Richet, 2003, S. 86.
  503. Marx/Engels, 1955-89, Bd. 23, S. 281f.
  504. Davis, 2001, S. 50f; Del Boca, 2006, S. 121.
  505. Annett, 2001, S. 5f, 12 u. 16f.
  506. Woodward, 1963, S. 206f.
  507. Friedman, 1993, S. 95.
  508. Blackmon, 2008, S. 57.
  509. Chlewnjuk, 2006, S. 349 u. 346f.
  510. So Fletcher M. Green, in: Woodward, 1963, S. 207.
  511. Washington, 2007
  512. Kotek/Rigoulot, 2000, S. 92.
  513. E.R., 1997; vgl. Washington, 2007, S. 184.
  514. Martin, 2001, S. 6.
  515. Stalin, 1971-73, Bd. 5, S. 31 u. 42.
  516. Martin, 2001, S. 1f.
  517. Washburn, 1992, S. 252-254; Annett, 2001, S. 31.
  518. Graziosi, 2007, S. 202.
  519. Hitler, 1939, S. 82 u. 428f.
  520. Hitler, 1961, S. 131f.
  521. Hitler, 1965, S. 1591 (2. Oktober 1940).
  522. Stalin, 1971-73, Bd. 5, S. 32.
  523. Hitler, 1939, S. 730.
  524. Tucker, 1990, Kap. 1-3.
  525. Lenin, 1555, Bd. 9, S. 15.
  526. Fitzpatrick, 1994, S. 248.
  527. Payne, 2001, S. 16, 19 u. 22.
  528. Goldman, 2007, S. 14-16 u. 19.
  529. Kuromiya, 1988, S. 128f.
  530. Payne, 2001, S. 39f, 5 u. 7.
  531. Goldman, 2007, S. 28, 160 u. 245f.
  532. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 36.
  533. Payne, 2001, S. 39f.
  534. Figes, 1997, S. 114.
  535. Blackmon, 2008, S. 56.
  536. Blackmon, 2008, S. 1ff und passim.
  537. Marx/Engels, 1955-89, Bd. 4, S. 151.
  538. Payne, 2001, S. 3f u. 14.
  539. Lukács, 1954, S. 603.
  540. Lukács, 1954, S. 664.
  541. Lukács, 1954, S. 605, 613f.
  542. Churchill; 1974, S. 7313.
  543. Arendt, 1966, S. 232 (=Arendt 1986, S. 374f) u. passim; Chamberlin, 1950, S. 36f; Losurdo, 2007, Kap. 2, § 14 u. Kap. 3, § 6-7 (für die »auserwählte« Nation in der US-amerikanischen politischen Tradition).
  544. Horne, 1988, S. 163-75; Rapoport, 1991, S. 193 (was Ehrenburg betrifft); Hofstadter, 1982, Bd. 3, S. 451 (was M. L. King betrifft).
  545. Markusen/Kopf, 1995.
  546. Chamberlain, 1937, S. 997 u. 33.
  547. Vgl. Losurdo, 2010, Kap. 10, § 3 u. 4.
  548. In: Annett, 2001, S. 6.
  549. Bullock, 1992.
  550. Gardner, 1993.
  551. In: Thomas, 1988, S. 296.
  552. Schlesinger jr., 1967, S. 338.
  553. Roberts, 2006, S. 38-45 u. 55.
  554. Ruge/Schumann, 1977, S. 50.
  555. In: Kupisch, 1965, S. 256-258.
  556. Losurdo, 2007, Kap. 5, § 1 u. 4.
  557. Hitler, 1965, S. 238 (so drückt sich der Hg. aus)
  558. Shirer, 1974, S. 453.
  559. Baumont, 1969, S. 161.
  560. Zitiert in: Goebbels, 1992, S. 867, (Anm. 22 des Hg.)
  561. Baumont, 1969, S. 92f u. 281.
  562. Taylor, 1996, S. 259.
  563. Wolkogonow, 1989, S. 468.
  564. In: Gardner, 1993, S. 36 u. 44.
  565. Wolkogonow, 1989, S. 465 u. 460.
  566. Brecher, 1965, S. 89f.
  567. Gandhi, 1969-2001, Bd. 80, S. 200 (Answers to Questions, 25. April 1941) u. Bd. 86, S. 223 (Interview mit Ralph Coniston vom April 1945).
  568. Gandhi, 1969-2001, Bd. 98, S. 293.
  569. Roberts, 2006, S. 5.
  570. Mao Zedong, 1968-1978, Bd. 2, S. 303 u. 307.
  571. Coox, 1990, S. 898 u. 900.
  572. Romein, 1969, S. 261.
  573. In: Nolte, 1987, S. 313f.
  574. In: Montefiore, 2007, S. 354.
  575. Hitler, 1965, S. 1423.
  576. Hitler, 1965, S. 1653 u. 1655.
  577. Deutscher, 1962, S. 474.
  578. Dimitroff, 2000, S. 320.
  579. Dimitroff, 2000, S. 333.
  580. Dimitroff, 2000, S. 316.
  581. Dimitroff, 2000, S. 321.
  582. Deutscher, 1962, S. 478.
  583. Dimitroff, 2000, S. 373.
  584. Dimitroff, 2000, S. 381.
  585. In: Nolte 1987, S. 313; Goebbels, 1992, S. 1603 (16. Juni 1941).
  586. Kershaw, 2000, S. 387f u. 401 (= Kershaw, 2002, S. 512f u. 527).
  587. Arendt, 1966, S. 309, Anm. 13 (= Arendt, 1986, S. 500, Anm. 12).
  588. Stalin, 1971-73, Bd. 13, S. 260f u. 263.
  589. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 68f.
  590. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 187 u. 190.
  591. Arendt, 1972, S. 196.
  592. Feuchtwanger, 1993, S. 70f.
  593. Vgl. Roberts, 2006, S. 182 (zitiert wird das Zeugnis von Charles Bohlen).
  594. Kershaw, 2000, S. 398 (= Kershaw, 2002, S. 523).
  595. Hitler, 1965, S. 2051 (Erklärung vom 8. November 1943) u. S. 1064 (Erklärung vom 30. Januar 1939).
  596. In: Butler, 2005, S. 82 (Botschaft vom 8. August 1942).
  597. Arendt, 1966, S. 440f u. 448f (= Arendt, 1986, S. 679 u. 688-691 (Die in der Fußnote wiedergegebene Aussage der Zeugin Buber-Neumann ist in der deutschen Ausgabe weggestrichen; d. Üb.).
  598. Goldman, 2007, S. 5.
  599. Conquest, 1988, S. 3-6.
  600. Tottle, 1987, S. 86.
  601. Argentieri, 2004, S. VIIf.
  602. Tottle, 1987, S. 86.
  603. Tottle, 1987, S. 15.
  604. Losurdo, 2007, Kap. 5, § 9.
  605. Wolkogonow, 1989, S. 484; Mayer, 2000, S. 670f.
  606. Trotzki, 1988, S. 1173ff.
  607. Trotzki, 1988, S. 1241 u. 1243.
  608. Trotzki, 1988, S. 1174f.
  609. Hitler, 1989, S. 215.
  610. In: Kershaw, 2000, S. 434 (= Kershaw, 2002, S. 584).
  611. Lower, 2005, S. 8 u. passim; Sabrin, 1991, S. 3-13; Tottle, 1987, S. 75ff.
  612. Stalin, 1971-73, Bd. 4, S. 6.
  613. Stalin, 1971-73, Bd. 5, S. 42.
  614. Graziosi, 2007, S. 205.
  615. Graziosi, 2007, S. 311 u. 202.
  616. Graziosi, 2007, S. 203f.
  617. Conquest, 1988, S. 49f u. 61f.
  618. Figes, 1997, S. 678f.
  619. In: Baker, 2008, S. 411.
  620. Churchill, 1974, S. 7722.
  621. Davis, 2001, S. 46-51.
  622. In: MacDonogh, 2002, S. 362f.
  623. MacDonogh, 2002, S. 366, 363 u. 369f.
  624. Vgl. Losurdo, 2007, Kap. 5, § 10.
  625. Losurdo, 2010, Kap. 5, § 8; Losurdo, 2007, Kap. 5, § 10. Eine Annäherung des nazistischen »Judenmords« an die irische und nicht an die ukrainische Hungersnot kann man auch bei Mayer, 2000, S. 639 finden.
  626. In: Baker, 2008, S. 2 u. 6.
  627. Gramsci, 1984, S. 443f.
  628. In: Rothbard, 1974, S. 96f.
  629. Losurdo, 2011, Kap. 1, § 5.
  630. Chruschtschow, 1990, S. 62-64.
  631. Medvedev, 1977, S. 629; Hobsbawm, 1990, S. 173; Naimark, 2001, S. 90; Furet, 1995, S. 439.
  632. Conquest, 1992, S. 290.
  633. Goebbels, 1992, S. 247 (Tagebucheintrag vom 8. Mai 1926).
  634. In: Fest, 1973, S. 259.
  635. Hitler, 1980, S. 224 (Gespräch vom 24./25. Januar 1942).
  636. Poliakov, 1987, S. 365.
  637. Kautsky, 1914, S. 83f; vgl. Stalin, 1971-73, Bd. 2, S. 1.
  638. Lincoln, 1994, S. 141.
  639. Levin, 1990, Bd. 1, S. 28f.
  640. Marx/Engels, 1955-89, Bd. 8, S. 5.
  641. Lenin, 1955-71, Bd. 29, S. 240.
  642. Poliakov, 1977, Bd. 4, S. 225.
  643. Mosse, 1990, S. 176.
  644. Cohn, 1967, S. 128; Mayer 1988, S. 5.
  645. Poliakov, 1977, Bd. 4, S. 226 u. 231f.
  646. In: Schmid, 1974, S. 312.
  647. In: Baker, 2008, S. 70f.
  648. Ford, 1933, S. 128ff. u. 145.
  649. Grant, 1971, S. XXXI; Stoddard, 1984, S. 152.
  650. Bendersky, 2000, S. 58, 54 u. 96.
  651. Fest, 1973, S. 201; Poliakov, 1977, Bd. 4, S. 339f.
  652. Stalin, 1971-73, Bd. 6, S. 122f.
  653. Stoddard, 1971.
  654. Dower, 1986, S. 6-11; Losurdo, 2000b, Kap. 2, § 4.
  655. Churchill, 1974, S. 7285-7293.
  656. Stalin, 1971-73, Bd. 15, S. 30f.
  657. Boyle, 1990, S. 34 (Brief an den amerikanischen Präsidenten Eisenhower vom 5. April 1953).
  658. Churchill, 1974, S. 7291.
  659. Boyle, 1990, S. 25 (Brief Churchills an Eisenhower vom 18. Februar 1953).
  660. Churchill, 1974, S. 7835 (Rede vom 23. Juli 1949); Kursiva von mir.
  661. Churchill, 1974, S. 7288, 7293 (Rede vom 5. März 1946) u. 7902 (Rede vom 1. Dezember 1949).
  662. Boyle, 1990, S. 53f.
  663. In: Freiberger, 1992, S. 164.
  664. Chen Jian, 1994, S. 50 u. 170.
  665. Trotzki, 1988, S. 1050.
  666. Trotzki, 1988, S. 1042f.
  667. Feuchtwanger, 1993, S. 65f u. 68.
  668. Zitiert in: Rogowin, 1998, S. 198.
  669. Klemperer, 2005, S. 214.
  670. Kelley, 1990, S. 16 u. 29.
  671. Herzstein, 1989, S. 123.
  672. 134 Trotzki, 1988, S. 1043f.
  673. Stalin, 1971-73, Bd. 1, S. 19.
  674. Stalin, 1971-73, Bd. 1, S. 71 u. 75.
  675. Stalin, 1971-73, Bd. 2, S. 307 u. 267.
  676. Stalin, 1971-73, Bd. 3, S. 46f.
  677. Stalin, 1971-73, Bd. 13, S. 26.
  678. In: Tucker, 1990, S. 258.
  679. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 251f.
  680. Zinn, 2002, S. 464.
  681. In: Baker, 2008, S. 9.
  682. In: De Carolis, 2007.
  683. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 330.
  684. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 363f.
  685. Hitler, 1965, S. 1773.
  686. Hitler, 1989, S. 448 (Gespräch vom 21. Juli 1942).
  687. Goebbels, 1996 (Tagebucheintragung vom 21. April 1938, die nicht in der zitierten deutschen Ausgabe der Tagebücher enthalten ist).
  688. Hitler, 1965, S. 1773.
  689. In: Manoschek, 1995, S. 31, 46, 59-61, 65 u. 51.
  690. Ignatieff, 1997, S. 33.
  691. Arendt, 1989a, S. 193.
  692. Hitler, 1965, S. 1773.
  693. In: Pauwels, 2003, S. 128.
  694. Bendersky, 2000, S. 356-358.
  695. Eschenazi/Nissim, 1995, S. 50; Thomas, 1988, S. 112 (über Berija).
  696. Eschenazi/Nissim, 1995, S. 150.
  697. Eschenazi/Nissim, 1995, S. 366.
  698. MacDonogh, 2007, S. 332 u. 215-224.
  699. Eschenazi/Nissim, 1995, S. 442.
  700. Arendt, 1989b, S. 88-90.
  701. Taylor, 1993, S. 336 u. 346.
  702. Mlecin, 2008, S. 9.
  703. Roberts, 2006, S. 339.
  704. De Felice, 1995, S. 133.
  705. MacDonogh, 2007, S. 330.
  706. Berner, 1976, S. 625f; Eschenazi/Nissim, 1995, S. 376-378.
  707. Mlecin, 2008, S. 130-138.
  708. Berner, 1976, S. 626.
  709. Rapoport, 1991, S. 193 (über das »Neue Jerusalem«); Conquest, 1996, S. 48.
  710. Roberts, 2006, S. 339.
  711. In: Rogowin, 1998, S. 198f.
  712. Loewen, 2006, S. 125-127.
  713. Sachar, 1993, S. 640.
  714. Dinnerstein, 1994, S. 163-165.
  715. Sachar, 1993, S. 639.
  716. Sachar, 1993, S. 635.
  717. Sachar, 1993, S. 636.
  718. Handlin/Handlin, 1994, S. 198.
  719. Sachar, 1993, S. 636f.
  720. Sachar, S. 640.
  721. Churchill, 1974, S. 7800 u. 7809 (Reden vom 25. u. 31. März 1949).
  722. Adorno, 1975, S. 430.
  723. Knight, 1997, S. 209.
  724. Roccucci, 2001, S. 32.
  725. Montefiore, 2007, S. 347.
  726. Eschenazi/Nissim, 1995, S. 43.
  727. Eschenazi/Nissim, 1995, S. 46.
  728. Eschenazi/Nissim, 1995 S. 46.
  729. Eschenazi/Nissim, 1995, S. 47.
  730. Berner, 1976, S. 626f.
  731. Rapoport, 1991, S. 119.
  732. Rapoport, 1991, S. 119.
  733. Rapoport, 1991, S. 120.
  734. Berner, 1976, S. 626f.
  735. Berner, 1976, S. 627.
  736. Eschenazi/Nissim, 1995, S. 399.
  737. Eschenazi/Nissim, 1995, S. 311.
  738. In: Medvedev/Medvedev, 2006, S. 374 (Nachwort des Hrsg.)
  739. Conquest, 1996, S. 46f.
  740. Conquest, 1996, S. 47.
  741. Eschenazi/Nissim, 1995, S. 405 u. 184.
  742. Roberts, 2006, S. 342.
  743. Elon, 2004, S. 15.
  744. Flores 1995.
  745. Thomas, 1995, S. 225-229, 233 u. passim.
  746. Rapoport, 1991, S. 181.
  747. Brent/Naumov, 2004, S. 8.
  748. Medvedev/Medvedev, 2003, S. 23.
  749. Zit. in Stalin, 1971-73, Bd. 9, S. 25.
  750. Trotzki, 1988, S. 1228.
  751. Trotzki, 1988, S. 1283.
  752. Robespierre, 1912-1967, Bd. 10, S. 275 u. 267.
  753. Robespierre, 1912-1967, Bd. 8, S. 81 u. Bd. 10, S. 361.
  754. Robespierre, Bd. 10, S. 568.
  755. Kant, 1900, Bd. 27, S. 673f.
  756. Gramsci, 1975, S. 1729.
  757. Gramsci, 1975, S. 325, 866 u. 1729.
  758. Sun Yat-Sen, 1976, S. 52.
  759. Mao Zedong, 1998, S. 242f.
  760. Sun Yat-Sen, 1976, S. 52.
  761. Feuchtwanger, 1993, S. 89.
  762. Trotzki, 1923, S. 39.
  763. Trotzki, 1923, S. 17, 24 u. 104.
  764. Trotzki, 1923, S. 93 u. 109f.
  765. Karol, 2005, S. 12.
  766. Besançon, 1998, S. 123.
  767. Caretto, 1997.
  768. Caretto, 1997.
  769. Agursky, 1987, S. 26.
  770. Agursky, 1987, S. 94 u. 95.
  771. Agursky, 1987, S. 94 u. 98.
  772. Agursky, 1987, S. 94.
  773. Diamond, 1985, S. 97f.
  774. Poliakov, 1977, Bd. 4, S. 196.
  775. Figes, 1997, S. 677.
  776. Abgebildet in: Traverso, 2002, Foto Nr. 17.
  777. In: Reuth, 1991, S. 147.
  778. Arendt, 1966, S. 424f (= Arendt, 1986, S. 656).
  779. Arendt, 1951, S. 400-402; Arendt, 1966, S. 422-424 (= Arendt, 1986, S. 654f).
  780. Churchill, 1963, S. 437.
  781. Costello, 1991, S. 158.
  782. In: Hofstadter, 1982, Bd. 3, S. 387f.
  783. In: Hofstadter, 1982, Bd. 3, S. 387 u. 390.
  784. Herzstein, 1989, S. 284 u. 334-338.
  785. Herzstein, 1989, die Fotos zwischen S. 344f.
  786. Herzstein, 1989, S. 279-281.
  787. Herzstein, 1989, S. 240, 327 u. 332.
  788. Cole, 1971, S. 55 u. 104-109; Herzstein, 1989, S. 327, 332 u. 336.
  789. Herzstein, 1989, S. 338f.
  790. Chamberlin, 1950, S. 10; Herzstein, 1989, S. 333.
  791. Herzstein, 1989, Kommentar zu den Fotos zwischen S. 344f.
  792. Siehe die in Gregory 1993 abgebildeten Plakate, S. 60f u. 104.
  793. Herzstein, 1989, S. 240 u. 327.
  794. Stalin, 1971-73, Bd. 17, S. 72.
  795. Kerenski, 1989, S. 525 u. 328 ff.
  796. In: Schmid, 1974, S. 17.
  797. Agursky, 1987, S. 43 u. 46.
  798. Agursky, 1987, S. 145f u. 148.
  799. Thomas, 1988, S. 315 u. 248.
  800. Thomas, 1988, S. 314; Roberts, 2006, S. 338.
  801. Safire, 2004.
  802. Feuchtwanger, 1993, S. 36.
  803. Furet, 1995, S. 175f.
  804. Davis, 1982, S. 5, 65 u. passim.
  805. Freud, 1993, S. 686f.
  806. Losurdo, 2011, Kap. 6, § 11.
  807. Hitler, 1965, S. 1175 (Rede vom 28. April 1939); Hitler, 1980, S. 178 (Gespräch vom 4./5. Januar 1942).
  808. Kennan, 1956, S. 441-457; Aptheker, 1977, S. 367-370; Filene, 1967, S. 47f.
  809. Gramsci, 1984, S. 297.
  810. Stalin, 1971-73, Bd. 3, S. 34.
  811. Bucharin, 1984, S. 45.
  812. Luxemburg, 1968, S. 19f, 31 u. 33; Liebknecht, 1958-68, Bd. 8, S. 230 u. 266 283, Bd. 9, S. 503 u. Bd. 6, S. 297-299.
  813. Trotzki, 1998, S. 98f, 139, 238f u. 270.
  814. Trotzki, 1997-2001, Bd. 3, S. 536.
  815. In: Roberts, 2006, S. 34.
  816. In: Hofstadter, 1967, S. 209.
  817. In: Schmid, 1974, S. 48f.
  818. Losurdo, 1995, Kap. 1, § 1 u. 3 (für Weber); Croce, 1950, S. 22.
  819. In: Rothbard, 1974, S. 89.
  820. Lenin, 1955-71, Bd. 18, S. 329f.
  821. Lenin, 1955-71, Bd. 24, S. 411.
  822. Lenin, 1955-71, Bd. 39, S. 531, 704 u. 527f.
  823. Lenin, 1955-71, Bd. 39, S. 704.
  824. In: Hofstadter, 1967, S. 209 u. 205f.
  825. Vgl. Losurdo, 2010, Kap. 7, § 6.
  826. Lenin, 1955-71, Bd. 24, S. 311 u. Bd. 25, S. 395.
  827. Marx/Engels, 1955-89, Bd. 21, S. 166; Lenin, 1955-71, Bd. 25, S. 402f.
  828. Bucharin, 1984, S. 137 u. 141f.
  829. Stalin, 1971-73, Bd. 3, S. 15 u. 46.
  830. Hofstadter, 1967, S. 208.
  831. Lukács, 1967, S. 5.
  832. Croce, 1950, S. 251-253.
  833. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 190.
  834. Pareto, 1966, S. 940.
  835. Stalin, 1971-73, Bd. 3, S. 34.
  836. Stalin, 1971-73, Bd. 3, S. 34f.
  837. Stalin, 1971-73, Bd. 3, S. 54f.
  838. Stalin, 1971-73, Bd. 3, S. 75f.
  839. Ponting, 1992.
  840. Catherwood, 2004, S. 89 u. 85.
  841. Torri, 2000, S. 598.
  842. Leibowitz/Finkel, 2005, S. 21.
  843. Dimitroff, 2002, S. 817 (die ansonsten hier benutzte deutsche Ausgabe der Tagebücher reicht nur bis 1943, d. Üb.).
  844. In: Markusen/Kopf, 1995, S. 151.
  845. Friedrich, 2002, S. 29 u. 64f.
  846. Churchill, 1974, S. 6384 (Rede vom 27. April 1941); Nolte, 1987, S. 503.
  847. Friedrich, 2002, S. 258f.
  848. In: Fontaine, 2004, S. 83.
  849. Cobain, 2005; Cobain, 2006.
  850. In: Dower, 1986, S. 39.
  851. In: Butler, 2005, S. 99 (Botschaft vom 25. November 1942).
  852. Alperovitz, 1995.
  853. Fussell, 1989, S. 116-119.
  854. Smith, 1995, S. 248.
  855. Loewen, 2006, S. 43.
  856. In: Hofstadter, 1982, Bd. 3, S. 391.
  857. Friedrich, 2002, S. 432.
  858. Zuckmayer, 2004, S. 72.
  859. Johnson, 1991, S. 425 u. 427.
  860. Walzer, 2000, S. 268 u. 261.
  861. Walzer, 2000, S. 254.
  862. Walzer, 2000, S. 254f u. 260, Lukács, 1967, S. 6-11.
  863. Toynbee, 1953, S. 9f.
  864. Mayer, 2000, S. 607; vgl. auch Tucker, 1990, S. 50-98; Bullock, 1992, S. 279f; Schneider, 1994.
  865. Walzer, 2000, S. 252f.
  866. In: Kissinger, 1994, S. 250.
  867. Fischer, 1971, S. 40f, 781 u. 848.
  868. Friedrich, 2002, S. 149f, 155f, 332 u. 338.
  869. Roberts, 2006, S. 47 u. 170f.
  870. Di Feo, 2004; Di Feo, 2005.
  871. Hanley/Mendoza, 2007.
  872. Warner, 2000.
  873. Sang-Hun Choe, 2007.
  874. Sang-Hun Choe, 2007.
  875. So Pierre Pascal, zit. in: Furet, 1995, S. 131.
  876. Friedrich, 2002, S. 326f.
  877. Insbesondere Tucker, 1990, S. 13-24.
  878. Graziosi, 2007, S. 24.
  879. Graziosi, 2007, S. 24.
  880. Stalin, 1971-73, Bd. 6, S. 164f; Stalin, 1971-73, Bd. 13, S. 100-102.
  881. Lenin, 1955-71, Bd. 27, S. 333; Stalin, 1971-73, Bd. 11, S. 221.
  882. Trotzki, 1988, S. 863.
  883. Benjamin, 1955, S. 54.
  884. Marx, Engels, 1955-89, Bd. 12, S. 682.
  885. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 69.
  886. Kelley, 1990, S. 100.
  887. Kelley, 1990, S. 94-96.
  888. In: Woodward, 1966, S. 131-134.
  889. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 69f.
  890. Stalin, 1971-73, Bd. 14, S. 74 u. 89.
  891. Hayek, 1976, S. 148.
  892. Marx/Engels, 1955-89, Bd. 4, S. 140.
  893. Deutscher, 1962, S. 369 und Deutscher 1966c, S. 221.
  894. Deutscher, 1962, S. 370.
  895. Chlewnjuk, 1998, S. 23-27.
  896. White, 1980, S. 82.
  897. Trotzki, 1988, S. 1256-1259.
  898. Chlewnjuk, 1998, S. 25f; Rogowin, 1998, S. 531ff.
  899. Deutscher, 1966c, S. 223f.
  900. De Gasperi, 1956, S. 17.
  901. In: Deutscher, 1972, S. 492, Anm. 35.
  902. Churchill, 1963, S. 320f.
  903. Taylor, 1996, S. 159.
  904. De Gasperi, 1956, S. 17.
  905. Deutscher, 1962, S. 377f.
  906. Deutscher, 1962, S. 402 u. 403f.
  907. Daniels, 1970, S. 144.
  908. Deutscher, 1966b, S. 6 u. 13.
  909. Deutscher, 1969, S. 12 (Vorwort zur zweiten Aufl. der Stalin-Biographie mit dem Datum 11. Oktober 1966 in der hier zit. dt. Ausg. noch nicht enthalten).
  910. Payne, 2001, S. 8.
  911. Caryl, 2002, S. 29; Arendt, 1966, S. 319 (= Arendt, 1986, S. 517f); Sinowjew, 1988, S. 101.
  912. Chlewnjuk, 1998, S. 367.
  913. Medvedev/Medvedev, 2006, S. 369-371 (so N. Werth u. R. H. McNeal, zit. im Nachwort des Hg.).
  914. Roberts, 2006, S. 94 u. 109.
  915. Graziosi, 2007, S. 78; Medvedev/Medvedev, 2003, S. 209.
  916. Fontaine, 2004, S. 70.
  917. Medvedev/Medvedev, 2003, S. 19.
  918. Fontaine, 2004, S. 71.
  919. Roberts, 2006, S. 374.
  920. Arendt, 1966, S. 309f u. Anm. 14 (= Arendt 1986, S. 500; der Bezug auf die Rede Chruschtschows u. resp. Anm. fehlen im dt. Text, d. Üb).
  921. Dimitroff, 2000, S. 382.
  922. Hoffmann, 1995.
  923. Irving, 1983a, S. 237 (= Irving 1983b, S. 291).
  924. In: Irving, 1983a, 236 (= Irving, 1983b, S. 290).
  925. Strada, 1996.
  926. Chlewnjuk, 2006, S. 263-277.
  927. Sack, 1993, S. 53 u. passim.
  928. Hoffmann, 1995, S. 153-155.
  929. Montefiore, 2007, S. 370, 381, u. 727ff.
  930. Deutscher, 1966b, S. 7.
  931. Baczko, 1989, S. 30 u. Anm. 2.
  932. Baczko, 1989, S. 15.
  933. Baczko, 1989, S. 22.
  934. Baczko, 1989, S. 292.
  935. Baczko, 1989, S. 290f.
  936. Baczko, 1989, S. 251.
  937. Babeuf, 1988, S. 316-318.
  938. Diamond, 1985, S. 97-99.
  939. Filene, 1967, S. 46f.
  940. Roberts, 2006, S. 3 (für die anhaltende Beliebtheit Stalins in Russland); Sinowjew, 1994, S. 11, 17, 54 u. 133.
  941. Franceschini, 1991.
  942. Duverger, 1993.
  943. In: Baczko, 1989, S. 228.
  944. Chang/Halliday, 2006.
  945. Davis, 2001, S. 299.
  946. Losurdo, 2010, Kap. 9, § 6 u. Kap. 8, § 3 (für Tocqueville u. J. S. Mill); Davis, 2001, S. 22 u. 16; Spence, 1998, S. 53, 62, 134f u. 234f (für die Schandtaten der Invasoren und den Kampf der Taiping gegen das Opium).
  947. Gernet, 1972, S. 530; Roux, 2007, S. 40.
  948. Gernet, 1972, S. 530.
  949. Roux, 2007, S. 41.
  950. Roux, 2007, S. 34-36.
  951. Roux, 2007, S. 39 u. 37.
  952. Roux, 2007, S. 41 u. 37.
  953. Roux, 2007, S. 72.
  954. Sun Yat-Sen, 1976, S. 27 u. 42f.
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  958. Zhang, 2001, S. 24, 32 u. 71.
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  968. Arrighi, 2008, S. 406f.
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  970. Short, 2005, S. 351, 287, 289f, 334 u. 361f.
  971. Short, 2005, S. 18 u. 277f.
  972. Short, 2005, S. 331; vgl. auch das Foto zwischen S. 376 u. 377.
  973. Wikler, 1999.
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  987. Conquest, 1992, S. 174.
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  990. Croce, 1993, Bd. 2, S. 88.
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  995. In: Kershaw, 2005, S. 52, 75 u. 228.
  996. Gramsci, 1975, S. 2326.
  997. Conquest, 1992, S. 175.
  998. Losurdo, 2011, Kap. 3, § 4-5.
  999. Gramsci, 1975, S. 199 (er bezieht sich in erster Linie auf Madison Grant).
  1000. Conquest, 1999, S. 241 u. 270.
  1001. Short, 2005, S. 289 und 290 Anm.
  1002. McAllister Linn, 1989, S. 27.
  1003. Chomsky/Herman, 1979, S. 207-209.
  1004. So Woodword, in: Losurdo, 2010, Kap. 10, § 5.
  1005. Ginzburg, 1988, S. 221f, 205 u. 211.
  1006. Ginzburg, 1988, S. 220.
  1007. Ginzburg, 1988, S. 212, 219 u. 232.
  1008. Ginzburg, 1988, S. 222.
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  1010. Kelley, 1990, S. XIIf.
  1011. Ginzburg, 1988, S. 203.
  1012. Ascherson, 2005, S. 29.
  1013. Navarro, 1999.
  1014. Marx/Engels, 1955-89, Bd. 17, S. 334.
  1015. Bucharin/Preobraschensky, 1920, S. 106.
  1016. Werth, 2006; Galli Della Loggia, 2007.
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  1018. De Ruggiero, 1963, S. 437.
  1019. Roux, 2007, S. 41.
  1020. Conquest, 1999, S. 34.
  1021. In: Chamberlain, 1937, S. 997 u. Anm. 2; Martineau, 1857, S. 297.
  1022. Über all das vgl. Losurdo, 2010, Kap. 5, § 8; Kap. VI, § 3; Kap. 3, § 2; Kap. 10, § 1; Kap. 7, § 1, Kap. 9, § 2 u. Kap. 7, § 6.
  1023. James, 2001, S. 91f.
  1024. Das Lob Paul Johnsons wird auf der vierten Seite des Covers von Conquest, 2001 zitiert.
  1025. Grégoire, 1996, S. 75.
  1026. Davis, 2000.
  1027. In: Blackmon, 2008, S. 358.
  1028. Für die Nostalgie nach der Tradition der Südstaaten, vgl. Weaver, 1987, S. 78, 161, 160-170; in kritischem Sinn, vgl. Franklin, 1989, S. 10-40 u. Davis, 2000.
  1029. James, 2001, S. 103.
  1030. In: Weaver, 1987, S. 168.
  1031. Deschner, 1988.
  1032. Hegel, 1969-79, Bd. 12, S. 35.
  1033. Gramsci, 1975, S. 1417.
  1034. Vgl. Losurdo, 2010, Kap. 1, § 6 u. Kap. 7, § 3 u. 6.
  1035. Baudy, 1991, S. 9f u. 43.
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