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Kurze Darlegung der Meinungsverschiedenheiten in der Partei | |
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Verfasst in | Mai 1905 |
Typus | Broschüre |
Quelle | https://web.archive.org/web/20050414200507/http://stalinwerke.de/band01/b01-014.html |
„Die Sozialdemokratie ist die Vereinigung
von Arbeiterbewegung und Sozialismus."
Karl Kautsky
Allzu aufdringlich sind doch unsere „Menschewiki"! Ich spreche von den Tifliser „Menschewiki". Sie haben gehört, dass es in der Partei Meinungsverschiedenheiten gibt, und nun haben sie sich drauf verlegt, immer und überall von Meinungsverschiedenheiten zu reden, ob einem recht oder nicht, nach rechts und nach links die „Bolschewiki" zu beschimpfen, ob einem recht oder nicht! Und nun schimpfen sie aus vollem Halse, wie Besessene. An allen Straßenkreuzungen, ob sie unter sich sind oder unter Fremden, kurzum, wo es sich gerade trifft, stimmen sie ein und dasselbe Gezeter an: Nehmt euch in acht vor der „Mehrheit" („bolschinstwo"), das sind Fremdlinge, Ungläubige! Unsere Menschewiki geben sich nicht mit dem „gewöhnlichen" Kampfboden zufrieden, sie haben die „Sache" in die legale Literatur hinübergetragen und damit ein übriges Mal der Welt ihre ... Aufdringlichkeit gezeigt.
Wessen hat sich denn nun die „Mehrheit" („bolschinstwo") schuldig gemacht? Weshalb ist unsere „Minderheit" (menschinstwo") so „böse"?
Wenden wir uns der Geschichte zu.
Zum ersten Mal entstanden die „Mehrheit" und die „Minderheit" auf dem II. Parteitag (1903). Dies war der Parteitag, auf dem unsere zersplitterten Kräfte sich zu einer einheitlichen, machtvollen Partei vereinigen sollten. Große Hoffnungen setzten wir Parteiarbeiter auf diesen Parteitag. Endlich also! - riefen wir froh, - erleben auch wir die Vereinigung in einer einheitlichen Partei, erhalten auch wir die Möglichkeit, nach einem einheitlichen Plane zu handeln! ... Selbstverständlich hatten wir auch vorher gehandelt, aber unsere Handlungen waren zersplittert und unorganisiert. Selbstverständlich hatten wir auch vorher uns zu vereinigen versucht, eben zu diesem Zwecke hatten wir ja (1898) den I. Parteitag einberufen, uns sogar, wie es schien, auch „vereinigt", aber diese Einheit existierte nur in Worten: die Partei blieb immer noch in einzelne Gruppen zersplittert, die Kräfte waren immer noch zerbröckelt und bedurften der Vereinigung. Und nun sollte der II. Parteitag die getrennten Kräfte sammeln und zusammenschweißen. Wir sollten eine einheitliche Partei schaffen.
In der Praxis zeigte sich jedoch, dass unsere Hoffnungen bis zu einem gewissen Grade verfrüht waren. Der Parteitag konnte uns keine einheitliche und unteilbare Partei geben, er legte nur das Fundament einer solchen Partei. Dafür zeigte uns der Parteitag klar, dass es in der Partei zwei Richtungen gibt: die Richtung der „Iskra" (es handelt sich um die alte „Iskra")[26] und die Richtung ihrer Gegner. Dementsprechend teilte sich der Parteitag in zwei Teile: in die „Mehrheit" und die „Minderheit". Die erstere folgte der „Iskra"-Richtung und schloss sich um sie zusammen; die zweite aber bezog als Gegnerin der „Iskra" den entgegengesetzten Standpunkt.
So wurde die „Iskra" zum Banner der Partei „Mehrheit", und der Standpunkt der „Iskra" wurde zum Standpunkt der „Mehrheit".
Welchen Weg ging die „Iskra", was verteidigte sie?
Um das zu verstehen, muss man wissen, unter welchen Bedingungen sie den Schauplatz der Geschichte betrat.
Die „Iskra" begann im Dezember 1900 zu erscheinen. Das war eine Zeit, als in der russischen Industrie eine Krise einsetzte. Der industrielle Aufschwung, der von einer Anzahl beruflicher Streiks begleitet war (1896-1898), wurde allmählich von einer Krise abgelöst. Die Krise verschärfte sich von Tag zu Tag und wurde zu einem Hindernis für die Berufsstreiks. Trotzdem bahnte sich die Arbeiterbewegung ihren Weg und schritt vorwärts: die einzelnen Bäche flössen zusammen zu einem einzigen Strom, die Bewegung gewann ein Klassengepräge und beschritt allmählich den Weg des politischen Kampfes. Die Arbeiterbewegung wuchs mit erstaunlicher Geschwindigkeit... Nur sah man nicht den Vortrupp, die Sozialdemokratie (Die Sozialdemokratie ist der Vortrupp des Proletariats. Diesem Trupp gehört jeder sozialdemokratische Kämpfer an, sei er nun Arbeiter oder Intellektueller.), die in diese Bewegung sozialistisches Bewusstsein hineingetragen, sie mit dem Sozialismus vereinigt und auf diese Weise dem Kampf des Proletariats einen sozialdemokratischen Charakter gegeben hätte.
Was aber taten die damaligen „Sozialdemokraten" (die man „Ökonomisten" nannte)? Sie beweihräucherten die spontane Bewegung und behaupteten unbekümmert: Das sozialistische Bewusstsein ist gar nicht so notwendig für die Arbeiterbewegung, sie wird gewiss auch so ihr Ziel erreichen, die Hauptsache ist die Bewegung selbst. Die Bewegung sei alles, und das Bewusstsein sei eine Kleinigkeit. Eine Bewegung ohne Sozialismus - das war es, wonach sie strebten.
Worin besteht denn aber in solchem Fall die Bestimmung der Sozialdemokratie Rußlands? Sie soll das gefügige Werkzeug der spontanen Bewegung sein, behaupteten sie. Es sei nicht unsere Sache, sozialistisches Bewusstsein in die Arbeiterbewegung hineinzutragen, es sei nicht unsere Sache, an die Spitze dieser Bewegung zu treten - das wäre zweckloser Zwang -, unsere Pflicht bestehe nur darin, auf die Bewegung zu horchen und genau festzuhalten, was im gesellschaftlichen Leben vor sich geht, - wir müssten im Nachtrab der spontanen Bewegung einhertrotten. (Unser „Sozialdemokrat“[27] ist von Leidenschaft zur „Kritik" entbrannt (siehe Nr. l, „Mehrheit oder Minderheit?"), aber ich muss bemerken, dass er die „Ökonomisten" und die Leute vom „Rabotscheje Djelo" unrichtig charakterisiert (sie unterscheiden sich nur wenig voneinander). Die Sache ist nicht die, dass sie „politische Fragen gering schätzten", sondern die, dass sie im Nachtrab der Bewegung einhertrotteten und das wiederholten, was die Bewegung ihnen eingab. Es gab eine Zeit, wo nur Streiks stattfanden. Damals predigten sie den ökonomischen Kampf. Es begann die Zeit der Demonstrationen (1901), es floss Blut, Enttäuschung kam auf, und die Arbeiter griffen zum Terror, in der Annahme, das werde sie von den Tyrannen erlösen. Da fielen auch die „Ökonomisten", die Leute vom „Rabotscheje Djelo" in den gemeinsamen Chor ein und erklärten mit großer Wichtigkeit: Es ist Zeit, zum Terror zu greifen, die Gefängnisse zu überfallen, die Genossen zu befreien u. dgl. mehr (siehe „Eine historische Wendung", „Rabotscheje Djelo[28]). Wie man sieht, heißt dies durchaus nicht, dass sie „politische Fragen gering schätzten". Der Autor entlehnte seine „Kritik" bei Martynow, es wäre aber nützlicher gewesen, wenn er sich mit der Geschichte vertraut gemacht hätte.) Mit einem Wort, die Sozialdemokratie wurde als Ballast in der Bewegung hingestellt.
Wer die Sozialdemokratie nicht anerkennt, der braucht auch die sozialdemokratische Partei nicht anzuerkennen. Eben deshalb wiederholten die „Ökonomisten" so hartnäckig, dass das Bestehen einer politischen Partei des Proletariats in Rußland unmöglich sei. Mögen sich die Liberalen mit dem politischen Kampf beschäftigen, ihnen steht das besser an, so sagten sie. Was aber sollen wir Sozialdemokraten tun? Wir sollen nach wie vor als einzelne Zirkel existieren und isoliert handeln, jeder in seinem Winkel.
Keine Partei, sondern ein Zirkel! so sagten sie.
Einerseits also wuchs die Arbeiterbewegung und bedurfte eines führenden Vortrupps, und anderseits hat die „Sozialdemokratie", in Gestalt der „Ökonomisten", anstatt an die Spitze der Bewegung zu treten, sich selber verneint und ist im Nachtrab der Bewegung einhergetrottet.
Es galt, vor aller Welt den Gedanken auszusprechen, dass die spontane Arbeiterbewegung ohne den Sozialismus ein Umherirren im Dunkeln ist - von dem, auch wenn es irgendeinmal zum Ziele führt, doch niemand weiß, wann und um den Preis welcher Qualen - dass das sozialistische Bewusstsein folglich für die Arbeiterbewegung von sehr großer Bedeutung ist.
Es galt ferner zu sagen, dass die Trägerin dieses Bewusstseins, die Sozialdemokratie, verpflichtet ist, das sozialistische Bewusstsein in die Arbeiterbewegung hineinzutragen, stets an der Spitze der Bewegung zu stehen, und nicht von außen der spontanen Arbeiterbewegung zuzusehen, nicht im Nachtrab einherzutrotten.
Es galt ferner den Gedanken auszusprechen, dass es die direkte Pflicht der Sozialdemokratie Rußlands ist, die einzelnen Vortrupps des Proletariats zu sammeln, sie zu einer einheitlichen Partei zusammenzuschließen und dadurch der Zerfahrenheit in der Partei ein für allemal ein Ende zu setzen.
An die Lösung gerade dieser Aufgaben machte sich denn auch die „Iskra".
Hören wir, was sie in ihrem programmatischen Artikel erklärt (siehe „Iskra" Nr. 1): „Die Sozialdemokratie ist die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus"[29], d. h. eine Bewegung ohne Sozialismus oder ein Sozialismus, der von der Bewegung abseits steht, ist eine unerwünschte Erscheinung, gegen die die Sozialdemokratie ankämpfen muss. Da aber die „Ökonomisten" vom „Rabotscheje Djelo" die spontane Bewegung anbeteten, da sie die Bedeutung des Sozialismus herabsetzten, so erklärte die „Iskra": „Von der Sozialdemokratie losgerissen, verflacht die Arbeiterbewegung und verfällt unweigerlich in Bürgerlichkeit." Dementsprechend sei es die Pflicht der Sozialdemokratie, „dieser Bewegung ihr Endziel, ihre politischen Aufgaben zu weisen, ihre politische und ihre ideologische Selbständigkeit zu wahren".
Welche Pflichten hat die Sozialdemokratie Rußlands? „Hieraus ergibt sich ganz von selbst die Aufgabe", fährt die „Iskra" fort, „die die russische Sozialdemokratie zu verwirklichen berufen ist: in die Massen des Proletariats sozialistische Ideen und politisches Bewusstsein hineinzutragen und eine revolutionäre Partei zu organisieren, die mit der spontanen Arbeiterbewegung unauflöslich verbunden ist", d. h. sie muss immer an der Spitze der Bewegung stehen, und ihre allererste Pflicht ist es, die sozialdemokratischen Kräfte der Arbeiterbewegung zu einer einheitlichen Partei zusammenzuschweißen.
So begründet die Redaktion der „Iskra" (Die Redaktion der „Iskra" bestand damals aus sechs Personen: Plechanow, Axelrod, Sassulitsch, Martow, Starowjer[30] und Lenin.) ihr Programm.
Hat die „Iskra" dieses vortreffliche Programm verwirklicht?
Alle wissen, wie selbstlos sie diese wichtigsten Ideen in die Tat umgesetzt hat. Das bewies uns klar der II. Parteitag, der die „Iskra" mit den 35 Stimmen der Mehrheit als Zentralorgan der Partei anerkannte.
Ist es hiernach etwa nicht lächerlich, wenn manche Quasimarxisten die alte „Iskra" „herunterzureißen" beginnen?
Hören wir, was der menschewistische „Sozialdemokrat" über die „Iskra" schreibt:
„Sie (die ,Iskra´) hätte die Ideen des ´Ökonomismus’ untersuchen, falsche Ansichten verwerfen, die wahren annehmen und ihn in ein neues Flussbett leiten sollen... Aber es ist anders gekommen. Der Kampf gegen den .Ökonomismus´ führte zu einem anderen Extrem - zur Herabminderung des ökonomischen Kampfes, zu einer geringschätzigen Haltung ihm gegenüber und dazu, dass dem politischen Kampf die herrschende Bedeutung zuerkannt wurde. Politik ohne Ökonomie (soll heißen ´ohne Ökonomik’) - das ist die neue Richtung." (Siehe „Sozialdemokrat" Nr. l, „Mehrheit oder Minderheit?")
Aber wo, wann, in welchem Lande ist alles dies denn passiert, ehrenwerter „Kritiker"? Was taten Plechanow, Axelrod, Sassulitsch, Martow, Starowjer, weshalb leiteten sie die „Iskra" nicht auf den Weg der „Wahrheit", wo sie doch die Mehrheit in der Redaktion bildeten? Und wo waren Sie selber bisher, Verehrtester, warum haben Sie nicht den II. Parteitag gewarnt? Er hätte dann nicht die „Iskra" als Zentralorgan anerkannt.
Aber lassen wir den „Kritiker".
Es handelt sich darum, dass die „Iskra" die brennenden „Tagesfragen" richtig wahrgenommen, dass sie eben den Weg eingeschlagen hat, von dem ich oben gesprochen, und selbstlos ihr Programm in die Tat umgesetzt hat.
Noch deutlicher und überzeugender hat Lenin in seinem vortrefflichen Buch „Was tun?" den Standpunkt der „Iskra" zum Ausdruck gebracht.
Gehen wir auf dieses Buch ein.
Die „Ökonomisten" beteten die spontane Arbeiterbewegung an, wer aber wüsste nicht, dass die spontane Bewegung eine Bewegung ohne Sozialismus ist, dass sie „Tradeunionismus ist" (Lenin, „Was tun?", S. 28 [deutsche Neuausgabe, Berlin 1949, 3.Auflage, S. 73]), der außerhalb des Rahmens des Kapitalismus nichts sehen will? Wer wüsste nicht, dass die Arbeiterbewegung ohne Sozialismus nicht vom Fleck kommt, im Rahmen des Kapitalismus bleibt, ein Umherirren um das Privateigentum ist, von dem, auch wenn es irgendeinmal zur sozialen Revolution führt, doch niemand weiß, wann und um den Preis welcher Qualen. Ist es denn für die Arbeiter gleichgültig, ob sie in nächster Zeit oder nach einem langen Zeitraum, auf einem leichten oder schwierigen Wege das „gelobte Land" betreten werden? Es ist klar, jeder, der die spontane Bewegung verherrlicht und anbetet, der reißt, ob er will oder nicht, eine Kluft auf zwischen dem Sozialismus und der Arbeiterbewegung, mindert die Bedeutung der sozialistischen Ideologie herab, vertreibt sie aus dem Leben und unterwirft, ob er will oder nicht, die Arbeiter der bürgerlichen Ideologie, denn er begreift nicht, dass „die Sozialdemokratie die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus" (Kautsky, „Das Erfurter Programm", Verlag des Zentralkomitees, S. 94.) ist, dass „jede Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, jede Herabminderung der Rolle des gewussten Elementes´, der Rolle der Sozialdemokratie, zugleich - ganz unabhängig davon, ob derjenige, der diese Rolle herabmindert, das wünscht oder nicht - die Stärkung des Einflusses der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter bedeutet" (Lenin, „Was tun?", S. 26 [deutsche Neuausgabe S. 71]).
Setzen wir das eingehender auseinander. In unserer Zeit können nur zwei Ideologien existieren: die bürgerliche und die sozialistische. Der Unterschied zwischen ihnen besteht u. a. auch darin, dass die erstere, d.h. die bürgerliche Ideologie, viel älter, verbreiteter ist und tiefere Wurzeln im Leben geschlagen hat als die zweite, dass man auf bürgerliche Ansichten allüberall stößt, in seinem eigenen und in fremdem Milieu, während die sozialistische Ideologie lediglich ihre ersten Schritte tut, sich erst einen Weg bahnt. Man braucht gar nicht davon zu reden, dass die bürgerliche Ideologie, d. h. das tradeunionistische Bewusstsein, wenn es sich um die Verbreitung der Ideen handelt, sich viel leichter verbreitet und die spontane Arbeiterbewegung viel breiter erfaßt als die sozialistische Ideologie, die lediglich ihre ersten Schritte tut. Dies ist umso wahrer, als die spontane Bewegung - eine Bewegung ohne Sozialismus - ohnehin „eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie führt" (Lenin, „Was tun?", S. 28 [deutsche Neuausgabe S. 73]). Unterwerfung unter die bürgerliche Ideologie bedeutet aber Verdrängung der sozialistischen Ideologie, da sie einander gegenseitig verneinen.
Wie? wird man uns fragen, neigt denn die Arbeiterklasse nicht zum Sozialismus hin? Jawohl, sie neigt zum Sozialismus hin. Wäre das nicht der Fall, so wäre die Tätigkeit der Sozialdemokratie zwecklos. Wahr ist aber auch, dass dieser Hinneigung eine andere Hinneigung gegenübersteht und hinderlich ist - die Hinneigung zur bürgerlichen Ideologie.
Ich habe soeben gesagt, dass unser gesellschaftliches Leben von bürgerlichen Ideen durchtränkt ist, weshalb es viel leichter ist, die bürgerliche Ideologie zu verbreiten als die sozialistische. Man darf nicht vergessen, dass zu gleicher Zeit die bürgerlichen Ideologen nicht schlummern, dass sie sich auf ihre Art als Sozialisten verkleiden und unermüdlich versuchen, die Arbeiterklasse der bürgerlichen Ideologie zu unterwerfen. Wenn hierbei auch die Sozialdemokraten, gleich den „Ökonomisten", Maulaffen feilhalten und im Nachtrab der spontanen Bewegung einhertrotten (und die Arbeiterbewegung ist eben dann spontan, wenn die Sozialdemokratie sich so verhält), so leuchtet ganz von selbst ein, dass die spontane Arbeiterbewegung diesen ausgetretenen Weg beschreiten und sich der bürgerlichen Ideologie unterwerfen wird, selbstverständlich so lange, bis langwierige Irrungen und Qualen sie dazu nötigen, mit der bürgerlichen Ideologie zu brechen und der sozialen Revolution entgegenzustreben. Eben dies heißt Hinneigung zur bürgerlichen Ideologie.
Hören wir, was Lenin sagt:
„Die Arbeiterklasse fühlt sich spontan zum Sozialismus hingezogen, aber die am weitesten verbreitete (und in mannigfaltigsten Formen ständig wiederauferstehende) bürgerliche Ideologie drängt sich trotzdem spontan dem Arbeiter am meisten auf." (Lenin, „Was tun?", S. 29 [deutsche Neuausgabe S. 75, Fußnote]). Eben deshalb unterwirft sich die spontane Arbeiterbewegung, solange sie spontan ist, solange sie sich nicht mit dem sozialistischen Bewusstsein vereinigt hat, der bürgerlichen Ideologie und neigt zu dieser Unterwerfung hin. (Ebenda, S. 28 [vgl. deutsche Neuausgabe S. 74-75]) "Wäre dem nicht so, dann wäre eine sozialdemokratische Kritik, eine sozialdemokratische Propaganda überflüssig, dann wäre auch die „Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus" überflüssig.
Die Sozialdemokratie ist verpflichtet, diese Hinneigung zur bürgerlichen Ideologie zu bekämpfen und die; andre Hinneigung zu fördern - die Hinneigung zum Sozialismus. Natürlich wird sich irgendeinmal, nach langen Irrungen und Qualen, die spontane Bewegung auch ohne Hilfe der Sozialdemokratie durchsetzen, bei den Toren der sozialen Revolution anlangen, da „die Arbeiterklasse sich spontan zum Sozialismus hingezogen fühlt" (Ebenda, S. 28 [vgl. deutsche Neuausgabe S. 74-75]) Was aber soll bis; dahin werden, was sollen wir bis dahin tun? Die Hände in den Schoß legen wie die „Ökonomisten", und den Struves und Subatows Platz machen? Die Sozialdemokratie abschwören und dadurch die Herrschaft der bürgerlichen, tradeunionistischen Ideologie begünstigen? Den Marxismus vergessen und nicht „Sozialismus und Arbeiterbewegung vereinigen"?
Nein! Die Sozialdemokratie ist der Vortrupp des Proletariats (K. Marx, „Manifest", S. 15 [31]), und hat die Pflicht, stets an der Spitze des Proletariats zu marschieren, die Pflicht, „die Arbeiterbewegung von dem spontanen Streben des Tradeunionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, abzubringen und sie unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie zu bringen" (Lenin, „Was tun?", S. 28 [deutsche Neuausgabe S. 73]) Es ist die Pflicht der Sozialdemokratie, das sozialistische Bewusstsein in die spontane Arbeiterbewegung hineinzutragen, die Arbeiterbewegung mit dem Sozialismus zu vereinigen und auf diese Weise dem Kampf des Proletariats sozialdemokratischen Charakter zu verleihen.
Man sagt, dass die Arbeiterklasse in einigen Ländern selbst eine sozialistische Ideologie (den wissenschaftlichen Sozialismus) herausgearbeitet habe und sie auch in den übrigen Ländern selbst herausarbeiten werde, weshalb es ganz überflüssig sei, sozialistisches Bewusstsein in die Arbeiterbewegung von außen hineinzutragen. Das ist jedoch ein schwerer Irrtum. Um den wissenschaftlichen Sozialismus herauszuarbeiten, muss man an der Spitze der Wissenschaft stehen, muss man mit wissenschaftlichen Kenntnissen gewappnet sein und es verstehen, die Gesetze der historischen Entwicklung eingehend zu erforschen. Die Arbeiterklasse aber, solange sie Arbeiterklasse bleibt, ist außerstande, an die Spitze der Wissenschaft zu treten, sie vorwärtszubringen und die historischen Gesetze wissenschaftlich zu erforschen: sie hat hierfür weder Zeit noch Mittel. Der wissenschaftliche Sozialismus „kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht...", sagt K. Kautsky. „... Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz" (hervorgehoben von K. Kautsky); „in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden..." (Lenin, „Was tun?", S. 27 [deutsche Neuausgabe S. 72], wo diese Zeilen Kautskys aus seinem bekannten Artikel in der „Neuen Zeit" [32], Jahrgang 1901-1902, Nr. 3, S. 79, abgedruckt sind.)
Dementsprechend sagt Lenin: Alle, die die spontane Arbeiterbewegung anbeten und ihr, die Hände im Schoß, von der Seite her zuschauen, alle, die die Bedeutung der Sozialdemokratie ständig herabmindern und den Struves und Subatows Platz machen, sie alle bilden sich ein, dass diese Bewegung selber den wissenschaftlichen Sozialismus herausarbeiten wird. „Aber das ist ein tiefer Irrtum“ (Ebenda, S. 26 [deutsche Neuausgabe S. 71]) Manche glauben, die Petersburger Arbeiter, die in den neunziger Jahren streikten, hätten sozialdemokratisches Bewusstsein besessen, aber auch das ist ein Irrtum. Sie hatten kein solches Bewusstsein „und konnten es gar nicht haben. Dieses (das sozialdemokratische Bewusstsein) konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse aus eigenen Kräften nur ein tradeunionistisches Bewusstsein herauszuarbeiten vermag, d. h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgewachsen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an." (Lenin, „Was tun?", S. 20-21 [deutsche Neuausgabe S. 63]) Dies heißt selbstverständlich nicht, fährt Lenin fort, „dass die Arbeiter an dieser Ausarbeitung nicht teilnehmen. Aber sie nehmen daran nicht als Arbeiter teil, sondern als Theoretiker des Sozialismus, als die Proudhons und Weitlings (die beide Arbeiter waren), mit anderen Worten, sie nehmen nur dann und so weit daran teil, als es ihnen in höherem oder geringerem Maße gelingt, sich das Wissen ihres Zeitalters anzueignen und dieses Wissen zu bereichern." (Ebenda, S. 26 [deutsche Neuausgabe S. 72-73, Fußnote])
Alles dies kann man sich annähernd wie folgt vorstellen. Es existieren kapitalistische Zustände. Es gibt Arbeiter und Unternehmer. Sie kämpfen gegeneinander. Der wissenschaftliche Sozialismus ist vorläufig nirgends zu sehen. Von einem wissenschaftlichen Sozialismus gab es nirgends auch nur eine Spur, als die Arbeiter bereits den Kampf führten... Jawohl, die Arbeiter kämpfen. Aber sie kämpfen isoliert gegen ihre Unternehmer, sie geraten in Konflikt mit den örtlichen Behörden: dort veranstalten sie Streiks, hier erscheinen sie in Versammlungen und auf Demonstrationen, dort verlangen sie von den Behörden Rechte, hier erklären sie den Boykott, die einen reden vom politischen Kampf, die anderen vom ökonomischen u. dgl. m. Aber das bedeutet noch nicht, dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewusstsein haben, das bedeutet noch nicht, dass das Ziel ihrer Bewegung die Abschaffung der kapitalistischen Ordnung ist, dass sie von dem Sturz des Kapitalismus und der Errichtung der sozialistischen Ordnung ebenso überzeugt sind, wie sie von der Unvermeidlichkeit des Sonnenaufgangs überzeugt sind, dass sie die Eroberung ihrer politischen Herrschaft (der Diktatur des Proletariats) als das notwendige Werkzeug für den Sieg des Sozialismus betrachten usw.
Unterdessen entwickelt sich die Wissenschaft. Die Arbeiterbewegung lenkt allmählich ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der größte Teil der Gelehrten gelangt zu dem Gedanken, dass die Arbeiterbewegung eine Rebellion Widerspenstiger sei, die man mit der Peitsche zur Vernunft bringen sollte. Andere wieder meinen, es sei die Pflicht der Reichen, den Armen irgendwelche Brosamen zuzuteilen, d.h. die Arbeiterbewegung sei eine Bewegung von Bettlern, deren Ziel es sei, Almosen zu erhalten. Und unter tausend solchen Gelehrten wird sich vielleicht nur einer finden, der an die Arbeiterbewegung wissenschaftlich herangeht, das ganze gesellschaftliche Leben wissenschaftlich erforscht, den Zusammenstoß der Klassen verfolgt, auf das Murren der Arbeiterklasse lauscht und schließlich wissenschaftlich beweist, dass die kapitalistische Ordnung durchaus nicht etwas Ewiges ist, dass sie ebenso vorübergehend ist wie der Feudalismus, dass ihr unvermeidlich die sie negierende sozialistische Ordnung folgen muss, die nur vom Proletariat vermittels der sozialen Revolution errichtet werden kann. Mit einem Wort, der wissenschaftliche Sozialismus wird herausgearbeitet.
Es versteht sich, dass es, wenn es keinen Kapitalismus und keinen Klassenkampf gäbe, auch keinen wissenschaftlichen Sozialismus gäbe. Wahr ist aber auch, dass jene wenigen, sagen wir Marx und Engels, den wissenschaftlichen Sozialismus nicht herausgearbeitet hätten, wenn sie nicht über wissenschaftliche Kenntnisse verfügt hätten.
Was ist wissenschaftlicher Sozialismus ohne Arbeiterbewegung? Ein Kompass, der, macht man von ihm keinen Gebrauch, nur verrosten kann, und dann müsste er über Bord geworfen werden.
Was ist Arbeiterbewegung ohne Sozialismus? Ein Schiff ohne Kompass, das auch so am anderen Ufer landen wird, das jedoch, wenn es einen Kompass hat, das Ufer bedeutend schneller erreichen und weniger Gefahren ausgesetzt sein würde.
Vereinigt beides, und ihr erhaltet ein prächtiges Schiff, das direkt nach dem anderen Ufer steuert und den Hafen unbeschädigt erreicht.
Vereinigt die Arbeiterbewegung mit dem Sozialismus, und ihr erhaltet die sozialdemokratische Bewegung, die auf direktem Wege dem „gelobten Land" entgegenstreben wird.
Da ist es nun die Pflicht der Sozialdemokratie (und nicht nur der sozialdemokratischen Intellektuellen), Sozialismus und Arbeiterbewegung zu vereinigen, sozialistisches Bewusstsein in die Bewegung hineinzutragen und der spontanen Arbeiterbewegung auf diese Weise sozialdemokratischen Charakter zu verleihen.
So sagt Lenin.
Manche behaupten, nach Meinung Lenins und der „Mehrheit" treibe die Arbeiterbewegung, wenn sie nicht mit der sozialistischen Ideologie verbunden ist, dem Untergang entgegen und werde die soziale Revolution nicht erreichen. Dies ist jedoch eine Erfindung, eine Erfindung müßiger Menschen, die wohl nur solchen Quasimarxisten wie An einfallen konnte (siehe „Was ist die Partei?", „Mogsauri" [33] Nr. 6).
Lenin behauptet mit Bestimmtheit, dass „die Arbeiterklasse sich spontan zum Sozialismus hingezogen fühlt" (Lenin, „Was tun?", S. 29 [deutsche Neuausgabe S. 75, Fußnote]), und wenn er nicht lange hierbei verweilt, so nur deshalb, weil er es für überflüssig hält, das zu beweisen, was ohnehin schon bewiesen ist. Außerdem hat Lenin es sich durchaus nicht zum Ziel gesetzt, die spontane Bewegung zu erforschen, er wollte nur den Praktikern zeigen, was sie bewusst zu tun haben.
Hören wir, was Lenin noch an einer anderen Stelle sagt, wo er mit Martow polemisiert:
„’Unsere Partei ist die bewusste Trägerin des unbewussten Prozesses.’ So ist es. Und eben darum ist es falsch, danach zu streben, dass, ´jeder Streikende’ sich Parteimitglied nenne, dann wäre ´jeder Streik’ nicht nur der elementare Ausdruck des machtvollen Klasseninstinkts und des Klassenkampfes, der unvermeidlich zur sozialen Revolution führt, sondern ein bewusster Ausdruck dieses Prozesses..., dann würde unsere Partei... mit einem Schlage... der gesamten bürgerlichen Gesellschaft ein Ende machen…“ (Lenin, „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück", S. 53 [in „Ausgewählte Werke" in zwei Bänden, Bd. I, deutsche Ausgabe, Moskau 1946, S. 367]
Wie man sieht, führen nach Lenins Meinung Klassenkämpfe und Klassenzusammenstöße, auch wenn sie nicht als sozialdemokratisch bezeichnet werden können, die Arbeiterklasse dennoch unvermeidlich zur sozialen Revolution.
Interessiert euch die Meinung auch anderer Vertreter der „Mehrheit", so hört zu. Einer von ihnen, Genosse Gorin, sagte auf dem II. Parteitag:
„Wie stünde die Sache, wenn das Proletariat sich selbst überlassen wäre? Die Sachlage wäre eine ähnliche wie am Vorabend der bürgerlichen Revolution. Die bürgerlichen Revolutionäre hatten keinerlei wissenschaftliche Ideologie. Und trotzdem ist die bürgerliche Ordnung entstanden. Das Proletariat würde natürlich ohne Ideologen schließlich und endlich auf die soziale Revolution hinarbeiten, aber instinktiv... Es würde auch instinktiv den Sozialismus praktizieren, aber es würde keine sozialistische Theorie haben. Der Prozess wäre lediglich langsam und qualvoller." (Protokoll des II. Parteitags, S. 129.)
Erläuterungen sind überflüssig.
Also: die spontane Arbeiterbewegung, die Arbeiterbewegung ohne den Sozialismus, verflacht unvermeidlich und nimmt tradeunionistischen Charakter an - sie unterwirft sich der bürgerlichen Ideologie. Darf man hieraus den Schluss ziehen, der Sozialismus sei alles und die Arbeiterbewegung sei nichts? Natürlich nicht! So sprechen nur Idealisten. Irgendeinmal, nach sehr langer Zeit, wird die ökonomische Entwicklung die Arbeiterklasse unvermeidlich zur sozialen Revolution führen und sie folglich veranlassen, ganz und gar mit der bürgerlichen Ideologie zu brechen. Es handelt sich nur darum, dass dieser Weg sehr langwierig und schmerzhaft sein wird.
Anderseits wird der Sozialismus ohne die Arbeiterbewegung, auf welchem wissenschaftlichen Boden er auch entstanden sein möge, dennoch eine leere Phrase bleiben und seine Bedeutung verlieren. Kann man hieraus den Schluss ziehen, die Bewegung sei alles und der Sozialismus nichts? Natürlich nicht! So räsonieren nur Quasimarxisten, für die das Bewusstsein keinerlei Bedeutung hat, da es vom gesellschaftlichen Sein selbst geboren werde. Den Sozialismus kann man mit der Arbeiterbewegung vereinigen und dadurch aus einer leeren Phrase zu einer scharfen Waffe machen.
Die Schlussfolgerung?
Die Schlussfolgerung lautet: Die Arbeiterbewegung muss mit dem Sozialismus vereinigt werden, die praktische Tätigkeit und das theoretische Denken müssen in eins verschmelzen und dadurch der spontanen Arbeiterbewegung sozialdemokratischen Charakter verleihen, denn „die Sozialdemokratie ist die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus" („Das Erfurter Programm", Verlag des ZK, S. 94.) Dann wird der mit der Arbeiterbewegung vereinigte Sozialismus aus einer leeren Phrase in den Händen der Arbeiter zu der größten Macht werden. Dann wird die spontane Bewegung, zu einer sozialdemokratischen Bewegung geworden, mit raschen Schritten und auf sicherem Wege zur sozialistischen Ordnung schreiten.
Worin besteht also die Bestimmung der Sozialdemokratie Rußlands? Was müssen wir tun?
Es ist unsere Pflicht, die Pflicht der Sozialdemokratie, die spontane Bewegung der Arbeiter von dem tradeunionistischen Wege abzubringen und sie auf den sozialdemokratischen Weg zu bringen. Es ist unsere Pflicht, in diese Bewegung das sozialistische Bewusstsein (das Marx und Engels herausgearbeitet haben.) hineinzutragen und die fortgeschrittenen Kräfte der Arbeiterklasse zu einer einzigen zentralisierten .Partei zu vereinigen. Es ist unsere Aufgabe, stets an der Spitze der Bewegung zu marschieren und unermüdlich alle zu bekämpfen - ob Feind oder „Freund" -, die die Verwirklichung dieser Aufgaben behindern.
Das ist in großen Zügen der Standpunkt der „Mehrheit".
Unserer „Minderheit" gefällt der Standpunkt der „Mehrheit" nicht: er sei „unmarxistisch", er „widerspreche von Grund aus" dem Marxismus! Wirklich, Verehrteste? Wo, wann, auf welchem Planeten wäre denn das so? Lest unsere Artikel, sagen sie, und ihr werdet euch überzeugen, dass wir Recht haben. Wollen wir sie also lesen.
Vor uns liegt der Artikel: „Was ist die Partei?" (Siehe „Mogsauri" Nr. 6.) Wessen beschuldigt der „Kritiker" An die Partei „mehrheit"? „Sie (die ´Mehrheit’) ... erklärt sich für das Haupt der Partei ... und verlangt von den anderen Unterwerfung ... und, um ihr Verhalten zu rechtfertigen, ersinnt sie häufig sogar neue Theorien, wie z. B.: das arbeitende Volk könne sich nicht mit eigenen Kräften die ´hohen Ideale’ zu eigen machen (von mir hervorgehoben) u. dgl. m." („Mogsauri" Nr. 6, S. 71)
Fragt sich jetzt, stellt die „Mehrheit" derartige „Theorien" auf und hat sie sie jemals aufgestellt? Nirgends und niemals! Im Gegenteil, der ideologische Vertreter der „Mehrheit", Genösse Lenin, sagt mit aller Bestimmtheit, dass die Arbeiterklasse sich sehr leicht die „hohen Ideale" zu eigen macht, dass sie sich sehr leicht den Sozialismus zu eigen macht. Man höre:
„Man sagt oft: die Arbeiterklasse fühlt sich spontan zum Sozialismus hingezogen. Das ist vollkommen richtig in dem Sinne, dass die sozialistische Theorie tiefer und richtiger als jede andere die Ursachen des Elends der Arbeiterklasse aufzeigt; darum wird sie von den Arbeitern auch so leicht erfaßt...“ (Lenin, „Was tun?", S. 29 [deutsche Neuausgabe S. 75, Fußnote])
Wie man sieht, machen sich nach Meinung der „Mehrheit" die Arbeiter jene „hohen Ideale", die Sozialismus heißen, leicht zu eigen.
Wozu klügelt dann An, wo hat er seine seltsame „Entdeckung" ausgegraben? Die Sache ist die, lieber Leser, dass der „Kritiker" An etwas ganz anderes im Auge hatte. Er hatte die Stelle in dem Buche „Was tun?" im Auge, wo Lenin von der Herausarbeitung des Sozialismus spricht, wo er behauptet, dass die Arbeiterklasse mit eigenen Kräften den wissenschaftlichen Sozialismus nicht herausarbeiten kann. (Lenin, „Was tun?", S. 20-21 [vgl. deutsche Neuausgabe S. 63]) Wieso denn? werdet ihr sagen. Eine Sache ist es, den Sozialismus herausarbeiten, und eine andere Sache, ihn sich zu eigen machen. Weshalb hat An die Worte Lenins vergessen, in denen er so klar von der Aneignung der „hohen Ideale" spricht? Sie haben recht, lieber Leser, aber was soll An tun, wenn er nun einmal so sehr darauf versessen ist, ein „Kritiker" zu sein? Man denke nur, welche heroische Tat: seine eigene „Theorie" erdichten, sie dem Gegner zuschreiben und dann selbst die Frucht der eigenen Phantasie zu bombardieren. Auch eine Kritik! Jedenfalls steht es außer Zweifel, dass An sich Lenins Buch „Was tun?" „nicht mit eigenen Kräften zu eigen machen konnte".
Schlagen wir jetzt den so genannten „Sozialdemokrat" auf. Was sagt der Verfasser des Artikels „Mehrheit oder Minderheit?" (siehe „Sozialdemokrat" Nr. 1)?
Er wirft sich in Positur und zieht mit großem Lärm gegen Lenin zu Felde, weil dieser der Meinung ist, dass die „natürliche (soll heißen ´spontane’) Entwicklung der Arbeiterbewegung nicht zum Sozialismus treibt, sondern zur bürgerlichen Ideologie" („Sozialdemokrat" Nr. l, S. 14) Der Verfasser begreift offenbar nicht, dass die spontane Arbeiterbewegung eine Bewegung ohne Sozialismus ist (möge der Verfasser beweisen, dass dies nicht der Fall ist), und eine solche Bewegung unterwirft sich unbedingt der bürgerlich-tradeunionistischen Ideologie, neigt zu ihr hin, denn heutzutage können nur zwei Ideologien existieren - die sozialistische und die bürgerliche, und wo es die erstere nicht gibt, da taucht unbedingt die zweite auf und nimmt ihren Platz ein (beweisen Sie das Gegenteil!). Jawohl, eben das sagt Lenin. Gleichzeitig aber vergisst er auch die andere Hinneigung nicht, die der Arbeiterbewegung eigen ist, die Hinneigung zum Sozialismus, die nur zeitweilig von der Hinneigung zur bürgerlichen Ideologie überschattet wird. Lenin sagt direkt, dass „die Arbeiterklasse sich spontan zum Sozialismus hingezogen fühlt" (Lenin, „Was tun?", S. 29 [deutsche Neuausgabe S. 75, Fußnote]), und er bemerkt mit Recht, es sei die Pflicht der Sozialdemokratie, den Sieg dieser Hinneigung zu beschleunigen, unter anderem auch durch den Kampf gegen die „Ökonomisten". Weshalb also haben Sie, werter „Kritiker", in Ihrem Artikel diese Worte Lenins nicht angeführt? Stammen sie etwa nicht von dem gleichen Lenin? Ihnen passte das nicht in den Kram, nicht wahr?
„Lenins Meinung zufolge ... ist der Arbeiter seiner Lage nach (von mir hervorgehoben) eher ein Bourgeois als ein Sozialist..." („Sozialdemokrat" Nr. l, S. 14.), fährt der Verfasser fort. Das ist nun eine Dummheit, wie ich sie selbst von einem solchen Autor nicht erwartet hätte! Ist denn etwa bei Lenin von der Lage des Arbeiters die Rede, behauptet er etwa, der Arbeiter sei seiner Lage nach Bourgeois? Welcher Dummkopf kann sagen, der Arbeiter sei seiner Lage nach Bourgeois - der Arbeiter, der der Produktionsinstrumente beraubt ist und vom Verkauf seiner Arbeitskraft lebt? Nein! Lenin sagt etwas ganz anderes. Die Sache ist die, dass ich meiner Lage nach Proletarier und nicht Bourgeois sein kann, mir hierbei jedoch meiner Lage nicht bewusst sein und mich deshalb der bürgerlichen Ideologie unterwerfen kann. Gerade so steht die Sache auch im vorliegenden Fall mit der Arbeiterklasse. Und dies bedeutet etwas ganz anderes.
Überhaupt liebt es der Verfasser, mit leeren Worten um sich zu werfen - er schießt los, ohne zu überlegen! Da behauptet der Verfasser z.B. hartnäckig, dass der „Leninismus dem Marxismus von Grund aus widerspricht" (Ebenda, S. 15), er behauptet es, ohne zu verstehen, wohin ihn diese „Idee" führt. Glauben wir ihm für einen Augenblick, dass der Leninismus wirklich „dem Marxismus von Grund aus widerspricht". Und weiter? Was ergibt sich daraus? Folgendes: „Der Leninismus hat die ´Iskra’“ (die alte „Iskra“) „mitgerissen" - dies leugnet auch der Verfasser nicht -, folglich „widerspricht auch die ´Iskra’ von Grund aus dem Marxismus." Der II. Parteitag hat mit den 35 Stimmen der Mehrheit die „Iskra“ als Zentralorgan der Partei anerkannt und sich mit großem Lob über ihre Verdienste ausgesprochen (Siehe Protokoll des II. Parteitags, S. 147. Ebenda die Resolution, wo die „Iskra“ als die wirkliche Verteidigerin der Prinzipien des Sozialdemokratismus bezeichnet wird.), folglich widersprechen dieser Parteitag, sein Programm und seine Taktik alle drei „von Grund aus dem Marxismus"... Lächerlich, nicht wahr, lieber Leser?
Der Verfasser fährt dennoch fort: „Nach Lenins Meinung treibt die spontane Arbeiterbewegung zur Vereinigung mit der Bourgeoisie..." Ja, ja, der Verfasser treibt zweifellos zur Vereinigung mit der Dummheit, und es wäre gut, wenn er von diesem Wege abkäme.
Aber lassen wir den „Kritiker". Wenden wir uns dem Marxismus zu.
Der werte „Kritiker" behauptet hartnäckig, der Standpunkt der „Mehrheit" und ihres Vertreters Lenin widerspreche von Grund aus dem Marxismus, denn sowohl Kautsky als auch Marx und Engels sagen angeblich das Umgekehrte von dem, was Lenin verteidigt! Ist dem so? Lasst uns sehen! „K. Kautsky", so teilt uns der Verfasser mit, „schreibt in seinem ´Erfurter Programm’: ´Indessen sind die Interessen des Proletariats und die der Bourgeoisie zu gegensätzlicher Natur, als dass sich die ... Bestrebungen der beiden Klassen auf die Dauer miteinander vereinigen ließen, früher oder später muss in jedem Lande der kapitalistischen Produktionsweise die Anteilnahme der Arbeiterklasse an der Politik dahin führen, dass sie sich von den bürgerlichen Parteien loslöst und eine selbständige Partei bildet, die Arbeiterpartei.’“
Was aber folgt hieraus? Nur dies, dass die Interessen der Bourgeoisie und des Proletariats einander widersprechen, dass das Proletariat sich „früher oder später" von der Bourgeoisie loslösen und eine selbständige Arbeiterpartei bilden wird (wohlgemerkt eine Arbeiterpartei und nicht eine sozialdemokratische Arbeiterpartei). Der Verfasser meint, Kautsky sei hier anderer Meinung als Lenin! Indes sagt Lenin, dass das Proletariat früher oder später sich nicht nur von der Bourgeoisie loslösen, sondern auch die soziale Revolution vollführen, d.h. die Bourgeoisie stürzen wird. (Siehe Lenin, „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück", S. 53 [vgl. „Ausgewählte Werke" in zwei Bänden, Bd. I, S. 367].) Es ist die Aufgabe der Sozialdemokratie, fügt er hinzu, sich zu bemühen, dass dies so schnell wie möglich und bewusst geschehe. Jawohl, bewusst und nicht spontan, da Lenin eben gerade von dieser Bewusstheit spricht.
„...Wo es zur Bildung einer selbständigen Arbeiterpartei kommt“, fährt der „Kritiker" fort, Kautskys Buch zu zitieren, „da muss diese mit Naturnotwendigkeit früher oder später sozialistische Tendenzen annehmen, wenn sie nicht von vorneherein von solchen erfüllt ist, da muss sie schließlich zu einer sozialistischen Arbeiterpartei werden: zur Sozialdemokratie." („Sozialdemokrat" Nr. l, S. 15)
Was heißt das? Nur dies, dass die Arbeiterpartei sozialistische Tendenzen annehmen wird. Aber leugnet das Lenin? Keinesfalls! Lenin sagt
direkt, dass nicht nur die Arbeiterpartei, sondern auch die ganze Arbeiterklasse sich den Sozialismus zu Eigen macht. (Lenin, „Was tun?", S.29 [vgl. deutsche Neuausgabe S.75, Fußnote]) Was für einen Unsinn tragen also dieser „Sozialdemokrat" und sein verlogener Heros zusammen? Wozu reden sie soviel Blech? Sie haben läuten hören, wie man sagt, und wissen nicht, wo die Glocken hängen. Gerade so ist es eben unserem in Konfusion geratenen Autor ergangen.
Wie man sieht, unterscheidet Kautsky sich hier um kein Tüttelchen von Lenin. Dafür beweist alles dies mit außerordentlicher Klarheit die Denkschwäche des Autors.
Sagt Kautsky irgend etwas zugunsten des Standpunkts der „Mehrheit" ? Hören wir, was er in einem seiner vortrefflichen Artikel schreibt, wo er den Programmentwurf der österreichischen Sozialdemokratie untersucht:
„Manche unserer revisionistischen Kritiker" (Anhänger Bernsteins) „nehmen an, Marx hätte behauptet, die ökonomische Entwicklung und der Klassenkampf schüfen nicht bloß die Vorbedingungen sozialistischer Produktion, sondern auch direkt die Erkenntnis" (hervorgehoben von K. Kautsky) „ihrer Notwendigkeit, und da sind die Kritiker gleich fertig mit dem Einwand, dass das Land der höchsten kapitalistischen Entwicklung, England, ... am freiesten von dieser Erkenntnis sei. Nach der neuen Fassung" (des österreichischen Entwurfs) „könnte man annehmen, dass auch die österreichische Programmkommission den ... Standpunkt teile. Denn es heißt da: Je mehr die Entwicklung des Kapitalismus das Proletariat anschwellen macht, desto mehr wird es gezwungen und befähigt, den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Es kommt zum "Bewusstsein“ der Möglichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus etc. In diesem Zusammenhang erscheint das sozialistische Bewusstsein als das notwendige direkte Ergebnis des proletarischen Klassenkampfes. Das ist aber falsch... Das moderne sozialistische Bewusstsein kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht... Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz" (hervorgehoben von K. Kautsky); „in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen... Das sozialistische Bewusstsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes. Dem entsprechend sagt auch das alte Hainfelder Programm[34] ganz richtig, dass es zu den Aufgaben der Sozialdemokratie gehöre, das Proletariat mit dem Bewusstsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen…" („Die Neue Zeit", XX. Jahrgang, 1901-1902, Nr. 3, S. 79. Dieser vortreffliche Artikel Kautskys ist bei Lenin in „Was tun?" abgedruckt, siehe S. 27 [deutsche Neuausgabe S. 71-72].)
Erinnern Sie sich nicht, lieber Leser, der ähnlichen Gedanken Lenins in dieser Frage, erinnern Sie sich nicht des bekannten Standpunkts der „Mehrheit"? Weshalb haben das „Tifliser Komitee" und sein „Sozialdemokrat" die Wahrheit unterschlagen, weshalb hat der werte „Kritiker", als er von Kautsky sprach, diese Worte Kautskys in seinem Artikel nicht angeführt? Wen betrügen die Verehrtesten, warum bringen sie dem Leser so viel „Geringschätzung" entgegen? Etwa darum, weil sie ... die Wahrheit fürchten, sich vor der Wahrheit verstecken und glauben, man könne auch die Wahrheit verbergen? Sie gleichen jenem Vogel, der den Kopf unter den Flügel steckt und sich einbildet, niemand sähe ihn! Aber sie irren sich ebenso wie jener Vogel.
Wird das sozialistische Bewusstsein auf wissenschaftlichem Boden herausgearbeitet, wird dieses Bewusstsein durch die Bemühungen der Sozialdemokratie (Und nicht nur der sozialdemokratischen Intellektuellen.) in die Arbeiterbewegung von außen hineingetragen, so ist es klar, dass alles dies deshalb geschieht, weil die Arbeiterklasse, solange sie Arbeiterklasse bleibt, nicht an die Spitze der Wissenschaft treten und mit eigenen Kräften den wissenschaftlichen Sozialismus herausarbeiten kann: sie hat dafür weder Zeit noch Mittel.
Folgendes sagt K. Kautsky in seinem „Erfurter Programm":
„...Der Proletarier kann im besten Fall einen Teil des Wissens, welches die bürgerliche Gelehrsamkeit zutage gefördert, sich aneignen und seinen Zwecken und Bedürfnissen entsprechend verarbeiten, aber es fehlen ihm - solange er Proletarier bleibt - die Muße und die Mittel, die Wissenschaft selbständig über das von den bürgerlichen Denkern erreichte Maß hinauszuführen. So musste auch der urwüchsige Arbeitersozialismus alle wesentlichen Merkmale des Utopismus tragen" ("Das Erfurter Programm", Verlag des ZK, S. 93.) (Utopismus ist eine falsche, unwissenschaftliche Theorie).
Ein utopischer Sozialismus solcher Art nimmt häufig anarchistischen Charakter an, fährt Kautsky fort, aber: „...es ist bekannt, dass die anarchistische Bewegung (das Wort hier im Sinne dieser proletarischen Utopisterei genommen. K. Kautsky) überall dort, wo sie zu einer Massenbewegung, zu einem wirklichen Klassenkampf wurde, früher oder später stets, trotz ihres anscheinenden Radikalismus, in verzünftelter Nur-Gewerkschafterei... geendet hat." (Ebenda, S. 94.)
Mit anderen Worten, wenn die Arbeiterbewegung sich nicht mit dem wissenschaftlichen Sozialismus vereinigt, so verflacht sie unvermeidlich, nimmt einen „nur gewerkschaftlichen" Charakter an, unterwirft sich folglich der tradeunionistischen Ideologie.
„Das ist eine Erniedrigung der Arbeiter, eine Verherrlichung der Intelligenz!" zetert unser „Kritiker" und sein „Sozialdemokrat"... Der arme „Kritiker", der klägliche „Sozialdemokrat"! Sie halten das Proletariat für ein launenhaftes Fräulein, dem man nicht die Wahrheit sagen darf, dem man ewig Komplimente machen muss, damit es nicht davonläuft! Nein, Verehrteste! Wir glauben, dass das Proletariat mehr Standhaftigkeit an den Tag legen wird, als ihr denkt. Wir glauben, dass es die Wahrheit nicht fürchten wird! Ihr aber... Aber was soll man euch sagen: auch jetzt habt ihr die Wahrheit gefürchtet und in eurem Artikel dem Leser die wahren Ansichten Kautskys vorenthalten...
Somit ist der wissenschaftliche Sozialismus ohne die Arbeiterbewegung nichts als ein leeres Wort, das immer leicht in den Wind geredet werden kann.
Anderseits ist die Arbeiterbewegung ohne den Sozialismus ein tradeunionistisches Umherirren, das gewiss irgendeinmal zur sozialen Revolution führen wird, aber um den Preis langwieriger Qualen und Leiden.
Die Schlussfolgerung?
„Die Arbeiterbewegung muss sich mit dem Sozialismus vereinigen": „Die Sozialdemokratie ist die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Sozialismus." (Ebenda, S. 94)
So sagt Kautsky, der Theoretiker des Marxismus.
Wir haben gesehen, dass die „Iskra" (die alte) und die „Mehrheit" dasselbe sagen.
Wir haben gesehen, dass Genösse Lenin auf dem gleichen Standpunkt steht.
Also die „Mehrheit" steht fest auf dem marxistischen Standpunkt.
Klar ist, dass die „Geringschätzung der Arbeiter", die „Verherrlichung der Intelligenz", der „unmarxistische Standpunkt der Mehrheit" Und ähnliche Perlen, mit denen die menschewistischen „Kritiker" nur so um sich werfen, nichts anderes sind als ein Wortgeprassel, eine Phantasie der Tifliser „Menschewiki".
Umgekehrt werden wir sehen, dass in der Tat die Tifliser „Minderheit" selbst, das „Tifliser Komitee" und sein „Sozialdemokrat" „dem Marxismus von Grund aus widersprechen". Hiervon jedoch später. Vorläufig wollen wir folgendes beachten.
Zur Erhärtung seiner Auslassungen führt der Verfasser des Artikels „Mehrheit oder Minderheit?" Worte von Marx (?) an: „Der Theoretiker dieser oder jener Klasse kommt theoretisch zu der gleichen Schlussfolgerung, zu welcher die Klasse selbst bereits praktisch gegangen ist." („Sozialdemokrat" Nr. l, S. 15)
Von zwei Dingen eins. Entweder kennt der Autor die georgische Sprache nicht, oder es ist ein Fehler des Setzers. Kein einziger schreibkundiger Mensch wird sagen „zu welcher bereits gegangen ist". Richtig wäre „zu welcher bereits gelangt ist" oder „zu welcher bereits geht". Hat der Autor das letztere im Auge (zu welcher bereits geht), so muss ich bemerken, dass er Marx´ Worte unrichtig wiedergibt, dass Marx etwas Derartiges nicht gesagt hat. Hat der Autor aber die erste Formulierung im Auge, so gewinnt der von ihm angeführte Satz die folgende Gestalt: „Der Theoretiker dieser oder jener Klasse kommt theoretisch zu der gleichen Schlussfolgerung, zu welcher die Klasse selbst bereits praktisch gelangt ist." Mit anderen Worten, sind Marx und Engels theoretisch zu der Schlussfolgerung gelangt, dass der Zusammenbruch des Kapitalismus und die Errichtung des Sozialismus unvermeidlich sind, so bedeutet das, dass das Proletariat den Kapitalismus bereits praktisch verworfen, den Kapitalismus bereits geschlagen und an seiner Stelle das sozialistische Leben errichtet hat!
Armer Marx! Wer weiß, welche Albernheiten unsere Quasimarxisten ihm noch zuschreiben werden!
Sagt Marx das wirklich? Hören wir, was er tatsächlich sagt: er spricht davon, dass die theoretischen Vertreter der Kleinbourgeoisie „zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jene das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten." (Wenn Sie den „Achtzehnten Brumaire"[35] nicht haben, so sehen Sie das Protokoll des II. Parteitags, S. 111, nach, wo diese Worte von Marx angeführt sind!)
Wie man sieht, sagt Marx durchaus nicht „ist schon gegangen". Diese „philosophischen" Worte hat der werte „Kritiker" hinzugedichtet.
In diesem Falle erhalten Marx´ Worte einen ganz anderen Sinn.
Welchen Gedanken entwickelt Marx in dem angeführten Satz? Nur den, dass der Theoretiker dieser oder jener Klasse ein Ideal nicht schaffen kann, es sei denn, dass seine Elemente im Leben existieren, dass er die Elemente des Zukünftigen nur wahrzunehmen und auf diesem Boden das Ideal theoretisch zu schaffen vermag, zu dem diese oder jene Klasse praktisch kommt. Der Unterschied ist der, dass der Theoretiker der Klasse voraneilt und früher als sie den Keim des Zukünftigen wahrnimmt. Eben das heißt „theoretisch zu etwas kommen".
Hören wir, was Marx und Engels in ihrem „Manifest" sagen:
„Die Kommunisten" (d. h. die Sozialdemokraten) „sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus."
Jawohl, die Ideologen „treiben weiter", sie sehen bedeutend weiter als die „übrige Masse des Proletariats", und hierauf kommt alles an. Die Ideologen treiben weiter, und eben deshalb ist die Idee, das sozialistische Bewusstsein, von großer Bedeutung für die Bewegung.
Ebendeshalb fallen Sie über die „Mehrheit" her, ehrenwerter „Kritiker"? Dann sagen Sie dem Marxismus Lebewohl und merken Sie sich, dass die „Mehrheit" auf ihren marxistischen Standpunkt stolz ist.
Die Lage der „Mehrheit" erinnert in diesem Fall in vieler Beziehung an die Lage, in der Engels sich in den neunziger Jahren befand.
Die Idee sei die Quelle des gesellschaftlichen Lebens, behaupteten die Idealisten. Ihrer Meinung nach ist das gesellschaftliche Bewusstsein die Grundlage, worauf das Sein der Gesellschaft beruht. Deshalb nannte man sie auch Idealisten.
Es galt zu beweisen, dass die Ideen nicht vom Himmel fallen, dass sie vom Leben selbst hervorgebracht werden.
Auf der historischen Arena erschienen Marx und Engels, und sie wurden dieser Rolle glänzend gerecht. Sie bewiesen, dass das gesellschaftliche Sein die Quelle der Ideen ist, dass deshalb das Sein der Gesellschaft die Grundlage ist, auf der das gesellschaftliche Bewusstsein beruht. Damit gruben sie dem Idealismus das Grab und ebneten den Weg für den Materialismus.
Manche Halbmarxisten verstanden dies so, als ob das Bewusstsein, die Ideen im Leben nur eine sehr geringe Bedeutung hätten.
Es galt, die große Bedeutung der Ideen zu beweisen.
Und da kam Engels und betonte in seinen Briefen (1891-1894), dass die Ideen gewiss nicht vom Himmel fallen, sondern vom Leben selbst hervorgebracht werden, dass sie aber, einmal hervorgebracht, große Bedeutung gewinnen, die Menschen vereinigen, sie organisieren und dem gesellschaftlichen Leben, das sie hervorgebracht hat, ihren Stempel aufdrücken, dass die Ideen in der historischen Bewegung von großer Bedeutung sind.
„Dies ist kein Marxismus, sondern ein Verrat am Marxismus", begannen Bernstein und seinesgleichen zu zetern. Die Marxisten lachten bloß...
Es gab in Rußland Halbmarxisten - die „Ökonomisten". Sie behaupteten, da die Ideen vom gesellschaftlichen Sein hervorgebracht werden, sei auch das sozialistische Bewusstsein von geringfügiger Bedeutung für die Arbeiterbewegung.
Es galt zu beweisen, dass das sozialistische Bewusstsein von großer Bedeutung für die Arbeiterbewegung ist, dass die Bewegung ohne dieses Bewusstsein ein tradeunionistisches Umherirren ist, von dem das Proletariat sich unbekannt wann frei machen wird, um zur sozialen Revolution zu gelangen.
Und da kam die „Iskra", die dieser Rolle glänzend gerecht wurde. Es erschien das Buch „Was tun?", worin Lenin die große Bedeutung des sozialistischen Bewusstseins betont. Es bildete sich die Partei„mehrheit", die diesen Weg festen Schrittes einschlug.
Hier aber kommen die kleinen Bernsteine und beginnen zu schreien: Dies „widerspricht dem Marxismus von Grund aus"!
Ja, wisst ihr denn, ihr kleinen „Ökonomisten", was der Marxismus ist?
Erstaunlich! wird der Leser sagen. Worum handelt es sich eigentlich? wird er fragen. Weshalb hat denn Plechanow seinen kritischen Artikel gegen Lenin geschrieben (siehe die neue „Iskra" Nr. 70, 71)? Wofür tadelt er die „Mehrheit"? Wiederholen denn nicht die Tifliser Quasimarxisten und ihr „Sozialdemokrat" die von Plechanow ausgesprochenen Gedanken? Jawohl, sie wiederholen sie, aber so plump, dass es einen anwidert. Jawohl, Plechanow ist mit einer Kritik hervorgetreten. Aber wisst ihr, worum es sich handelt? Plechanow ist derselben Auffassung wie die „Mehrheit" und Lenin. Und nicht nur Plechanow, sondern auch Martow, auch Sassulitsch, auch Axelrod. Wirklich, in der Frage, von der wir oben gesprochen haben, haben die Führer der „Minderheit" keine andere Auffassung als die alte „Iskra". Die alte „Iskra" aber ist das Banner der „Mehrheit". Wundert euch nicht! Dies sind die Tatsachen.
Wir kennen den programmatischen Artikel der alten „Iskra" (siehe oben). Wir wissen, dass in diesem Artikel der Standpunkt der „Mehrheit" restlos niedergelegt wurde. Von wem stammt dieser Artikel? Von der damaligen Redaktion der „Iskra". Wer gehörte dieser Redaktion an? Lenin, Plechanow, Axelrod, Martow, Sassulitsch und Starowjer. Von ihnen gehört heute nur Lenin allein der „Mehrheit" an, die übrigen fünf führen die „Minderheit", aber Tatsache bleibt dennoch Tatsache - der Programmartikel der „Iskra" ist unter ihrer Redaktion erschienen, folglich dürften sie sich nicht von ihren Worten lossagen, sie haben offenbar geglaubt, was sie schrieben.
Aber wenn es beliebt, lassen wir die „Iskra" beiseite.
Hören wir, was Martow schreibt:
„Somit ist die Idee des Sozialismus zum ersten Mal nicht innerhalb der Arbeitermassen entstanden, sondern in den Arbeitszimmern von Gelehrten, die dem Milieu der Bourgeoisie entstammen." (Martow, „Krasnoje Snamja", S. 3)
Hören wir weiter, was Vera Sassulitsch schreibt:
„Sogar die Idee der Klassensolidarität des gesamten Proletariats... ist gar nicht so einfach, dass sie im Kopfe jedes Arbeiters selbständig entstünde ... Der Sozialismus ... erwächst auch überhaupt nicht, ´von selbst’ in den Köpfen der Arbeiter... Die sozialistische Theorie wurde vorbereitet von der gesamten Entwicklung sowohl des Lebens als auch des Wissens ... und von einem mit diesem Wissen gewappneten genialen Verstand geschaffen. Auch der Beginn der Verbreitung der Ideen des Sozialismus in der Arbeiterschaft war fast auf dem ganzen Kontinent Europas das Werk von Sozialisten, die in den Lehranstalten für die höheren Klassen ihre Bildung erworben hatten." („Sarja" [36] Nr. 4, S. 79-80) Hören wir jetzt Plechanow, der so gewichtig und feierlich in der neuen „Iskra" gegen Lenin aufgetreten ist (Nr. 70, 71). Schauplatz ist der II. Parteitag. Plechanow polemisiert gegen Martynow und verteidigt Lenin. Er macht Martynow Vorwürfe, der sich an einen Satz Lenins klammert und das Buch „Was tun?" als Ganzes übersehen hat, und fährt fort:
„Die Methode des Genossen Martynow erinnert mich an einen Zensor, der gesagt hat: ,Gebt mir das „Vaterunser" und erlaubt mir, dort einen Satz herauszureißen - und ich werde euch beweisen, dass sein Verfasser aufgehängt werden müsste.´ Aber alle Vorwürfe, die gegen diesen unglückseligen Satz (Lenins) gerichtet wurden, und nicht nur von dem Genossen Martynow, sondern auch von sehr vielen anderen, beruhen auf einem Missverständnis. Genösse Martynow führt Engels´ Worte an: ´Der moderne Sozialismus ist der theoretische Ausdruck der modernen Arbeiterbewegung.’ Genösse Lenin ist ebenfalls mit Engels einverstanden... Aber Engels´ Worte sind ein allgemeiner Leitsatz. Die Frage ist die, wer denn zum ersten Mal diesen theoretischen Ausdruck formuliert. Lenin hat keinen Traktat über Philosophie der Geschichte geschrieben, sondern einen polemischen Artikel gegen die Ökonomisten, die gesagt haben: Wir müssen abwarten, wohin die Arbeiterklasse selbst, ohne die Hilfe des ´revolutionären Bazillus´ (d. h. ohne die Sozialdemokratie), gelangen wird. Der letzteren war es verboten, den Arbeitern irgendetwas zu sagen, eben weil sie der ´revolutionäre Bazillus’ ist, d.h. weil sie das theoretische Bewusstsein besitzt. Entfernt ihr aber den ´Bazillus’, so bleibt nur die unbewusste Masse, in die das Bewusstsein von außen hineingetragen werden muss. Hättet ihr Lenin gegenüber gerecht sein wollen und sein ganzes Buch aufmerksam gelesen, so •würdet ihr gesehen haben, dass er eben das sagt." (Protokoll des II. Parteitags, S. 123)
So sprach Plechanow auf dem II. Parteitag.
Nun aber tritt der gleiche Plechanow, aufgehetzt von den gleichen Martow, Axelrod, Sassulitsch, Starowjer u.a., einige Monate später abermals auf und erklärt, sich an denselben Satz Lenins klammernd, den er auf dem Parteitag verteidigte, Lenin und die „Mehrheit" seien keine Marxisten. Er weiß, würde man selbst aus dem „Vaterunser" einen Satz herausreißen und ihn losgerissen deuten, dann könnte sein Verfasser wohl gar wegen Gottesleugnung an den Galgen geraten. Er weiß, dass dies ungerecht wäre, dass ein unvoreingenommener Kritiker nicht so verfährt, aber er reißt dennoch diesen Satz aus Lenins Buch heraus, er verfährt dennoch ungerecht und bespuckt sich öffentlich selber. Martow, Sassulitsch, Axelrod und Starowjer aber nicken ihm beifällig zu, veröffentlichen unter ihrer Redaktion in der neuen „Iskra" Plechanows Artikel (Nr.70, 71) und bedecken sich hierdurch ein übriges Mal mit Schande.
Warum waren sie so charakterlos, warum haben diese Führer der „Minderheit" sich selbst bespuckt, warum haben sie sich von dem programmatischen Artikel in der „Iskra" losgesagt, den sie unterschrieben haben, warum schwören sie ihre eigenen Worte ab? Hat man in einer sozialdemokratischen Partei jemals von einer derartigen Falschheit gehört?
Was ist denn in den paar Monaten passiert, die zwischen dem II. Parteitag und dem Erscheinen von Plechanows Artikel lagen?
Die Sache ist die. Von den sechs Redakteuren hat der II. Parteitag nur drei - Plechanow, Lenin und Martow - zu Redakteuren der „Iskra" gewählt. Was Axelrod, Starowjer und Sassulitsch betrifft, so hat der Parteitag sie auf andere Posten gestellt. Der Parteitag hatte hierzu selbstverständlich das Recht, und jeder ist verpflichtet, sich ihm zu unterwerfen: der Parteitag verleiht dem Willen der Partei Ausdruck, er ist das höchste Parteiorgan, und wer seinen Beschlüssen zuwiderhandelt, der tritt den Willen der Partei mit Füßen.
Aber diese eigensinnigen Redakteure unterwarfen sich nicht dem Willen der Partei, der Parteidisziplin (die Parteidisziplin ist ebenfalls der Wille der Partei). Es stellt sich heraus, dass die Parteidisziplin für Leute wie wir, für einfache Parteiarbeiter, ausgedacht worden ist! Sie zürnten dem Parteitag, weil er sie nicht zu Redakteuren gewählt hat, schlugen sich abseits, zogen Martow mit und bildeten die Opposition. Sie erklärten der Partei den Boykott, weigerten sich, Parteiarbeit zu leisten, und begannen der Partei zu drohen: Wählt uns in die Redaktion, ins Zentralkomitee, in den Parteirat, sonst werden wir eine Spaltung vornehmen. Und die Spaltung begann. Hiermit haben sie noch einmal den Willen der Partei mit Füßen getreten.
Die Forderungen der in den Streik getretenen Redakteure sind folgende:
„Die alte Redaktion der ´Iskra’ wird wiederhergestellt (d.h. gebt uns in der Redaktion drei Sitze).
In das Zentralkomitee wird eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern der Opposition (d.h. der ´Minderheit’) aufgenommen.
Im Parteirat werden zwei Sitze Mitgliedern der Opposition eingeräumt usw. ...
Wir stellen diese "Bedingungen, die allein der Partei die Möglichkeit sichern, einen Konflikt zu vermeiden, der die ganze Existenz der Partei bedroht" (d. h. stellt uns zufrieden, denn sonst werden wir in der Partei eine große Spaltung durchführen) (Kommentar zum Protokoll der Liga, S. 26)
Was antwortete ihnen die Partei?
Der Vertreter der Partei, das Zentralkomitee, und andere Genossen erklärten ihnen: Wir können nicht gegen den Parteitag angehen, die Wahlen sind Sache des Parteitags, aber wir werden dennoch versuchen, Frieden und Eintracht wiederherzustellen, obwohl, die Wahrheit zu sagen, es eine Schande ist, um der Sitze willen zu kämpfen, ihr wollt um der Sitze willen die Partei spalten usw.
Die in den Streik getretenen Redakteure fühlten sich beleidigt, ihnen wurde unbehaglich zumute - kam es doch wirklich so heraus, dass sie um der Sitze willen den Kampf angezettelt hatten -, und sie zogen Plechanow auf ihre Seite hinüber und begannen ihr heroisches Werk. Sie mussten irgendeine recht „schlagende" „Meinungsverschiedenheit" zwischen der „Mehrheit" und der „Minderheit" ausfindig machen und damit beweisen, dass sie nicht um der Sitze willen kämpfen. Sie suchten, suchten und fanden eine Stelle in Lenins Buch, an der man, wenn man sie aus dem Zusammenhang herausgreift und losgerissen deutet, wirklich herumnörgeln kann. Eine gute Idee, dachten die Führer der „Minderheit", Lenin ist der Führer der „Mehrheit", schwärzen wir Lenin an und bringen wir dadurch die Partei auf unsere Seite. Da begannen nun Plechanows Deklamationen, „Lenin und seine Anhänger" seien „keine Marxisten". Zwar haben sie den gleichen Gedanken aus Lenins Buch, gegen den sie heute zu Felde zogen, gestern noch verteidigt, aber was ist da zu machen: ein Opportunist heißt eben deshalb Opportunist, weil Prinzipientreue bei ihm nicht hoch im Kurse steht.
Das ist der Grund, weshalb sie sich selbst bespucken, das ist die Quelle ihrer Falschheit.
(Der Leser wird möglicherweise fragen, wie es passieren konnte, dass Plechanow zur „Minderheit" überging, derselbe Plechanow, der ein eifriger Anhänger der „Mehrheit" war. Die Sache ist die, dass zwischen ihm und Lenin eine Meinungsverschiedenheit entstand. Als die „Minderheit" in Wut geriet und den Boykott erklärte, stellte Plechanow sich auf den Standpunkt, dass ein volles Nachgeben notwendig sei. Lenin war mit ihm nicht einverstanden. Plechanow begann allmählich der „Minderheit" zuzuneigen. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen wuchsen sich noch mehr aus und schließlich ging die Sache so weit, dass Plechanow eines schönen Tages zu einem Gegner Lenins und der „Mehrheit" wurde. Hören wir, was Lenin hiervon schreibt:
„…Nach einigen Tagen bin ich wirklich gemeinsam mit einem Mitglied des Rats zu Plechanow gegangen, und unser Gespräch mit Plechanow nahm den folgenden Verlauf:
´Wissen Sie, es gibt manchmal so zanksüchtige Ehefrauen’ (d.h. die .Minderheit´), sagte Plechanow, .dass man ihnen nachgeben muss, um einen hysterischen Anfall und einen lauten Skandal vor dem Publikum zu vermeiden.’
´Kann sein’, antwortete ich, .aber man muss so nachgeben, dass man die Kraft behält, einen noch größeren „Skandal“ nicht zuzulassen."´ (Siehe Kommentar zum Protokoll der Liga, S. 37, wo Lenins Brief angeführt wird.) [37]
Lenin und Plechanow gelangten nicht zu einer Einigung. Mit diesem Augenblick begann der Übergang Plechanows zur „Minderheit".
Wir haben aus glaubwürdigen Quellen erfahren, dass Plechanow auch die „Minderheit" verlässt und bereits sein eigenes Organ gegründet hat, den „Dnjewnik Sozialdemokrata" [38])
Aber das ist noch nicht alles.
Es verging einige Zeit. Sie sahen, dass außer einigen naiven Menschen niemand ihre Agitation gegen die „Mehrheit" und Lenin beachtete, sie sahen, dass die „Geschäfte" schlecht gingen, und sie beschlossen, noch einmal eine neue Farbe anzunehmen. Der gleiche Plechanow, die gleichen Martow und Axelrod fassten am l0. März 1905 im Namen des Parteirats eine Resolution, in der es u. a. heißt:
„Genossen! (sie wenden sich an die ´Mehrheit’) ... Beide Seiten (d. h. die ´Mehrheit’ und die ´Minderheit’) haben wiederholt ihre Überzeugung ausgesprochen, dass die bestehenden taktischen und organisatorischen Meinungsverschiedenheiten nicht von solchem Charakter sind, dass sie die Arbeit im Rahmen einer einheitlichen Parteiorganisation unmöglich machen" („Iskra" Nr. 91, S. 3), deshalb solle ein Kameradschaftsgericht (bestehend aus Bebel und anderen) eingesetzt und unser kleiner Streit beigelegt werden.
Kurzum, die Meinungsverschiedenheiten in der Partei seien nur ein Gezänk, über das ein Kameradschaftsgericht zu urteilen hätte, wir seien ja ein einheitliches Ganzes.
Aber wieso denn? Uns, die „Nichtmarxisten", ruft man in die Parteiorganisationen, wir seien ein einheitliches Ganzes und dergleichen mehr... Was heißt das? Das ist doch ein Verrat an der Partei von eurer Seite, ihr Führer der „Minderheit"! Kann man denn „Nichtmarxisten" an die Spitze der Partei stellen? Haben denn „Nichtmarxisten" in einer sozialdemokratischen Partei Platz? Oder habt vielleicht auch ihr den Marxismus verraten und deshalb die Front gewechselt?
Es wäre jedoch naiv, eine Antwort zu erwarten. Die Sache ist die, dass diese braven Führer mehrere „Prinzipien" in der Tasche haben, und sie je nach Bedarf hervorziehen. Bei ihnen hat die Woche, wie es im Russischen heißt, sieben Freitage!...
Das sind die Führer der so genannten „Minderheit".
Man kann sich leicht vorstellen, wie der Anhang solcher Führer aussieht - die Tifliser so genannte „Minderheit"... Das Unglück will noch, dass der Schwanz manchmal nicht auf den Kopf hört und ihm den Gehorsam verweigert. Während z.B. die Führer der „Minderheit" eine Versöhnung für möglich halten und die Parteiarbeiter zur Eintracht aufrufen, toben die Tifliser „Minderheit" und ihr „Sozialdemokrat" weiter: zwischen der „Mehrheit" und der „Minderheit", so erklären sie, „wird ein Kampf auf Leben und Tod geführt" (Siehe „Sozialdemokrat" Nr. 1), und wir müssen einander ausrotten! Der eine ruft hü! der andere hott!
Die „Minderheit" beklagt sich darüber, dass wir sie Opportunisten (Prinzipienlose) nennen. Welchen anderen Namen als Opportunismus aber kann man dafür finden, wenn sie ihre eigenen Worte abschwören, wenn sie sich von einer Seite auf die andere werfen, wenn sie ewig schwanken und wanken? Ist es möglich, dass ein wahrer Sozialdemokrat dauernd seine Überzeugungen wechselt? So häufig werden ja nicht einmal die Taschentücher gewechselt.
Unsere Quasimarxisten behaupten hartnäckig, dass die „Minderheit" einen wahrhaft proletarischen Charakter trägt. Ist dem so? Sehen wir zu. Kautsky sagt: „Er" (der Proletarier) „ist leichter imstande, Parteiprinzipien zu erfassen, er neigt zu einer prinzipiellen Politik, unbeeinflusst von Augenblicksstimmungen, persönlichen oder lokalen Interessen." („Das Erfurter Programm", Verlag des ZK, S. 88)
Und die „Minderheit"? Neigt auch sie zu einer Politik, die nicht von Augenblicksstimmungen und anderen beeinflusst wird? Im Gegenteil: sie wankt ständig, sie schwankt ewig, sie hasst eine feste prinzipielle Politik, sie zieht die Prinzipienlosigkeit vor, sie folgt Augenblicksstimmungen. Die Tatsachen sind uns schon bekannt.
Kautsky sagt, dass der Proletarier die Parteidisziplin liebt: „Der Proletarier ist nichts als isoliertes Individuum. Seine ganze Kraft, sein ganzes Fortschreiten, alle seine Erwartungen und Hoffnungen schöpft er aus der Organisation..." Eben deshalb lässt er sich weder von einem persönlichen Vorteil noch von persönlichem Ruhm hinreißen, er „erfüllt seine Pflicht auf jedem Posten, auf den er gestellt wird, in freiwilliger Disziplin, die sein ganzes Fühlen und Denken erfüllt." (Siehe Lenin, „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück", S. 93 [in „Sämtliche Werke", Bd. VI, deutsche Ausgabe, Wien-Berlin 1930, S. 336], wo diese Worte Kautskys angeführt werden.)
Und die „Minderheit"? Ist sie ebenso von der Disziplin durchdrungen? Im Gegenteil, sie verachtet die Parteidisziplin und verspottet sie. (Siehe das Protokoll der Liga.) Das erste Beispiel der Verletzung der Parteidisziplin lieferten die Führer der „Minderheit". Erinnert euch an Axelrod, Sassulitsch, Starowjer, Martow und andere, die sich dem Beschluß des II. Parteitags nicht fügten.
„Ganz anders der Literat", fährt Kautsky fort. Er füge sich mit großer Mühe der Parteidisziplin, und auch das nur aus Nötigung und nicht aus gutem Willen. „Die Notwendigkeit der Disziplin erkennt er nur für die Masse, nicht für auserlesene Geister an. Und zu diesen rechnet er sich natürlich auch... Das ideale Beispiel eines Literaten, der vollständig im Empfindungsleben des Proletariats aufging und ... auf jedem Posten wirkte, auf den er hingestellt wurde, sich stets ganz unserer großen Sache unterordnete und jenes weichliche Gewinsel... verachtete, das der ... Literat gern dann anstimmt, wenn er einmal in der Minorität bleibt - das ideale Beispiel eines Literaten ... war Liebknecht. Auch Marx darf man hier nennen, der sich nie vordrängte und dessen Unterwerfung unter die Parteidisziplin in der Internationale, wo er gar manches Mal in der Minorität blieb, musterhaft war." (Siehe Lenin, „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück", S. 93 [in „Sämtliche Werke", Bd. VI, S. 336-337], wo diese Zeilen Kautskys angeführt werden.)
Und die „Minderheit" ? Hat sich bei ihr in irgendeiner Form „proletarisches Empfinden" bemerkbar gemacht? Ähnelt ihre Haltung der Haltung Liebknechts und Marx´? Im Gegenteil: wir sahen, dass die Führer der „Minderheit" ihr „Ich" unserer heiligen Sache nicht unterordneten, wir sahen, dass eben diese Führer sich auf dem II. Parteitag „jenem weichlichen Gewinsel, als sie in der Minorität blieben", hingegeben haben, wir sahen, dass nach dem Parteitag gerade sie um der „ersten Plätze" willen flennten, und eben um dieser Sitze willen eine Parteispaltung anzettelten...
Ist das euer „proletarischer Charakter", verehrte Menschewiki?
Warum sind dann aber in einigen Städten die Arbeiter auf unserer Seite? fragen uns die Menschewiki.
Ja gewiss, in einigen Städten stehen die Arbeiter auf der Seite der „Minderheit", aber das beweist nichts. Die Arbeiter folgen in einigen Städten auch den Revisionisten (Opportunisten in Deutschland), aber dies heißt noch nicht, dass ihr Standpunkt ein proletarischer ist, dies heißt noch nicht, dass sie keine Opportunisten sind. Einmal fand auch die Krähe eine Rose, aber dies bedeutet noch nicht, dass die Krähe eine Nachtigall ist. Nicht umsonst heißt es:
Fand die Krähe eine Rose, Dünkt sie sich schon Nachtigall.
Jetzt ist es klar, auf welchem ´Boden die Meinungsverschiedenheiten in der Partei entstanden sind. Wie man sieht, sind in unserer Partei zwei Tendenzen zum Vorschein gekommen: die Tendenz der proletarischen Sündhaftigkeit und die Tendenz der intelligenzlerischen Wankelmütigkeit. Zum Ausdruck gebracht wird diese intelligenzlerische Wankelmütigkeit eben durch die jetzige „Minderheit". Das Tifliser „Komitee" und sein „Sozialdemokrat" sind die gefügigen Sklaven dieser „Minderheit"!
Das ist das Wesen der ganzen Sache.
Allerdings machen unsere Quasimarxisten häufig ein Geschrei davon, sie seien gegen die „intelligenzlerische Denkart", und versuchen hierbei, die „Mehrheit" der „intelligenzlerischen Wankelmütigkeit" zu zeihen, aber dies erinnert an den Fall mit dem Dieb, der Geld stahl und dann ein Geschrei erhob: „Haltet den Dieb!"
Außerdem weiß man: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.