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W. I. Lenin über Lew Tolstoi | |
|---|---|
| Autor*in | Wladimir Lenin |
| Verlag | APN-Verlag |
| Veröffentlicht | 1972 Moskau |
Aufsatz Lenins
Die Literatur über Tolstoi, die seit Jahrzehnten beinah überall in der Welt herausgegeben wird, ist einfach unermeßlich. Und in diesem Meer von Monographien, wissenschaftlichen Gemeinschaftswerken, populären Broschüren, Pressepublikationen nehmen sieben kleine Aufsätze einen besonderen Platz ein. Mehr noch: sie leiteten eine Wende in der Tolstoiforschung ein und bewahren nun schon seit über einem halben Jahrhundert ihren unvergänglichen Wert. Es handelt sich um einen Zyklus von Arbeiten aus der Feder W. I. Lenins über den großen russischen Schriftsteller: „Lew Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution" (1908), „L. N. Tolstoi" (1910), „Beginn eines Umschwungs?" (1910), „L. N. Tolstoi und die moderne Arbeiterbewegung" (1910), „Tolstoi und der proletarische Kampf" (1910), „Helden des /Vorbehalts'" (1910), „L. N. Tolstoi und seine Epoche" (1911). Diese Aufsätze decken das Wesen einer hervorragenden Erscheinung in der russischen und der Weltliteratur auf, einer Erscheinung, die auf ewig in die Literatur eingegangen ist, geprägt durch den Namen Tolstoi. Die Periode, in der die Schriften verfaßt worden sind, erstreckt sich über drei Jahre mit zwei denkwürdigen Tagen: dem 80jährigen Jubiläum Tolstois (28. August 1908) und seinem Todestag (7. November 1910).
Die chronologischen Anhaltspunkte sollten Lenin aber nur als äufjerer Anlaß für die Stellungnahmen zur literarischen Tätigkeit Lew Tolstois dienen. Die publizistischen Arbeiten Lenins, darunter auch solche zu Literaturthemen, beruhten nicht auf akademischem Interesse, sondern entstanden unter dem Einfluß aktueller Erscheinungen und laufender Ereignisse; Lenin beschäftigte sich mit solchen Themen, ausgehend von den Belangen des proletarischen revolutionären Kampfes. Schon der Titel des ersten Aufsatzes „Lew Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution" zeigt, unter welchen Gesichtspunkten Lenin das Schaffen Tolstois betrachtete. Er wies wiederholt darauf hin, daß es der offiziellen Presse am allerwenigsten darauf ankommt, die Werke Tolstois im Hinblick auf den Charakter der russischen Revolution[Anmerkung 1] und ihrer Triebkräfte zu analysieren. Wenn monarchistische Literaten gegen den großen Schriftsteller hetzten und ihn als Feind des Fortschritts hinstellten, so waren die Versuche der Liberalen und der Menschewiki,[Anmerkung 2] ihm beinahe die Rolle eines „Lehrers des Lebens", eines „Gewissens der Zeit" anzudichten, nicht minder schädlich.
Die Stellungnahmen Lenins gegen die falschen liberal-menschewistischen Interpretationen des Schaffens Tolstois bildeten einen Teil des Kampfes, den Lenin für den Aufstieg der revolutionären Bewegung, für das richtige Verständnis der Lehren der Revolution von 1905 führte. Die Leninschen Schriften über Tolstoi, die auf einer konkreten Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse im damaligen Rußland beruhten, sind unlöslich mit den Aufgaben der Revolution verbunden. Zugleich paart sich bei Lenin politische Aktualität mit tiefstem Historismus, dank dem alles Wertvolle im künstlerischen Nachlaß des Schriftstellers leicht ausgesondert werden kann. Lenin betrachtet das Schaffen Tolstois als eine Widerspiegelung der gesellschaftlichen Widersprüche in Rußland von den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts bis einschließlich 1905. Die Konfrontierung des Namens Tolstoi mit der Revolution, die er offenkundig nicht verstanden und von der er sich abgekehrt hat, könnte auf den ersten Blick sonderbar und künstlich erscheinen. Als genialer Künstler konnte Tolstoi aber nicht umhin, in seinen Werken einige wesentliche Aspekte der Revolution wiederzugeben.
„Tolstoi, der im wesentlichen der Epoche von 1861 bis 1904 angehört, gestaltete in seinen Werken als Dichter wie als Denker und Künder mit erstaunlicher Prägnanz die Züge der historischen Eigenart der gesamten ersten russischen Revolution, ihre Stärke und ihre Schwäche. Die Eigenart der Tolstoischen Kritik an der damaligen Wirklichkeit in Rußland und die historische Bedeutung dieser Kritik bestanden darin, daß sie mit einer Kraft, wie nur geniale Künstler sie besitzen, den Umschwung in den Anschauungen der breitesten Volksmassen des Rußlands der erwähnten Periode namentlich des dörflichen, bäuerlichen Rußlands zum Ausdruck bringen. Unterscheidet sich doch die Kritik, die Tolstoi an den heutigen Zuständen übt, von der Kritik, die die Vertreter der modernen Arbeiterbewegung an diesen Zuständen üben, gerade dadurch, daß Tolstoi auf dem Standpunkt des patriarchalischen, naiven Bauern steht, daß Tolstoi dessen Denkart in seine Kritik, in seine Lehre hineinnimmt" Durch den Mund Tolstois sprach, wie Lenin feststellte, die Millionenmasse der russischen Bauernschaft, die die Herren des damaligen Lebens bereits haßte, sich aber noch nicht bis zum bewußten Kampf gegen sie durchgerungen hatte. Ebendiese Widersprüche der Bauernrevolution spiegelten sich in den Widersprüchen der Weltanschauung und des Schaffens von Tolstoi wider. Lenin zog nie einen Trennungsstrich zwischen den Künstler und den Denker Tolstoi, weil er ihn in allen Erscheinungsformen als Einheit empfand. Lenin sprach stets von den künstlerischen Werken wie von der Lehre Tolstois als einer eigenartigen Widerspiegelung ein und derselben Wirklichkeit.
Lenin schenkte „Anna Karenina", „Luzern" und „Der Kreutzersonate" ebenso wie verschiedenen publizistischen und ethisch-philosophischen Schriften Tolstois die gleiche Aufmerksamkeit. Das Wirken und Schaffen Tolstois als einheitliches Ganzes auffassend, deckte Lenin aber auch die diese Einheit zerreißenden „schreienden" Widersprüche auf: „In den Werken, Anschauungen, Lehren, in der Schule Tolstois sind tatsächlich schreiende Widersprüche enthalten. Einerseits ein genialer Künstler, der nicht nur unvergleichliche Bilder aus dem russischen Leben, sondern auch sige Werke der Weltliteratur geschaffen hat. Anderseits ein Gutsbesitzer, der sich als Narr in Christo gefällt. Einerseits ein wunderbar starker, unmittelbarer und aufrichtiger Protest gegen gesellschaftliche Verlogenheit und Heuchelei, anderseits ein ,Tolstoianer', d. h. ein verschlissener, hysterischer Jammerlapen, russischer Intellektueller geheißen, der sich öffentlich an die Brust schlägt und sagt: ,Ich bin schlecht, ich bin ekelhaft, aber ich lasse mir die sittliche Selbstvervollkommnung angelegen sein: ich esse kein Fleisch mehr und nähre mich jetzt von Reiskoteletts.'
Einerseits schonungslose Kritik an der kapitalistischen Ausbeutung, Entlarvung der Gewalttaten der Regierung, der Justizund Staatsverwaltungskomödie, Enthüllung der ganzen Tiefe der Widersprüche zwischen dem Anwachsen des Reichtums sowie der zivilisatorischen Errungenschaften und dem Anwachsen der Armut, der Verwilderung und der Qualen der Arbeitermassen; anderseits eine verzückt-wahnsinnige Predigt des ,Verzichts auf gewaltsamen ,Widerstand gegen das Böse'. Einerseits nüchternster Realismus, Herunterreifjen jeglicher Masken; anderseits Predigt eines der abscheulichsten Dinge, die es überhaupt auf der Welt gibt, nämlich der Religion, das Bestreben, die Pfaffen mit behördlicher Bestallung zu ersetzen durch Pfaffen aus sittlicher Überzeugung, d. h. Kultivierung der raffiniertesten und deshalb besonders widerwärtigen Pf äfferei. Wahrhaftig: Du bist armselig und reich, Mächtig und ohnmächtig zugleich, Mütterchen Rußland!"[Anmerkung 3]
Lenin deckte aber nicht nur die Widersprüche im Schaffen Tolstois auf, sondern ging auch ihren Ursachen, der Quelle, die diese Widersprüche nährte, auf den Grund. Lenin betonte, dafj sie keine Zufälligkeiten waren, „sie sind vielmehr Ausdruck jener widerspruchsvollen Bedingungen, unter denen sich das russische Leben während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts abspielte" „Die Widersprüche in Tolstois Anschauungen sind nicht Widersprüche seines persönlichen Denkens allein, sondern eine Widerspiegelung der in höchstem Ma^e komplizierten, widerspruchsvollen Verhältnisse, sozialen Einflüsse und historischen Traditionen, die maßgebend waren für die Denkart der verschiedenen Klassen und verschiedenen Schichten der russischen Gesellschaft in der Periode nach der Reform,[Anmerkung 4] aber vor der Revolution." So fand der gewaltige Umbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse, der im russischen Leben nach 1861 mit besonderer Kraft zur Geltung kam, in Tolstois Schaffen einen markanten Ausdruck.
Auf der Suche nach den sozialen Wurzeln dieses Schaffens ließ es Lenin nicht mit dem Studium des gesellschaftlichen Lebens der Klasse, aus der Tolstoi hervorgegangen ist, bewenden, sondern untersuchte den gesamten Komplex der gesellschaftlichen Verhältnisse der Epoche, in der sich Tolstoi als Künstler und Denker formte, ihren gesamten, wenn man sich so ausdrücken kann, „sozialen Kontext". Lenin schrieb: „Tolstois Haupttätigkeit fällt in Periode der russischen Geschichte, die durch zwei Wendepunkte, die Jahre 1861 und 1905, begrenzt wird. Während dieser Periode durchdrangen Spuren der Leibeigenschaft, ihre direkten Überbleibsel von oben bis unten das gesamte Wirtschaftsleben (besonders im Dorf) und das gesamte politische Leben des Landes. Gleichzeitig aber war gerade diese Periode eine Periode verstärkter Entwicklung des Kapitalismus von unten und seiner Einbürgerung von oben/' Das alte patriarchalische Rußland fiel nach 1861 unter den Schlägen des Kapitalismus einer schnellen Zerstörung anheim; die jahrhundertealten gesellschaftlichen Beziehungen der patriarchalischen Lebensweise zerbrachen und machten neuen, durch den Kapitalismus geborenen Platz. „Die Bauern hungerten, starben dahin, wurden ruiniert wie nie zuvor, sie flüchteten in die Städte und überließen ihren Boden seinem Schicksal.
Dank der ,billigen Arbeit' der ruinierten Bauern wurden verstärkt Eisenbahnen, Fabriken und Werke gebaut. In Rußland entwickelten sich das große Finanzkapital, der Großhandel und die Großindustrie/' Tolstoi selbst hatte den Übergangscharakter der nach 1861 angebrochenen Periode glänzend erfaßt. Lenin führte die Worte von Konstantin Lewin aus „Anna Karenina" an, daß in Rußland „alles (jetzt) umgekrempelt worden ist und alles eben erst Gestalt gewinnt"; hierzu bemerkt Lenin: „. . .man kann sich schwerlich eine treffendere Charakteristik der Periode von 1861 bis 1905 vorstellen." Lenin forschte nach den sozialen Wurzeln des Schaffens von Tolstoi im real historischen Inhalt der Epoche, die seinen Nährboden bildete. Lenin wies nach, wie Tolstoi „seiner Geburt und Erziehung nach zum höchsten Grundherrenadel Rußlands gehörend", „mit allen gewohnten Ansichten dieses Milieus" brechen konnte. Worin wurzelten die sozialen Ursachen des Übertritts Tolstoi auf den Standpunkt der breiten Volksmassen seiner Zeit?
„Die jähe Zerstörung aller 'alten Säulen' des dörflichen Rußlands schärfte seine Aufmerksamkeit, vertiefte sein Interesse für alles, was sich rings um ihn her abspielte,, führte zu einer Wende in seiner gesamten Weltanschauung" , stellte Lenin fest. So schloß er das Schaffen Tolstois in die allgemeinen sozialen Prozesse seiner Zeit ein, Prozesse, die der ersten russischen Revolution den Weg bereiteten. Lenin beurteilte Tolstoi „vom Gesichtspunkt jenes im patriarchalischen russischen Dorf unweigerlich laut werdenden Protestes gegen den hereinbrechenden Kapitalismus, gegen den Ruin der Massen und ihre Vertreibung von der Scholle." f Lenin erkannte die Größe Tolstois darin, daß „er die Ideen und Stimmungen zum Ausdruck bringt, die zur Zeit des Anbruchs der bürgerlichen Revolution in Rußland unter den Millionenmassen der russischen Bauernschaft aufkamen".
Er sah im Ideengehalt der Werke Tolstois nicht einen abstrakten „christlichen Anarchismus", sondern Züge, die Tolstois Ideen dem traditionellen Streben der Bauern nach „neuen Formen des Zusammenlebens" verwandt werden liefen, die Bauernschaft zeigte aber „einen großen gel an Bewußtheit eine patriarchalische, religiös-närrische Unbekümmertheit gegenüber den Fragen, wie dies Gemeinwesen aussehen soll", sie wußte nicht, auf welchem Wege und in welchem Kampf diese neuen Formen des Zusammenlebens erreicht werden sollten. Bei Tolstoi fand Lenin denn auch die gleichen Züge: in den Widersprüchen, die für Tolstois Anschauungen kennzeichnend sind, erblickte Lenin ein Spiegelbild „jener widerspruchsvollen Bedingungen, unter denen die Bauernschaft in unserer Revolution ihre historische Tätigkeit aufnahm".
Die Bauernschaft verstand den Herrn und den Beamten zu hassen das hatte sie das ganze frühere Leben gelehrt, aber nur eine Minderheit der Bauern folgte dem revolutionären Proletariat, in ihrer Mehrheit wußte die Bauernschaft nicht, wo sie auf die sie quälenden Fragen Antwort suchen sollte. „Der größere Teil der Bauernschaft jammerte und betete, räsonierte und träumte, schrieb Petitionen und entsandte ,Fürbitter' ganz im Geiste Lew Nikolajewitsch Tolstois." Ebendiese Schwäche der breiten Massen, die ihren Weg noch nicht erkannt hatten, ebendiese „historische Sünde, das Tolstoianertum" spiegelte Tolstoi in seinen Werken wider, der es verstand, »mit eindringlicher Kraft" dem „elementaren Protest und Unwillen" der Massen Ausdruck zu verleihen. Tolstoi „gestaltete in seinen Werken als Dichter wie als Denker und Künder mit erstaunlicher Prägnanz die Züge der historischen Eigenart der gesamten ersten russischen Revolution, ihre Stärke und ihre Schwäche".
Dank Lenins glänzender Analyse sollte durch die auf den ersten Blick sonderbar und künstlich wirkende Konfrontierung des Namens Tolstoi mit der Revolution sowohl dessen Schaffen als auch den sozialen Sinn der russischen Revolution wie mit einem grellen Scheinwerferlicht erhellen. Bemerkenswert ist, daß die Konfrontierung des Namens Tolstoi mit der Revolution ganz unerwartet in einer Tagebucheintragung der Frau des Schriftstellers, Sophia Andrejewna Tolstaja, ihre Bestätigung finden sollte. Sie schreibt in ihren bereits in der Sowjetzeit veröffentlichten Tagebüchern, daß L. N. Tolstoi, „so sehr er sich mit dem Christentum verdeckte", mit der Revolution „bestimmt sympathisiert" (Eintragung vom 13. April 1909). Tolstoi beobachtete mit ungeschwächter Aufmerksamkeit, wie der Volkszorn anschwoll. „Das Volk ist erzürnt", schrieb er 1910 in sein Tagebuch. Er war sich der gewaltigen befreienden Rolle der Revolution durchaus bewußt. Hier möge noch eine Eintragung vom 11. März 1910 folgen: „Die Revolution hat es in unserem Volk dazu gebracht, daß es plötzlich die Ungerechtigkeit seiner Lage erblickte. Das ist das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Das Kind, das sagte, was ist, daß der Kaiser nackt ist, war die Revolution. Im Volk reifte das Bewußtsein der von ihm erfahrenen Unwahrheit, und das Volk verhält sich verschieden zu dieser Unwahrheit (großenteils leider mit Zorn); aber das Volk versteht sie doch schon.
Und dieses Bewußtsein läßt sich schon nicht mehr ausmerzen. . /' Trotz dem hier erklingenden Motiv des Verzichts auf Widerstand ist aus diesen Worten herauszuhören, daß Tolstoi des Herannahens einer neuen revolutionären Welle sicher war, die das ganze Unrecht der Ausbeuterordnung hinwegschwemmen würde. Lenin schätzte den glühenden Protest Tolstois und sah in ihm einen leidenschaftlichen Ankläger und großen Kritiker. Er würdigte die Seiten im Schaffen Tolstois, die mit ungeheurer Kraft eine „schonungslose Kritik an der kapitalistischen Ausbeutung" ausdrückten, aus denen bemerkenswerter „nüchternster Realismus" sprach. „Nüchternster Realismus" war Lenin selbst eigen, bildete einen Wesenszug seiner gesamten theoretischen und praktischen Tätigkeit. Daraus ergaben sich auch seine ausgesprochene Wahrhaftigkeit und seine Unversöhnlichkeit im Kampf. Diese Züge machten sich auch in den Leninschen Werturteilen über Tolstoi bemerkbar. Lenin wandte sich scharf und bissig gegen jedwede „Helden des ,Vorbehalts' ", gegen die menschewistischen Liquidatoren und gegen die kadettischen[Anmerkung 5] Liberalen, die die Totenfeier auf Tolstoi mit einem Hexentanz der Heuchelei und einem Bacchanal der honigsüßen Lüge begingen. Lenin wandte sich scharf und spöttisch gegen diejenigen, die sich gestern noch Marxisten und Revolutionäre nannten, heute aber im Verein mit den Liberalen aller Schattierungen scheinheilig Tolstoi zum „Gewissen Rußlands" proklamierten, Tolstoi, der in einer Anwandlung des „Verzichts auf gewaltsamen Widerstand gegen das Böse" sich zu dem Passus verstieg, man solle sich nicht einmal einem tollwütigen Hunde „widersetzen".
Lenin schätzte den Genius des Künstlers Tolstoi hoch, „der nicht nur unvergleichliche Bilder aus dem russischen Leben, sondern auch erstklassige Werke der Weltliteratur geschaffen hat"; Lenin geißelte aber auch mit der ihm eigenen Offenheit die Schwächen Tolstois, das „Tolstoianertum": „Der reale historische Gehalt des Tolstoianertums liegt eben darin, eine Ideologie der östlichen Ordnung, der asiatischen Ordnung zu sein. . . Tolstois Lehre ist unbedingt utopisch und, ihrem Inhalt nach, reaktionär in der wahrsten und tiefsten Bedeutung dieses Wortes." Lenin trennt in Tolstois Schaffen, „was Tolstois Vorurteil" und was „sein Urteil zum Ausdruck bringt"; Lenin unterscheidet in Tolstois Erbe (in Übereinstimmung mit der marxistischen Einschätzung des Problems Kulturerbe), „was an ihm der Vergangenheit . . . angehört" und „was der Zukunft gehört" . Lenin erkannte, daß Tolstois Weltbedeutung „auf seine Art" die Weltbedeutung der russischen Revolution widerspiegelte. Er schrieb; „Die Epoche, in der sich ein von den Fronherren bedrücktes Land auf die Revolution vorbereitete, bedeutete dank Tolstoi, der sie genial beleuchtete, einen Schritt vorwärts in der künstlerischen Entwicklung der gesamten Menschheit."
Ausgehend von den allgemeinen Postulaten der marxistischen Erkenntnislehre, verlangt Lenin auch von Kunstwerken als scharfe ideologische Waffe vor allem eine tiefschürfende und wahrheitsgetreue Widerspiegelung der Wirklichkeit: „Doch haben wir es mit einem wirklich großen Künstler zu tun, so mußte er wenigstens einige wesentliche Seiten der Revolution in seinen Werken widerspiegeln." Diese Leninsche Formel, die die Frage der Wechselbeziehung zwischen Kunst und Wirklichkeit in aller Schärfe stellt, legt zugleich ein ganz eindeutiges Kriterium des Künstlerischen fest. Keinerlei künstlerische „Meisterschaft" kann das wirklich Künstlerische ersetzen, das im Grunde genommen ja gerade in der tiefschürfenden und wahrheitsgetreuen Wiedergabe der Wirklichkeit besteht. Allerdings stuft sich das Künstlerische nach höherem und niederem Grad. Es gibt jedoch einen künstlerischen Wert höchsten Grades, den Lenin mit den Worten „wirklich großer Künstler" definiert. Bei einem „wirklich großen Künstler" muß das Schaffen „wenigstens einige wesentliche Seiten der Revolution . . . widerspiegeln", d. h. gerade das, was das Wesen der Wirklichkeit ausmacht. Und Lew Tolstoi war tatsächlich ein großer Künstler, der in seinen Werken grundlegende Fragen des Lebens aufrollte. Wie Lenin schrieb, „wußte L. Tolstoi in seinen Werken so viele große Fragen aufzurollen, sich zu solcher künstlerischer Kraft aufzuschwingen, daß seine Werke in der belletristischen Weltliteratur einen der ersten Plätze einnehmen".
Eine wirklich große Kunst ist berufen, „große Fragen" des Lebens zu stellen, und darin liegt ihre eigentliche „künstlerische Kraft", die Kraft ihrer Einwirkung auf das Volk. Das Schaffen Tolstois war vor der Revolution bei aller Popularität seines Namens nur einem begrenzten Kreise vertraut, weil die Literatur im alten Rußland für die Mehrheit des Volks ein Buch mit sieben Siegeln war. Lenin schrieb hierzu: „Der Künstler Tolstoi ist selbst in Rußland nur einer verschwindenden Minderheit bekannt. Damit seine großen Werke wirklich zum Gemeingut aller werden, ist Kampf und noch einmal Kampf gegen eine Gesellschaftsordnung notwendig, die Millionen und aber Millionen zu Unwissenheit, Unterdrückung, Zwangsarbeit und Elend verurteilt, ist der sozialistische Umsturz notwendig. Die Große Sozialistische Oktoberrevolution hat nicht nur die Volksmassen erlöst und zu aktiver Schaffenstätigkeit erweckt, sondern auch die große Kunst der Vergangenheit ihrer Fesseln entledigt, indem sie diese Kunst dem Volk wiedergab und zum Gemeingut aller werden ließ. So verflicht sich in Lenins Auffassung das Schicksal der Kunst mit dem Schicksal des Volks.
Jahrhundertelang sammelte die Kunst in ihren demokratischen und sozialistischen Elementen, im Kampf gegen Routine, Finsternis, Ignoranz, gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, durch Mitwirkung an der Vorbereitung der Revolution, indem sie. den sozialistischen Umsturz beschleunigen half, revolutionäre Energie. Als sich dieser Umsturz vollzog und die sozialistische Oktoberrevolution triumphierte, begann im Sowjetland eine neue, sowjetische Kunst zu wachsen, eine Kunst, die tief im Volk verwurzelt und mit den besten Errungenschaften der Vergangenheit verbunden ist. Die Leninschen Ansichten über das Wechselverhältnis von Kunst und Wirklichkeit tden ihre Entwicklung und Krönung in der Methode des sozialistischen Realismus als Leitmethode der Sowjetliteratur. Schon in seinen Frühschriften stellte Lenin die These von der Parteilichkeit in der marxistischen Einschätzung auf. 1894 formulierte er seinen behmten Satz: „ der Materialismus (schlieft) sozusagen Parteilichkeit in sich ein, da er dazu verpflichtet ist, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe einzunehmen".
Diese hohe Parteilichkeit durchdringt auch alle Tolstoi-Aufsätze Lenins. Bei der Bewertung des Tolstoischen Schaffens blieb er wie immer auf dem „Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe", und zwar des Proletariats. Warum gebührt eigentlich dem Proletariat, der Arbeiterklasse das Urteilsrecht? Wo liegt die Gewähr für die :htigkeit ihrer Bewertung, für ihre objektive Bedeutung? Lenin beantwortet diese Frage in einem seiner Aufsätze über Tolstoi: „Und deshalb ;t eine richtige Würdigung Tolstois nur vom Standpunkt der Klasse aus möglich, die durch ihre politische Rolle und ihren Kampf während des ersten Versuchs, diese Widersprüche (die in Tolstois Schaffen ein Spiegelbild fanden. Red.) zu lösen, während der Revolution, ihre Berufung bewiesen hat, Führerin zu sein im Kampf für die Freiheit des Volkes und für die Befreiung der Massen von der Ausbeutung, die bewiesen hat, daß sie der Sache der Demokratie rückhaltlos ergeben und befähigt ist, gegen die Beschränktheit und Inkonsequenz der bürgerlichen (auch der bäuerlichen) Demokratie zu kämpfen sie ist nur möglich vom Standpunkt des sozialdemokratischen Proletariats.
Und der Sieg der sozialistischen Revolution rechtfertigte durchaus den tiefen historischen Optimismus, von dem Lenins Schriften über Tolstoi erfüllt waren, im Gegensatz zu den Tönen der Verzweiflung, die in den Werken des genialen russischen Künstlers zu vernehmen sind, der es verstand, das „große Volksmeer, aufgewühlt bis in die tiefsten Tiefen" widerzuspiegeln, doch nicht wußte, welcher Weg zur Befreiung des Volks führte, welcher Weg ihm Freiheit und Glück bringen sollte. Tolstois Werke erstehen in den Arbeiten Lenins als unwiderrufliche Beweise dafür, daß in der Kunst der Wahrhaftigkeit der künstlerischen Gestaltung des Lebens, dem scharfblickenden Eindringen in die entscheidenden Tiefenprozesse ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Lenin zeigte klar und deutlich, daß Tolstoi, sobald er die Besonderheiten der Epoche, ihre fortschrittlichen und ihre konservativen Kräfte richtig auseinanderhielt, Gipfel der Kunst erreichte. Umgekehrt waren seine Schwächen als Künstler und Denker darauf zurückzuführen, daß er wirkliche reale Gesetzmäßigkeiten des Lebens durch spekulative utopische Illusionen ersetzte.
Der Genius Tolstois beantwortet viele Fragen nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart. Heutzutage weist die Erfahrung dieses genialen Schriftstellers richtige Wege, bekräftigt sie die Richtigkeit der These: je bedeutender der Künstler ist, desto tiefschürfender und reichhaltiger spiegelt er in seinen Werken bestimmte Seiten der Wirklichkeit wider. Tolstoi hat wie kein anderer Schriftsteller vor ihm verstanden, in seinen Werken die geschichtlichen, gesellschaftlichen und individuellen Inhalte seiner Zeit außerordentlich umfassend und markant auszudrücken. Lenins Schriften über Tolstoi sind erfüllt von wahrem Nationalstolz auf die große russische Kultur. Sie sind ein klassisches Muster wahrhaft dialektischer Einstellung zum künstlerischen Erbe der Vergangenheit. Im Gegensatz zu den Liberalen und den Menschewiki bewies Lenin, daß Tolstoi und die gesamte russische Literatur weltgeschichtliche Bedeutung erlangt hatten, weil sie auf dem Boden des nationalen Lebens gediehen, die reiche Seelenwelt des russischen Menschen ausdrucksvoll gestalteten. Die Geschichte hat die Wahrheit der Leninschen Wertschätzung des Schaffens von Tolstoi als einen Schritt vorwärts in der künstlerischen Entwicklung der gesamten Menschheit bekräftigt.
Vorliegender Band gliedert sich in zwei Abschnitte. 1. Aufsätze. Dieser Abschnitt umfaßt die sieben genannten Arbeiten Lenins, die speziell Tolstoi gewidmet sind. Freilich enthält der Aufsatz „Beginn eines Umschwungs?" keine Wertschätzung seiner gesellschaftlich-literarischen Tätigkeit wie die sechs anderen. Jedenfalls hängt er aber organisch mit Tolstoi zusammen als eine Stellungnahme Lenins zu den vielerorts veranstalteten politischen Massendemonstrationen anläßlich des Ablebens des Schriftstellers. Darin erkannte er mit Scharfblick ein Zeichen des neuen demokratischen Aufschwungs nach einer langen Unterbrechung der Revolution. In diesem Aufsatz erwägte Lenin einerseits, inwieweit dieses Symptom ernst zu nehmen war, und bestimmte die Stärke der ausgebrochenen Bewegung; andererseits geißelte er die Heuchelei, die die Organe der reptilischen und liberalen Presse anläßlich des Tolstoi-Andenkens offenbarten. Dieser Aufsatz erschien Lenin wichtig genug, daß er ihn im letzten Augenblick, schon nach dem Umbruch der Nummer der bolschewistischen Zeitung Sozial-Demokrat, schrieb und offenbar an die Stelle eines anderen Beitrags setzte. 2. Auszüge aus Erinnerungen an Lenin und Dokumenten. Dieser Abschnitt ist als Ergänzung zur grundlegenden Lenin-Lektüre über Tolstoi gedacht. In den Anmerkungen findet der Leser ihm nicht ganz geläufige Namen und Vorgänge erläutert.
Lew Tolstoi als Spiegel der Russischen Revolution
Den Namen des großen Künstlers neben die Revolution gestellt zu sehen, die er offenkundig nicht verstanden hat, von der er sich offenkundig abseits hielt, mag auf den ersten Blick seltsam und gekünstelt anmuten. Man wird doch nicht etwa als Spiegel bezeichnen, was eine Erscheinung augenfällig nicht richtig wiedergibt? Aber unsere Revolution ist eine außerordentlich komplizierte Erscheinung; zu der Masse ihrer unmittelbaren Vollstrecker und Teilnehmer gehören viele soziale Elemente, die gleichfalls die Geschehnisse offenkundig nicht begriffen und sich gleichfalls abseits hielten von den wirklichen historischen Aufgaben, vor die sie durch den Gang der Ereignisse gestellt wurden. Doch haben wir es mit einem wirklich großen Künstler zu tun, so mußte er wenigstens einige wesentliche Seiten der Revolution in seinen Werken widerspiegeln.
Die legale russische Presse, die übervoll ist von Artikeln, Briefen und Notizen zum 80. Geburtstag Tolstois, interessiert sich am allerwenigsten für eine Analyse seiner Werke vom Standpunkt des Charakters der russischen Revolution und ihrer Triebkräfte. Diese ganze Presse trieft in übelster Weise von Heuchelei, von einer Heuchelei doppelter Art: einer offiziellen und einer liberalen. Die erste ist die plumpe Heuchelei käuflicher Skribenten, die gestern den Befehl hatten, gegen Lew Tolstoi zu hetzen, heute aber Patriotismus bei ihm ausfindig machen und versuchen sollen, vor Europa den Anstand zu wahren. Daß die Skribenten dieser Sorte ihr Geschreibsel bezahlt bekommen, weiß jedermann, und irreführen können sie niemanden. Weit raffinierter und darum weit schädlicher und gefährlicher ist die liberale Heuchelei.
Hört man die kadettischen Balalaikins[Anmerkung 6] von der „Retsch",[Anmerkung 7] so scheinen sie Tolstoi vollste und wärmste Sympathie entgegenzubringen. In Wirklichkeit sind die berechnete Deklamation und die schwülstigen Phrasen vom „großen Gottsucher" ein einziger Lug und Trug, denn weder glaubt der russische Liberale an den Tolstoischen Gott, noch sympathisiert er mit der Tolstoischen Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung. Er schmiert sich an den populären Namen an, um sein politisches Kapitälchen zu vermehren, um sich als Führer der gesamtnationalen Opposition aufspielen zu können, er ist bemüht, durch Gepolter und Phrasengeklingel das Bedürfnis nach offener und klarer Beantwortung der Frage zu übertönen, wodurch sind die schreienden Widersprüche im „Tolstoianertum" hervorgerufen, und welche Mängel und Schwächen unserer Revolution bringen sie zum Ausdruck?
In den Werken, Anschauungen, Lehren, in der Schule Tolstois sind tatsächlich schreiende Widersprüche enthalten. Einerseits ein genialer Künstler, der nicht nur unvergleichliche Bilder aus dem russischen Leben, sondern auch erstklassige Werke der Weltliteratur geschaffen hat. Anderseits ein Gutsbesitzer, der sich als Narr in Christo gefällt. Einerseits ein wunderbar starker, unmittelbarer und aufrichtiger Protest gegen gesellschaftliche Verlogenheit und Heuchelei, anderseits ein „Tolstoianer", d. h. ein verschlissener, hysterischer Jammerlappen, russischer Intellektueller geheißen, der sich öffentlich an die Brust schlägt und sagt; „Ich bin schlecht, ich bin ekelhaft, aber ich lasse mir die sittliche Selbstvervollkommnung angelegen sein: ich esse kein Fleisch mehr und nähre mich jetzt von Reiskoteletts". Einerseits schonungslose Kritik an der kapitalistischen Ausbeutung, Entlarvung der Gewalttaten der Regierung, der Justizund Staatsverwaltungskomödie, Enthüllung der ganzen Tiefe der Widersprüche zwischen dem Anwachsen des Reichtums sowie der zivilisatorischen Errungenschaften und dem Anwachsen der Armut, der Verwilderung und der Qualen der Arbeitermassen; anderseits eine verzückt wahnsinnige Predigt des „Verzichts auf" gewaltsamen „Widerstand gegen das Böse".
Einerseits nüchternster Realismus, Herunterreißen jeglicher Masken; anderseits Predigt eines der abscheulichsten Dinge, die es überhaupt auf der Welt gibt, nämlich der Religion, das Bestreben, die Pfaffen mit behördlicher Bestallung zu ersetzen durch Pfaffen aus sittlicher Überzeugung, d. h. Kultivierung der raffiniertesten und deshalb besonders widerwärtigen Pf äfferei. Wahrhaftig: Du bist armselig und reich, Mächtig und ohnmächtig zugleich, Mütterchen Rußland! Daß Tolstoi angesichts solcher Widersprüche sowohl die Arbeiterbewegung und ihre Rolle im Kampf für den Sozialismus als auch die russische Revolution absolut nicht verstehen konnte, liegt auf der Hand. Aber die Widersprüche in den Anschauungen und Lehren Tolstois sind keine Zufälligkeiten, sie sind vielmehr Ausdruck jener widerspruchsvollen Bedingungen, unter denen sich das russische Leben während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts abspielte.
Das patriarchalische Dorf, gestern erst von der Leibeigenschaft befreit, wurde dem Kapital und dem Fiskus zur restlosen Ausplünderung überlassen. Die alten Grundpfeiler der bäuerlichen Wirtschaft und des bäuerlichen Lebens, Grundpfeiler, die sich tatsächlich Jahrhunderte hindurch gehalten hatten, gingen ungewöhnlich schnell in die Brüche. Nun sind die Widersprüche in Tolstois Anschauungen nicht unter dem Gesichtspunkt der modernen Arbeiterbewegung und des modernen Sozialismus zu beurteilen (eine solche Würdigung ist natürlich notwendig, aber sie genügt nicht), sondern vom Gesichtspunkt jenes im patriarchalischen russischen Dorf unweigerlich laut werdenden Protestes gegen den hereinbrechenden Kapitalismus, gegen den Ruin der Massen und ihre Vertreibung von der Scholle. Tolstoi ist lächerlich als Prophet, der neue Rezepte zur Rettung der Menschheit erfunden hat und ganz erbärmlich sind daher die ausländischen und russischen „Tolstoianer", die ausgerechnet die schwächste Seite seiner Lehre zum Dogma erheben wollen. Tolstoi ist groß, soweit er die Ideen und Stimmungen zum Ausdruck bringt, die zur Zeit des Anbruchs der bürgerlichen Revolution in Rußland unter den Millionenmassen der russischen Bauernschaft aufkamen. Tolstoi ist originell weil die Gesamtheit seiner Anschauungen, als Ganzes genommen, gerade die Besonderheiten unserer Revolution als einer bäuerlichen bürgerlichen Revolution zum Ausdruck bringt.
Unter diesem Blickwinkel betrachtet, sind die Widersprüche in Tolstois Anschauungen ein wirkliches Spiegelbild jener widerspruchsvollen Bedingungen, unter denen die Bauernschaft in unserer Revolution ihre historische Tätigkeit aufnahm. Einerseits hatte der jahrhundertelange Druck der Leibeigenschaft und die jahrzehntelange forcierte Ruinierung nach der Reform ganze Berge von Haß, Erbitterung und verzweifelter Entschlossenheit aufgetürmt. Das Bestreben, sowohl die Staatskirche als auch die Gutsherren und ihre Regierung restlos hinwegzufegen, alle alten Formen und Konventionen des Grundbesitzes zu zerschlagen, das Land zu säubern und an Stelle der Polizeiund Klassenstaates ein Gemeinwesen freier und gleichberechtigter Kleinbauern zu schaffen dieses Bestreben durchzieht wie ein roter Faden jeden historischen Schritt der Bauern in unserer Revolution, und zweifellos entspricht der Ideengehalt der Schriften Tolstois weit mehr diesem Streben der Bauern als dem abstrakten „christlichen Anarchismus", als welcher das „System" seiner Anschauungen mitunter gewertet wird. Anderseits zeigte die Bauernschaft bei ihrem Streben nach neuen Formen des Zusammenlebens einen großen Mangel an Bewußtheit eine patriarchalische, religiös-närrische Unbekümmertheit gegenüber den Fragen, wie dies Gemeinwesen aussehen soll, durch welchen Kampf sie sich Freiheit zu erringen hat, wer in diesem Kampf ihr Führer sein kann, wie sich die Bourgeoisie und die bürgerliche Intelligenz zu den Interessen der Bauernrevolution stellen, warum der Grundbesitz der Gutsherren nur durch gewaltsamen Sturz der Zarenmacht vernichtet werden kann. Ihr ganzes bisheriges Leben hat die Bauernschaft den gnädigen Herrn und den Staatsbeamten hassen gelehrt, aber es hat sie nicht gelehrt und konnte sie auch nicht lehren, wo sie die Antwort auf alle diese Fragen zu suchen hat.
In unserer Revolution hat der kleinere Teil der Bauernschaft wirklich gekämpft und sich zu diesem Zweck wenigstens einigermaßen organisiert, und nur ein ganz geringer Teil hat sich mit der Waffe in der Hand erhoben, um seine Feinde niederzusäbeln, um den Zarenknechten und Verteidigern der Gutsbesitzer den Garaus zu machen. Der größere Teil der Bauernschaft jammerte und betete, räsonierte und träumte, schrieb Petitionen und entsandte „Fürbitter" ganz im Geiste Lew Nikolajewitsch Tolstois! Und wie es in solchen Fällen stets zu sein pflegt, bewirkte das tolstoianische Sich-Fernhalten von der Politik, das Fehlen von Interesse und Verständnis für die Politik, daß dem klassenbewußten und revolutionären Proletariat nur eine Minderheit folgte, die Mehrheit dagegen eine Beute jener prinzipienlosen und knechtseligen bürgerlichen Intellektuellen wurde, die, Kadetten genannt, aus einer Versammlung der Trudowiki[Anmerkung 8] in das Vorzimmer Stolypins[Anmerkung 9] liefen, bettelten, kuhhandelten, versöhnten, zu versöhnen versprachen bis ein KommißStiefel sie mit einem Tritt hinausbeförderte. Tolstois Ideen sind ein Spiegel der Schwäche, der Mängel unseres Bauernaufstands, ein Abbild der Schwammigkeit des patriarchalischen Dorfes und der eingewurzelten Feigheit des „tüchtigen Bäuertleins".
Man nehme die Soldatenaufstände der Jahre 1905/1906. Ihrer sozialen Herkunft nach stammten diese Kämpfer unserer Revolution aus der Bauernschaft und dem Proletariat. Das letztere bildete die Minderheit; darum zeigt die Bewegung innerhalb des Heeres auch nicht annähernd jene Geschlossenheit im Maßstab ganz Rußlands, nicht jenes Parteibewußtsein, wie das Proletariat es an den Tag legte, das wie auf einen Wink mit dem Zauberstab sozialdemokratisch wurde. Anderseits ist nichts irriger als die Auffassung, die Soldatenaufstände seien mißlungen, weil es an Führern aus dem Offizierskorps gefehlt hätte. Im Gegenteil, der gigantische Fortschritt der Revolution seit den Zeiten der „Narodnaja Wolja" äußerte sich gerade darin, daß der „Muschkote", dessen Selbständigkeit die liberalen Gutsherren und das liberale Offizierskorps so sehr erschreckte, zur Waffe gegen die Obrigkeit griff. Der Soldat war voller Sympathie für die Sache der Bauern; seine Augen leuchteten auf, sobald nur ein Wort vom Boden fiel.
So manches Mal ging die Befehlsgewalt in der Truppe in die Hände der Soldatenmasse über, aber entschlossen ausgenutzt wurde diese Gewalt fast nie; die Soldaten schwankten; einige Tage, mitunter wenige Stunden, nachdem sie irgendeinen verhaßten Vorgesetzten getötet hatten, setzten sie die anderen wieder auf freien Fuß, nahmen Verhandlungen mit den Behörden auf und ließen sich dann erschießen, sich mit Ruten auspeitschen, sich wieder ins Joch spannen ganz im Geiste Lew Nikolajewitsch Tolstois! Tolstoi widerspiegelte den siedenden Haß, den herangereiften Drang zum Besseren, das Verlangen, sich vom Vergangenen zu befreien und die unreife Träumerei, den Mangel an politischer Schulung, die Schlappheit und Unfähigkeit zu revolutionärem Handeln. Die historisch-ökonomischen Bedingungen bieten die Erklärung sowohl dafür, daß der revolutionäre Kampf der Massen aufflammen muffte, als auch für deren mangelnde Kampfvorbereitung, für den tolstoianischen Verzicht auf Widerstand gegen das Böse, der eine der wesentlichsten Ursachen für die Niederlage der ersten revolutionären Kampagne war. Geschlagene Armeen, sagt man, lernen gut.
Freilich ist ein Vergleich revolutionärer Klassen mit Armeen nur in sehr begrenztem Sinne richtig. Die Entwicklung des Kapitalismus verändert und verschärft mit jeder Stunde die Bedingungen, welche die Millionenmassen der Bauern, zusammengeschweißt durch den Haß gegen die Gutsbesitzer die Fronherren und ihre Regierung, in den revolutionär-demokratischen Kampf trieben. Innerhalb der Bauernschaft selbst verdrängt der wachsende Warenaustausch, die zunehmende Herrschaft des Marktes und die stets größer werdende Macht des Geldes immer mehr die patriarchalischen alten Zustände und die patriarchalische tolstoianische Ideologie. Aber eine Errungenschaft der ersten Revolutionsjahre und der ersten Niederlagen im revolutionären Massenkampf steht außer Zweifel: die Tatsache, daß der früheren Schlappheit und Niedergeschlagenheit der Massen der Todesstoß versetzt wurde. Die Trennungslinien sind schärfer geworden. Klassen und Parteien haben sich voneinander abgegrenzt. Unter dem Hammer der Stolypinschen Lektionen, bei unablässiger, konsequenter Agitation der revolutionären Sozialdemokraten wird nicht nur das soziali stische Proletariat, sondern werden auch die demokratischen Massen der Bauernschaft unweigerlich immer standhaftere Kämpfer hervorbringen, die immer weniger anfällig werden für unsere historische Sünde, das Tolstoianertum. Lew Tolstoi ist tot. Seine Weltbedeutung als Künstler, seine Weltberühmtheit als Denker und Künder, beides spiegelt auf seine Art die Weltbedeutung der russischen Revolution wider. L. N. Tolstoi trat als großer Künstler bereits zur Zeit der Leibeigenschaft hervor.[Anmerkung 10] In einer Reihe von genialen Werken, die er während seiner mehr als ein halbes Jahrhundert umfassenden literarischen Tätigkeit schuf, schilderte er vornehmlich das alte, vorrevolutionäre Rußland, das auch nach 1861 noch in halber Leibeigenschaft verblieb, das Rußland des Dorfes, das Rußland des Gutsherrn und des Bauern. Bei der Schilderung dieser Etappe in Rußlands geschichtlichem Leben wußte L. Tolstoi in seinen Werken so viele große Fragen aufzurollen, sich zu solcher künstlerischen Kraft aufzuschwingen, daß seine Werke in der belletristischen Weltliteratur einen der ersten Plätze einnehmen. Die Epoche, in der sich ein von den Fronherren bedrücktes Land auf die Revolution vorbereitete, bedeutete dank Tolstoi, der sie genial beleuchtete, einen Schritt vorwärts in der künstlerischen Entwicklung der gesamten Menschheit. Der Künstler Tolstoi ist selbst in Rußland nur einer verschwindenden Minderheit bekannt. Damit seine großen Werke wirklich zum Gemeingut aller werden, ist Kampf und noch einmal Kampf gegen eine Gesellschaftsordnung notwendig, die Millionen und aber Millionen zu Unwissenheit, Unterdrückung, Zwangsarbeit und Elend verurteilt, ist der sozialistische Umsturz notwendig.
Tolstoi schuf aber nicht nur Kunstwerke, die die Massen immer schätzen und lesen werden, wenn sie erst einmal das Joch der Gutsherren und Kapitalisten abgeschüttelt und sich dadurch menschenwürdige Lebensbedingungen errungen haben er verstand es auch, mit eindringlicher Kraft die Stimmung der vom gegenwärtigen System unterdrückten breiten Massen wiederzugeben, ihre Lage zu schildern, ihrem elementaren Protest und Unwillen Ausdruck zu verleihen. Tolstoi, der im wesentlichen der Epoche von 1861 bis 1904 angehört, gestaltete in seinen Werken als Dichter wie als Denker und Künder mit erstaunlicher Prägnanz die Züge der historischen Eigenart der gesamten ersten russischen Revolution, ihre Stärke und ihre Schwäche. Einer der wichtigsten spezifischen Charakterzüge unserer Revolution besteht darin, daß sie eine bürgerliche Bauernrevolution in einer Epoche sehr hoher Entwicklung des Kapitalismus in der ganzen Welt und verhältnismäßig hoher Entwicklung in Rußland selbst war. Es war eine bürgerliche Revolution, denn ihre unmittelbare Aufgabe war der Sturz der zaristischen Selbstherrschaftder Zarenmonarchie und die Zerstörung des gutsherrlichen Grundbesitzes, nicht aber die Beseitigung der Herrschaft der Bourgeoisie. Dieser letztgenannten Aufgabe war sich insbesondere die Bauernschaft nicht bewußt, die sich über den Unterschied zwischen dieser Aufgabe und den näherliegenden und unmittelbaren Aufgaben des Kampfes nicht im klaren war. Es war zugleich eine bürgerliche Bawernrevolution, denn die objektiven Bedingungen machten die Änderung der fundamentalen Lebensbedingungen der Bauernschaft, die Zerschlagung des überlieferten mittelalterlichen Grundbesitzes, die „Säuberung des Bodens" für den Kapitalismus zur erstrangigen Frage, und die objektiven Bedingungen riefen die Bauernmassen zu einer mehr oder weniger selbständigen historischen Aktion auf den Plan. In Tolstois Werken kommt die Stärke wie die Schwäche, die Kraft wie die Beschränktheit eben dieser bäuerlichen Massenbewegung zum Ausdruck. Sein glühender, leidenschaftlicher, nicht selten schonungslos scharfer Protest gegen den Staat und die polizeilich-staatliche Kirche übermittelt die Stimmung der primitiven Bauerndemokratie, in der die Jahrhunderte der Leibeigenschaft, bürokratischer Willkür und Räuberei, des kirchlichen Jesuitismus, des Betrugs und Gaunertums Berge von Erbitterung und Hafj aufgetürmt hatten. Seine unbeirrbare Ablehnung des privaten Grundeigentums übermittelt die Denkart der Bauernmassen in einem historischen Augenblick, wo der überlieferte mittelalterliche Bodenbesitz, der der Gutsherren ebenso wie der Besitz, der auf dem staatlich regulierten „Anteilland" System beruht, endgültig zu einem unerträglichen Hemmschuh für die Weiterentwicklung des Landes geworden ist und wo dieser alte Grundbesitz unausweichlich aufs jäheste und rücksichtsloseste zerstört werden mußte. Seine unentwegte, von tiefem Gefühl und lodernder Empörung erfüllte Entlarvung des Kapitalismus übermittelt das ganze Entsetzen des patriarchalischen Bauern, auf den ein neuer, unsichtbarer, unbegreiflicher Feind einzudringen begonnen hat, der irgendwoher aus der Stadt oder irgendwoher aus dem Ausland kommt, der alle „Säulen" des Dorflebens zerstört, der beispiellosen Ruin, Armut, Hungertod, Verwilderung, Prostitution und Syphilis mitbringt — alle Heimsuchungen der „Epoche der ursprünglichen Akkumulation", hundertfach verschärft durch die Verpflanzung der allerneuesten, von Herrn Coupon ausgearbeiteten Raubmethoden auf russischen Boden. Zugleich damit aber offenbarte der feurig protestierende, der leidenschaftliche Ankläger, der große Kritiker in seinen Werken eine solche Verständnislosigkeit für die Ursachen der Krise und die Möglichkeiten eines Auswegs aus der Krise, die über Rußland hereinbrach, wie sie nur ein patriarchalischer, naiver Bauer haben kann, nicht aber ein europäisch gebildeter Schriftsteller. Der Kampf gegen den Staat der Fronherren und der Polizei, gegen die Monarchie, wurde bei ihm zur Negation der Politik, zur Lehre vom „Verzicht auf Widerstand gegen das Böse" und führte ihn dazu, sich in den Jahren 1905-1907 vom revolutionären Kampf der Massen völlig abseits zu halten. Der Kampf gegen die Staatskirche ging Hand in Hand mit der Predigt einer neuen, geläuterten Religion, das heif}t eines neuen, geläuterten, verfeinerten Giftes für die unterdrückten Massen. Die Ablehnung des privaten Grundeigentums führte nicht dazu, den ganzen Kampf zu konzentrieren gegen den wirklichen Feind, gegen den gutsherrlichen Grundbesitz und dessen politisches Machtinstrument, d. h. die Monarchie, sondern zu verträumtem, verschwommenem, ohnmächtigem Wehklagen. Die Anklage gegen den Kapitalismus und die Leiden, mit denen dieser die Massen heimsucht, stand neben einer völlig apathischen Einstellung zu dem weltumspannenden Befreiungskampf, den das internationale sozialistische Proletariat führt. Die Widersprüche in Tolstois Anschauungen sind nicht Widersprüche seines persönlichen Denkens allein, sondern eine Widerspiegelung der in höchstem Mafje komplizierten, widerspruchsvollen Verhältnisse, sozialen Einflüsse und historischen Traditionen, die maßgebend waren für die Denkart der verschiedenen Klassen und verschiedenen Schichten der russischen Gesellschaft in der Periode nach der Reform, aber vor der Revolution. Und deshalb ist eine richtige Würdigung Tolstois nur vom Standpunkt der Klasse aus möglich, die durch ihre politische Rolle und ihren Kampf während des ersten Versuchs, diese Widersprüche zu lösen, während der Revolution, ihre Berufung bewiesen hat. Führerin zu sein im Kampf für die Freiheit des Volkes und für die Befreiung der Massen von der Ausbeutung, die bewiesen hat, daß sie der Sache der Demokratie rückhaltlos ergeben und befähigt ist, gegen die Beschränktheit und Inkonsequenz der bürgerlichen (auch der bäuerlichen) Demokratie zu kämpfen sie ist nur möglich vom Standpunkt des sozialdemokratischen Proletariats. Man sehe, wie die Regierungszeitungen Tolstoi würdigen. Sie vergießen Krokodilstränen, um ihre Hochachtung vor dem „großen Schriftsteller" zu beteuern und gleichzeitig den „Heiligen" Synod[Anmerkung 11] zu verteidigen. Die frommen Kirchenväter aber haben sich eben erst eine ganz besonders gemeine Infamie geleistet, als sie ihre Pfaffen zu dem Sterbenden schickten, um das Volk übertölpeln und sagen zu können, Tolstoi habe „bereut". Der Heilige Synod hatte Tolstoi aus der Kirche ausgestoßen.[Anmerkung 12] Um so besser. Diese Tat soll ihm angerechnet werden in der Stunde der Abrechnung des Volkes mit den Beamten in Kutten, den Gendarmen in Christo, den finsteren Inquisitoren, die die Judenpogrome und die anderen Schandtaten der zaristischen Schwarzhunderterbande[Anmerkung 13] unterstützt haben. Man sehe, wie die liberalen Zeitungen Tolstoi würdigen. Sie tun die Sache ab mit hohlen, schablonenhaft-liberalen, abgedroschen-gelehrten Phrasen von der „Stimme der zivilisierten Menschheit", vom „einmütigen Echo der Welt", von den „Ideen der Wahrheit, des Guten" usw., derentwegen Tolstoi die bürgerliche Wissenschaft so gegeißelt und mit Recht gegeißelt hat.
Sie können sich nicht klipp und klar darüber äußern, wie sie Tolstois Anschauungen über den Staat, die Kirche, das Private Grundeigentum und den Kapitalismus beurteilen nicht etwa weil die Zensur sie daran hinderte, im Gegenteil, die Zensur hilft ihnen aus der Patsche !sondern weil jeder Satz in Tolstois Kritik eine Ohrfeige für den bürgerlichen Liberalismus ist, weil allein schon die unerschrockene, offene und unbarmherzig scharfe Art, wie Tolstoi die heikelsten, verwünschtesten Fragen unserer Zeit aufrollte, den schablonenhaften Phrasen, den abgedroschenen Ausflüchten, der ausweichenden, „zivilisierten" Verlogenheit unserer liberalen (und liberal-volkstümlerischen) Publizistik ins Gesicht schlägt. Die Liberalen sind Feuer und Flamme für Tolstoi, Feuer und Flamme gegen den Synod und gleichzeitig sind sie für ... die „Wechi"Leute,[Anmerkung 14] mit denen man zwar „streiten kann", mit denen man sich aber doch in einer Partei einleben „muß", mit denen man in der Literatur und in der Politik zusammenarbeiten „muß". Die „Wechi"-Leute aber schließt der Metropolit Antonius von Wolhynien[Anmerkung 15] in seine Umarmung ein. Die Liberalen rücken in den Vordergrund, Tolstoi sei das „große Gewissen". Ist das etwa keine hohle Phrase, wie sie das „Nowoje Wremja"[Anmerkung 16] und alle seine Geistesverwandten in tausendfältiger Variation wiederholen! Heißt das etwa nicht, die konkreten Fragen der Demokratie und des Sozialismus, die Tolstoi aufgerollt hat, umgehen?
Heißt das nicht, gerade das in den Vordergrund rücken, was Tolstois Vorurteil und nicht sein Urteil zum Ausdruck bringt, was an ihm der Vergangenheit und nicht der Zukunft angehört, was zu seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Politik und zu seiner Predigt für moralische Selbstvervollkommnung gehört, nicht aber zu seinem stürmischen Protest gegen jedwede Klassenherrschaft? Tolstoi ist tot, und auch das vorrevolutionäre Rußland ist dahingegangen, dessen Schwäche und Ohnmacht der geniale Künstler in seiner Philosophie widerspiegelt und in seinen Werken nachgezeichnet hat. Aber sein Erbe enthält etwas, was nicht dahingegangen ist, was der Zukunft gehört. Dieses Erbe übernimmt das russische Proletariat, an diesem Erbe arbeitet es. Es wird den werktätigen und ausgebeuteten Massen die Bedeutung der Tolstoischen Kritik an Staat Kirche und privatem Grundeigentum auseinandersetzen nicht damit die Massen sich beschränken auf Selbstvervollkommnung und Seufzen nach einem gottgefälligen Leben, sondern damit sie sich erheben, um einen neuen Schlag zu führen gegen die Zarenmonarchie und den gutsherrlichen Grundbesitz, die beide im Jahre 1905 nur leicht angeschlagen worden sind, aber vernichtet werden müssen. Es wird den Massen die von Tolstoi am Kapitalismus geübte Kritik erläutern nicht damit die Massen sich beschränken sollen auf Verwünschungen gegen das Kapital und die Macht des Geldes, sondern damit sie lernen, bei jedem Schritt ihres Lebens und Kampfes sich auf die technischen und sozialen Errungenschaften des Kapitalismus zu stützen, damit sie lernen, sich zu einer einheitlichen Millionenarmee sozialistischer Kämpfer zusammenzuschließen, die den Kapitalismus stürzen und eine neue Gesellschaft ohne Volkselend und ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen begründen werden.
Beginn eines Umschwungs?
Die vorliegende Nummer war bereits umbrochen, als wir die Petersburger und Moskauer Zeitungen vom 12. November[Anmerkung 17] erhielten. Wie unzureichend auch die Nachrichten der legalen Presse sein mögen, es geht doch aus ihnen unzweifelhaft hervor, daß in einer ganzen Reihe von Städten Zusammenkünfte von Studenten, Kundgebungen und Straßendemonstrationen zum Protest gegen die Todesstrafe, mit Reden gegen die Regierung stattgefunden haben. Zu der Petersburger Demonstration am 11. November waren selbst nach den Angaben der „Russkije Wedomosti",[Anmerkung 18] die ganz im Sinne der Oktobristen gehalten sind, nicht weniger als 10 000 Personen auf dem Newski-Prospekt erschienen. Wie die gleiche Zeitung mitteilt, schlössen sich auf der Petersburger Seite „am Volkshaus viele Arbeiter dem Demonstrationszug an. An der Tutschkow-Brücke hielt der Demostrationszug an. Ein Polizeiaufgebot vermochte auf keine Weise, den Weitermarsch aufzuhalten, und die Menge drang mit Gesang und Fahnen in den Bolschoi-Prospekt auf der Wassiljew-Insel vor. Erst an der Universität gelang es der Polizei, die Menge zu zerstreuen." Polizei und Militär benahmen sich selbstredend wie echt russische Büttel. Wir können zwar diesen unverkennbaren demokratischen Aufschwung erst in der nächsten Nummer würdigen, müssen aber doch hier schon einige Worte über die Haltung der verschiedenen Parteien zu der Demonstration sagen.
Die „Russkije Wedomosti", die am 11. die Falschmeldung brachten, die Demonstration sei abgesagt, teilen am 12. mit, die Sozialdemokraten hätten keinerlei Beschluß gefaßt, ja einzelne sozialdemokratische Abgeordnete hätten sich sogar ablehnend geäußert, und lediglich die Trudowiki hätten es in der von ihnen angenommenen Resolution für unmöglich befunden, die Demonstration zu verhindern. Wir zweifeln nicht, daß diese, unsere sozialdemokratischen Abgeordneten schmähende Meldung falsch ist; wahrscheinlich haben die Russkije Wedomosti sie sich ebenso böswillig aus den Fingern gesogen wie ihre gestrige Mitteilung, die Demostration sei abgesagt. Der „Golos Moskwy"[Anmerkung 19] meldet am 12.: „Mit Ausnahme der Sozialdemokraten lehnen die Abgeordneten aller Parteien die Strafjenaktion der Studentenschaft ab." Es ist klar, daß die kadettischen und die oktobristischen Organe gar sehr „von der Wahrheit abweichen", da sie eingeschüchtert sind durch das absolut unsinnige, lächerliche Geschrei der Rechten, wonach die „die Demonstration vorbereitenden Fäden vom Taurischen Palast aus gezogen werden".[Anmerkung 20] Dafj sich aber die Kadetten unwürdig benommen haben, ist eine Tatsache. Die „Ketsch" veröffentlichte am 11., am Tage der Demonstration, einen Aufruf der kadettischen Abgeordneten mit der Aufforderung, nicht zu demonstrieren.
Sowohl in diesem Aufruf als auch im Leitartikel der „Retsch" wird eine wahrhaft niederträchtige Motivierung gegeben: man solle die Trauertage „nicht verdüstern"! „Manifestationen veranstalten und sie mit Tolstois Andenken verbinden" heiße zeigen, „daß es einem an aufrichtiger Pietät für das heilige Andenken fehlt"!! usw. in rein oktobristischem Geist (man vergleiche den Leitartikel vom 11. im „Golos Moskwy" mit fast buchstäblich denselben Phrasen). Zum Glück ist es den Kadetten nicht gelungen, der Demokratie niederträchtigerweise ein Bein zu stellen. Die Demonstration hat dennoch stattgefunden. Und wenn die polizeiliche „Rossija"[Anmerkung 21] auch weiterhin den Kadetten an allem die Schuld gibt, ja, es fertigbringt, in deren Aufruf ein „Schüren" zu sehen, so haben, nach den Worten des „Golos Moskwy", in der Duma die Oktobristen wie die extremen Rechten (Schulgin) das Verdienst der Kadetten gewürdigt und sie als „Gegner der Demonstration" anerkannt. Wer nicht aus dem ganzen Verlauf der russischen Revolution gelernt hat, daß die Befreiungsbewegung in Rußland eine hoitnungslose Sache ist, solange sie von den Kadetten geführt wird, solange sie es nicht versteht, sich vor den Verrätereien der Kadetten zu sichern, der möge wieder und immer wieder aus den Tatsachen der heutigen Politik, aus der Geschichte der Demonstration vom 11. November lernen. Gleich der erste Beginn des demokratischen Aufschwungs ist ein Beginn kadettischer Gemeinheiten. Wir wollen noch die Meldung des „Golos Moskwy" erwähnen, wonach Arbeiter den Studenten vorgeschlagen haben, am 14. eine grandiose Demonstration zu veranstalten. Es wird wohl etwas Wahres daran sein, denn heute (am 15. [28.] November) berichten die Pariser Zeitungen, daß in St. Petersburg 13 Mitglieder des Büros der Gewerkschaftsverbände verhaftet worden sind wegen des Versuchs, eine Arbeiterkundgebung zu organisieren.
L. N. Tolstoi und die moderne Arbeiterbewegung
In fast allen großen Städten Rußlands hat die Nachricht vom Tod L. N. Tolstois bei den russischen Arbeitern bereits ein Echo hervorgerufen. Sie haben so oder so ihre Einstellung zu dem Schriftsteller zum Ausdruck gebracht, zu dem Schöpfer hervorragender Kunstwerke, die ihn in die Reihe der großen Schriftsteller der ganzen Welt stellen ihre Einstellung zu einem Denker, der mit großer Kraft, Überzeugung und Aufrichtigkeit eine ganze Reihe von Fragen auigerollt hat, die die Grundzüge der modernen politischen und sozialen Verfassung betreffen. Diese Einstellung hat im großen und ganzen in einem Telegramm der Arbeiterabgeordneten der III. Duma, das auch in der Presse veröffentlicht wurde, ihren Niederschlag gefunden.[Anmerkung 22] Lew Tolstoi begann seine literarische Tätigkeit unter der Leibeigenschaft, zu einer Zeit freilich, da diese bereits unverkennbar ihre letzten Tage durchlebte.
Tolstois Haupttätigkeit fällt in die Periode der russischen Geschichte, die durch zwei Wendepunkte, die Jahre 1861 und 1905, begrenzt wird. Während dieser Periode durchdrangen Spuren der Leibeigenschaft, ihre direkten Überbleibsel von oben bis unten das gesamte Wirtschaftsleben (besonders im Dorf) und das gesamte politische Leben des Landes. Gleichzeitig aber war gerade diese Periode eine Periode verstärkter Entwicklung des Kapitalismus von unten und seiner Einbürgerung von oben. Worin zeigten sich die Überbleibsel der Leibeigenschaft? Vor allem und am klarsten darin, daß in Rußland, einem vorwiegend ackerbautreibenden Land, der Ackerbau während dieser Zeit in den Händen ruinierter, verelendeter Bauern lag, die auf den alten, im Jahre 1861 zugunsten der Gutsbesitzer beschnittenen Bodenanteilen aus der Zeit der Leibeigenschaft ihre veraltete, primitive Wirtschaft betrieben. Anderseits aber lag der Ackerbau in den Händen von Gutsbesitzern, die in Zentralrußland den Boden durch Bauernhände, mit dem primitiven Bauernpflug, mit dem Bauernpferd bearbeiten ließen als Entgelt für die „abgetrennten Bodenstücke", für die Nutzung von Wiesen, Tränken usw.
Es handelte sich im Grunde genommen um die alte Leibeigenenwirtschaft. Rußlands politische Ordnung war während dieser Zeit gleichfalls durch und durch vom Geiste der Leibeigenschaft durchdrungen. Man ersieht dies sowohl aus dem Staatsaufbau vor den ersten Ansätzen zu seiner Veränderung im Jahre 1905 als auch aus dem vorherrschenden Einfluß der adligen Grundbesitzer auf die Staatsangelegenheiten wie auch aus der Allmacht der Beamten, die besonders die höheren Beamten in der Hauptsache gleichfalls aus der Mitte der adligen Grundbesitzer stammten. Nach 1861 begann dieses alte patriarchalische Rußland unter dem Einfluß des Weltkapitalismus rasch der Zerstörung anheimzufallen. Die Bauern hungerten, starben dahin, wurden ruiniert wie nie zuvor, sie flüchteten in die Städte und überließen ihren Boden seinem Schicksal.
Dank der „billigen Arbeit" der ruinierten Bauern wurden verstärkt Eisenbahnen, Fabriken und Werke gebaut. In Rußland entwickelten sich das große Finanzkapital, der Großhandel und die Großindustrie. , Eben diese rasche, harte, jähe Zerstörung aller alten „Säulen" des alten Rußlands war es, was in den Werken des Künstlers Tolstoi und in den Anschauungen des Denkers Tolstoi seine Widerspiegelung fand. Tolstoi war ein vorzüglicher Kenner des dörflichen Rußlands, des Gutsbesitzerund des Bauernlebens. Er gab in seinen künstlerischen Werken Abbilder dieses Lebens, die zu den besten Schöpfungen der Weltliteratur gehören. Die jähe Zerstörung aller „alten Säulen" des dörflichen Rußlands schärfte seine Aufmerksamkeit, vertiefte sein Interesse für alles, was sich rings um ihn her abspielte, führte zu einer Wende in seiner gesamten Weltanschauung.
Seiner Geburt und Erziehung nach zum höchsten Grundherrenadel Rußlands gehörend, brach Tolstoi mit allen gewohnten Ansichten dieses Milieus und fiel in seinen letzten Werken mit leidenschaftlicher Kritik über alle heutigen staatlichen, kirchlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zustände her, die auf der Unterjochung der Massen, auf ihrem Elend, auf dem Ruin der Bauern und überhaupt der Kleinbesitzer, auf Gewalt und Heuchelei beruhen, die das ganze heutige Leben von oben bis unten durchtränken. Tolstois Kritik brachte nichts Neues. Er hat nichts gesagt, was nicht lange vor ihm sowohl in der europäischen als auch in der russischen Literatur von Persönlichkeiten, die auf der Seite der Werktätigen standen, gesagt worden wäre. Die Eigenart der Tolstoischen Kritik und ihre historische Bedeutung bestehen jedoch darin, daß sie mit einer Kraft, wie nur geniale Künstler sie besitzen, den Umschwung in den Anschauungen der breitesten Volksmassen des Rußlands der erwähnten Periode namentlich des dörflichen, bäuerlichen Rußlands — zum Ausdruck bringen. Unterscheidet sich doch die Kritik, die Tolstoi an den heutigen Zuständen übt, von der Kritik, die die Vertreter der modernen Arbeiterbewegung an diesen Zuständen üben, gerade dadurch, daß Tolstoi auf dem Standpunkt des patriarchalischen, naiven Bauern steht, daß Tolstoi dessen Denkart in seine Kritik, in seine Lehre hineinnimmt.
Tolstois Kritik zeichnet sich durch eine solche Kraft des Gefühls aus, durch solche Leidenschaftlichkeit, Überzeugungskraft, Frische, Aufrichtigkeit, Furchtlosigkeit in dem Streben, „bis zum Kern vorzudringen", in dem Streben, die wahre Ursache für die Not der Massen zu finden, weil diese Kritik wirklich den Umschwung in den Ansichten von Millionen Bauern widerspiegelt, die eben erst aus der Leibeigenschaft zur Freiheit gelangt sind und erkannt haben, daß diese Freiheit neue Schrecken des Ruins, des Hungertods, des obdachlosen Lebens unter „gerissenen" Städtern[Anmerkung 23] usw. bedeutet. Tolstoi gibt ihre Stimmung so getreu wider, daß er ihre Naivität, ihre Fremdheit gegenüber der Politik, ihren Mystizismus, den Wunsch, der Welt den Rücken zu kehren, den „Verzicht auf Widerstand gegen das Böse", ihre ohnmächtigen Flüche gegen den Kapitalismus und gegen die „Macht des Geldes" selbst in seine Lehre hineinnimmt. Der Protest von Millionen Bauern und ihre Verzweiflung das ist in Tolstois Lehre zusammengeflossen. Die Vertreter der modernen Arbeiterbewegung sind der Ansicht, daß sie gegen manches zu protestieren haben, aber an nichts zu verzweifeln brauchen. Die Verzweiflung ist denjenigen Klassen eigentümlich, die zugrunde gehen, die Klasse der Lohnarbeiter aber wächst unausbleiblich, sie entwickelt sich und erstarkt in jeder kapitalistischen Gesellschaft, auch Rußland nicht ausgenommen. Die Verzweiflung ist denjenigen eigentümlich, die die Ursachen des Übels nicht begreifen, die keinen Ausweg sehen, die kampfunfähig sind. Das moderne Industrieproletariat gehört nicht zu diesen Klassen.
Tolstoi und der proletarische Kampf
Tolstoi geißelte mit gewaltiger Kraft und Aufrichtigkeit die herrschenden Klassen und entlarvte mit großer Anschaulichkeit die innere Verlogenheit all der Institutionen, mit deren Hilfe sich die heutige Gesellschaft hält: Kirche, Gerichtsbarkeit, Militarismus, „gesetzliche" Ehe und bürgerliche Wissenschaft. Seine Lehre aber steht in vollem Widerspruch zum Leben, zur Arbeit und zum Kampf des Totengräbers der heutigen Gesellschaftsordnung, des Proletariats. Wessen Auffassung hat denn aber in Leo Tolstois Predigt ihren Ausdruck gefunden? Durch seinen Mund sprach jene viele Millionen zählende Masse des russischen Volkes, die bereits die Herren des heutigen Lebens haßt, jedoch noch nicht zum bewußten, konsequenten, bis zu Ende gehenden, unversöhnlichen Kampf gegen sie gelangt ist. Geschichte und Ausgang der großen russischen Revolution haben gezeigt, daß die Masse, die zwischen dem klassenbewußten, sozialistischen Proletariat und den entschlossenen Verteidigern des alten Regimes stand, gerade so und nicht anders beschaffen war. Diese Masse in erster Linie die Bauernschaft hat in der Revolution gezeigt, wie sehr sie das Alte haßt, wie unmittelbar sie alle Lasten des heutigen Regimes spürt, wie groß der elementare Drang in ihr ist, diese Lasten abzuwerfen und zu einem besseren Leben zu gelangen.
Gleichzeitig aber hat diese Masse in der Revolution gezeigt, daß sie in ihrem Haß nicht genügend bewußt, in ihrem Kampf inkonsequent, in ihrem Suchen nach einem besseren Leben eng beschränkt ist. Das große Volksmeer, aufgewühlt bis in die tiefsten Tiefen, hat mit allen seinen Schwächen und allen seineif' starken Seiten in Tolstois Lehre Widerspiegelung gefunden. Durch das Studium der belletristischen Werke Lew Tolstois wird die russische Arbeiterklasse ihre Feinde besser kennenlernen, bei der Untersuchung der Lehre Tolstois aber wird das ganze russische Volk begreifen müssen, worin seine eigene Schwäche bestand, die es ihm unmöglich machte, das Werk seiner Befreiung zu Ende zu führen. Wer vorwärtsschreiten will, muß das begreifen. Diese Vorwärtsbewegung aber wird von allen denen behindert, die Tolstoi als „allgemeines Gewissen", als „Lehrer des Lebens" bezeichnen. Das ist eine Lüge, bewußt verbreitet von den Liberalen, die sich die antirevolutionäre Seite der Lehre Tolstois zunutze machen möchten. Diese Lüge über Tolstoi als „Lehrer des Lebens" wird den Liberalen auch von einigen früheren Sozialdemokraten nachgesprochen. Das russische Volk wird sich erst dann seine Befreiung erkämpfen, wenn es begreift, da^ es nicht von Tolstoi zu lernen hat, wie man sich ein besseres Leben erkämpft, sondern von der Klasse, deren Bedeutung Tolstoi nicht verstanden hat, die aber allein fähig ist, die Tolstoi verhaßte alte Welt zu zerstören vom Proletariat.
Helden des "Vorbehalts"
Das uns soeben zugegangene zehnte Heft der von Herrn Potressow[Anmerkung 24] und Co. herausgegebenen Zeitschrift „Nascha Sarja" bietet derart erstaunliche Beispiele von Sorglosigkeit oder, richtiger, Prinzipienlosigkeit in der Beurteilung Lew Tolstois, daß wir auf sie sofort, wenn auch nur kurz, eingehen müssen. Da ist der Artikel W. Basarows,[Anmerkung 25] eines neuen Streiters in der Potressowschen Kampfschar. Die Redaktion ist mit „einzelnen Thesen" dieses Artikels nicht einverstanden, natürlich ohne zu sagen, welches diese Thesen sind. Läßt sich doch so die Konfusion viel bequemer bemänteln! Was uns anbelangt, so fällt es schwer zu sagen, welche Thesen des genannten Artikels geeignet sind, einen Menschen, der auch nur eine Spur von Wertschätzung für den Marxismus hegt, nicht in Empörung zu versetzen. „Unsere Intelligenz", schreibt W. Basarow, „geschlagen und ermattet, in geistiger und sittlicher Hinsicht zu formlosem Schlamm geworden, an der äußersten Grenze geistiger Zersetzung angelangt, hat Tolstoi den ganzen Tolstoi einmütig als ihr Gewissen anerkannt."
Das ist eine Unwahrheit. Das ist eine Phrase. Unsere Intelligenz überhaupt und die Intelligenz von der „Nascha Sarja" im besonderen sieht ganz so aus, als ob sie „ermattet" wäre, aber irgendeine „Einmütigkeit" in der Beurteilung Tolstois hat sie nicht gezeigt und nicht zeigen können, sie hat den ganzen Tolstoi niemals richtig eingeschätzt und nicht richtig einschätzen können. Und gerade der Mangel an Einmütigkeit wird mit der ganz und gar heuchlerischen, durchaus des „Nowoje Wrem)d' würdigen Phrase vom „Gewissen" bemäntelt. Basarow bekämpft den „Schlamm" nicht, sondern er begünstigt den Schlamm. Basarow „möchte an einige Ungerechtigkeiten (!!) gegenüber Tolstoi erinnern, deren sich die russischen Intellektuellen überhaupt und wir Radikalen verschiedener Spielarten im besonderen schuldig gemacht haben". Hier ist nur so viel wahr, daß Basarow, Potressow und Co. eben „Radikale verschiedener Spielarten" sind, die dermaßen von dem allgemeinen „Schlamm" abhängig sind, daß sie zu einer Zeit, wo die grundlegenden Inkonsequenzen und Schwächen der Weltanschauung Tolstois in unverzeihlicher Weise verschwiegen werden, dienstbeflissen und geschäftig hinter „aller Welt" herlaufen und von „Ungerechtigkeit" gegenüber Tolstoi schreien.
Sie wollen sich nicht berauschen „an dem unter uns besonders verbreiteten Narkotikum, das Tolstoi die ,Erbitterung des Streitens' nennt" das eben sind Reden, sind Klänge, wie sie die Spießbürger brauchen, die sich mit grenzenloser Verachtung abwenden von einem Streit um jegliche uneingeschränkten und konsequent verfochtenen Prinzipien. „Tolstois Hauptstärke besteht eben darin, daß er, alle Stadien der für die modernen Gebildeten typischen Zersetzung durchschreitend, es verstanden hat, eine Synthese zu finden. . /' Das ist eine Unwahrheit. Gerade eine Synthese hat Tolstoi weder in den philosophischen Grundlagen seiner Weltanschauung noch in seiner politisch-gesellschaftlichen Lehre zu finden gewußt, richtiger: er hat sie nicht finden können. „Tolstoi hat jene rein menschliche" (Hervorhebungen überall von Basarow selbst) „Religion, von der Comte, Feuerbach und andere Repräsentanten der modernen Kultur nur subjektiv (!) träumen konnten, zum erstenmal (!) objektiviert, d. h. nicht nur für sich, sondern auch für andere geschaffen" usw. usf. Dergleichen Reden sind schlimmer als das gewöhnliche Spießbürgergewäsch.
So reden heißt den „Schlamm" mit imaginären Blumen ausschmücken, was nur geeignet ist, die Menschen in die Irre zu führen. Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat Feuerbach, der nicht imstande war, in seiner Weltanschauung, die in vielen Beziehungen „das letzte Wort" der klassischen deutschen Philosophie war, „eine Synthese zu finden", sich in „subjektiven Träumen" verloren, die die wirklich fortgeschrittenen „Repräsentanten der modernen Kultur" schon längst als negativ bewertet haben.[Anmerkung 26] Heute zu erklären, Tolstoi habe diese „subjektiven Träumereien" „zum ersten Mal objektiviert", heißt sich ins Lager derjenigen schlagen, die rückwärts gehen, heißt dem Spießbürgertum schmeicheln, heißt dem „Wechi"tum nachbeten. „Es versteht sich von selbst, daß die von Tolstoi begründete Bewegung (!?) tiefgreifende Veränderungen durchmachen muß, wenn es ihr wirklich beschieden sein soll, eine große weltgeschichtliche Rolle zu spielen: die Idealisierung des patriarchalischen Bauernlebens, der Hang zur Naturalwirtschaft und viele andere utopische Züge des Tolstoianertums, die heutzutage in den Vordergrund gedrängt werden (!) und als das Wesentlichste scheinen, sind in Wirklichkeit gerade die subjektiven Elemente, die nicht notwendig mit der Grundlage der Tolstoischen ,Religion' zusammenhängen."
Also Tolstoi hätte Feuerbachs „subjektive Träume" „objektiviert", das aber, war Tolstoi sowohl in seinen genialen belletristischen Werken als auch in seiner widerspruchsvollen Lehre widergespiegelt hat, die von Basarow hervorgehobenen ökonomischen Besonderheiten Rußlands im vorigen Jahrhundert, das seien „gerade die subjektiven Elemente" in seiner Lehre. Das ist es, was man gründlich danebenhauen nennt. Aber immerhin: für die „Intelligenz, geschlagen und ermattet" (usw. wie oben zitiert), ist nichts angenehmer, wünschenswerter, anziehender, nichts geeigneter, ihrer Ermattung Vorschub zu leisten, als dieses Verhimmeln der von Tolstoi „objektivierten" „subjektiven Träumereien" Feuerbachs und dieses Ablenken der Aufmerksamkeit von den konkreten wirtschaftsgeschichtlichen und politischen Fragen, die „heutzutage in den Vordergrund gedrängt werden"!
Man begreift, da£ Basarow besonders die „scharfe Kritik" mißfällt, die die Lehre vom Verzicht auf Widerstand gegen das Böse „bei der radikalen Intelligenz" hervorgerufen hat. Für Basarow ist es „klar, daß hier von Passivität und Quietismus nicht die Rede sein kann". Zur Erläuterung seines Gedankens beruft sich Basarow auf das bekannte Märchen von „Iwan dem Dummling"[Anmerkung 27] und mutet dem Leser zu, „sich vorzustellen, nicht der Kakerlakenkönig entsende Soldaten gegen die Dummlinge, sondern deren eigener zu Verstand gekommener Gebieter Iwan, und mit Hilfe dieser Soldaten, die aus den Reihen eben dieser Dummlinge rekrutiert worden sind, ihnen also in ihrer ganzen geistigen Wesensart nahestehen, wolle Iwan seine Untertanen zur Erfüllung irgendwelcher ungerechter Forderungen zwingen. Es liegt ganz klar auf der Hand, dafj die Dummlinge, fast waffenlos und mit dem Kriegshandwerk nicht vertraut, von einem physischen Sieg über Iwans Heer nicht einmal träumen können. Selbst bei energischstem gewaltsamem Widerstand' könnten die Dummlinge Iwan nicht durch physische, sondern nur durch moralische Einwirkung besiegen, d. h. nur durch sogenannte Demoralisierung' der Soldaten des Iwanschen Heeres. . ." „Der gewaltsame Widerstand der Dummlinge führt zu dem gleichen Resultat (nur schlechter und mit größeren Opfern), wie auch ein Widerstand ohne Gewaltanwendung. . /' „Der Verzicht auf gewaltsamen Widerstand gegen das Böse oder, allgemeiner, die Harmonie von Mittel und Zweck (!!) ist keineswegs eine Idee, die nur gesellschaftsfremden Moralpredigern eigen wäre. Diese Idee ist ein notwendiger Bestandteil jedweder geschlossenen Weltanschauung/' So argumentiert der neue Streiter in der Potressowschen Kampfschar.
Wir können seine Argumentationen hier nicht untersuchen, ja es genügt wohl fürs erste, einfach das Wichtigste daraus abzudrucken und drei Worte hinzuzufügen: das reinste „Wechi"tum. Aus den Schlußakkorden der Kantate über das Thema, daß die Ohren nicht über die Stirn hinauswachsen: „Es hat keinen Zweck, unsere Schwäche für Stärke, für Überlegenheit über Tolstois ,Quietismus' und /beschränktes Urteilsvermögen' " (und über die Inkonsequenz seiner Urteile?) „auszugeben. So darf nicht gesprochen werden, nicht nur weil es der Wahrheit widerspricht, sondern auch weil es uns hindert, von dem größten Mann unserer Zeit zu lernen/' Soso. Keinen Zweck hat es bloß, Herrschaften, sich zu giften und mit einer lächerlichen Bravade, mit Geschimpfe zu antworten (wie Herr Potressow in Nr. 8/9 der „Nascha Sarja"), wenn euch die Segenssprüche, das Wohlwollen und die Küsse der Isgojew 36 zuteil werden. Diese Küsse werden weder die alten noch die neuen Streiter der Potressowschen Kampfschar von sich abzuwaschen vermögen. Der Generalstab dieser Heerschar hat Basarows Artikel mit einem kleinen „diplomatischen" Vorbehalt versehen. Nicht viel besser aber ist der ohne alle Vorbehalte abgedruckte Leitartikel des Herrn Newedomski.[Anmerkung 28] „Lew Tolstoi", so schreibt dieser Barde der modernen Intelligenz, „der die fundamentalen Aspirationen und Bestrebungen der großen Epoche der Abschaffung der Sklaverei in Rußland in sich aufgenommen und in vollendeter Gestalt verkörpert hat, erwies sich dadurch auch als die reinste, vollendetste Verkörperung eines allgemein menschlichen ideologischen Prinzips des Prinzipis des Gewissens".
Bum, bum, bum. . . M. Newedomski, der die der bürgerlich-liberalen Publizistik eigenen fundamentalen Manieren der Deklamation in sich aufgenommen und in vollendeter Gestalt verkörpert hat, erwies sich dadurch auch als die reinste, vollendetste Verkörperung eines allgemein menschlichen ideologischen Prinzips des Prinzips des leeren Geschwätzes. Noch eine letzte Mär: „Alle diese europäischen Verehrer Tolstois, alle diese Anatole France verschiedenen Namens sowie die Abgeordnetenkammern, die vor kurzem mit großer Mehrheit gegen die Abschaffung der Todesstrafe gestimmt haben, jetzt aber den großen ganzen Menschen durch Erheben von den Plätzen geehrt haben, dieses ganze Reich der Unentschiedenheit, der Halbschlächtigkeit, des Vorbehalts — als was für eine majestätische, was für eine machtvolle, aus lauterem reinem Metall gegossene Figur steht vor ihnen dieser Tolstoi, diese lebendige Verkörperung eines einheitlichen Prinzips." Uff! Schön geredet und doch ist alles Unwahrheit. Nicht aus lauterem, nicht aus reinem und nicht aus Metall gegossen ist Tolstois Figur. Und „alle diese" bürgerlichen Verehrer haben sein Andenken gerade nicht wegen der „Ganzheit", sondern gerade wegen der Abweichung von der Ganzheit „durch Erheben von den Plätzen geehrt". Nur ein einziges treffliches Wörtchen ist Herrn Newedomski gegen seinen Willen entschlüpft. Dieses Wörtchen Vorbehalte charakterisiert die Herrschaften von der „Nascha Sarja" ebensogut, wie W. Basarows oben zitierte Charakteristik der Intelligenz sie charakterisiert.
Vor uns haben wir lauter Helden des „Vorbehalts".[Anmerkung 29] Potressow macht den Vorbehalt, er sei nicht einverstanden mit den Machisten, obgleich er sie verteidigt. Die Redaktion macht den Vorbehalt, sie sei nicht einverstanden mit „einzelnen Thesen" Basarows, obgleich es jedermann klar ist, daß es sich hier nicht um einzelne Thesen handelt. Potressow macht den Vorbehalt, Isgojew habe ihn verleumdet. Martow macht den Vorbehalt er sei nicht ganz einverstanden mit Potressow und Lewizki, obgleich er gerade ihnen treue politische Dienste erweist. Sie alle miteinander machen den Vorbehalt, sie seien nicht einverstanden mit Tscherewanin, obgleich sie dessen zweitem liquidatorischem Büchlein, das den „Geist" seines ersten Machwerks noch überbietet, mehr Billigung zuteil werden lassen. Tscherewanin macht den Vorbehalt, er sei nicht einverstanden mit Maslow. Maslow macht den Vorbehalt, er sei nicht einverstanden mit Kautsky. Sie alle miteinander sind sich nur darüber einig, daß sie mit Plechanow[Anmerkung 30] nicht einig sind und daß er sie verleumderisch des Liquidatorentums[Anmerkung 31] zeihe, selbst aber nicht imstande wäre, seine jetztige Annäherung an seine Gegner von gestern zu erklären. Nichts einfacher als die Erklärung für diese Annäherung, die für Männer des Vorbehalts unbegreiflich ist.
Als wir eine Lokomotive hatten, differierten wir aufs stärkste hinsichtlich der Frage, ob eine Geschwindigkeit von sagen wir 25 oder 50 Werst in der Stunde der Stärke dieser Lokomotive, den Brennstoffvorräten usw. entspricht. Der Streit darüber wurde, wie der über jede sehr aufregende Frage, mit Leidenschaft und nicht selten mit Erbitterung geführt. Dieser Streit wurde absolut in jeder Frage, um die er entbrannte offen vor aller Augen bis zu Ende ausgetragen und durch keinerlei „Vorbehalte" verkleistert. Und keinem von uns kommt es in den Sinn, etwas zurückzunehmen oder über die „Erbitterung des Streitens" zu jammern. Wo aber die Lokomotive zu Bruch gegangen ist, wo sie im Sumpf liegt, umgeben von Intellektuellen des „Vorbehalts", die infam darüber kichern, daß „ja gar nichts zu liquidieren da ist", denn eine Lokomotive sei nicht mehr vorhanden, da bringt uns „erbitterte Streiter" von gestern die eine gemeinsame Sache einander näher. Ohne irgend etwas abzuschwören, ohne irgend etwas zu vergessen, ohne zu versprechen, die Meinungsverschiedenheiten würden verschwinden, packen wir zusammen das gemeinsame Werk an. Wir bieten alle Aufmerksamkeit und alle Kräfte auf, um die Lokomotive zu heben, sie instand zu setzen, sie stabiler und stärker zu machen, sie auf die Schinen zu stellen über die Fahrtgeschwindigkeit und über die Stellung dieser oder jener Weichen werden wir zu gegebener Zeit noch zu streiten Gelegenheit haben. Die Aufgabe des Tages besteht in unserer schwierigen Zeit darin, etwas zu schaffen, was geeignet ist, die Männer des „Vorbehalts" und die „ermatteten Intellektuellen", die den herrschenden „Schlamm" direkt und indirekt unterstützen, in die Schranken zu weisen. Die Aufgabe des Tages besteht darin, auch unter den schwierigsten Verhältnissen Erz zu graben. Eisen zu fördern, den Stahl der marxistischen Weltanschauung sowie der Überbauten zu gießen, die dieser Weltanschauung entsprechen.
Tolstoi und seine Epoche
Die Epoche, der L. Tolstoi angehört und die in seinen genialen belletristischen Werken wie in seiner Lehre wunderbar plastisch Widerspiegelung gefunden hat, ist die Epoche nach 1861 bis zum Jahre 1905. Die literarische Tätigkeit Tolstois allerdings nahm früher ihren Anfang und fand später ihr Ende, als diese Periode begann beziehungsweise endete, doch als Künstler und Denker gelangte L. Tolstoi zur vollen Reife gerade in dieser Periode, deren Übergangscharakter den Werken Tolstois wie dem „Tolstoianertum" alle ihre charakteristischen Züge verliehen hat. Durch die Worte, die er K. Lewin in „Anna Karenina" in den Mund legte, hat L. Tolstoi überaus prägnant zum Ausdruck gebracht, worin die russische Geschichte in diesem halben Jahrhundert gipfelte: „Unterhaltungen über die Ernte, über Einstellung von Arbeitern u. a. m., die, wie Lewin wußte, als etwas sehr Ordinäres galten . . . erschienen Lewin jetzt als allein wichtig. ,Vielleicht war das nicht wichtig unter der Leibeigenschaft, oder es ist unwichtig in England.
In beiden Fällen sind die Verhältnisse selbst fest umrissen; aber bei uns jetzt, wo dies alles umgekrempelt worden ist und alles eben erst Gestalt gewinnt, ist die Frage, wie diese Verhältnisse sich gestalten werden, die einzig wichtige Frage in Rußland 4 , dache Lewin." „Bei uns ist dies alles jetzt umgekrempelt worden und alles gewinnt eben erst Gestalt" man kann sich schwerlich eine treffendere Charakteristik der Periode von 1861 bis 1905 vorstellen. Was „umgekrempelt worden ist", weiß man gut oder es ist zum mindesten jedem Russen durchaus bekannt. Es ist die Leibeigenschaft und das ganze ihr entsprechende „alte Regime". Das, was „eben erst Gestalt gewinnt", ist der breiten Masse der Bevölkerung völlig unbekannt, fremd, unverständlich. Tolstoi erscheint diese „eben erst Gestalt gewinnende" bürgerliche Ordnung verschwommen in Gestalt eines Schreckgespenstes Englands. Jawohl: eines Schreckgespenstes, denn Tolstoi lehnt sozusagen prinzipiell jedweden Versuch ab, sich die Grundzüge der Gesellschaftsordnung in diesem „England", den Zusammenhang dieser Ordnung mit der Herrschaft des Kapitals, mit der Rolle des Geldes, mit dem Aufkommen und der Entwicklung des Tauschverkehrs klarzumachen.
Ähnlich wie die Volkstümler will er nicht sehen, verschließt er die Augen, wendet er sich von dem Gedanken ab, daß in Rußland keine andere als die bürgerliche Ordnung „Gestalt gewinnt". Richtig ist, daß es, wenn auch nicht die „einzig wichtige", so doch eine vom Standpunkt der nächstliegenden Aufgaben der gesamten gesellschaftlich-politischen Tätigkeit in Rußland für die Periode von 1861-1905 (und noch für unsere Zeit) überaus wichtige Frage war, wie diese Ordnung, die bürgerliche Ordnung, „Gestalt gewinnen wird", die in „England", Deutschland, Amerika, Frankreich usw. sehr mannigfaltige Formen annimmt. Für Tolstoi jedoch ist eine so bestimmte, konkret-historische Fragestellung etwas völlig Fremdes. Er denkt abstrakt, er läßt nur den Standpunkt „ewiger". Grundsätze der Sittlichkeit, ewiger Wahrheiten der Religion gelten, ohne sich bewußt zu sein, daß dieser Standpunkt nur die ideologische Widerspiegelung der alten („umgekrempelten") Ordnung, des Regimes der Leibeigenschaft, der Lebensordnung der östlichen Völker ist. In seinem (1857 geschriebenen) „Luzern" sagt L. Tolstoi, die „Zivilisation" als Segnung zu erkennen, sei ein „eingebildetes Wissen", das „das instinktive, gesegnete, urwüchsige Verlangen nach dem Guten in der menschlichen Natur erstickt". „Wir haben nur einen, einen einzigen unfehlbaren Führer", ruft Tolstoi aus, „den Weltgeist, der uns durchdringt." (Werke, II, 125).
In „Sklaverei unserer Zeit" (geschrieben 1900) erklärt Tolstoi, diese Appellationen an den Weltgeist noch eifriger wiederholend, die politische Ökonomie für eine „Pseudowissenschaft", weil sie das „kleine, eine Ausnahmestellung einnehmende England" zum „Muster" nehme, statt „die Lage der Menschen in der ganzen Welt seit Beginn der historischen Zeit" zum Muster zu nehmen. Wie diese „ganze Welt" beschaffen ist, das offenbart uns der Aufsatz „Der Fortschritt und die Definition der Bildung" (1862). Die Ansicht der „Historiker", daß der Fortschritt „ein allgemeines Gesetz für die Menschheit" sei, tut Tolstoi mit der Berufung auf den „ganzen sogenannten Osten" ab (IV, 162). „Ein allgemeines Gesetz für die Vorwärtsbewegung der Menschheit gibt es nicht", erklärt Tolstoi, „wie uns dies die unbeweglichen Völker des Ostens beweisen." Der reale historische Gehalt des Tolstoianertums liegt eben darin, eine Ideologie der östlichen Ordnung, der asiatischen Ordnung zu sein. Daher sowohl die Asketik als auch der Verzicht auf gewaltsamen Widerstand gegen das Böse, sowohl die anklingenden Untertöne des Pessimismus als auch die Überzeugung, daß „alles nichts, alles ein materielles Nichts" sei („Über den Sinn des Lebens", S. 526, ferner der Glaube an einen „Geist", ein „Urprinzip von allem", demgegenüber der Mensch nur ein „Arbeiter" sei, „dazu angehalten, sich um sein Seelenheil zu bemühen" usw.
Dieser Ideologie bleibt Tolstoi treu sowohl in der „Kreutzersonate", wo er sagt: „Emanzipation der Frau nicht in Bildungskursen und nicht in Debattierkammern, sondern im Schlafgemach", als auch in einem Artikel vom Jahre 1862, wo erklärt wird, die Universitäten brächten nur „überreizte, kranke Liberale" hervor, die „das Volk absolut nicht braucht", die „zwecklos aus ihrem früheren Milieu herausgerissen sind", „im Leben keinen Platz finden" u. dgl. m. (IV, 136/137). Pessimismus, Verzicht auf Widerstand, Appellation an einen „Geist" ist eine Ideologie, die unvermeidlich in einer Epoche auftaucht, wo die ganze alte Ordnung „umgekrempelt worden ist" und wo die in dieser alten Ordnung erzogene Masse, die die Grundsätze, Gewohnheiten, Traditionen, Glaubenssätze dieser Ordnung mit der Muttermilch eingesogen hat, nicht sieht und nicht sehen kann, wie die „Gestalt gewinnende" neue Ordnung beschaffen ist, welche gesellschaftlichen Kräfte sie „ gestalten" und wie das vor sich geht, welche gesellschaftlichen Kräfte befähigt sind, Erlösung zu bringen von den unzähligen, besonders stark spürbaren Nöten, wie sie Epochen des „Umbruchs" mit sich bringen. Die Periode von 1862 bis 1904 war eben eine solche Epoche des Umbruchs in Rußland, in der das Alte vor aller Augen unwiderruflich zusammenbrach, während das Neue erst Gestalt zu gewinnen begann, wobei die gesellschaftlichen Kräfte, die dieses Gestalten besorgten, erst 1905 in breitem, gesamtnationalem Maßstab, in einer offenen Massenaktion auf den verschiedensten Gebieten zum erstenmal praktisch in Erscheinung traten.
Nun folgten den Ereignissen von 1905 in Rußland analoge Ereignisse in einer ganzen Reihe von Staaten des gleichen „Ostens", auf dessen „Unbeweglichkeit" Tolstoi sich 1862[Anmerkung 32] berufen hatte. In allen welche gesellschaftlichen Kräfte befähigt sind, Erlösung zu bringen von den unzähligen, besonders stark spürbaren Nöten, wie sie Epochen des „Umbruchs" mit sich bringen. Das Jahr 1905 war der Anfang vom Ende der „östlichen" Unbeweglichkeit. Gerade deshalb brachte dieses Jahr auch das historische Ende des Tolstoianertums, das Ende jener ganzen Epoche, die die Lehre Tolstois ins Leben rufen konnte und mußte nicht als ein individuelles Etwas, nicht als Laune oder als Originalitätshascherei, sondern als Ideologie der Lebensverhältnisse, unter denen sich tatsächlich Millionen und aber Millionen eine bestimmte Zeit lang befunden hatten. Tolstois Lehre ist unbedingt utopisch und, ihrem Inhalt nach, reaktionär in der wahrsten und tiefsten Bedeutung dieses Wortes.
Hieraus folgt jedoch keineswegs, daß diese Lehre nicht sozialistisch wäre, noch daß sie keine kritischen Elemente enthielte, die wertvolles Material zur Aufklärung der fortgeschrittenen Klassen zu liefern vermögen. Es gibt Sozialismus und Sozialismus. In allen obenerwähnten Ereignisse der „östlichen" Unbeweglichkcit ein Ende bereitet haben, in unseren Tagen, wo die bewußt reaktionären, im eng klassengebundenen, egoistisch klassengebundenen Sinn reaktionären Ideen der „Wechi"-Leute in der liberalen Bourgeoisie so enorme Verbreitung gefunden haben, wo diese Ideen sogar einen Teil der Auch-Marxisten angesteckt und die „liquidatorische" Strömung hervorgerufen haben in unseren Tagen stiftet jeder Versuch, die Lehre Tolstois zu idealisieren, seinen „Verzicht auf Widerstand", seine Appellation an den „Geist", seine Mahnungen zu „sittlicher Selbstvervollkommnung", seine Doktrin des „Gewissens" und allumfassender „Liebe", seine Predigt der Askese, des Quietismus usw. zu rechtfertigen oder zu mildern, den unmittelbarsten und größten Schaden.
Aus Erinnerungen und Dokumenten
1.
. . . Fast jeden Abend lasen wir gemeinsam (mit Lenin. Red.) Bücher, meist belletristische; wir lasen „Anna Karenina" und andere Werke von L. N. Tolstoi. Ilja Nikolajewitsch, der uns oft über der Tolstoi-Lektüre antraf, unterhielt sich mit Wolodja und mir über die gelesenen Bücher. . .
W. L. Persijaninow
2.
. . . Wladimir Iljitsch (Lenin. Red.) las in der Jugend sehr viel Belletristik. Anna Iljinitschna erzählte einmal, daß Wladimir Iljitsch, als er in den höheren Gymnasialklassen lernte, eine Menge Zeit der Lektüre Turgenjews widmete. Iljitsch kannte gut . . . Gogol, Puschkin, Lermontow, Nekrassow, Turgenjew, L. Tolstoi, Stschedrin. Gut vertraut war er mit Belinski, Dobroljubow, Pissarew, Herzen, Tschernyschewski . . .
N. K. Krupskaja
3.
. . . Ein Programm hatte die Partei bis zum IL Parteitag noch nicht. Die Redaktion der „Iskra" arbeitete das Programm aus. Es wurde in der Redaktion lange besprochen. Jedes Wort, jeder Satz wurde begründet, erwogen und heiß umstritten. . . Diese Diskussionen schienen vielen Praktikern rein abstrakten Charakter zu tragen. Sie glaubten, es komme gar nicht darauf an, ob irgendein „mehr oder weniger" im Programm stehen werde oder nicht. Wladimir Iljitsch und ich erinnerten uns gelegentlich eines Vergleichs, den Lew Tolstoi an einer Stelle bringt: Er sieht einmal von weitem einen Mann in Hockstellung sitzen und sinnlos mit den Händen fuchteln. Zunächst hält er ihn für einen Verrückten. Als er aber näher herangeht, stellt er fest, daß der Mann am Bordstein sein Messer schleift 4S . So ist es auch mit theoretischen Diskussionen. Hört man sie nur von fern, so scheint der Streit gar keinen Sinn zu haben; vertieft man sich aber in die Sache, so sieht man, daß es um das Allerwesentlichste geht. So war es auch bei der Programmdiskussion. Als die Delegierten in Genf zusammenkamen, wurde mit ihnen am meisten und am eingehendsten die Frage des Programms besprochen. Auf dem Parteitag verlief die Diskussion dann am glattesten.
N. K. Krupskaja
4.
. . . Während des Aufenthalts in Paris von 1909 bis 1912, in Gedanken an Rußland, studierte Wladimir Iljitsch auch die französische Arbeiterbewegung aufmerksam. Er verlangte desgleichen von uns, Mitgliedern der Pariser Sektion,[Anmerkung 33] aktive Teilnahme am politischen Leben Frankreichs. Daher lernten die Mitglieder unserer Sektion Französisch, studierten die Geschichte der revolutionären Bewegung Frankreichs und anderer westeuropäischer Länder, besuchten Arbeiterversammlungen, wirkten an der Gewerkschaftsbewegung mit, unterstützten alle politischen Veranstaltungen der Arbeiterorganisationen von Paris. Die Mitglieder unserer Sektion N. K. Krupskaja, Inesse Armand, S. L Gopner und andere leisteten eine aktive Arbeit unter den französischen Arbeitern und Arbeiterinnen. Unsere Organisation brauchte sehr dringend Geld zum Drucken von Literatur. Zu Geld kamen wir durch Vorlesungen, Referate, Lotterien, Konzertveranstaltungen usw. Eine solche Abendveranstaltung sollte ich organisieren. . . Unser Abend fand in einem Saal in der Rue Danton 8 (im Lateinischen Quartal) statt. Dieser Saal war uns ein gewohnter Treffpunkt. Dort hielt Lenin sein berühmtes Referat über Lew Tolstoi. . .
T. Ludwinskaja
5.
. . . Alles in der Schweiz ist von einer deutlich ausgeprägten Spießigkeit durchtränkt. Eines Tages erschien in Bern eine russische Schauspielertruppe, die Vorstellungen in deutscher Sprache gab. Es kam Tolstois „Lebender Leichnam" zur Aufführung. Wir gingen auch hin. Es wurde sehr gut gespielt. Iljitsch, der jedes Kleinbürgertum, alles Konventionelle aus tiefster Seele hafjte, regte dieses Stück sehr auf, und er wollte es ein zweites Mal sehen.
N. K. Krupskaja
6.
. . . Bei Lew Tolstoi in „Anna Kerenina" gibt es eine wundervolle Schilderung des Frühlings im Walde: die allerersten Graskeime brechen hervor; da steht Lewin, der mit dem Gewehr auf die Jagd gegangen ist, und sieht, wie sich ein vertrocknetes Blatt bewegt, berührt durch einen hervorsprießenden Graskeim. Einmal sprach ich mit Iljitsch über dieses Blättchen bei L. Tolstoi, später benutzte Iljitsch wiederholt den Ausdruck „Keime des neuen Lebens". . .
N. K. Krupskaja
7.
. . .Wenn Wladimir Iljitsch an Aufsätzen, Dekreten oder Erklärungen arbeitete, die für die breiten Massen bestimmt waren, so dachte er stets daran, daß das gerade in die Massen gehen soll und daher besonders gründlich durchgesehen werden muß, besonders populär, aber durchaus nicht vulgär geschrieben werden darf. Das forderte er auch von anderen. Sah er, daß die Darlegung an Gemeinverständlichkeit zu wünschen übrig läßt, so fragte er immer: „Ja können Sie Ihre Gedanken auf Russisch nicht so darlegen, daß sie wirklich allen verständlich sind? Die russische Sprache ist sehr reich. Wenn Sie das nicht tun, sind Sie selber schuld daran und nicht die Sprache, in der Sie schreiben/' Er verlangte von jedem, und je verantwortlicher ein Genosse war, desto strenger, daß der Verfasser gründlich an seinen Werken arbeite und größte Klarheit erziele. Er konnte . . . die bei uns praktizierte Zeitungssprache nicht leiden, die oft dermaßen arm, schwierig, langweilig und unverständlich war, daß Wladimir Iljitsch bei der Zeitungslektüre nicht selten ausrief: „In welcher Sprache ist das geschrieben? Was für ein Kauderwelsch?! Eine künstliche Sprache, nicht die Sprache von Tolstoi und Turgenjew. . ."
Wlad. Bontsch-Brujewitsch
8.
Ich gehe einmal durch den Kreml. Vorn, in einiger Entfernung von mir, neben dem Kleinen Palais schimmert ein Häuflein Menschen, sich langsam vorwärts bewegend. . . Dahinter, etwas näher, ist jemand in Schwarz. Ich sehe genauer hin: Das ist ja Wladimir Iljitsch!. , . „Eine überaus interessante Begegnung", sagt er mir leise bei der Begrüßung. „Wie zornig das Volk ist! Wie es das Alte haßt... Da gehen sie den Kreml besichtigen. Bleiben vor den Palästen stehen und sprechen haßerfüllt von Zaren, Würdenträgern, Beamten, davon, wie man hier lebte, was man hier genoß und wie man das Volk unterdrückte. . . Und wie einfach, wie klar ist alles. . . Ein ungeheurer Haß, der Kraft und Energie zum Kampf verleiht. . . Ja, die werden sich jetzt nicht zu Reformen, zu Halbheiten überreden lassen. . . Sie brauchen eine Revolution, die bis zu Ende geführt wird." Da blieben wir an einem Denkmal stehen und bewunderten den Anblick des Stadtteils Samoskworetschje. Wladimir Iljitsch drehte sich um und blickte dorthin, wo Iwan der Große, die Uspenski-(Mariä-Himmelfahrts-) Kathedrale zu sehen war. . . „Wo wurde Tolstoi eigentlich mit dem Bann belegt als man ihn exkommunizierte?" fragte er. „Zuerst in der Uspenski-Kathedrale, und dann, wie es sich gehörte, in allen Kirchen. . ." „Gerade hier müßte man ihm ein Denkmal setzen", sagte er plötzlich.
„Den da sollte man schleifen", zeigte er auf die porphyrne Figur Alexander IL, „das alles umgestalten", wies er rings um das Denkmal, „und hierher käme Tolstoi, der die Kirche entlarvt, die Zaren anklagt, Reichtum, Besitzer und Luxus geißelt." Und Wladimir Iljitsch sprach hingerissen von Tolstoi, den wir wenig kennen, der klassenmäßig natürlich nicht zu uns gehört, der aber dank seiner genialen, schonungslosen Analyse der Wirklichkeit seiner Zeit erstaunliche Muster tief empfundener und erschütternder Bilder aus dem Volksleben bot. . . Ich habe von Wladimir Iljitsch mehrmals hören können, daß wir alle Werke von L. N. Tolstoi gründlich sichten, außer einer akademischen Gesamtausgabe in einzelnen Broschüren und Büchlein die vielen Novellen, Aufsätze und Fragmente verlegen und in Hunderttausenden Exemplaren überall, tinter den Bauern wie unter den Arbeitern, verbreiten sollten. Schon 1918, bald nach dem Umzug der Sowjetregierung aus Petrograd nach Moskau, verfügte Wladimir Iljitsch auf einen Vorschlag W. G. Tschertkows hin, den L. N. Tolstoi mit der Sorge um die postume Gesamtausgabe seiner Werke betraut hatte, diesen Fragenkomplex binnen kürzester Frist im Kollegium des Volkskommissariats für Bildungswesen[Anmerkung 34] auf die Tagesordnung zu setzen, wo diese Frage damals schon grundsätzlich günstig entschieden wurde und gegenwärtig bekanntlich realisiert wird[Anmerkung 35] auf Grund einer besonderen Verordnung des Rats der Volkskommissare . . .
Wlad. Bontsch-Brujewitsch
9.
. . . Einmal komme ich zu ihm und sehe: Auf dem Tisch liegt ein Band „Krieg und Frieden". „Ja, Tolstoi! Ich wollte die Jagdszene lesen, aber da fiel mir ein, daß ich einem Genossen schreiben muß. Zum Lesen habe ich einfach keine Zeit. Erst heute nacht bin ich dazu gekommen, Ihr Büchlein über Tolstoi zu lesen." Er lächelte, kniff die Augen zusammen, streckte sich behaglich im Sessel und fuhr schnell, mit gesenkter Stimme, fort: „Was für ein Monolith, wie? Was für ein Koloß! Das, mein Lieber, ist ein Künstler. . . Und wissen Sie, was noch erstaunlicher ist? Vor diesem Grafen hat es keinen echten Bauern in der Literatur gegeben." Dann sah er mich mit zusammengekniffenen Augen an und fragte: „Wen kann man ihm in Europa gleichsetzen?" Es gab sich selbst die Antwort: „Niemanden." Und er rieb sich die Hände und lachte zufrieden. Nicht selten bemerkte ich, daß er stolz auf Rußland, die Russen, die russische Kunst war. Manchmal kam mir dieser Zug etwas fremd an Lenin vor, sogar naiv, doch dann lernte ich, darin einen Ausdruck tiefverborgener, freudiger Liebe zum arbeitenden Volk zu sehen.
M. Gorki
10.
... An sämtlichen freien Zwischenwänden des Arbeitszimmers standen Bücherschränke nach schwedischem Muster. Anfangs hatte Wladimir Iljitsch keinen Bibliothekar, und die Bücher wurden einfach systemlos in den Schränken untergebracht. . . 1920 wurde zur Arbeit in der Bibliothek die Genossin Manutscharjanz, eine Mitarbeiterin des Staatsverlags Gosisdat, eingeladen. Seitdem kam nach und nach Ordnung in die Bibliothek, und die Bücher wurden nach Abteilungen gegliedert. Es gab eine kleine Abteilung Belletristik, vorwiegend aus russischen Klassikern bestehend. Einmal sagte Wladimir Iljitsch bei der Durchsicht der Bücher: „Merkwürdig, dafj Tolstoi die Sprache Leskows[Anmerkung 36] für ein Vorbild einer schönen und richtigen russischen Sprache hält, ich finde das nicht. . .
L. A. Fotijewa
11.
Unlängst hielt Lenin ein Referat „Tolstoi und die russische Gesellschaft", in dem Lenin Tolstoi als Sprachrohr der Epoche der Vorbereitung der Revolution und der Epoche der revolutionären Stimmungen bis zu Aktion der revolutionären Klasse charakterisierte, seine revolutionäre Rolle als Kritiker des Privateigentums an Grund und Boden, der ihm zeitgenössischen Ehe würdigte und auf den reaktionären Charakter seiner Anschauungen über die Entwicklung des Kapitalismus, den reaktionären Charakter seiner Religion u. a. verwies. . .
Aus einem Brief von Alexandrow an A. M. Awramenko vom 7. Januar 1911, Paris. Krasny Archiv, 1. 1934, S. 224
1.
Der Rat der Volkskommissare beschloß in seiner Sitzung vom 30. März nach Prüfung eines Gesuchs der Witwe S. A. Tolstaja: dem Gesuch der Witwe L. N. Tolstois, Bürgerin S. A. Tolstaja, ihre 1910 ausgesetzte Rente in Höhe von 10 000 Rubel jährlich, mit der sie den Unterhalt des Landhauses Jasnaja Poljana bestreitet, stattzugeben. Im Namen des Rats der Volkskommissare den örtlichen Sowjet auf dessen Staatspflicht hinzuweisen, das Gut Jasnaja Poljana mit allen damit verbundenen historischen Reminiszenzen unter seinen Schutz zu stellen. Den Beschluß der örtlichen Bauern, dafj das Landhaus in lebenslänglicher Nutzung Sophia Andrej ewna (Tolstaja. Red.) verbleibt, zu bestätigen.
Beschluß des Rats der Volkskommissare vom 30, März 1918
2.
Namensliste von Personen, für die in Moskau und anderen Städten der Russ. Soz. Föd. Sowjetrepublik Monumente errichtet werden sollen, eingereicht von der Abteilung bildende Kunst des Volkskommissariats für Bildungswesen beim Rat der Volkskommissare.
. . .Schriftsteller und Dichter:
1. Tolstoi, 2. Dostojewski, 3. Lermontow, 4. Puschkin, 5. Gogol, 6. Radistschew, 7. Belinski, 8. Ogarew, 9. Tschernyschewski, 10. Michailowski, 11. Dobroljubow, 12. Pissarew, 13. Gleb Uspenski, 14. Saltykow-Stschedrin, 15. Nekrassow, 16. Schewtschenko, 17. Tjutschew, 18. Nikitin, 19. Nowikow, 20. Kolzow. . .
Aus dem Beschluß des Rats der Volkskommissare vom 30. Juli 1918
3.
Zwecks Wahrung des Hauses, in dem L. N. Tolstoi lebte und wirkte, beschloß der Rat der Volkskommisare : Das „Haus Lew Tolstois", Chamownitscheski pereulok (-Gasse),[Anmerkung 37] in Moskau mit dazugehörendem Grundstück, Bauten und sämtlichem Inventar wird zum Staatseigentum der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik erklärt und in die Verfügungsgewalt des Volkskommissariats für Bildungswesen übergeben.
6. April 1920
Dekret über die Nationalisierung des Hauses Lew Tolstois in Moskau
Fußnoten
- ↑ Gemeint ist die Revolution von 1905/07 in Rußland, die einen bürgerlich-demokratischen Charakter trug
- ↑ Menschewismus — eine dem Marxismus-Leninismus feindliche opportunistische Strömung in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands. Während der Revolution 1905/07 traten die Menschewiki gegen die führende Rolle des Proletariats in der Revolution auf, negierten die revolutionäre Rolle der Bauernschaft und wandten sich gegen den bewaffneten Aufstand
- ↑ Zeilen aus einem Gedicht von N. A. Nekrassow (1821—1878), einem russischen Dichter und revolutionären Demokraten.
- ↑ 1861 wurde in Rußland die Leibeigenschaft aufgehoben
- ↑ Kadetten — Konstitutionell-Demokratische Partei, führende Partei der liberal-monarchistischen Bourgeoisie.
- ↑ Balalaikin — Gestalt aus M. J. Saltykow-Schtschedrins Werk „Eine zeitgenössische Idylle". Der Ubers.
- ↑ Retsch (Die Rede) — Tageszeitung, Zentralorgan der Kadettenpartei.
- ↑ Trudowiki — eine Gruppe kleinbürgerlicher Demokraten in der Reichsduma, die die Aufhebung sämtlicher standesmäßigen und nationalen Beschränkungen, das allgemeine Wahlrecht und die Demokratisierung der örtlichen Selbstverwaltung forderten.
- ↑ P. A. Stolypin (1862-1911) —Vorsitzender des Ministerrats und Innenminister Rußlands, Einpeitscher der schärfsten Reaktion in den Jahren 1907 bis 1910, Organisator einer Agrarreform, die die Schaffung eines Großbauerntums auf dem Lande als Stütze des Throns bezweckte, 1911 durch einen Sozialrevolutionären Terroristen ermordet.
- ↑ Das erste Werk Tolstois („Kindheit") erschien im Druck in der Septemberausgabe der Zeitschrift Sowremennik (Der Zeitgenosse), 9. 1852.
- ↑ Synod — höchstes Verwaltungsorgan der orthodoxen Kirche in Rußland.
- ↑ Der Heilige Synod stieß Tolstoi vom 20. bis 22. Februar (5. bis 7. März) 1901 aus der Kirche aus.
- ↑ Schwarzhunderter (Schwarze Hundertschaft) — bewaffnete Bande von Pogromhelden, 1905/07 von der Polizei und monarchistischen Organisationen zur Ermordung fortschrittlicher Persönlichkeiten und zu Massenpogromen gegen Juden gebildet
- ↑ „Wechi"-Leute — Autoren des 1908 erschienenen Sammelbands „Wechi" (Marksteine), kadettische Publizisten, Vertreter der konterrevolutionären liberalen Bourgeoisie: N. A. Berdjajew, S. N. Bulgakow, M. O. Gerschenson, A. S. Isgojew, B. A. Kistjakowski, P. B. Struve und S. L. Frank.
- ↑ Antonius von Wolhynien (A. P. Chrapowizki, 1863 — 1936) — Oberhaupt der extrem rechten Richtung in der russischen orthodoxen Kirche, eingefleischter Schwarzhunderter.
- ↑ Nowoje Wremja (Neue Zeit — Tageszeitung, erschien von 1868 bis 1917. Ab 1905 ein Organ der Schwarzhunderter.
- ↑ In diesem Aufsatz sind sämtliche Daten außer dem letzten von Lenin nach altem Stil angegeben.
- ↑ Russkije Wedomosti (Russische Nachrichten) — Zeitung, Organ des rechten Flügels der Kadetten.
- ↑ Golos Moskwy (Die Stimme Moskaus) — Tageszeitung, Organ der Oktobristen, einer konterrevolutionären Partei der Großbourgeoisie und der Großgrundbesitzer, die den Zarismus unterstützte.
- ↑ Im Taurischen Palais tagte die Reichsduma, die repräsentative Legislative, durch die Selbstherrschaft unter dem Druck der Revolution von 1905/07 geschaffen.
- ↑ Rossija (Rußland) — Tageszeitung reaktionären Schwarzhundertercharakters, erschien in Petersburg von November 1905 bis April 1914. Wurde aus Geheimfonds der Regierung finanziert.
- ↑ Erwähntes Telegramm wurde an W. G. Tschertkow, den vertrauten Freund Tolstois, nach Astapowo gesandt: „Die sozialdemokratische Fraktion der Reichsduma gibt den Gefühlen des russischen und des gesamten internationalen Proletariats Ausdruck, wenn sie die tiefe Trauer über das Hinscheiden des genialen Künstlers ausspricht, dieses unversöhnlichen und unbesiegten Kämpfers gegen die offizielle Kirche, dieses Feindes der Willkür und Unterdrückung, der laut seine Stimme gegen die Todesstrafe erhoben hat, dieses Freundes der Verfolgten."
- ↑ Bewohner von Nachtasylen im Bezirk des Chitrow-Markts in Moskau, deren Leben Tolstoi in dem Aufsatz „Was sollen wir jetzt tun?" (1866) beschrieben hat
- ↑ A. N. Potressow (1869-1934) - ein Führer des Menschewismus, Ideologe des Liquidatorentums, spielte eine führende Rolle in den Zeitschriften Wosroshdenije (Die Wiedergeburt), Nascha Sarja (Unsere Morgenröte) u. a.
- ↑ Der Aufsatz trägt den Titel „Tolstoi und die russische Intelligenz".
- ↑ Vergleiche: F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Kap. III.
- ↑ „Das Märchen von Iwan dem Narren und seinen beiden Brüdern Simeon dem Krieger, Tarass dem Dicken und ihrer stummen Schwester Malanja, von dem alten Teufel und den drei kleinen Teufelchen", geschrieben von Tolstoi 1885.
- ↑ M. Newedomski (M. P. Miklaschewski, 1866— 1943)— Sozialdemokrat, Menschewik, Literaturkritiker und Publizist, in den Jahren der Reaktion (1907/10) Liquidator, solidarisierte sich mit den Verfassern des konterrevolutionären Sammelbands „Wechi", wandte sich gegen die Parteilichkeit der Literatur. Titel des von Lenin behandelten Aufsatzes von Newedomski: „Der Tod Lew Tolstois".
- ↑ Weiter vereint W. I. Lenin in seiner Aufzählung die russischen Machisten (A. Bogdanow, W. Basarow u. a.), den „Wechi"-Mann A. S. Isgojew, die menschewistischen Liquidatoren L. Martow, A. N. Potressow, W. O. Lewizki, N. Tscherewanin, P. P. Maslow, den Führer der deutschen sozialdemokratischen Zentristen, K. Kautsky. Die von Lenin erwähnten zwei liquidatorischen Büchlein von N. Tscherewanin (F. A. Lipkin) sind: „Die Organisationsfrage" mit einem Vorwort von L. Martow, Verlag der SDAPR, Genf 1904; „Die gegenwärtige Lage und die eventuelle Zukunft", Moskau 1908.
- ↑ G. W. Plechanow (1856— 1918) — hervorragender Funktionär der russischen und der internationalen Arbeiterbewegung, erster Propagandist des Marxismus in Rußland. War jedoch mit ernsten Fehlern behaftet, die den Keim seiner künftigen menschewistischen Ansichten bildeten. Er unterschätzte die revolutionäre Rolle der Bauernschaft, betrachtete die liberale Bourgeoisie als Verbündete der Arbeiterklasse, erkannte in Worten die Idee von der Hegemonie des Proletariats an, wandte sich in der Tat aber gegen das Wesen dieser Idee. Hatte während der Revolution 1905/07 bedeutende Meinungsverschiedenheiten mit den Bolschewiki über grundlegende Fragen der Taktik.
- ↑ Liquidatorentum — extrem rechte menschewistische opportunistische Strömung in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, entstand nach der Niederlage der Revolution von 1905/07 in der Periode der Reaktion
- ↑ In dem Aufsatz „Der Fortschritt und die Bestimmung der Bildung".
- ↑ Gemeint ist die russische Sektion der II. Internationale.
- ↑ Damalige Bezeichnung des Ministeriums für Bildungswesen.
- ↑ Gemeint ist die neunzigbändige Gesamtausgabe der Werke von L. N. Tolstoi, die in den Jahren 1928 bis 1958 erschien.
- ↑ N. S. Leskow (1831—1895) — russischer Schriftsteller.
- ↑ Erstmalig abgedruckt in der Zeitung Sozial-Demokrat am 16. (20.) November 1910